© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 102/20 Fragen zum Richtlinienvorschlag der Kommission über angemessene Mindestlöhne in der EU (COM(2020) 682 final) Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Seite 2 Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Fragen zum Richtlinienvorschlag der Kommission über angemessene Mindestlöhne in der EU (COM(2020) 682 final) Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 102/20 Abschluss der Arbeit: 8. Dezember 2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Der Richtlinienvorschlag der Kommission über angemessene Mindestlöhne in der EU (COM(2020) 682 final) 4 3. Vorliegend relevante Regelungskompetenzen der Union auf dem Gebiet der Sozialpolitik 6 4. Zur ersten Frage: Inwieweit ist die Kommission berechtigt, den Mitgliedstaaten verbindliche Kriterien für einen europäischen Mindestlohn vorzugeben? 9 5. Zur zweiten Frage: Bedarf es für die Vorgabe verbindlicher Kriterien für einen europäischen Mindestlohn ergänzende vertragliche Regelungen im Bereich der europäischen Sozialpolitik? 10 6. Zur dritten Frage: Umfasst die vertraglich geregelte Kompetenz der EU nach dem AEUV Eingriffe in das Tarifgefüge der Mitgliedstaaten? 10 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 4 1. Einleitung Vor dem Hintergrund des vorliegenden Richtlinienvorschlags der Kommission „über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ (COM(2020) 682 final) ist der Fachbereich Europa um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten worden. Im Einzelnen wurden folgende Fragen an den Fachbereich herangetragen: 1. Inwieweit ist die Kommission berechtigt, den Mitgliedstaaten verbindliche Kriterien für einen europäischen Mindestlohn vorzugeben? 2. Bedarf es hierfür ergänzende vertragliche Regelungen im Bereich der europäischen Sozialpolitik ? 3. Umfasst die vertraglich geregelte Kompetenz der EU nach dem AEUV Eingriffe in das Tarifgefüge der Mitgliedstaaten? 2. Der Richtlinienvorschlag der Kommission über angemessene Mindestlöhne in der EU (COM(2020) 682 final) Ziel des Richtlinienvorschlags ist es, für angemessene Mindestlöhne für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Union zu sorgen.1 Die Notwendigkeit des Richtlinienvorschlags wird seitens der Kommission damit begründet, dass die meisten vorhandenen nationalen gesetzlichen Mindestlöhne mit unter 60% des Bruttomedianlohns und/oder 50% des Bruttodurchschnittslohns zu niedrig und von diesen zudem bestimmte Arbeitnehmergruppen ausgeschlossen seien.2Auch in Mitgliedstaaten, die sich ausschließlich auf Tarifverhandlungen stützen, hätten einige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Zugang zum Mindestlohnschutz.3 Die vorgeschlagene Richtlinie soll sicherstellen, „dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Union durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden, die ihnen am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Zur Verwirklichung dieses allgemeinen Ziels wird mit der vorgeschlagenen Richtlinie ein Rahmen zur Verbesserung der Angemessenheit der Mindestlöhne und des Zugangs der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Mindestlohnschutz geschaffen.“4 Dabei sollen diese Ziele „unter Berücksichtigung und vollständiger Achtung der Besonderheiten der nationalen Systeme, der nationalen Zuständigkeiten, der Tarifautonomie und der Vertragsfreiheit der Sozialpartner“ erreicht werden.5 Tarifverhandlungen über Löhne in 1 COM(2020) 682 final Erwägungsgründe 14, 20. 2 Dazu die Folgenabschätzung in COM(2020) 682 final S. 2 und Erwägungsgrund 21. 3 Dazu die Begründung in COM(2020) 682 final unter Ziffer 1. und 2. sowie die Erwägungsgründe 10 ff. 4 COM(2020) 682 final S. 3. 5 COM(2020) 682 final S. 3. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 5 den Mitgliedstaaten sollen gefördert werden. Bei gesetzlichen Mindestlöhnen „soll die vorgeschlagene Richtlinie sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne in angemessener Höhe festgelegt werden“.6 Art. 1 Abs. 3 der vorgeschlagenen Richtlinie stellt klar, dass Mitgliedstaaten, in denen der Mindestlohnschutz ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, weder zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns noch zur flächendeckenden Einführung von Tarifverträgen verpflichtet werden . Den Mitgliedstaaten bleibt die Entscheidung überlassen, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen oder den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz zu fördern, vgl. Art. 1 Abs. 2 der vorgeschlagenen Richtlinie. Von Bedeutung für die vorliegenden Fragen sind insbesondere Art. 4 und 5 des Richtlinienvorschlags , die wie folgt lauten: „Artikel 4 Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung 1. Um die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen, ergreifen die Mitgliedstaaten in Absprache mit den Sozialpartnern mindestens folgende Maßnahmen: a) Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner, Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung auf sektoraler oder branchenübergreifender Ebene zu führen; b) Förderung konstruktiver, zielführender und fundierter Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern . 2. Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 70 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäß Artikel 2 umfasst, sehen zusätzlich einen Rahmen vor, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen, und erstellen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen. Der Aktionsplan wird veröffentlicht und der Europäischen Kommission mitgeteilt.“ „Artikel 5 Angemessenheit 1. Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne anhand von Kriterien festgelegt und aktualisiert werden, die die Angemessenheit dieser Löhne fördern und dem Ziel angemessener Arbeits - und Lebensbedingungen, des sozialen Zusammenhalts und der Aufwärtskonvergenz entsprechen . Die Mitgliedstaaten legen diese Kriterien im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten entweder in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, in Beschlüssen der zuständigen Stellen oder in dreiseitigen Vereinbarungen fest. Die Kriterien müssen stabil und klar definiert sein. 2. Die nationalen Kriterien nach Absatz 1 umfassen mindestens die folgenden Aspekte: (a) die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten sowie der Steuer- und Sozialabgaben; (b) das allgemeine Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung; (c) die Wachstumsrate der Bruttolöhne; 6 COM(2020) 682 final S. 3. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 6 (d) Entwicklung der Arbeitsproduktivität. 3. Die Mitgliedstaaten legen bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne im Verhältnis zum allgemeinen Niveau der Bruttolöhne Richtwerte zugrunde, wie sie auf internationaler Ebene üblich sind. 4. Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig aktualisiert werden, damit ihre Angemessenheit gewahrt bleibt. 5. Die Mitgliedstaaten richten Beratungsgremien ein, die die zuständigen Stellen in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns beraten.“ Als Rechtsgrundlage der vorgeschlagenen Richtlinie wird Art. 153 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 AEUV genannt .7 Dieser räumt der Union – unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV) – die Kompetenz ein, die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen zu unterstützen und zu ergänzen. Im Richtlinienentwurf wird der Standpunkt vertreten, dass die die Begrenzung der unionalen Kompetenz anordnende Regelung in Art. 153 Abs. 5 AEUV deshalb nicht einschlägig sei, weil in der vorgeschlagenen Richtlinie keine Maßnahmen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Höhe des Arbeitsentgelts enthalten seien.8 3. Vorliegend relevante Regelungskompetenzen der Union auf dem Gebiet der Sozialpolitik Die zentrale Kompetenzgrundlage für die Sozialpolitik der Union und insbesondere das Arbeitsrecht ist Art. 153 AEUV.9 Für die in Art. 153 Abs. 1 lit. a bis i AEUV ausdrücklich genannten Bereiche besitzt die Union eine Richtlinienkompetenz (vgl. Art.153 Abs. 2 lit. b AEUV) im Rahmen einer geteilten Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten(nach Art. 4 Abs. 2 lit. b) AEUV).10 Dabei hat die Union das Subsidiaritätsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV) zu beachten. Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV benennt die Arbeitsbedingungen. Was an dieser Stelle unter diesem Begriff zu verstehen ist, ist nicht abschließend geklärt. Einigkeit besteht insoweit, dass jedenfalls der Inhalt und die Begründung von Arbeitsverhältnissen von ihm erfasst sind und in den Grenzen des Art. 153 Abs. 5 AEUV auch das Arbeitsentgelt dazu zählt.11 Der Generalanwalt führte dazu aus, dass das Arbeitsentgelt „eine wesentliche Arbeitsbedingung dar[stellt], vielleicht sogar 7 COM(2020) 682 final, S. 7. 8 COM(2020) 682 final, S. 7. 9 Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 1. 10 Vgl. dazu auch Meyer, ZESAR 2020, 201 (205). 11 Langer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 20; Meyer, ZESAR 2020, 201 (205) und Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 23, subsumieren darüber hinaus das gesamte Arbeitsvertragsrecht unter die Arbeitsbedingungen im Sinne des Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 7 die wichtigste [...]“.12 Der Begriff der Arbeitsbedingungen wird dabei durch die übrigen in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgezählten Kompetenzbereiche begrenzt. Letztere sind insoweit als spezieller anzusehen.13 Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV nennt die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer - und Arbeitgeberinteressen. Die Reichweite dieses Kompetenzbereichs ist ebenfalls umstritten : Es wird vertreten, dass das gesamte Tarifrecht aufgrund dessen Nähe zum Koalitionsrecht und dessen Durchsetzung mit Mitteln des Arbeitskampfes aufgrund des Art. 153 Abs. 5 AEUV einer unionsrechtlichen Regelung entzogen sei.14 Die besseren Argumente (insbesondere der Wortlaut und die Systematik) sprechen jedoch für eine Rechtsetzungskompetenz der Union auf dem Gebiet des Tarifrechts, insbesondere für Regelungen zu Kollektivverhandlungen.15 Diese ist aufgrund der Ausnahme des Koalitionsrechts, worunter die Binnenverhältnisse der Koalitionen zu verstehen sind, durch Art. 153 Abs. 5 AEUV begrenzt auf das Handeln der Koalitionen nach außen, also der Vertretung und Wahrnehmung der Mitgliederinteressen ohne die ebenfalls ausgenommenen Arbeitskampfmaßnahmen.16 Eine andere Auslegung würde Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV auch keinen hinreichenden Anwendungsbereich mehr belassen.17 Art. 153 Abs. 5 AEUV ist mit dem EuGH18als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und schließt lediglich die Festlegung der Höhe des Arbeitsentgeltes aus, nicht jedoch sämtliche Regelungen, die in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem Arbeitsentgelt stehen.19 Der EuGH führte zu Art. 153 Abs. 5 AEUV aus, „dass diese Ausnahme so zu verstehen ist, dass sie 12 Schlussanträge des Generalanwalts in den verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 48. 13 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. 14 Krebber, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 12; Klumpp, in: MHdB ArbR, § 227, Rn. 3. 15 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 104; Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 34; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 53. 16 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 34. 17 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 104. 18 EuGH, Urt. v. 19.06.2014, verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 10.06.2010, verb. Rs. C-395/08 und C-396/08, Rn. 35; EuGH, Urt. v. 15.04.2008, Rs. C-268/06, Rn. 35. 19 Meyer, ZESAR 2020, 201 (205); Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 8 sich auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines Mindestlohns bezieht, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingreifen würde. Sie lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken, ohne dass einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt würden [...].“20 Auch zur gleichlautenden Vorgängervorschrift urteilte er bereits, dass die Ausnahmevorschrift der Union „eine Gesetzgebungszuständigkeit für die Festlegung eines Mindestlohns auf Gemeinschaftsebene versage“, aber einer „Einbeziehung von Materien wie Arbeitsentgelt und Versorgungsbezüge in den Begriff ‚Arbeitsbedingungen ‘ [...] nicht entgegenstehe“.21 Neben dem Arbeitsentgelt entzieht Art. 153 Abs. 5 AEUV auch das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht der Regelungskompetenz der Union. Es wird vertreten, dass dieser Ausschluss auch das Tarifrecht mit umfasse.22 Mit dem EuGH spricht sich die überwiegende , vorzugswürdige Ansicht jedoch auch insoweit für eine enge Auslegung des Art. 153 Abs. 5 AEUV aus.23 Die Vorschrift darf in systematischer Hinsicht insbesondere nicht so verstanden werden, dass den in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgezählten Kompetenzgebieten kein relevanter Anwendungsbereich mehr verbleibt.24 Das in Art. 153 Abs. 5 AEUV erwähnte Koalitionsrecht bezieht sich demnach nur auf die Gründung, Mitgliedschaft und innere Organisation der Koalition, während das Handeln nach außen, also die Vertretung und Wahrnehmung der Mitgliederinteressen , in den Anwendungsbereich des Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV fallen.25 Danach besteht insoweit eine Richtlinienkompetenz der Union, Mindestvorgaben für das Tarifvertragsrecht vorzusehen.26 20 EuGH, Urt. v. 19.06.2014, verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12, Rn. 33. 21 EuGH, Urt. v. 15.04.2008, Rs. C-268/06, Rn. 35. 22 Krebber, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 12; Klumpp, in: MHdB ArbR, § 227, Rn. 3. 23 So Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 103; Langer, in: von der Greben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht , 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 45; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 53; Thüsing, Traut, RdA, 65 (67). 24 Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 24. 25 So Thüsing, Traut, RdA, 65 (67); Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRV/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 153 AEUV, Rn. 129, 133. 26 So Langer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 153 AEUV, Rn. 47; Thüsing, Traut, RdA, 65 (67); nach Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRV/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 153 AEUV, Rn. 129, insbesondere zur Frage, unter welchen Voraussetzungen und Repräsentativitätsanforderungen mitgliedstaatliche Tarifverträge in anderen Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene als solche anzuerkennen sind. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 9 4. Zur ersten Frage: Inwieweit ist die Kommission berechtigt, den Mitgliedstaaten verbindliche Kriterien für einen europäischen Mindestlohn vorzugeben? Die vorgeschlagene Richtlinie legt in ihrem Art. 5 ein Mindestmaß an verbindlichen Kriterien zur Festlegung von gesetzlichen nationalen Mindestlöhnen fest. Dabei gilt Art. 5 der vorgeschlagenen Richtlinie lediglich für die Mitgliedstaaten, die bereits einen gesetzlichen Mindestlohn haben. Eine Verpflichtung zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wird gerade nicht geregelt. Die in Art. 5 der vorgeschlagenen Richtlinie genannten Kriterien sind zudem nicht derart konkret , dass sie die Mindestlohnhöhe direkt regeln. Es wird gerade kein bestimmter Anteil am jeweiligen nationalen Median- oder Durchschnittslohn verlangt, sondern lediglich ein Mindestmaß an Kriterien, die bei der Festlegung der nationalen gesetzlichen Mindestlöhne - soweit solche vorhanden sind - zu beachten sind. Dies soll zu angemessenen Mindestlöhnen führen, wobei keine Festlegung der Höhe des (Mindest-)Arbeitsentgelts erfolgt. Beispielsweise ist nach Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit.b) „das allgemeine Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung“ bei der Festlegung von nationalen gesetzlichen Mindestlöhnen als Kriterium zu berücksichtigen. Ziel dieser Berücksichtigung soll ein angemessener Mindestlohn sein, dessen Höhe jedoch allein von den Mitgliedstaaten bestimmt werden soll. Ein konkretes Niveau der Bruttolöhne oder ein bestimmter Anteil am allgemeinen Niveau der Bruttolöhne als Mindestlohn wird gerade nicht vorgeschrieben . Auch im Erwägungsgrund 21 wird lediglich darauf hingewiesen, dass bestimmte Prozentsätze des nationalen Bruttomedianlohns und des Bruttodurchschnittslohns als Richtschnur für die Bewertung der Angemessenheit des Mindestlohns im Verhältnis zum Bruttolohn dienen können. Auch Art. 4 der vorgeschlagenen Richtlinie regelt nicht die Höhe eines (tarifvertraglichen) Mindestlohns . Ebenso wird kein verbindlicher Abdeckungsgrad vorgeschrieben. Bei einem Abdeckungsgrad von weniger als 70% werden die Mitgliedstaaten lediglich zu verstärkten Fördermaßnahmen im Hinblick auf Tarifverhandlungen verpflichtet. Die konkrete Auswahl und Gestaltung dieser Maßnahmen bleibt den Mitgliedstaaten weitestgehend überlassen. Die eng auszulegende Ausnahmevorschrift des Art. 153 Abs. 5 AEUV ist nach hiesiger Auffassung daher nicht einschlägig. Die vorgeschlagene Richtlinie dürfte sich auf die Richtlinienkompetenz der Union gemäß Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV stützen lassen. Die Regelung des Art. 153 Abs. 5 AEUV beschränkt aber dann die Richtlinienkompetenz der Union, soweit es um die unmittelbare Festsetzung der Höhe eines Mindestlohns geht.27 Insoweit dürfte sie auch keine verbindlichen Kriterien vorgeben, etwa in Form eines festen prozentualen Teils am jeweiligen nationalen Median- oder Durchschnittslohn.28 27 So auch: Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRV/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 153 AEUV, Rn. 120. 28 So auch Meyer, ZESAR 2020, 201 (205); Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 64; a.A. wohl Botsch/Hochscheidt, Soziale Sicherheit 8-9/2020, 296 (297, 299). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 102/20 Seite 10 5. Zur zweiten Frage: Bedarf es für die Vorgabe verbindlicher Kriterien für einen europäischen Mindestlohn ergänzende vertragliche Regelungen im Bereich der europäischen Sozialpolitik ? Nach hiesiger Auffassung ist die Regelung des Art. 5 des Richtlinienvorschlags von der Rechtsgrundlage des Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV gedeckt. Es bedarf hierfür keine ergänzenden vertraglichen Regelungen im Bereich der europäischen Sozialpolitik. Für die Regelung eines europäischen Mindestlohns, d.h. einem Mindestlohn, der von der Union entweder absolut oder relativ der Höhe nach direkt bestimmt wird und unionsweit gilt, bedürfte es wohl einer Änderung des Art. 153 Abs. 5 AEUV.29 6. Zur dritten Frage: Umfasst die vertraglich geregelte Kompetenz der EU nach dem AEUV Eingriffe in das Tarifgefüge der Mitgliedstaaten? Neben den in Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV genannten Arbeitsbedingungen sieht Art. 153 Abs. 1 lit. f i.V.m. Abs. 2 lit. b AEUV auch eine Richtlinienkompetenz für die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen vor. Art. 153 Abs. 5 AEUV hindert nur solche Regelungen, welche die dort genannten Materien unmittelbar regeln, nicht auch jene, welche diese nur mittelbar beeinflussen.30 Demnach sind mit der vorzugswürdigen Ansicht Regelungen zum Tarifrecht von der Richtlinienkompetenz der Union erfasst.31 Ausgenommen sind lediglich solche, die unmittelbar das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht regeln. Vom Koalitionsrecht sind aber gerade die Kollektivverhandlungen zu trennen.32 Dabei müssen sämtliche Regelungen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 3, 4 EUV entsprechen. - Fachbereich Europa - 29 Meyer, ZESAR 2020, 201 (206), lässt offen, ob eine Änderung des AEUV nötig wäre oder dies auch durch koordinierende Maßnahmen aller Mitgliedstaaten zulässigerweise erreicht werden könnte. 30 Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 63. 31 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Werkstand: 71. EL August 2020, Art. 153 AEUV, Rn. 104; Maul-Sartori, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 153 AEUV, Rn. 34; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, EU-Kommentar , 4. Auflage 2019, Art. 153 AEUV, Rn. 53. 32 So auch ausdrücklich die Regelung in Art. 156 AEUV.