© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 – 3000 – 098/19 Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als Rechtfertigung für Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als Rechtfertigung für Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 098/19 Abschluss der Arbeit: 8.11.2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Diskussionsstand zur unionsrechtlichen Zulässigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke 4 3. Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als Rechtfertigung für Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV 5 3.1. Die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als vom EuGH anerkannter Rechtfertigungsgrund 5 3.1.1. Erwägungen im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 6 3.1.2. Rechtfertigung durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ 6 3.1.3. Kulturgüterschutz als „zwingender Grund des Allgemeininteresses“ 7 3.2. Verhältnismäßigkeit 8 4. Ergebnis 10 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 4 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzesentwurfs zur Wiedereinführung der Meisterpflicht für einzelne Handwerke vom 2.10.2019 ist der Fachbereich Europa beauftragt worden, zu untersuchen, ob die „Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes “1 ein Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) darstellen könnte. Zunächst soll kurz auf den bisherigen Diskussionsstand im Hinblick auf die allgemeine unionsrechtliche Zulässigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke eingegangen werden (Ziff. 2.). Daraufhin soll vor dem Hintergrund des Gesetzesentwurfs vom 2.10.2019 untersucht werden, ob Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV potentiell durch Gründe der Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes gerechtfertigt werden könnten (Ziff. 3). 2. Diskussionsstand zur unionsrechtlichen Zulässigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke Zur Frage der grundsätzlichen unionsrechtlichen Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke wird auf die bereits vorliegende Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 037/17 verwiesen.2 Darin wird dargelegt, dass nach der für die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH Berufsqualifikationserfordernisse entweder schon nicht als Eingriff oder generell nicht als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit zu werten sind, wenn zugleich gewährleistet ist, dass in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen und Berufserfahrung angemessen berücksichtigt werden. Einer gesonderten Rechtfertigung allein der Berufsqualifikationsanforderung bedürfte es danach nicht.3 1 Siehe Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 1, 25 (nachfolgend Gesetzesentwurf vom 02.10.2019) sowie Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 09.10.2019 (zuletzt abgerufen am 08.01.2020). 2 Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 37/17 – „Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreien Handwerke“. Insoweit sei darauf hingewiesen, dass der in der Ausarbeitung unter Fn. 34 angesprochene Entwurf Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, KOM(2016) 822 final zwischenzeitlich als RICHTLINIE (EU) 2018/958 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Juni 2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (VH-RL), Abl. EU 2018 L 173/25 erlassen wurde. 3 Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 37/17 (Fn. 2), Seite 20 f. sowie Seite 30 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 5 Nach Ansicht der Bundesregierung im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 stellt die Wiedereinführung der Zulassungspflicht für bisher zulassungsfreie Handwerke4 dagegen eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV dar, die jedoch gerechtfertigt ist.5 Eine abschließende Beurteilung dieser Frage bleibt dem EuGH vorbehalten. 3. Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als Rechtfertigung für Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV Vor dem Hintergrund des Gesetzesentwurfs vom 2.10.2019 hat der Auftraggeber um Prüfung gebeten , ob Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV aus Gründen der „Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes“ potentiell gerechtfertigt werden können . Hierzu ist zunächst darzustellen, inwieweit die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes einen vom EuGH anerkannten Rechtfertigungsgrund gegenüber Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV darstellt (Ziff. 3.1.). Ferner ist zu betrachten, ob im Hinblick auf den Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 im Rahmen der Rechtfertigung von Beschränkungen aufgrund der Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde (Ziff. 3.2.). 3.1. Die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als vom EuGH anerkannter Rechtfertigungsgrund Nachfolgend sollen zunächst die Erwägungen im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 (Ziff. 3.1.1.) dargestellt sowie folgend der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes eine Rechtfertigung von Eingriffen in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV aus „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ zulässt (Ziff. 3.1.2. sowie Ziff. 3.1.3.). 4 Hierbei handelt es sich um die in der Anlage A unter Ziff. 42 – 53 aufgeführten Handwerke: Ziff. 42: Fliesen-, Platten,- und Mosaiklege; Ziff. 43: Betonstein- und Terrazzohersteller; Ziff. 44:Estrichleger; Ziff. 45: Behälterund Apparatebauer; Ziff. 46: Parkettleger; Ziff. 47: Rollladen- und Sonnenschutztechniker; Ziff. 48 Drechsler (Elfenbeinschnitzer) und Holzspielzeugmacher; Ziff. 49: Böttcher; Ziff. 50: Glasveredler; Ziff. 51 Schilder- und Lichtreklamehersteller; Ziff. 52: Raumausstatter; Ziff. 53: Orgel- und Harmoniumbauer, siehe Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 7 f. 5 Siehe Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 19 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 6 3.1.1. Erwägungen im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 Im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 führt die Bundesregierung zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV im Hinblick auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes aus: „Unter europarechtlichen Aspekten stellt die Wiedereinführung der Zulassungspflicht bzw. die im Hinblick auf EU-Ausländer insoweit entstehende Anerkennungspflicht aus § 9 der Handwerksordnung in Verbindung mit §§ 1 ff. der EWR/EU-Handwerksverordnung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gemäß Artikel 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dar. Diese Beschränkungen sind aber gerechtfertigt. So hat der EuGH den Gesundheits- und Verbraucherschutz, aber auch den Kultur(gut)schutz, insbesondere als Interesse an der Erhaltung des historischen und künstlerischen Erbes bereits als tragfähige zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung der europäischen Grundfreiheiten rechtfertigen können, anerkannt.“6 [Hervorhebung durch den Verfasser] 3.1.2. Rechtfertigung durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ Betrachtet man zunächst die für Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit in Art. 52 AEUV aufgeführten Rechtfertigungsgründe, so ist der Kulturgüterschutz dort nicht ausdrücklich benannt.7 Allerdings lassen sich nach Ansicht des EuGH in seiner „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung Beeinträchtigungen in die Warenverkehrsfreiheit auch im Rahmen des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrunds der sog. „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ rechtfertigen.8 Die Rechtfertigung aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses findet nach der Rechtsprechung 6 Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 25. 7 Art. 52 AEUV ist überdies eng auszulegen, vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 52 AEUV, Rn. 122. 8 Sog. Cassis-de-Dijon-Formel des EuGH: EuGH, Urteil vom 20.02.1972, Rs. 120/78 (REWE-Zentral/Bundesmonopolverwaltung für Brantwein, Slg. 1979, 650, Rn. 8, 14; vgl. dazu auch Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 Rn. 44 sowie Art. 36 AEUV, Rn. 35 ff., 107 ff.; Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 80. Müller-Graf, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 49 AEUV, Rn. 85 ff. sieht in den zwingenden Gründen des Allgemeinwohls hingegen keinen Rechtfertigungsgrund , sondern eine „immanente Schranke“ des Anwendungsbereichs von Art. 49 AEUV. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nicht eindeutig, ob die vorgenannte Cassis-de-Dijon-Formel auf alle Formen von Beeinträchtigungen gleichermaßen anwendbar ist. Diese Frage wird in der Literatur daher vielfach diskutiert . Stimmen der Literatur zufolge gilt diese Rechtfertigung allein für Eingriffe beschränkender Natur sowie indirekt diskriminierender Maßnahmen: Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 52 AEUV, Rn. 122 f.; zur Diskussion vgl. ferner die Darstellung bei Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 82 ff.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 7 des EuGH auch ausdrücklich im Bereich der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV Anwendung .9 3.1.3. Kulturgüterschutz als „zwingender Grund des Allgemeininteresses“ Für den Kulturgüterschutz hat der EuGH insoweit ausdrücklich anerkannt, dass kulturelle Zwecke gewisse Behinderungen des freien Warenverkehrs rechtfertigen können,10 bzw. dass das allgemeine Interesse an der Erhaltung des historischen und künstlerischen Erbes ein zwingender Grund sein kann, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt.11 Ferner wurde der Kulturschutz vom EuGH auch im Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit als Rechtfertigungsgrund anerkannt.12 Außerdem verweist Art. 6 Abs. 2 VH-RL13 im Hinblick auf die Wahrung der Ziele des Allgemeininteresses ausdrücklich auch auf die „Ziele der Kulturpolitik“. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nach Ansicht der Literatur die „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ den Mitgliedstaaten einen „weiten Spielraum zur Definition schützenswerter Belange“ eröffnen.14 Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Kulturschutz im Grundsatz von den zwingenden Gründen des Allgemeinwohls umfasst und zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV grundsätzlich geeignet. 9 Bspw. EuGH, Urteil vom 11.05.1999, Rs. C-255/97 (Pfeiffer Großhandel/Löwa Warenhandel), Slg. 1999, I-2853, Rn. 19, siehe dazu ferner Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 80. 10 EuGH, Urteil vom 11.07.1985, verb. Rs. 60 und 61/84 Cinétheque SA u. a./Féderation nationale des cinémas francais u. a.), Slg.1985, 2605, 2626, Rn 18. Darauf verweist auch die Bundesregierung im Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 25; siehe dazu ferner Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 59 f. sowie Art. 49 AEUV, Rn. 54. 11 EuGH, Urteil vom 26.2.1991, Rs. C-180/89 (Kommission/Italien), Slg. 1991, I-718, Rn. 20; vgl. hierzu Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 34 – 36 AEUV, Rn. 80. 12 Siehe dazu die Urteile des EuGH im Bereich des Rundfunks: EuGH, Urteil vom 25.7.1991, Rs. C-288/89 (Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a./Commissariaat voor de Media), Slg. 1991 I-4035, Rn. 22 f.; EuGH, Urteil vom 25.7.1991, Rs. C-353/89 (Kommission/Niederlande), Slg. 1991, I-4088, Rn. 2, 29 ff.; vgl. dazu aus der Literatur Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 49 AEUV, Rn. 54. 13 RICHTLINIE (EU) 2018/958 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Juni 2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (VH-RL), siehe oben Fn. 2. 14 So die Einschätzung von Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 52 AEUV, Rn. 122; vgl. hierzu ferner Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 36; eine Übersicht für weitere von vom EuGH anerkannte zwingende Gründe des Allgemeinwohls findet sich bei Müller-Graf, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 49 AEUV, Rn. 86. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 8 3.2. Verhältnismäßigkeit Im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung von Beschränkungen in die vertraglichen Grundfreiheiten bedarf es der Rechtsprechung des EuGH zufolge einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.15 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung umfasst zum einen die Geeignetheit der betreffenden nationalen Maßnahme zur Erreichung des geltend gemachten Ziels bzw. des Rechtfertigungsgrundes und zum anderen die Erforderlichkeit Maßnahme. Danach darf der geltend gemachte Rechtfertigungsgrund nicht durch weniger beschränkende Maßnahmen erreichbar sein.16 Zu betrachten ist daher, ob die Wiedereinführung der Zulassungspflicht für die derzeit zulassungsfreien Handwerke entsprechend dem Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 geeignet und erforderlich ist, um die Ziele des Kulturschutzes zu erreichen. Im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 führt die Bundesregierung im Hinblick auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes aus: „„(Materielles) Kulturgut” ist jede bewegliche Sache oder Sachgesamtheit von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder aus anderen Bereichen des kulturellen Erbes , insbesondere von paläontologischem, ethnographischem, numismatischem oder wissenschaftlichem Wert (§ 2 Absatz 1 des Kulturgutschutzgesetzes). Der Umgang mit Kulturgütern erfordert höchste fachliche Kompetenz. Falscher und unsachgemäßer Umgang kann solche Kulturgüter unwiederbringlich zerstören oder beschädigen. Der fachgerechte Umgang mit Kulturgütern setzt daher eine entsprechende Qualifizierung voraus, um den Erhalt der Güter zu gewährleisten und insbesondere eine Zerstörung oder schwere irreparable Schäden daran zu vermeiden. Bei Handwerken, bei denen der Umgang mit Kulturgütern prägend für das Berufsbild ist, ist eine präventive Maßnahme wie die Meisterpflicht als Berufszugangsregelung zugunsten des Schutzes dieser Kulturgüter trotz der Belastungen durch den Eingriff zumutbar. Zum anderen sind zwei (Orgel- und Harmoniumbauer, Drechsler (Elfenbeinschnitzer) und Holzspielzeugmacher) der neu in die Anlage A aufgenommenen Handwerke als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes aus dem Jahr 2003 umfasst ausdrücklich auch „traditionelle Handwerkstechniken “. Der Orgelbau ist bereits in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO aufgenommen worden. Ziel des UNESCO Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes ist die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes auf nationaler und internationaler Ebene sowie die Förderung des Bewusstseins für die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes und seiner Wertschätzung. Traditionelles und über Generationen überliefertes Wissen soll anerkannt und wertgeschätzt werden. Das Übereinkommen wird in Deutschland umgesetzt, um die Vielfalt des lebendigen Kulturerbes in Deutschland 15 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 8.9.2016, Rs. C-225/15 (Domenico Politanò), ECLI:EU:C:2016:645, Rn. 44; EuGH, Urteil vom. 05.12.2013, verb. Rs. C-159/12 bis C-161/12 (Venturin/ASL Varese u. a.), ECLI:EU:C:2013:791, Rn. 37, 44, 58; EuGH, Urteil vom 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung/Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs), ECLI:EU:C:2016:776, Rn. 34. 16 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 8.9.2016, Rs. C-225/15 (Domenico Politanò), ECLI:EU:C:2016:645, Rn. 44; EuGH, Urteil vom. 05.12.2013, verb. Rs. C-159/12 bis C-161/12 (Venturin/ASL Varese u. a.), ECLI:EU:C:2013:791, Rn. 37, 44, 58; EuGH, Urteil vom 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung/Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs), ECLI:EU:C:2016:776, Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 9 und weltweit zu erhalten, zu pflegen und zu fördern (Deutsche UNESCO-Kommission). Kulturgüter wiederum sind materielle Zeugnisse des kulturellen Erbes. Werden Kulturgüter zerstört , dann wird auch eine Quelle von Wissen und Identität beschädigt (Deutsche UNESCO- Kommission). Um die speziellen für die Ausübung dieser Handwerke notwendigen Techniken dauerhaft in diesem Sinne als immaterielles Kulturerbe zu erhalten und traditionelle Techniken und Fachwissen zu sichern sowie weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, dass in diesem Handwerk eine qualifizierte Fachkräftebasis gewährleistet wird. Das Meister-Schüler-Prinzip ist eine als hochwertig und äußerst effektiv anerkannte Form der Wissensvermittlung im Rahmen des immateriellen Kulturerbes. Der Austausch und die Weitergabe von traditionellen Techniken und Fachwissen sind für den Erhalt eines Handwerks und eine qualitativ hochwertige handwerkliche Leistung unbedingt erforderlich. Ein solch essentieller Wissenstransfer ist aber nur möglich, wenn ausreichend Menschen eine entsprechende Ausbildung und Weiterqualifizierung als Meister in dem Handwerk absolvieren. Nur dann können traditionelle Techniken und Fachwissen von erfahrenden Handwerkern weitergegeben und somit dauerhaft erhalten werden. Die Sicherstellung des Wissenstransfers und der Erhaltung ist nur möglich , wenn für diese Handwerke wieder die Meisterpflicht als Zugangsvoraussetzung zum Handwerk eingeführt wird.“17 Im Hinblick auf das Berufsbild „Orgelbauer“ wird im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 ergänzend ausgeführt: „[…] Das Berufsbild des Orgel- und Harmoniumbauers betrifft in einem Schwerpunkt nun auch die Erhaltung von Kulturgütern. Die Restaurierung, der Schutz und die Pflege teils Jahrhunderte alter Instrumente sind wesentlicher Bestandteil des Leistungsbilds. Unfachmännisch und deshalb mangelhaft oder falsch restaurierte und gepflegte Instrumente sind unter Umständen für immer verloren. Vor allem wurden Orgelbau und Orgelmusik aus Deutschland 2014 in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes und 2017 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO aufgenommen. Ohne eine Sicherung der Fachkräftebasis kann das als Kulturerbe anerkannte Fachwissen des Handwerks nicht weitergegeben und bewahrt werden. Im Zusammenhang mit dem Schutz des immateriellen Kulturerbes fällt die stark rückläufige Anzahl an Auszubildenden und Meisterabschlüssen seit der Novelle 2004 noch einmal stärker ins Gewicht (Meisterabschlüsse 2002: 10, Meisterabschlüsse 2018: 4; Auszubildende 2002: 217, Auszubildende 2017: 116), während die Anzahl an Betrieben gewachsen ist (1998: 345, 2016: 419). Ausbildungsplätze werden im Orgel- und Harmoniumbauerhandwerk aber nahezu ausschließlich von Meisterbetrieben zur Verfügung gestellt.“ 18 Ferner wird hinsichtlich des Berufsbildes „Drechsler (Elfenbeinschnitzer) und Holzspielzeugmacher “ im Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 ausgeführt: 17 Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 25 f., siehe ferner Seite 15 f.. 18 Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 33. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 10 „Das Drechsler- und Holzspielzeugmacherhandwerk wurde 2018 in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland aufgenommen (https://www.unesco.de/kulturundnatur /immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/bundesweites-84). Ohne eine Sicherung der Fachkräftebasis kann das als Kulturerbe anerkannte Fachwissen des Handwerks nicht weitergegeben und bewahrt werden. Im Zusammenhang mit dem Schutz als immaterielles Kulturerbes fällt die stark rückläufige Anzahl an Auszubildenden und Meisterabschlüssen seit der Novelle 2004 noch einmal stärker ins Gewicht (Meisterabschlüsse 2002: 7; Meisterabschlüsse 2017: 1; Auszubildende 2002: 86, Auszubildende 2017: 15). Demgegenüber ist die Anzahl an Betrieben stark angestiegen (1998: 857, 2016: 1571). Demzufolge sind viele der neu gegründeten Betriebe nicht von einem Meister geführt. Ausbildungsplätze werden im Drechsler- und Holzspielzeugmacherhandwerk aber nahezu ausschließlich von Meisterbetrieben zur Verfügung gestellt. Wesentlicher Tätigkeitsbereich im Drechsler- und Holzspielzeugmacherhandwerk ist auch die Restaurierung historischer Möbel oder Bauteile, von Kunstgegenständen in Kirchen, historischen Bauten und für Museen. Diese Tätigkeiten zum Schutz von Kulturgütern sind nur mit dem notwendigen qualifizierten Fachwissen über die Arbeitsweisen während der jeweiligen Entstehungsperiode (Werkspuren der ursprünglichen Fertigung entsprechend) ohne Gefahr für das Werkstück möglich. […]“19 Hinsichtlich der in der Begründung zum Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 benannten Berufsbilder „Orgelbauer“ sowie „Drechsler (Elfenbeinschnitzer) und Holzspielzeugmacher“ sprechen die insoweit angestellten Erwägungen der Bundesregierung dafür, die Berufung auf die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes als verhältnismäßig anzusehen. Eine abschließende Entscheidung hierüber bleibt jedoch dem EuGH vorbehalten. 4. Ergebnis Zunächst wird zur Frage, ob und inwieweit nach der für die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH Berufsqualifikationserfordernisse entweder schon nicht als Eingriff oder generell nicht als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit zu werten sind, wenn zugleich gewährleistet ist, dass in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen und Berufserfahrung angemessen berücksichtigt werden, auf den bisherigen Diskussionsstand verwiesen.20 Darüber hinaus kann im Ergebnis, der Rechtsprechung des EuGH folgend, die „Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes“ als zwingender Grund des Allgemeininteresses allgemein eine Rechtfertigung für Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV darstellen .21 19 Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften (Bearbeitungsstand: 02.10.2019 13:09 Uhr), Seite 31. 20 Siehe die Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 37/17 (Fn. 2) sowie die Ausführungen oben unter Ziff. 2. 21 Siehe dazu oben die Ausführungen unter Ziff. 3.1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 098/19 Seite 11 Hinsichtlich der in der Begründung zum Gesetzesentwurf vom 2.10.2019 benannten Berufsbilder „Orgelbauer“ sowie „Drechsler (Elfenbeinschnitzer) und Holzspielzeugmacher“ sprechen die insoweit angestellten Erwägungen der Bundesregierung dafür, die Berufung auf die Wahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes zudem als verhältnismäßig anzusehen. Eine abschließende Entscheidung hierüber bleibt dem EuGH vorbehalten. – Fachbereich Europa –