© 2015 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 103/15 Fragen betreffend die Aufgaben und die Stellung der Europäischen Kommission Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 2 Fragen betreffend die Aufgaben und die Stellung der Europäischen Kommission Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 103/15 Abschluss der Arbeit: 28. August 2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Erste Frage: Welche Funktionen der Kommission sind sog. politische und welche sind ihrer Funktion als „Hüterin der Verträge“ zuzuordnen? 4 2.1. Konkretisierung der Begriffe 4 2.2. Politische Funktionen der Kommission 5 2.3. Die Aufgaben der Kommission als „Hüterin der Verträge“ 5 2.4. Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen 6 2.5. Außenvertretung 7 3. Zweite Frage: Ist eine Trennung und Ausgründung dieser Kompetenzen mit den Europäischen Verträgen vereinbar bzw. inwieweit bedürfte es zur Umsetzung der o.g. Vorschläge einer Vertragsänderung? 7 3.1. Konkretisierung der Fragestellung 7 3.2. Primärrechtlicher Rahmen 8 3.2.1. Grundsätze der vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung 8 3.2.2. Organisationsgewalt 9 3.3. Folgerungen 10 3.3.1. Ausgründung 10 3.3.2. Schaffung einer neuen Einrichtung 11 4. Dritte Frage: Wäre die Funktion eines Euro- Finanzministers mit Aufsichts- und Kontrollrechten gegenüber den nationalen Parlamenten mit dem europäischen Primärrecht vereinbar? 11 4.1. Begriffsbestimmung 11 4.2. Primärrechtlicher Rahmen der WWU 12 4.3. Folgerungen 12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung setzt sich mit Fragen im Hinblick auf die Aufgaben und die Stellung der Europäischen Kommission auseinander. Hintergrund der Fragen bilden Medienberichte, wonach Bundesminister Schäuble u.a. vorgeschlagen hat, bestimmte Funktionen der Kommission, insbesondere die im Zusammenhang mit ihrer Funktion als „Hüterin der Verträge“ stehenden, von den politischen zu trennen.1 Insbesondere wird die Einrichtung eines Euro-Finanzministers vorgeschlagen , der Aufsichts- und Kontrollrechte bei der Aufstellung und Durchführung der nationalen Haushalte bekommen soll. 2. Erste Frage: Welche Funktionen der Kommission sind sog. politische und welche sind ihrer Funktion als „Hüterin der Verträge“ zuzuordnen? 2.1. Konkretisierung der Begriffe Die Kommission handelt als supranationales Exekutivorgan der EU, das wichtige politische Leitungs - und Lenkungsaufgaben im Sinne einer Regierung übernimmt und gleichzeitig im Bereich der Verwaltung und Umsetzung der EU-Politiken tätig ist. Dazu gehören auch die Durchsetzung des Unionsrechts und die Überwachung der korrekten Anwendung durch die Mitgliedstaaten. Zusätzlich kommt ihr durch ihr legislatives Initiativrecht eine entscheidende Bedeutung im Gesetzgebungsverfahren zu. Ihre Aufgaben nimmt sie in voller Unabhängigkeit wahr (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 S. 1 EUV). Vor diesem Hintergrund erfordert die Antwort auf die Fragestellung zunächst eine Klärung der Begriffe der politischen Funktion und der Funktion der Kommission als „Hüterin der Verträge“. Für eine Differenzierung zwischen den Aufgaben liegt dem Begriff der politischen Funktion vorliegend das Verständnis zugrunde, wonach eine politische Funktion auf ein aktiv steuerndes, interessenabwägendes und agendasetzendes Handeln zur Gestaltung und Regelung des europäischen Gemeinwesens abzielt. Im Hinblick auf diese Funktion wird die Kommission auch als „Motor der Integration“ bezeichnet.2 Demgegenüber wird der Begriff der Funktion „Hüterin der Verträge“ dahingehend verstanden, dass er ein regelgebundenes Handeln zur Sicherung und Durchsetzung der europäischen Rechtsordnung bezeichnet. Beide Funktionen der Kommission werden allgemein einerseits als „Hüterin der Verträge“, andererseits als umschrieben. Wie im Folgenden dargestellt lassen sich die Aufgaben und Befugnisse der Kommission nicht trennscharf danach unterscheiden, ob sie politischen Charakter haben oder der Funktion der Kommission als „Hüterin der Verträge“ zuzuordnen sind. Dies beruht insbesondere auf dem Umstand, dass die Kommission auch als „Hüterin der Verträge“ und bei der Ausübung ihrer zahlreichen Handlungs- und Durchführungsbefugnisse eine dynamische Integration betreiben kann. 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2015, „Schäuble will EU-Kommission entmachten“, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/griechenland-krise-schaeuble-will-eu-kommission -entmachten-13725683.html. 2 Vgl. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 56. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 5 2.2. Politische Funktionen der Kommission Der Begriff „Motor der Integration“ zielt dabei darauf ihre Funktion als politisches Initiativorgan ab, wonach sie auf die Förderung des Unionsinteresses verpflichtet ist und die geeigneten Initiativen und Maßnahmen zu diesem Zweck ergreift (Art. 17 Abs. 1 S. 1 AEUV).3 Diese Aufgabenzuweisung legitimiert die politische Tätigkeit der Kommission und ihr Recht, sich zu allen Themen , die im weitesten Sinne zu den Tätigkeitsfeldern der Union gehören, zu äußern. Zur Wahrnehmung ihrer europapolitischen Gestaltungsaufgabe stehen der Kommission verschiedene Handlungsinstrumente zur Verfügung. Diese reichen von konkreten Rechtsetzungsvorschlägen über Grünbücher,4 Weißbücher,5 Mitteilungen,6 Empfehlungen und Stellungnahmen7 bis zu der mehrjährigen Programmplanung8. Die Funktion der Kommission als politisches Initiativorgan verdeutlicht ihre Stellung im europäischen Rechtsetzungsverfahren. Während die Funktion der Rechtsetzung dem Parlament und dem Rat obliegt (Art. 14 Abs. 1 EUV und 16 Abs. 1 EUV iVm Art. 289 Abs. 1 AEUV), darf ein Gesetzgebungsakt nach Art. 17 Abs. 2 EUV nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden, soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist.9 Das der Kommission durch die Art. 17 Abs. 2 EUV und 289 AEUV eingeräumte Initiativrecht bedeutet, dass es Sache der Kommission ist, zu entscheiden, ob sie einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorlegt oder nicht. Wenn die Kommission einen Rechtsetzungsvorschlag vorlegt, steht es ihr aufgrund dieses Initiativrechts auch zu, den Gegenstand, das Ziel und den Inhalt eines Vorschlags zu bestimmen, ihn zu ändern und bei Bedarf auch zurückzunehmen.10 2.3. Die Aufgaben der Kommission als „Hüterin der Verträge“ Die in der Fragestellung angesprochene Funktion der Kommission als „Hüterin der Verträge“ betrifft ihre Aufgabe zur Überwachung der Anwendung des Unionsrechts sowie der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung am Maßstab des Primär- und Sekundärrechts (Art. 17 Abs. 1 S. 3 EUV). Die Kommission nimmt diese Aufgabe unter der Kontrolle des EuGH wahr, dem gemäß Art. 19 3 Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-456/03 (Kommission/Italien), Rn. 26. 4 Vgl. den Überblick unter http://ec.europa.eu/green-papers/index_de.htm. 5 Vgl. den Überblick unter http://ec.europa.eu/white-papers/index_de.htm. 6 Zur Funktion und Wirkung von Mitteilungen vgl. Stefan, Die Bindungswirkung von Mitteilungen, Bekanntmachungen und Leitlinien der EG-Kommission, EuR 2009, S. 423 ff. 7 Art. 288 Abs. 5 AEUV. 8 Art. 17 Abs. 1 S. 7 EUV, vgl. hierzu beispielsweise dass auf der mehrjährigen Programmplanung aufbauende Arbeitsprogramm der Kommission 2015, abrufbar unter http://ec.europa.eu/priorities/work-programme/index _de.htm. 9 Vgl. hierzu v. Sydow/Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 17 EUV, Rn. 75 ff. 10 Vgl. EuGH, Rs. C-409/13 (Rat/Kommission), Rn. 96. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 6 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV die letztgültige Entscheidung über die Auslegung des Unionsrechts obliegt . Dementsprechend stehen die von der Kommission im Rahmen ihrer Überwachungsaufgaben ergriffenen Maßnahmen unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch den Gerichtshof. Neben den präventiven Maßnahmen zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen und einheitlichen Rechtsanwendung11 und der Befugnis der Kommission, zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben alle erforderlichen Auskünfte einholen und alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen (Art. 337 AEUV), ist insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV das zentrale Instrument zur Beseitigung von Vertragsverstößen durch die Mitgliedstaaten. Darüber hinaus bestehen in den einzelnen Politikbereichen der Union besondere Instrumente zur Überwachung und Durchsetzung des Unionsrechts im Sinne von Art. 17 Abs. 1 S. 2 und 3 EUV: So kontrolliert die Kommission im Rahmen der Beihilfenaufsicht die von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe (Art. 107 ff. AEUV) und kann bei potenziell festgestellten Verstößen Verfahren nutzen, um die Gewährung einer unionsrechtswidrigen Beihilfe zu unterbinden oder um sicherzustellen, dass rechtswidrig gewährte Beihilfen innerhalb einer bestimmten Frist zurückgefordert werden. Im Wettbewerbsrecht kann die Kommission zudem bei einem Verstoß gegen das Kartellverbot oder den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 101, 102 AEUV) gegen die beteiligten Unternehmen vorgehen. Im Rahmen des Wirtschaftsund Währungsunion sind der Kommission besondere Aufgaben bei der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet und der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes primär- und sekundärrechtlich. Zwar obliegen dem Rat beispielsweise im Rahmen der haushaltspolitischen Überwachung oder im Verfahren bei einem übermäßigen Defizit die abschließenden Entscheidungen. Jedoch hat die Kommission beispielsweise innerhalb des Europäischen Semesters eine zentrale Rolle bei der Überwachung der Mitgliedstaaten.12 2.4. Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen Jenseits ihrer in Art. 17 Abs. 1 S. 2 und 3 EUV angelegten Funktion als „Hüterin der Verträge“ besitzt die Kommission als supranationales Exekutivorgan weitergehende Koordinierungs-, Exekutiv - und Verwaltungsaufgaben (Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV), welche auf dem Primär- und Sekundärrecht beruhen und den Erlass von delegierten Rechtsakten (Art. 290 AEUV) und Durchführungsrechtsakten (Art. 291 AEUV) umfassen. Dabei umfassen die Verwaltungsbefugnisse sowohl den internen Organisationsbereich gemäß Art. 298 AEUV als auch die Verwaltung im Außenbereich wie beispielsweise die Verwaltung von Programmen, d.h. die Verwaltung von Finanzmitteln zur Förderung der Ziele der EU. In diesem Rahmen obliegt der Kommission die Ausführung 11 Vgl. beispielsweise das Frühwarnsystem der Verordnung (EG) Nr. 2679/98 bei drohenden schwerwiegenden Behinderungen des freien Warenverkehrs oder Vorschriften wie Art. 16 Verordnung (EG) Nr. 2371/2002, die die Vergabe von EU-Mitteln an die Einhaltung des EU-Rechts knüpfen. 12 Vgl. hierzu Referat PE2, EU-Sachstand „Das Europäische Semester 2014“ vom 13. Januar 2014, abrufbar unter http://www.bundestag.btg/Wissen/Europa/Sachstandsberichte/2014/PE1/EU-Sachstand_Europaeisches_Semester .pdf sowie zu politisch nutzbaren Ermessensspielräumen der Kommission im Rahmen der haushaltspolitischen Überwachung Referat PE2, EU-Sachstand „Flexibilität im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ vom 25. Juni 2014, abrufbar unter http://www.bundestag.btg/Wissen/Europa/Sachstandsberichte/2014/PE1/EU- Sachstand_Flexibilitaet_im_Rahmen_des_SWP.pdf. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 7 des Haushaltsplans als zentraler Bestandteil ihrer exekutiven Aufgaben (Art. 17 Abs. 1 S. 4 EUV, Art. 317 AEUV). 2.5. Außenvertretung Schließlich obliegt der Kommission die Aufgabe, außer in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den übrigen in den Verträgen vorgesehenen Fällen die Vertretung der Union nach außen wahrzunehmen (Art. 17 Abs. 1 S. 6 EUV). Zur Außenvertretung zählen die völkerrechtliche Vertretung, die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen (Art. 220 AEUV), die Pflege internationaler Beziehungen und die Aushandlung von internationalen Abkommen, insbesondere im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik (Art. 207 AEUV) sowie Assoziierungsabkommen . Auch die Aufgaben nach Art. 17 Abs. 1 S. 6 EUV sind nicht streng regelgebunden, sondern vielmehr einer politischen Einflussnahme zugänglich. In diesem Rahmen weist beispielsweise Art. 218 AEUV den Unionsorganen im Bereich des Abschlusses internationaler Verträge bestimmte Kompetenzen zu. Zur Schaffung eines Gleichgewichts zwischen diesen Organen müssen Übereinkünfte zwischen der Union und einem oder mehreren Drittstaaten von der Kommission unter Beachtung der vom Rat erlassenen Verhandlungsrichtlinien ausgehandelt und dann vom Rat – entweder nach Billigung durch das Parlament oder nach dessen Anhörung – geschlossen werden. Die Kompetenz zum Vertragsschluss steht dem Rat jedoch vorbehaltlich der Zuständigkeiten der Kommission auf diesem Gebiet zu.13 3. Zweite Frage: Ist eine Trennung und Ausgründung dieser Kompetenzen mit den Europäischen Verträgen vereinbar bzw. inwieweit bedürfte es zur Umsetzung der o.g. Vorschläge einer Vertragsänderung? 3.1. Konkretisierung der Fragestellung Die folgenden Ausführungen gehen auf die Frage ein, ob die im oben genannten Vorschlag vorgesehene Trennung bzw. Ausgründung von Zuständigkeiten der Kommission auf eine unabhängige Einrichtung mit dem Primärrecht vereinbar ist oder ob es hierfür einer Vertragsänderung bedarf. Konkret sieht der in der Fragestellung angesprochene Vorschlag vor, bestimmte Aufgaben zur Durchsetzung des europäischen Rechts, insbesondere die Aufgaben der Kommission als Wettbewerbshüterin und in der Aufsicht über die Binnenmarktregeln, an politisch unabhängige Behörden nach dem Vorbild des Bundeskartellamts auszugliedern und so der Zuständigkeit der Kommission zu entziehen. 13 Vgl. EuGH, Rs. C-327/91 (Frankreich/Kommission), Rn. 28; EuGH, Rs. Rs. C-425/13 (Kommission/Rat), Rn. 62 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 8 3.2. Primärrechtlicher Rahmen 3.2.1. Grundsätze der vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung Mit dem Primärrecht der Union haben die Mitgliedstaaten eine neue, mit eigenen Organen ausgestattete Rechtsordnung geschaffen haben, zu deren Gunsten sie ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben.14 Die Unionsrechtsordnung wird dabei im Hinblick auf die vertikale Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV bestimmt. Im Bereich der Zuständigkeiten der Union erfolgt die horizontale Kompetenzverteilung zwischen den Unionsorganen entsprechend dem in Art. 13 Abs. 2 EUV normierten Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts. Danach haben die Unionsverträge ein System der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Unionsorganen geschaffen, welches jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Union bei der Erfüllung der der Union übertragenen Aufgaben zuweist.15 In diesem Rahmen handelt jedes Unionsorgan nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind. Dementsprechend darf ein Organ nach Art. 13 EUV nur im Bereich der Verbandskompetenz der EU und im Bereich seiner Organkompetenzen handeln. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts ist für den organisatorischen Aufbau der Union kennzeichnend und gebietet, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt.16 Zur Verwirklichung der Ziele der EU müssen die Organe ihre vertraglichen Befugnisse in loyaler Zusammenarbeit ausüben (Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV).17 Die von den Mitgliedstaaten als Vertragsgeber (sog. „Herren der Verträge“) geschaffene und nur in den Verfahren gemäß Art. 48 EUV formell änderbare Struktur steht nicht zur freien Disposition der Unionsorgane. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts erfüllt zugleich die Aufgabe einer Grenze für Verschiebungen im institutionellen System der Union.18 Die Kompetenzzuweisung an die Union und ihre Organe sowie die Kompetenzaufteilung zwischen den Organen werden hierdurch insoweit geschützt, dass die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen.19 Die Formulierung, wonach jedes Organ nach Maßgabe der ihm in dem Vertrag zugewiesenen Befugnisse zu handeln hat, besagt somit nicht nur, dass kompetenzloses Handeln unzulässig ist. Sie ist auch dahingehend zu verstehen, dass sich Organe ihrer Befugnisse nur dann entäußern dürfen, wenn dies vertraglich vorgesehen ist. Eine autonome oder sekundärrechtliche 14 Vgl. EuGH, Gutachten 1/09 (Patentgericht), Rn. 65; EuGH, Gutachten 2/13 (EMRK), Rn. 157. 15 Vgl. EuGH, Rs. 9/56 (Meroni/Hohe Behörde), EU:C:1958:7, S. 44; EuGH, Rs. C-70/88 (Parlament/Rat), Rn. 22; EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Rn. 57. 16 EuGH, Rs. 138/79 (Roquette Frères/Rat), Rn. 33. 17 EuGH, Rs. C-204/86 (Griechenland/Rat), Rn. 16; EuGH, Rs. C-65/93 (Parlament/Rat), Rn. 23. 18 Vgl. hierzu Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 13, Rn. 16 ff. 19 EuGH, Rs. 68/86 (Vereinigtes Königreich/Rat), Rn. 38; EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Rn. 54; EuGH, Rs. C-28/12 (Kommission/Rat), Rn. 42. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 9 Befugnisübertragung zwischen verschiedenen Unionsorganen würde die primärrechtlich radizierten Verantwortlichkeiten, die Kompetenzordnung sowie die Kräfteverteilung in der Union in vertragsändernder Weise berühren. Dementsprechend schützen die durch Art. 13 Abs. 2 EUV konkretisierten Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und des institutionellen Gleichgewichts die Zuständigkeits- und Verfahrensordnung der Union, indem die den EU-Organen primärrechtlich zugewiesenen Befugnisse Bestandteil des primärrechtlich gewollten institutionellen Gleichgewichts sind.20 3.2.2. Organisationsgewalt Der der Fragestellung zugrundeliegende Vorschlag zielt auf eine Organisationsentscheidung ab und betrifft somit eine Frage der Organisationsgewalt, d.h. das Recht zur Schaffung, Veränderung , Bestimmung von Aufgaben und inneren Gliederung von Entscheidungsträgern, die als Handlungseinheit tätig werden.21 Die Befugnis zur Errichtung neuer Organe, zur Verteilung der Kompetenzen und Befugnisse auf die Unionsorgane sowie grundsätzlich auch die Regelung der internen Organstruktur liegt ausschließlich bei den Mitgliedstaaten im Wege der Vertragsänderung gemäß Art. 48 EUV. Sie sind in dieser Entscheidung frei und unterliegen keinen primärrechtlichen Bindungen.22 Demgegenüber besitzt die Union nur die Befugnis, alle zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit und zur Verwirklichung der Ziele der Union erforderlichen Maßnahmen zu treffen, soweit dafür Ermächtigungen in den Verträgen vorgesehen sind und soweit hierdurch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten eingegriffen wird.23 Im Rahmen des Art. 13 Abs. 2 EUV und der ihnen primärrechtlich zugewiesenen Befugnisse obliegt den Unionsorganen die Ausgestaltung ihrer Arbeitsweise. Dementsprechend ist es Ausdruck des Grundsatzes der Autonomie der Organe, dass jedes Organ aufgrund der ihm durch die maßgeblichen Bestimmungen der Verträge verliehenen internen Organisationsgewalt berechtigt ist, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sein ordnungsgemäßes Funktionieren und den Ablauf seiner Verfahren sicherzustellen.24 Im Rahmen der primärrechtlich festgelegten Autonomie der Unionsorgane und mit Blick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) ist den Mitgliedstaaten ein Einwirken auf die autonome Festlegung der Organisation, Verfahren und Funktionen der Unionsorgane in den von den Verträgen gesetzten Grenzen verwehrt. 20 EuGH, Rs. C-21/84 (Parlament/Rat), Rn. 17; EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Rn. 56 f.; EuGH, Rs. C-77/11 (Rat/Parlament), Rn. 21, 28, 52 ff. 21 Vgl. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 36. 22 Für die Anwendung des Verfahrens gemäß Art. 48 Abs. 6 EUV vgl. EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 33 ff. 23 Für das Selbstorganisationsrecht der Kommission vgl. Art. 249 Abs. 1 AEUV. 24 Vgl. EuGH, verb. Rs. 281–287/85 (Deutschland u. a./Kommission), Rn. 28. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 10 3.3. Folgerungen Der dergestalt umrissene Vorschlag lässt einerseits darauf schließen, dass er auf eine organisatorische Neuordnung der Kommission abzielt, um im Sinne einer Ausgründung von Befugnissen gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 2, 3 und 5 EUV eine von politischer Einflussnahme unabhängige Organisationseinheit zu schaffen, die beispielsweise der Einrichtung einer europäischen Bankenaufsicht im institutionellen Rahmen der Europäischen Zentralbank entspricht (hierzu 3.3.1.). Andererseits erscheint die Annahme naheliegend, dass der Vorschlag intendiert, Zuständigkeiten und Aufgaben der Kommission Befugnissen im Sinne von Art. 17 Abs. 1 S. 2, 3 und 5 EUV auf eine neue, von der Kommission institutionell unabhängige Einrichtung zu übertragen (hierzu 3.3.2.). 3.3.1. Ausgründung Der Vorschlag ließe sich potenziell durch die Auslagerung bzw. Delegation von Zuständigkeiten der Kommission auf eine primärrechtlich nicht vorgesehene Sonderbehörde (sog. Agenturen bzw. vertragsfremde Einrichtungen) zur Wahrnehmung dieser Aufgaben verwirklichen.25 Eine solche Behörde könnte zur Regelung eines bestimmten Sektors beitragen und insoweit aktiv an der Wahrnehmung von Exekutivfunktionen mitwirken. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Entscheidung über die Einrichtung einer solchen Behörde durch den europäischen Gesetzgeber.26 Ein dementsprechender Sekundärrechtsakt muss jedoch die primärrechtlichen, durch den EuGH näher umschriebenen Grenzen für die Delegation von Entscheidungsbefugnissen wahren. Danach ist eine solche Delegation von Befugnissen auf vertragsfremde Einrichtungen zwar grundsätzlich möglich, jedoch können keine weiterreichenden Befugnisse übertragen werden, als sie dem übertragenden Organ nach dem Vertrag selbst zustehen .27 Zudem können nur solche Ausführungsbefugnisse übertragen werden, die genau umgrenzt sind und deren Ausübung von dem übertragenden Organ in vollem Umfang beaufsichtigt wird.28 Würden hingegen Ermessensbefugnisse politischen Charakters übertragen, so würde das eine tatsächliche Verlagerung der Verantwortung mit sich bringen und damit das für den organisatorischen Aufbau der Gemeinschaft kennzeichnende Gleichgewicht der Gewalten verletzen. Aus dem Erfordernis einer umfassenden Beaufsichtigung folgt, dass dem primärrechtlichen Entscheidungsträger , aus dessen Aufgaben und Befugnissen sich der Tätigkeitskreis einer vertragsfremden Einrichtung ableitet, regelmäßig ein entscheidender Einfluss auf die Tätigkeit der sekundärrechtlich geschaffenen Einrichtung, insbesondere eine Fachaufsicht über die Entscheidungen der neuen Einrichtung, vorbehalten bleiben muss. Vor diesem Hintergrund erscheint die Einrich- 25 Für die von der Kommission im Jahre 2000 beschlossene Politik der kontrollierten und kohärenten Externalisierung , d. h. der Auslagerung von nicht zu ihren Kernfunktionen gehörender Tätigkeiten auf öffentliche Einrichtungen der Gemeinschaft vgl. Mitteilung vom 11. Dezember 2002, KOM (2002) 718 endg., S. 2 sowie Kommission , Weißbuch Europäisches Regieren, KOM (2001) 428 endg. 26 Vgl. Ruffert, Die neue Unabhängigkeit: Zur demokratischen Legitimation von Agenturen im europäischen Verwaltungsrecht , in: Müller-Graff/Schmahl/Skouris (Hrsg.), FS Scheuing, 2011, S. 399 ff. 27 EuGH, Rs. 9/56 (Meroni/Hohe Behörde), EU:C:1958:7, S. 40. 28 EuGH, Rs. 9/56 (Meroni/Hohe Behörde), EU:C:1958:7, S. 44; EuGH, Rs. C-270/12 (ESMA), Rn. 56 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 11 tung einer solchen Organisation ihrer im Vorschlag geforderten Unabhängigkeit nicht zu genügen , da der Kommission mit Blick auf ihre in Art. 17 Abs. 1 EUV angelegten Aufgaben weiterhin ein bestimmender, auch politischen Erwägungen zugänglicher Einfluss auf die Organisation zustünde . 3.3.2. Schaffung einer neuen Einrichtung Eine von den politischen Aufgaben der Kommission unabhängige Organisation ließe sich durch eine entsprechende Neugründung einrichten. Hierbei wäre jedoch zu beachten, dass die im Vorschlag umrissenen Aufgaben und Befugnisse für eine solche Organisation im gegenwärtigen Primärrecht der Kommission als einheitliches Unionsorgan zugewiesen sind. Eine Trennung bzw. Ausgründung dieser Kompetenzen in dem Sinne, dass sie nicht durch eine bestimmte Organisation innerhalb der Kommission, sondern durch eine von der Kommission verschiedene Einrichtung wahrgenommen werden, stünde grundsätzlich im Konflikt mit der Verbandskompetenz der Union bzw. dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts. Vor diesem Hintergrund erforderte eine „Ausgründung“ – vorbehaltlich der konkreten Ausgestaltung der neuen Organisation – grundsätzlich eine Primärrechtsänderung gem. Art. 48 EUV. Diese könnte grundsätzlich auch im Wege des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens erfolgen, sofern von den Änderungen nur die Bestimmungen des dritten Teils des AEUV (über die internen Politiken und Maßnahmen der EU) betroffen sind und mit der Vertragsänderung keine Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragen Zuständigkeiten einhergeht. Jedoch dürfte eine Änderung der Aufgaben und Befugnisse der Kommission jedenfalls auch Art. 17 EUV sowie den sechsten Teil des AEUV (Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften) betreffen , so dass eine Vertragsänderung im Wege des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens erfolgen müsste.29 4. Dritte Frage: Wäre die Funktion eines Euro-Finanzministers mit Aufsichts- und Kontrollrechten gegenüber den nationalen Parlamenten mit dem europäischen Primärrecht vereinbar ? 4.1. Begriffsbestimmung Entsprechend den gegenwärtigen Vorschlägen zur Einrichtung eines „Euro-Finanzministers“ bzw. eines „euroraumweiten Schatzamtes“ wird hierunter im Folgenden die Einrichtung eines Amtes bzw. einer Organisation verstanden, die unmittelbare Aufsichts- und Kontrollrechte mit 29 Vgl. hierzu Rathke, in: v. Arnauld/Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 6. Abschnitt , Rn. 14 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 103/15 Seite 12 Durchgriffswirkung gegenüber den nationalen Parlamenten bzw. dem nationalen Haushaltsgesetzgeber ausüben soll.30 Hierdurch grenzen sich die Vorschläge von dem gegenwärtig bestehenden Rahmen der haushalts- und wirtschaftspolitische Koordinierung und Überwachung insbesondere im Euro-Währungsgebiet ab. 4.2. Primärrechtlicher Rahmen der WWU Das Primärrecht der WWU beruht auf einer Asymmetrie zwischen den Befugnissen der Union im Bereich der Währungspolitik und der Wirtschaftspolitik: Nach Art. 119 Abs. 2 AEUV umfasst die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union eine einheitliche Währung, den Euro, sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik.31 In diesem Bereich besitzt die Union nach Art. 3 Abs. 1 lit. c) AEUV eine ausschließliche Zuständigkeit für die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes. Demgegenüber sind die Handlungsmöglichkeiten der Union im Bereich der Wirtschaftspolitik auf ein im Wesentlichen koordinierendes und unterstützendes Handeln beschränkt und die entsprechenden Zuständigkeiten sind im Wesentlichen bei den Mitgliedstaaten verblieben. Dies wird einerseits durch die Zustimmung der Mitgliedstaaten zum Integrationsprogramm im Rahmen der nationalen Verfassungsordnungen und die hierauf aufbauende begrenzte Einzelermächtigung der Union abgesichert.32 Auf Ebene des Primärrechts bringen die Art. 119 Abs. 1 AEUV und Art. 121 Abs. 1 AEUV diese Grenzen beispielhaft zum Ausdruck. Danach beruht die Wirtschaftspolitik der Union auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten; die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als Angelegenheit von gemeinsamen Interesse und koordinieren sie im Rat nach Maßgabe des Art. 120 AEUV. Die Bestimmungen der WWU über die Wirtschaftspolitik haben somit die in der nationalen Zuständigkeit verbliebene Wirtschaftspolitik im Sinne der Haushalts- und Fiskalpolitik zum Gegenstand. 4.3. Folgerungen Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den in Art. 5 Abs. 2 EUV niedergelegten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist es der Union somit verwehrt, im Bereich der Wirtschaftspolitik Aufgaben wahrzunehmen, die über eine koordinierende Funktion hinausgehen. Dementsprechend fände die Einführung eines „Euro-Finanzministers“ mit Aufsichts- und Kontrollrechten gegenüber den nationalen Parlamenten keine Stütze im gegenwärtigen Primärrecht. Vielmehr bedarf es für die Einführung eines solchen Amtes eines ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens , da der Union insoweit neue Aufgaben und Befugnisse übertragen würden. 30 Vgl. dementsprechend den Bericht der fünf Präsidenten, Die Wirtschaft- und Währungsunion Europas vollenden , S. 19, abrufbar unter http://ec.europa.eu/priorities/economic-monetary-union/docs/5-presidents-report _de.pdf sowie Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 2015, „EZB fordert Finanzministerium für Europa“, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/europaeische-zentralbankwill -ein-europaeisches-finanzministerium-13772228.html. 31 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 48. 32 Zu den Bedingungen und Grenzen der deutschen Teilnahme am europäischen Integrationsprozess vgl. die Ausarbeitung des Fachbereichs WD3 – 3000 -183/15, S. 5 ff.; für die Bedingungen und Grenzen der französischen Teilnahme im Rahmen der WWU vgl. Conseil Constitutionnel, Entscheidung 2012-653 DC v. 9. August 2012, Ziff. 11 ff.