© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen Vorgaben des Unionsrechts und des Völkerrechts Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Europäisches Primärrecht 4 2.2. Europäisches Sekundärrecht – Schengener Grenzkodex 5 2.2.1. Art. 25 und 29 SGK 5 2.2.2. Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland seit 2015 6 2.2.3. Kriterium der ernsthaften Bedrohung 7 2.2.4. Zeitlicher Umfang 8 2.2.5. Änderung des Schengener Grenzkodexes 9 3. Bilaterale Vereinbarungen zur Grenzkontrolle 9 4. Zurückweisung von Asylsuchenden mit Einreise- und Aufenthaltsverbot an der Grenze 10 4.1. Vorgaben der Dublin-III-Verordnung 10 4.2. Völkerrechtliche Vorgaben (Abschnitt von WD 2) 11 4.2.1. Refoulement-Verbot 12 4.2.1.1. Völkerrechtliche Verankerung 12 4.2.1.2. Ausprägungen durch die Rechtsprechung des EGMR 12 4.2.1.3. Kettenabschiebungen 13 4.2.2. Pauschale Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen 13 4.2.3. Verbot der Kollektivausweisung 14 5. Rechtsmittel im Unionsrecht 14 5.1. Rechtsmittel von betroffenen Personen 14 5.2. Rechtsmittel der EU-Organe und anderer Mitgliedstaaten 15 Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist um Auskunft zu den unionsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen und der Möglichkeit von Zurückweisungen an den Binnengrenzen ersucht worden. Die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen zu diesen Fragen werden vom Fachbereich WD 2 erörtert (s. Abschnitt 4.2.), während die Fragen zum nationalen Recht in einer gesonderten Ausarbeitung des Fachbereichs WD 3 beantwortet werden.1 Die erste Frage betrifft die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums. Insbesondere ist gefragt worden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Mitgliedstaaten Grenzkontrollen einführen bzw. verlängern können und für welchen Zeitraum Verlängerungen möglich sind (2.). Daran anknüpfend wird nach den Voraussetzungen für bilaterale Vereinbarungen zu Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums und deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht gefragt (3.). Weiterhin ist gefragt worden, unter welchen Voraussetzungen unter Beachtung von Unionsrecht und Völkerrecht eine Zurückweisung von Menschen mit Einreisesperren möglich ist, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits Asyl beantragt haben oder als asylsuchend registriert sind (4.). Als letzter Punkt ist zu klären, welche Rechtsmittel den Institutionen der EU, den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. einzelnen betroffenen Personen bei unrechtmäßigen Grenzkontrollen oder Zurückweisungen an der Grenze zur Verfügung stehen (5.). 2. Einführung von Grenzkontrollen 2.1. Europäisches Primärrecht Gemäß Art. 67 Abs. 2 Satz 1 AEUV stellt die Europäische Union sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen. Art. 77 Abs. 1 lit. a) AEUV gibt darauf aufbauend das Ziel vor, dass die Union eine Politik entwickelt, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Art. 77 Abs. 2 lit. e) AEUV ermächtigt die Union im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zur Abschaffung der Kontrolle von Personen gleich welcher Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen zu erlassen. Diese Bestimmung stellt die Rechtsgrundlage für den heute geltenden Schengener Grenzkodex dar, der die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen in der EU und mögliche Ausnahmen davon sekundärrechtlich ausgestaltet.2 1 WD-Gutachten, Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze aus nationaler Perspektive, WD 3 – 3000 – 243/18. 2 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EL 57, Stand: August 2015, Art. 77 AEUV, Rn. 40. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 5 2.2. Europäisches Sekundärrecht – Schengener Grenzkodex Art. 22 der Verordnung (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex, im Folgenden: SGK)3 bestimmt: „Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“ Der SGK verbietet mithin grundsätzlich die Durchführung von Grenzkontrollen. Es gibt jedoch Ausnahmeregelungen, die im Folgenden dargestellt werden. 2.2.1. Art. 25 und 29 SGK Die Mitgliedstaaten können gemäß den Vorgaben des Kapitels II des Titels III des Schengener Grenzkodexes (Art. 25 – Art. 35 SGK) Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vorübergehend wiedereinführen. Gemäß Art. 25 Abs. 1 SGK ist in dem Sonderfall, dass die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht ist, diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet , gestattet. Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 29 SGK vor, kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Art. 25 Abs. 4 Satz 2 SGK auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden. Art. 29 Abs. 1 SGK bestimmt, dass im Falle außergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, und soweit diese Umstände eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen oder in Teilen dieses Raums darstellen, die Mitgliedstaaten Kontrollen an den Binnengrenzen gemäß Art. 29 Abs. 2 SGK für einen Zeitraum von höchstens sechs Monaten wieder einführen können. Dieser Zeitraum kann gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 2 SGK höchstens dreimal um einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Monaten verlängert werden, wenn diese außergewöhnlichen Umstände bestehen bleiben. Gemäß Art. 29 Abs. 2 SGK kann der Rat auf Vorschlag der Kommission als letztes Mittel die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen an einer oder mehreren Binnengrenzen oder an bestimmten Abschnitten der Binnengrenzen empfehlen. Voraussetzung einer solchen Empfehlung ist entweder das Bestehen außergewöhnlicher Umstände aufgrund schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen nach Art. 21 SGK, die eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit darstellen und das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährden, oder das Bestehen außergewöhnlicher Umstände gemäß Art. 29 SGK i.V.m. Art. 9 Abs. 1 und 10 der Verordnung (EU) 2016/1624 3 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. 2016 L, 77/1, konsolidierte Fassung abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02016R0399-20170407&from=EN. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 6 (Frontex-VO).4 Art. 19 Frontex-VO i.V.m. Art. 29 SGK sehen die Wiedereinführung von Grenzkontrollen vor, wenn ein Mitgliedstaat nicht die in einem Beschluss des Rates angeordneten notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Außengrenzen ergreift. Gemäß Art. 29 Abs. 2 UAbs. 3 SGK kann der Rat unter den Bedingungen und Verfahren des Art. 29 SGK eine Verlängerung der Binnengrenzkontrollen empfehlen. 2.2.2. Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland seit 2015 Deutschland hat am 13. September 2015 von der Möglichkeit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen nach den Vorgaben der Vorgängerverordnung des heutigen SGK Gebrauch gemacht und Kontrollen an der deutsch-österreichischen Binnengrenze eingeführt. Die Kommission hat diesbezüglich in einer Stellungnahme erklärt, dass die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch Deutschland und Österreich sowie deren Verlängerungen im Einklang mit dem SGK stehen.5 Der Rat hat am 12. Mai 2016 auf Vorschlag der Kommission einen Durchführungsbeschluss gemäß Art. 29 SGK angenommen, in denen er den Mitgliedstaaten Dänemark, Deutschland, Österreich, Schweden und dem assoziierten Land Norwegen zeitlich befristete Kontrollen an den Binnengrenzen empfiehlt.6 Der Rat hat diesen Beschluss am 11. Mai 2017 auf Vorschlag der Kommission letztmalig um sechs Monate verlängert .7 Seit dem 12. November 2017 sind Binnengrenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich gemäß Art. 25 SGK erneut in nationaler Verantwortung veranlasst worden.8 4 Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates und der Entscheidung des Rates 2005/267/EG, ABl. 2016 L, 251/1, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2016:251:FULL&from=DE. 5 Stellungnahme der Kommission vom 23.10.2015 zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der von Deutschland und Österreich wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen gemäß Artikel 24 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex), C(2015) 7100 final, abrufbar unter http://eudoxap01.bundestag .btg:8080/eudox/dokumentInhalt?id=148743&latestVersion=true&type=5. 6 Durchführungsbeschluss (EU) 2016/894 des Rates vom 12. Mai 2016 mit einer Empfehlung für zeitlich befristete Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen, die das Funktionieren des Schengen- Raums insgesamt gefährden, ABl. vom 8.6.2016, Nr. L 151/8, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016D0894&from=DE. 7 Durchführungsbeschluss (EU) 2017/818 des Rates vom 11. Mai 2017 mit einer Empfehlung zur Verlängerung zeitlich befristeter Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen, die das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährden, ABl. vom 13.5.2017, Nr. L 122/73, abrufbar unter https://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017D0818&from=DE. 8 Bundesregierung, Verlängerung der Grenzkontrollen, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/Content /DE/Artikel/2018/04/2018-04-13-binnengrenzkontrollen.html, S. auch den Überblick der Kommission „Member States’ notifications of the temporary reintroduction of border control at internal borders pursuant to Article 25 et seq. of the Schengen Borders Code”, abrufbar unter https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs /files/what-we-do/policies/borders-and-visas/schengen/reintroduction-border-control/docs/ms_notifications _-_reintroduction_of_border_control_en.pdf. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 7 2.2.3. Kriterium der ernsthaften Bedrohung Das Kriterium der „ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit “ in Art. 25 und 29 SGK ist vom EuGH bisher noch nicht definiert worden. In Erwägungsgrund Nr. 25 des SGK wird auf eine solche Bedrohung insbesondere als „Folge von terroristischen Zwischenfällen oder Bedrohungen oder von Bedrohungen durch die organisierte Kriminalität“ hingewiesen, welche die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Ausnahmefall gebieten könnten. In Erwägungsgrund Nr. 26 wird daran anschließend ausgeführt , dass Migration und das Überschreiten der Außengrenzen durch eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen nicht an sich als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit betrachtet werden sollten. Die Erwägungsgründe des europäischen Sekundärrechts sind allerdings nicht rechtsverbindlich. Der EuGH hat diesbezüglich entschieden, „dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen , noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht."9 In ihrer Stellungnahme zur deutschen Wiedereinführung von Grenzkontrollen argumentierte die Kommission im Jahr 2015, zwar seien sich die Gesetzgebungsorgane der EU darin einig gewesen, dass Migrationsströme an sich nicht die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen rechtfertigen, allein die Zahl der um internationalen Schutz nachsuchenden Personen, die in das deutsche Hoheitsgebiet einreisen, jedoch tatsächlich zu einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit geführt hätten, so dass die Anwendung der außerordentlichen Maßnahmen im Rahmen des SGK gerechtfertigt seien.10 In einer Empfehlung zur Durchführung der Bestimmungen des SGK benennt die Kommission 2017 als aktuelle Beispiele einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit „terroristische Bedrohungen oder ein großes Ausmaß an unkontrollierter Sekundärmigration innerhalb der Union“11. Auch der Rat lässt in seinem Durchführungsbeschluss mit einer Empfehlung zur Verlängerung der Binnengrenzkontrollen die Rechtsansicht erkennen, dass sich Mitgliedstaaten „aufgrund von Mängeln bei den Kontrollen an den griechischen Außengrenzen und der nachfolgenden Sekundärbewegungen irregulärer Migranten, die über Griechenland einreisen und in andere Schengen- 9 EuGH, Urt. vom 19.6.2014, Rs. C‑345/13 – Karen Millen Fashions, Rn. 31. 10 Stellungnahme der Kommission vom 23.10.2015 zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der von Deutschland und Österreich wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen gemäß Artikel 24 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex), C(2015) 7100 final, abrufbar unter http://eudoxap01.bundestag .btg:8080/eudox/dokumentInhalt?id=148743&latestVersion=true&type=5 11 Empfehlung (EU) 2017/1804 der Kommission vom 3. Oktober 2017 zur Durchführung der Bestimmungen des Schengener Grenzkodexes über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen im Schengen-Raum, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017H1804&qid=1530101892260&from=DE. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 8 Staaten weiterreisen“ einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit gegenübersehen.12 Eine abschließende Bestimmung des Kriteriums der ernsthaften Bedrohung ist vorliegend mangels diesbezüglicher Rechtsprechung des EuGH nicht möglich. 2.2.4. Zeitlicher Umfang Es gibt, soweit ersichtlich, kaum Diskussionen zu der Frage, ob die Höchstdauer der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen (von zwei Jahren) auf Empfehlung des Rates gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 SGK und in nationaler Verantwortung gemäß Art. 25 Abs. 1 und 4 Satz 2 SGK i.V.m. Art. 29 Abs. 1 SGK parallel und damit auf insgesamt vier Jahre besteht oder ob die Zwei-Jahres-Frist aus Art. 29 Abs. 1 Satz 2 SGK beide Möglichkeiten der Wiedereinführung von Grenzkontrollen umfasst.13 Für einen einheitlichen Rahmen von insgesamt zwei Jahren für beide Möglichkeiten spricht der Verweis in Art. 25 Abs. 4 Satz 2 SGK, wonach im Falle außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 29 SGK der Gesamtzeitraum national verantworteter Grenzkontrollen gemäß Art. 29 Abs. 1 SGK auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden kann.14 Die Verlängerungsmöglichkeit einer Grenzkontrolle in nationaler Verantwortung nach Art. 25 SGK ist demnach nur gemäß den Vorgaben des Art. 29 Abs. 1 SGK möglich. Dem würde es, Ausführungen in der Literatur zufolge, zuwiderlaufen, wenn neben einer national verantworteten Grenzkontrolle gemäß Art. 25 SGK von maximal zwei Jahren zusätzlich eine Binnengrenzkontrolle auf Empfehlung des Rates gemäß Art. 29 Abs. 2 SGK für die Dauer von zwei Jahren möglich wäre. Insbesondere wenn die Grenzkontrollen nach Art. 25 und 29 SGK auf derselben materiellen Begründung beruhen, müsse ein Gesamtzeitraum nach Art. 29 Abs. 1 von zwei Jahren gelten.15 Andererseits aber lässt Art. 29 SGK seinem Absatz 5 zufolge Maßnahmen unberührt, die die Mitgliedstaaten im Falle einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit nach den Artikeln 25, 27 und 28 SGK erlassen können. Diese Regelung spricht für eine getrennte Betrachtung der Einführung von Grenzkontrollen, je nachdem, ob sie auf Art. 25 SGK oder Art. 29 SGK gestützt worden sind und damit auch für die Möglichkeit einer getrennten Bewertung der zeitlichen Höchstfristen ihrer Einführung bzw. deren Kumulation (zweimal zwei Jahre). Eine Andeutung auf die Möglichkeit zur Kumulation der Höchstfristen findet sich in den Ausführungen der Kommission in ihrer Mitteilung „Schengen bewahren und stärken“, wo es heißt: „Um die Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 29 wieder einzuführen, haben die 12 Durchführungsbeschluss (EU) 2017/818 des Rates vom 11. Mai 2017 mit einer Empfehlung zur Verlängerung zeitlich befristeter Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen, die das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährden. 13 Kritisch zu einer getrennten Betrachtung: Schlikker, Eine Grenze ist eine Grenze ist keine Grenze?, VerfBlog vom 21.6.2018, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/eine-grenze-ist-eine-grenze-ist-keine-grenze/. 14 Schlikker, Eine Grenze ist eine Grenze ist keine Grenze?, VerfBlog vom 21.6.2018. 15 Schlikker, Eine Grenze ist eine Grenze ist keine Grenze?, VerfBlog vom 21.6.2018. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 9 betreffenden Mitgliedstaaten den koordinierten Ansatz angewandt, was die ihnen offenstehende Möglichkeit, im Falle einer anderen ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit vorübergehend wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen, nicht berührt hat.“16 Dieser Abschnitt ließe sich so verstehen, dass das Vorgehen nach Art. 29 SGK zumindest bei einer anderen Bedrohungslage keine Auswirkungen auf die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen nach Art. 25 SGK hat,17 die beiden Rechtsgrundlagen mithin keiner gemeinsamen Höchstfrist von zwei Jahren unterliegen, sondern diese Fristen unabhängig voneinander zu betrachten sind. Mangels einer Entscheidung des EuGH in dieser Frage kann vorliegend nicht abschließend geklärt werden, ob gestützt auf Art. 25 SGK und anschließend auf Art. 29 SGK bzw. vice versa Binnengrenzkontrollen in einem Zeitrahmen von insgesamt mehr als zwei Jahren möglich sind. 2.2.5. Änderung des Schengener Grenzkodexes Auf Unionsebene wird momentan eine Änderung des SGK diskutiert. Die Kommission hat 2017 einen Verordnungsvorschlag zur Änderung des Schengener Grenzkodexes in Bezug auf die Vorschriften über die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen vorgelegt .18 Der Vorschlag der Kommission sieht die Möglichkeit einer weiteren Verlängerung der Binnengrenzkontrollen durch einen Mitgliedstaat gemäß Art. 25 SGK vor. Er befindet sich aktuell noch im Rechtsetzungsverfahren. 3. Bilaterale Vereinbarungen zur Grenzkontrolle Der SGK enthält nur begrenzt Vorgaben zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen Mitgliedstaaten bilaterale Vereinbarungen zur Grenzkontrolle innerhalb des Schengen-Raums schließen können. Er enthält allgemeine Vorgaben zu Fragen der Kooperation von Staaten und Vereinbarungen zwischen ihnen, die zur Bestimmung eines unionsrechtlichen Rahmens für solche bilateralen Vereinbarungen herangezogen werden können. 16 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Schengen bewahren und stärken, COM(2017) 570 final, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52017DC0570&from=EN. 17 Die Möglichkeit einer Kumulierung sieht auch ein Vertreter des Innenministeriums des Landes Baden-Württemberg im Ausschuss für Europa und Internationales des Landtages Baden-Württemberg, vgl. Landtag von Baden- Württemberg, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Europa und Internationales zu der Mitteilung des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration vom 10. November 2017 – Drucksache 16/2999, Drucksache 16/3126, („Ein Vertreter des Innenministeriums führte aus, im Prinzip laufe diese Änderung des Schengener Grenzkodexes den Realitäten hinterher. Ganz konkret gehe es darum, eine Verlängerung der Dauer der Grenzkontrollen zu ermöglichen. In Bayern seien die zwei Jahre, die bisher möglich gewesen seien, bereits überschritten worden. Das hänge damit zusammen, dass nach der alten Regelung die Fristen hätten kumuliert werden können.“), abrufbar unter https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente /WP16/Drucksachen/3000/16_3126_D.pdf. 18 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 in Bezug auf die Vorschriften über die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen , COM(2017) 571 final, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52017PC0571&from=EN. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 10 Gemäß Art. 18 SGK können die Mitgliedstaaten, die Art. 22 SGK (Ausbleiben von Grenzkontrollen ) an ihren gemeinsamen Landesgrenzen nicht anwenden, bis zu dem Tag, ab dem der genannte Artikel anwendbar ist, gemeinsame Kontrollen an diesen Grenzen durchführen. In diesem Fall dürfen Personen unbeschadet der sich aus den Art. 7 bis 14 SGK ergebenden individuellen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nur einmal angehalten werden, um die Ein- und Ausreisekontrollen durchzuführen. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 18 Abs. 1 UAbs. 2 SGK untereinander bilaterale Vereinbarungen treffen. Sie unterrichten die Kommission gemäß Art. 18 Abs. 2 SGK über derartige Vereinbarungen. Wenn Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durchgeführt werden, sieht der SGK mithin ausdrücklich eine Kooperation der Mitgliedstaaten in diesem Bereich durch bilaterale Vereinbarungen vor. Auch für den Fall der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen betonen die entscheidenden Artikel des SGK die Bedeutung einer Kooperation der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, einander und die Unionsorgane über ihre Maßnahmen zu informieren (Art. 27 Abs. 1 SGK, Art. 28 Abs. 2 SGK, Art. 29 Abs. 2 UAbs. 4 SGK). Zudem wird den anderen Mitgliedstaaten ein Recht zur Stellungnahme eingeräumt (Art. 27 Abs. 4 SGK). Art. 27 Abs. 5 SGK sieht die Möglichkeit einer Konsultation vor, gegebenenfalls einschließlich gemeinsamer Sitzungen zwischen dem Mitgliedstaat, der die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beabsichtigt, den anderen Mitgliedstaaten, insbesondere jenen, die von der solchen Maßnahmen unmittelbar betroffen sind, und der Kommission. Ziel dieser Konsultationen sei es, gegebenenfalls eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu organisieren. Eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen ist mithin im Schengener Grenzkodex als eine wünschenswerte Form der Abstimmung anvisiert worden. Bilaterale Vereinbarungen zur Grenzkontrolle, die sich im Rahmen der Vorgaben des SGK halten, sind folglich mit diesem vereinbar. 4. Zurückweisung von Asylsuchenden mit Einreise- und Aufenthaltsverbot an der Grenze 4.1. Vorgaben der Dublin-III-Verordnung Wie in der Ausarbeitung von WD 3 dargestellt, ist es in der Literatur umstritten, ob die Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen einer Grenzkontrolle gemäß Art. 20 der Dublin-III-Verordnung19 zur Prüfung verpflichtet ist, welcher Mitgliedstaat gemäß den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz verantwortlich ist, und aufgrund dieser Verfahrenszuständigkeit keine Antragsteller zurückweisen darf, sondern in den für die Prüfung des Antrags zuständigen Staat überstellen muss. Zu dieser Streitfrage liegt bisher noch keine Rechtsprechung des EuGH vor. Vorliegend ist speziell gefragt worden, unter welchen Voraussetzungen eine Zurückweisung von Personen mit Einreisesperren, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits Asyl beantragt 19 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. vom 29.6.2013, Nr. L 180/31, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=OJ:L:2013:180:0031:0059:de:PDF. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 11 haben oder als asylsuchend registriert sind, unter Beachtung des Unionsrechts an der Grenze möglich ist. Fraglich und umstritten ist dabei, ob auf Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits internationalen Schutz beantragt haben oder als asylsuchend registriert sind, die Vorgaben des Art. 20 der Dublin-III-Verordnung Anwendung finden können. Davon abhängig ist die Verfahrenszuständigkeit und die Möglichkeit der Zurückweisung. Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung verwendet die Formulierung „sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird“. Es ist aufgrund des Wortlauts dieser Norm offen und bisher nicht durch den EuGH geklärt, ob es sich um den erstmaligen Antrag in diesem Mitgliedstaat oder generell den ersten Antrag auf internationalen Schutz in der EU handeln muss. Für eine Anwendung des Art. 20 der Dublin-III-Verordnung auch in den Fällen, in denen bereits ein Antrag auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, spricht die Systematik dieses Kapitels der Dublin-III-Verordnung. Art. 20 Dublin-III-Verordnung ist als eigener Abschnitt in dem Kapitel VI „Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“ geregelt, der den beiden Abschnitten zum Aufnahmeverfahren (erster Antrag im überstellenden Mitgliedstaat) und zum Wiederaufnahmeverfahren (Antrag ist bereits im Mitgliedstaat gestellt worden, in den überstellt werden soll) vorangestellt ist und damit nicht allein dem Aufnahmeverfahren zugeordnet. In der Literatur ist diese Frage umstritten,20 eine Entscheidung des EuGH hierzu existiert nicht. Wenn Art. 20 Dublin-III-Verordnung auch bei einer erneuten Antragstellung in einem anderen Mitgliedstaat und mithin auch in Bezug auf Wiederaufnahmeverfahren zur Anwendung kommt, stellt sich wiederum die Frage nach den Konsequenzen des Art. 20 Dublin-III-Verordnung für eine Antragstellung an der Grenze. Die Frage, ob Zurückweisungen an der Grenze von Personen mit Einreisesperren, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU bereits Asyl beantragt haben oder als asylsuchend registriert sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, kann daher vorliegend nicht abschließend beantwortet werden. 4.2. Völkerrechtliche Vorgaben (Abschnitt von WD 2) Maßgebliche völkerrechtliche Rechtsquellen sind die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). 20 Für eine Anwendbarkeit des Art. 20 in Wiederaufnahmeverfahren: Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 20 Dublin-III-VO, Rn. 5; a.A. Filzwieser/Sprung, Dublin-III-Verordnung , 2014, Art. 20 Dublin-III-VO, Rn. K5. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 12 4.2.1. Refoulement-Verbot Staaten sind völkerrechtlich grundsätzlich frei, über Einreise und Aufenthalt von Ausländern auf ihrem Staatsgebiet zu entscheiden; sie werden jedoch durch den Grundsatz der Nichtzurückweisung (sog. „Refoulement-Verbot“) beschränkt.21 Dieses Prinzip besagt, dass Personen nicht in einen Staat zurückgewiesen werden dürfen, in dem für sie ein ernsthaftes Risiko von Folter bzw. unmenschlicher Behandlung besteht.22 4.2.1.1. Völkerrechtliche Verankerung Ausdrücklich ergibt sich das Refoulement-Verbot aus Art. 33 GFK, welcher das Verbot enthält, „einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen , in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit , seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde." Indirekt ergibt sich das Refoulement-Verbot auch aus Art. 3 EMRK. Daraus folgt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein Verbot hinsichtlich der Zurückweisung eines Asylsuchenden an der Grenze, sofern eine Gefahr für Leib und Leben konkret zu befürchten ist.23 Im Umkehrschluss steht das Refoulement-Verbot Zurückweisungen in Drittstaaten nicht entgegen , wo entsprechende Gefahren nicht zu befürchten sind. Das trifft im Hinblick auf die Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland zu. 4.2.1.2. Ausprägungen durch die Rechtsprechung des EGMR Gleichwohl hat der EGMR in der Vergangenheit entschieden, dass selbst im Hinblick auf EU-Mitgliedstaaten keine unwiderlegliche Vermutung dahingehend bestehe, dass eine Abschiebung in diese Staaten stets konventionskonform ist. Der Gerichtshof legt bei seiner Bewertung strengere Maßstäbe als jene der GFK an. So kann sich eine „erniedrigende Behandlung“ bereits 21 Vgl. dazu WD-Gutachten „Völker- und menschenrechtliche Vorgaben für Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen“, WD 2 - 3000 - 002/16 vom 18. Januar 2016, verfügbar unter https://www.bundestag .de/blob/408768/e5632bc349bdd5722303c06481316d7f/wd-2-002-16-pdf-data.pdf. Ein Grundrecht auf Asyl kennen dagegen nicht alle Verfassungsordnungen. 22 Vgl. zu diesem Grundsatz allgemein Hoffmann, Grundlagen und Auswirkungen des völkerrechtlichen Refoulement -Verbots, Studien zu Grund- und Menschenrechten (Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam), Heft 3 (1999), verfügbar unter https://publishup.uni-potsdam.de/files/4857/SGM03.pdf. 23 EGMR, Urt. vom 23.02.2012 - 27765/09, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien; verfügbar unter http://hudoc .echr.coe.int/fre?i=001-109230, in deutscher Zusammenfassung unter http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001- 150693. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 13 im Hinblick auf katastrophale Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen des Abschiebestaates ergeben .24 Konkret hatte der Gerichtshof festgestellt, dass die Überstellung eines Flüchtlings von Belgien nach Griechenland das Recht aus Art. 3 EMRK verletzt habe, da den belgischen Behörden bekannt gewesen sein müsste, dass der Betroffene dort „erniedrigenden Haft- und Lebensbedingungen “ ausgesetzt sein würde.25 4.2.1.3. Kettenabschiebungen Das Refoulement-Verbot verbietet Zurückweisungen, die eine Kettenabschiebung bewirken könnten . Es muss also gewährleistet sein, dass der Staat, in den zurückgewiesen wird, den Flüchtling tatsächlich aufnimmt und nicht in einen anderen Staat weiterschiebt, in dem derartige Gefahren für den Betreffenden bestehen. Abgesehen davon besteht keine umfassende Fürsorgepflicht für das weitere Schicksal der zurückgewiesenen Person, solange sichergestellt ist, dass Kettenabschiebungen in den Verfolgerstaat ausgeschlossen sind. 4.2.2. Pauschale Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen Im Hinblick auf die Genfer Flüchtlingskonvention wird die Frage pauschaler Zurückweisungen an der Grenze unter dem Gesichtspunkt des Refoulement-Verbots diskutiert.26 Dabei bleibt festzuhalten , dass sämtliche Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland an das Refoulement-Verbot der GFK sowie an die EMRK gebunden sind.27 Bei einer Zurückweisung an der EU-Binnengrenze gehen die Verpflichtungen aus der GFK auf den Zielstaat der Zurückweisung über.28 Völkerrechtlich problematisch wäre in dieser Situation, wenn ein Asylsuchender für längere Zeit 24 EGMR, Urt. vom 21.01.2011 - 30696/09, M.S.S. gegen Belgien u. Griechenland, verfügbar im Original unter http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-103050, in deutscher Zusammenfassung unter https://www.asyl.net/rsdb/m18077/. 25 Ibid. Deutschland hat seine Abschiebepraxis diesen EGMR-Vorgaben angepasst. 26 Schmalz, Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann, Verfassungsblog, 13.06.2018, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/; Cremer, Stellungnahme Dt. Institut für Menschenrechte, Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze?, 14.06.2018, S. 5. 27 Talmon, Das Flüchtlingsrecht steht einer Änderung der Asylpolitik nicht entgegen, Verfassungsblog, 17.06.2018, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/das-fluechtlingsrecht-steht-einer-aenderung-der-asylpolitik -nicht-entgegen/. 28 WD-Gutachten „Völker- und menschenrechtliche Vorgaben für Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen “, WD 2 - 3000 - 002/16, S. 6 f. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 14 zwischen zwei Ländern hin und her geschoben wird, ohne dass konkrete Maßnahmen zur Klärung seines Status unternommen werden.29 4.2.3. Verbot der Kollektivausweisung Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls zur EMRK verbietet Kollektivausweisungen ausländischer Personen . Der Schutz dieser Regelung erstreckt sich nach der Rechtsprechung des EGMR sowohl auf Zurückweisungen außerhalb des Hoheitsgebietes („push-back“-Operationen auf Hoher See) als auch auf Zurückweisungen an der Grenze selbst.30 Inhaltlich gewährleistet das Verbot von Kollektivausweisungen, dass der Einzelne nicht als Mitglied einer Gruppe aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ohne angemessene individuelle Prüfung des Einzelfalls unterworfen wird.31 Dagegen hat – nach der Rechtsprechung des EGMR – etwa Italien verstoßen, als italienische Behörden Flüchtlinge ohne Identitätskontrollen und Prüfung ihres individuellen Status nach Libyen verbracht haben. 32 Gleiches galt in einem Fall gegen Spanien betreffend die Zurückschiebung von Personen, welche die Grenzzäune zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla überwunden hatten.33 Ein entscheidender Unterschied zu der Situation an den EU-Binnengrenzen ergibt sich insoweit, als dass eine Zurückweisung nur in solchen Fällen erfolgen soll, in denen bereits eine Registrierung in einem anderen Mitgliedstaat vorgenommen wurde. 5. Rechtsmittel im Unionsrecht 5.1. Rechtsmittel von betroffenen Personen Die Möglichkeiten von Personen, die von Grenzkontrollen oder Zurückweisungen an der Grenze durch einen Mitgliedstaat unmittelbar betroffen sind, Rechtsmittel gegen diese Maßnahme einzulegen , bestimmt sich im Wesentlichen nach den Vorgaben des nationalen Rechts.34 Im Folgenden soll daher nur untersucht werden, ob aus dem Unionsrecht subjektive Rechte für einzelne Personen folgen, deren Verletzung sie mit nationalen Rechtsmitteln ggf. rügen können. 29 EGMR, Urt. vom 5.3.1996 – Harabi gegen Niederlande - 10798/84; Grabenwarter/Pabel, EMRK, 5. Aufl. 2012, § 20, Rn. 44. 30 EGMR, Urt. vom 23.02.2012 - 27765/09, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien; EGMR, Urt. vom 03.10.2017 - 8675/15, 8697/15, N.D., N.T. gegen Spanien, verfügbar unter http://hudoc.echr.coe.int/fre?i=001-177231. 31 EGMR, Urt. v. 20.09.2007 – 45223/05, Sultani gegen Frankreich; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar , Art. 4 ZP IV Rn. 2. 32 EGMR, Urt. vom 23.02.2012 - 27765/09, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien. 33 EGMR, Urt. vom 03.10.2017 - 8675/15, 8697/15, N.D., N.T. gegen Spanien. 34 S. zu den Rechtsmittelmöglichkeiten des nationalen Rechts die Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 243/18, S. 10. Fachbereich Europa Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 98/18; WD 2 - 3000 - 90/18 Seite 15 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, ob der SGK Rechte für Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltstitel, die internationalen Schutz beantragen, oder grundsätzlich nur für Unionsbürger begründet. Die Kläger in dem französischen Gerichtsverfahren, welches der Vorlageentscheidung des EuGH in der Rechtssache Melki zugrunde lag, waren der Ansicht, dass der SGK keinen Unterschied zwischen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen mache.35 In den Art. 67 AEUV und 77 AEUV seien weder Abschwächungen noch Ausnahmen für die Ausübung dieser Freiheit vorgesehen; diese Bestimmungen schlössen Personenkontrollen an den Binnengrenzen aus, ohne dass sie durch irgendeinen Umstand dann doch wieder ermöglicht würden. Weder der EuGH noch der Generalanwalt gingen in ihren Ausführungen auf diesen Gesichtspunkt näher ein. Die Literatur betont in den Ausführungen zum SGK, dass nicht nur Unionsbürger, sondern alle Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, durch den Wegfall der Grenzkontrollen, begünstigt werden.36 Begünstigt zu sein, ist aber nicht gleichbedeutend mit einem rechtlichen Anspruch . Aus den fehlenden Grenzkontrollen folgt keine Reisefreiheit für jedermann. Die Reisefreiheit innerhalb der Union gilt Ausführungen in der Literatur zufolge grundsätzlich nur für Unionsbürger und solche Drittstaatsangehörigen, die rechtmäßig die Außengrenzen überschritten haben und sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten.37 Die rechtliche Befugnis zum freien Grenzübertritt beseitige nicht den staatlichen Genehmigungsvorbehalt für Einreise und Aufenthalt . Drittstaatsangehörige haben dieser Literaturansicht zufolge aufgrund der Schengen-Regelungen weder ein Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat noch lasse der Schengen-Aquis für sie die Verpflichtung entfallen, die nach dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaates mitzuführenden oder einzuholenden Papiere bereit zu halten.38 Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltstitel haben nach dieser Ansicht kein Recht auf Einreise innerhalb der EU auf der Grundlage des SGK und damit kein subjektives Recht aus dem SGK, welches durch Grenzkontrollen verletzt werden könnte. 5.2. Rechtsmittel der EU-Organe und anderer Mitgliedstaaten Der Schengener Grenzkodex und die Dublin-III-Verordnung sind sekundäres Unionsrecht. Wenn ein Mitgliedstaat Unionsrecht verletzt, kann gemäß Art. 258 ff. AEUV von der Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden. Nach Art. 259 Abs. 1 AEUV kann auch jeder andere Mitgliedstaat den Gerichtshof der EU anrufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. – Fachbereich Europa – 35 EuGH, Urt. v. 22.6.2010, verb. Rs. C-188/10 und C-189/10 – Melki, Rn. 59. 36 Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 77, Rn. 6. 37 Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 77 AEUV, Rn. 26. 38 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, EL 57, Stand: August 2015, Art. 77 AEUV, Rn. 40, FN. 4; Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 77 AEUV, Rn. 37.