© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 093/19 Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie (EU) 2015/2302 Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie (EU) 2015/2302 Aktenzeichen: PE 6 - 3000 – 093/19 Abschluss der Arbeit: 18.10.2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung von Richtlinien 4 2.1. Voraussetzungen des unionrechtlichen Staatshaftungsanspruchs 4 2.2. „Hinreichend qualifizierter Verstoß“ 5 2.2.1. Allgemeine Anforderungen 5 2.2.2. Anforderungen im Hinblick auf die fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien 6 3. Umsetzung von Art. 17 PR-RL 7 3.1. Vorgaben des Art. 17 PR-RL 7 3.2. Umsetzung in § 651r BGB 8 4. Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung des Art. 17 PR-RL 10 4.1. Vereinbarkeit einer Begrenzung der Haftungssumme mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL 11 4.2. Vereinbarkeit einer Begrenzung auf EUR 110 Millionen mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL 12 5. Ergebnis 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist beauftragt worden, zu prüfen, ob die Begrenzung des Insolvenzschutzes gemäß § 651r Abs. 3 BGB auf EUR 110 Millionen einen Verstoß gegen Art. 17 der Richtlinie (EU) 2015/23021 (PR-RL) darstellt und ob daraus ein individueller Staatshaftungsanspruch für solche Verbraucher folgt, die aufgrund der Haftungsbegrenzung keine entsprechende Ersatzleistung erhalten. Hierzu sind zunächst die grundsätzlichen Voraussetzungen eines europäischen Staatshaftungsanspruchs wegen der fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien darzustellen (Ziff. 2.). Im Anschluss erfolgt die Darstellung der Umsetzung des Art. 17 PR-RL im deutschen § 651r Abs. 3 BGB (Ziff. 3.). Daraufhin ist zu prüfen, inwieweit die Umsetzung des Art. 17 PR-RL im Wege des § 651r Abs. 3 BGB Anhaltspunkte für die Begründung eines europäischen Staatshaftungsanspruchs enthält (Ziff. 4.). 2. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung von Richtlinien Im Rahmen der Entscheidung in der Rechtssache Francovich hat der EuGH einen „unmittelbar im Gemeinschafrecht begründeten“ Anspruch auf Entschädigung Einzelner wegen mitgliedstaatlicher Verstöße gegen das Primärrecht bzw. auf dessen Grundlage erlassenen Bestimmungen grundsätzlich anerkannt.2 Im Folgenden ist auf die Voraussetzungen dieses Anspruchs näher einzugehen . 2.1. Voraussetzungen des unionrechtlichen Staatshaftungsanspruchs Grundsätzliche Anforderung eines unionsrechtlichen Haftungsanspruchs sind zunächst (1.) der Verstoß gegen eine Norm des Unionsrechts, die dem Geschädigten Rechte zu verleihen bezweckt. Ferner muss der Verstoß (2.) hinreichend qualifiziert sein und (3.) muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Schaden des Geschädigten bestehen.3 1 RICHTLINIE (EU) 2015/2302 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates, Abl. EU L 326/1 vom 11.12.2015. 2 EuGH, Urteil vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich/Italien), Slg. 1991, I-5403, Rn. 35, 41; vgl. dazu aus dem Schrifttum: Jacob/Kottmann, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 139; Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 340 AEUV, Rn. 38. 3 EuGH, Urteil vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Francovich/Italien), Slg. 1991, I-5403, Rn. 40; EuGH, Urteil vom 4.7.2000, Rs. C-424/97 (Haim/Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein), Slg. 2000, I-5148, Rn. 36; siehe dazu auch Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 340 AEUV, Rn. 42; Terchechte, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 340 AEUV, Rn. 52. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 5 Besondere Bedeutung kommt dabei dem Merkmal der „hinreichenden Qualifizierung des Verstoßes “ gegen das Unionsrecht zu. 2.2. „Hinreichend qualifizierter Verstoß“ 2.2.1. Allgemeine Anforderungen In Anlehnung an die Staatshaftung der Union für die von der Union, d. h. von ihren Organen verursachten Schäden gemäß Art. 340 Abs. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), fordert der EuGH für eine mitgliedstaatliche Haftung eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Unionsrechts.4 Eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Unionsrechts soll nach Ansicht des EuGH immer dann vorliegen, wenn ein den Mitgliedstaaten und ihren Organen im Rahmen der Umsetzung oder des Vollzuges unionsrechtlicher Normen zukommender Ermessensspielraum „offenkundig und erheblich“ überschritten wird.5 Soweit der Mitgliedstaat nur über einen erheblich verringerten oder sogar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügt, soll bereits die bloße Verletzung des Unionsrechts für einen hinreichend qualifizierten Verstoß ausreichen.6 Zur Feststellung einer „offenkundigen und erheblichen“ Überschreitung des genannten Ermessensspielraums greift der EuGH nach seiner Rechtsprechung in der Rechtssache „Brasserie du Pêcheur“ grundsätzlich auf eine Reihe von Kriterien zurück: „Insoweit gehören zu den Gesichtspunkten, die das zuständige Gericht gegebenenfalls zu berücksichtigen hat, das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden beläßt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, daß die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, daß nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden.“7 4 EuGH, Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur/Bundesrepublik u. a.), Slg. 1996, I-1131, Rn. 51; siehe dazu auch Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 340 AEUV, Rn. 47. 5 EuGH, Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur/Bundesrepublik u. a.), Slg. 1996, I-1131, Rn. 55; siehe dazu auch Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 340 AEUV, Rn. 19 m. w. N.. 6 EuGH, Urteil vom 23.5.1996, Rs. C-5/94 (The Queen/Ministry of Agriculture), Slg. 1996, I-2604, Rn. 28; siehe dazu auch Berg, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 44. 7 EuGH, Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur/Bundesrepublik u. a.), Slg. 1996, I-1131, Rn. 56; siehe dazu auch Berg, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 56. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 6 Ferner soll der Komplexität des zu regelnden Sachverhalts und die Schwierigkeiten bei der Anwendung und Auslegung von Vorschriften Rechnung getragen werden.8 Weitere Kriterien sollen nach der Rechtsprechung des EuGH die Betroffenheit einer begrenzten und klar umrissenen Gruppe von Geschädigten9 und der Eintritt eines über die wirtschaftlichen Risiken hinausgehenden Schadens10 sein. Die vorgenannten Kriterien sind im Schrifttum – insbesondere im Hinblick auf die zahlenmäßige Bestimmbarkeit der betroffenen Gruppe – nicht unumstritten .11 2.2.2. Anforderungen im Hinblick auf die fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien Im Hinblick auf die fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien gelten im Grundsatz die unter Ziff. 2.2.1 dargestellten Voraussetzungen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen Unionsrecht .12 Ferner soll nach Ansicht der Literatur mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Dillenkofer eine fehlerhafte Umsetzung nur dann einen hinreichend qualifizierten Verstoß darstellen, wenn seine Auslegung unvertretbar und völlig von der Hand zu weisen ist.13 In Fällen , in denen der Ermessensspielraum des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der Umsetzung von Richtlinien erheblich verringert bzw. auf Null reduziert ist, kann bereits jeder Verstoß gegen Grundfreiheiten zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß führen.14 8 EuGH, Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur/Bundesrepublik u. a.), Slg. 1996, I-1131, Rn. 43; siehe dazu auch Berg, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 43. 9 Vgl. EuGH, Urteil vom 4.10.1979, Rs. 238/78 (Ireks-Arkady/Rat u. a.), Slg. 1979, I- 2957, Rn. 12 ff.; siehe dazu auch Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 340 AEUV, Rn. 20 m. w. N.. 10 Vgl. EuGH, Urteil vom 4.10.1979, Rs. 238/78 (Ireks-Arkady/Rat u. a.), Slg. 1979, I- 2957, Rn. 12 ff.; siehe dazu auch Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 340 AEUV, Rn. 20 m. w. N.. 11 Vgl. hierzu die Darstellung bei Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 340 AEUV, Rn. 21 f. m. w. N.. 12 EuGH, Urteil vom 26.3.1996, Rs. C-392/93 (The Queen/H. M. Treasury), Slg. 1996, I-1654, Rn. 40; hierzu Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 340 AEUV, Rn. 21 f. m. w. N.. 13 Berg, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 89 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 26.3.1996, Rs. C-392/93 (The Queen/H. M. Treasury), Slg. 1996, I-1654, Rn. 43; EuGH, Urteil vom 8.10.1996, verb. Rs. C-178/94; C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94 (Dillenkofer u. a./Bundesrepublik), Slg. 1996, I- 4867, Rn. 50; siehe dazu auch Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 340 AEUV, Rn. 49; Terchechte, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 340 AEUV, Rn. 52. 14 EuGH, Urteil vom 17.10.1996, verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 (Denkavit u. a./Bundesamt für Finanzen ), Slg. 1996, I-5085, Rn. 51 – 53; siehe dazu auch Berg, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 340 AEUV, Rn. 90. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 7 3. Umsetzung von Art. 17 PR-RL Nachfolgend werden nunmehr die Vorgaben des Art. 17 PR-RL (Ziff. 3.1.) sowie die Umsetzung des Art. 17 PR-RL im § 651r BGB (Ziff. 3.2.) dargestellt. 3.1. Vorgaben des Art. 17 PR-RL Die PR-RL trifft in Art. 17 Regelungen zur Wirksamkeit und zum Umfang des Insolvenzschutzes. Gemäß Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 PR-RL stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassene Reiseveranstalter Sicherheit für die Erstattung aller von Reisenden oder in deren Namen geleisteten Zahlungen leisten, sofern die betreffenden Leistungen infolge der Insolvenz des Reiseveranstalters nicht erbracht werden.15 Die Sicherheit soll zudem ggf. die Rückbeförderung der Reisenden sowie eine Fortsetzung der Pauschalreise absichern. Gleiches soll für Reiseveranstalter gelten, die nicht in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind und die in einem Mitgliedstaat Pauschalreisen verkaufen oder zum Verkauf anbieten oder in irgendeiner Weise solche Tätigkeiten auf einen Mitgliedstaat ausrichten, Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 PR-RL. Die vorgenannte Sicherheit muss gemäß Art. 17 Abs. 2 Satz 1 PR-RL dabei wirksam sein und die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten abdecken.16 Die Sicherheit muss die Beträge 15 Siehe hierzu auch den Erwägungsgrund 39: „Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass Reisende, die eine Pauschalreise erwerben, vor der Insolvenz des Reiseveranstalters in vollem Umfang geschützt sind. Die Mitgliedstaaten , in denen Reiseveranstalter niedergelassen sind, sollten gewährleisten, dass diese Sicherheit für die Erstattung aller im Namen von Reisenden geleisteten Zahlungen und — sofern die Pauschalreise die Beförderung von Personen umfasst — für die Rückbeförderung des Reisenden im Falle der Insolvenz des Reiseveranstalters leisten. Allerdings sollte es möglich sein, dem Reisenden die Fortsetzung der Pauschalreise anzubieten. Es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, wie der Insolvenzschutz auszugestalten ist, sie sollten aber einen wirksamen Schutz gewährleisten. Wirksamkeit bedeutet, dass der Schutz verfügbar ist, sobald infolge der Liquiditätsprobleme des Reiseveranstalters Reiseleistungen nicht durchgeführt werden, nicht oder nur zum Teil durchgeführt werden sollen oder Leistungserbringer von Reisenden deren Bezahlung verlangen. Die Mitgliedstaaten sollten verlangen können, dass Reiseveranstalter den Reisenden eine Bescheinigung ausstellen, mit der ein direkter Anspruch gegen den Anbieter des Insolvenzschutzes dokumentiert wird.“ 16 Siehe hierzu auch den Erwägungsgrund 40: „Damit der Schutz vor Insolvenz wirksam ist, sollte er die vorhersehbaren Zahlungsbeträge, die von der Insolvenz eines Reiseveranstalters betroffen sind, und gegebenenfalls die vorsehbaren Kosten der Rückbeförderungen abdecken. Dies bedeutet, dass der Schutz ausreichen sollte, um alle vorhersehbaren Zahlungen, die von oder im Namen von Reisenden für Pauschalreisen der Hochsaison geleistet werden, unter Berücksichtigung des Zeitraums zwischen dem Eingang dieser Zahlungen und dem Abschluss der Reise sowie gegebenenfalls die vorhersehbaren Kosten für die Rückbeförderung abzudecken. Das wird in der Regel bedeuten, dass die Absicherung einen ausreichend hohen Prozentsatz des Umsatzes des Veranstalters in Bezug auf Pauschalreisen abdecken muss und von Faktoren wie der Art der verkauften Pauschalreisen einschließlich des Verkehrsmittels, dem Reiseziel und gesetzlichen Beschränkungen oder den Verpflichtungen des Reiseveranstalters im Hinblick auf die zulässigen Anzahlungsbeträge und deren Zeitpunkt vor Beginn der Pauschalreise abhängen kann. Die erforderliche Abdeckung kann zwar anhand der aktuellen Geschäftszahlen wie etwa des Umsatzes im vorhergehenden Geschäftsjahr berechnet werden, doch sollten die Veranstalter verpflichtet werden, den Insolvenzschutz im Falle eines erhöhten Risikos einschließlich eines erheblichen Anstiegs des Verkaufs von Pauschalreisen anzupassen. Ein wirksamer Insolvenzschutz sollte jedoch nicht bedeuten, dass sehr unwahrscheinliche Risiken berücksichtigt werden müssen, wie beispielsweise die gleichzeitige Insolvenz mehrerer der größten Reiseveranstalter, wenn dies unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Kosten des Schutzes haben und somit seine Wirksamkeit beeinträchtigen würde. In solchen Fällen kann die garantierte Erstattung begrenzt sein.“ [Hervorhebung durch den Verfasser] Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 8 der Zahlungen abdecken, die von Reisenden oder in ihrem Namen in Bezug auf Pauschalreisen geleistet wurden, unter Berücksichtigung der Dauer des Zeitraums zwischen den Anzahlungen und endgültigen Zahlungen und der Beendigung der Pauschalreisen sowie der geschätzten Kosten einer Rückbeförderung im Fall der Insolvenz des Veranstalters, Art. 17 Abs. 2 Satz 2 PR-RL. Die Art. 17 Abs. 3 bis 5 PR-RL enthalten zudem weitere Regelungen zur Ausgestaltung des Insolvenzschutzes für Pauschalreisende. 3.2. Umsetzung in § 651r BGB Die Umsetzung der Regelungen der PR-RL erfolgte in Deutschland durch das Dritte Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 17.7.2017.17 Die Vorschriften zum Insolvenzschutz finden sich in dem neu ins BGB eingefügten § 651r BGB. Gemäß Art. 651r Abs. 1 BGB hat der Reiseveranstalter sicherzustellen, dass dem Reisenden der gezahlte Reisepreis erstattet wird, soweit im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Reiseveranstalters (1.) Reiseleistungen ausfallen oder (2.) der Reisende im Hinblick auf erbrachte Reiseleistungen Zahlungsaufforderungen von Leistungserbringern nachkommt, deren Entgeltforderungen der Reiseveranstalter nicht erfüllt hat. Umfasst der Vertrag auch die Beförderung des Reisenden, hat der Reiseveranstalter zudem die vereinbarte Rückbeförderung und die Beherbergung bis zum Zeitpunkt der Rückbeförderung sicherzustellen, Art. 651r Abs. 1 Satz 2 BGB. Der Zahlungsunfähigkeit stehen gemäß Art. 651r Abs. 1 Satz 3 BGB die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Reiseveranstalters und die Abweisung eines Eröffnungsantrags mangels Masse gleich. Die vorgenannten Verpflichtungen kann der Reiseveranstalter gemäß Art. 651r Abs. 2 BGB nur erfüllen (1.) durch eine Versicherung bei einem im Geltungsbereich dieses Gesetzes zum Geschäftsbetrieb befugten Versicherungsunternehmen oder (2.) durch ein Zahlungsversprechen eines im Geltungsbereich dieses Gesetzes zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstituts. Der Reiseveranstalter muss ohne Rücksicht auf den Wohnsitz des Reisenden, den Ort der Abreise und den Ort des Vertragsschlusses Sicherheit leisten. Zur Begrenzung dieser Haftung des Reiseveranstalters sieht § 651r Abs. 3 BGB folgende Regelung vor: 1Der Versicherer oder das Kreditinstitut (Kundengeldabsicherer) kann dem Reisenden die Fortsetzung der Pauschalreise anbieten. 2Verlangt der Reisende eine Erstattung nach Absatz 1, hat der Kundengeldabsicherer den Anspruch unverzüglich zu erfüllen. 3Er kann seine Haftung für die von ihm in einem Geschäftsjahr insgesamt nach diesem Gesetz zu erstattenden Beträge auf 110 Millionen Euro begrenzen. 4Übersteigen die in einem Geschäftsjahr von einem Kundengeldabsicherer insgesamt nach diesem Gesetz zu erstattenden 17 Drittes Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I Nr. 48, Seite 2394 vom 21.7.2017. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 9 Beträge den in Satz 3 genannten Höchstbetrag, so verringern sich die einzelnen Erstattungsansprüche in dem Verhältnis, in dem ihr Gesamtbetrag zum Höchstbetrag steht. [Hervorhebung durch den Verfasser] Der Gesetzesentwurf zum Dritten Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 11.01.2017 führt zur Begründung der Haftungsbegrenzung in § 651r Abs. 3 Satz 3 BGB wie folgt aus:18 „[…] Die Erwägungen, die den Gesetzgeber bei der Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie von 1990 haben leiten lassen, gelten nach wie vor: Versicherungen können Versicherungsschutz nicht unter unbegrenztem Einschluss des Haftungsrisikos anbieten. Der Gesetzgeber kann aber keine undurchführbare und unerreichbare Deckungsvorsorge vorschreiben (Bundestagsdrucksache 12/5354, S. 12). Aus diesem Grund wurde auch bei dem Zweiten Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 23. Juli 2001 von einer Streichung der Höchstsumme Abstand genommen (Bundestagsdrucksache 14/5944, S. 11). Insbesondere aber sieht die Richtlinie im Gegensatz zur Vorgängerrichtlinie gemäß Artikel 17 Absatz 2 selbst vor, dass die garantierte Erstattung begrenzt sein kann: Die Sicherheit muss nur „die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten“ abdecken (in diesem Sinne auch Tonner , EuZW 2016, 95, 100). Erwägungsgrund 4019 führt insoweit aus, dass sehr unwahrscheinliche Risiken, wie beispielsweise die gleichzeitige Insolvenz mehrerer der größten Reiseveranstalter , unberücksichtigt bleiben können, wenn dies unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Kosten des Schutzes haben und somit seine Wirksamkeit beeinträchtigen würde. Die derzeitige Obergrenze von 110 Mio. Euro ist nach wie vor ausreichend bemessen. In den Jahren seit 1994 betrug der höchste durch die Insolvenz eines Reiseveranstalters eingetretene Versicherungsschaden rund 30 Mio. Euro. Alle von einer Insolvenz betroffenen Reisenden konnten vollständig entschädigt werden. Dies belegt die Richtigkeit der Annahme des Gesetzgebers in den Jahren 1994 und 2001, dass eine Sicherungslücke zwar theoretisch, nicht aber faktisch besteht. Eines Inflationsausgleichs bedarf es nicht. Die Umsätze der Veranstalter sind zwar in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Zu berücksichtigen ist im Hinblick auf das Schadenspotential aber, dass in demselben Zeitraum die Vorauszahlungen der Reiseveranstalter an die Leistungserbringer stark zugenommen haben. Das Schadenspotential ist also nicht in gleicher Weise gestiegen wie der Umsatz, weil ein größerer Teil der Ansprüche von Leistungserbringern bereits bedient ist und sich im Insolvenzfall der mögliche Ausfall für die Kunden bzw. den Absicherer entsprechend reduziert. Eine Anhebung der Obergrenze von 110 Mio. Euro ist auch nicht deshalb geboten, weil durch die Richtlinie neue Risiken hinzugetreten sind, die künftig ebenfalls abzusichern sind: Die Definition des Begriffs „Pauschalreise“ wird ausgeweitet, zudem kann auch bei der Vermittlung verbundener Reiseleistungen eine Pflicht zur Insolvenzsicherung bestehen. 18 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften vom 11.01.2017 (BT-Ds. 18/10822). 19 Siehe dazu oben Fn. 16 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 10 Diese Risiken wirken sich aber im Hinblick auf Großveranstalter kaum aus, die sich wegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Ferienhäusern (vgl. Begründung zu § 651a Absatz 2 BGB-E) derzeit regelmäßig sogar im Hinblick auf einzelne Reiseleistungen gegen Insolvenz absichern. Nur im Hinblick auf die abzusichernden Umsätze von Großveranstaltern ist es aber überhaupt vorstellbar, dass die Haftungsbegrenzung relevant werden kann. Die Kundengeldabsicherer kleinerer und mittlerer Unternehmer müssen ohnehin nur Ausfälle absichern, deren Volumen weit unterhalb der Summe von 110 Mio. Euro liegt. Danach erscheint es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erforderlich, die Haftungshöchstsumme von 110 Mio. Euro pro Versicherer und Jahr anzuheben. Die Entwicklung des Reise- und Versicherungsmarktes sollte aber sehr genau beobachtet werden, um auch künftig sicherzustellen, dass Reisende richtlinienkonform entschädigt werden. Zudem ist sicherzustellen, dass das deutsche System der Insolvenzsicherung gleichwertig mit den Systemen anderer Mitgliedstaaten ist: Artikel 18 Absatz 1 der Richtlinie statuiert die gegenseitige Anerkennung des Insolvenzschutzes; dem liegt die Annahme einer Gleichwertigkeit der verschiedenen Systeme zugrunde. Es ist daher beabsichtigt, zeitnah nach der Umsetzung der Richtlinie ein Forschungsvorhaben zur Insolvenzsicherung in Auftrag zu geben, das auch rechtsvergleichende Elemente beinhalten sollte. […]“20 [Hervorhebung durch den Verfasser.] Weitere Bestimmungen zur Haftung des Reiseveranstalters treffen § 651 r Abs. 4, 5 BGB. 4. Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung des Art. 17 PR-RL Für die Begründung eines Staatshaftungsanspruchs wegen fehlerhafter Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie müsste die Begrenzung der Haftungssumme im Insolvenzfall auf EUR 110 Mio. gemäß § 651r Abs. 3 Satz 3 BGB zunächst einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen die Vorgaben des Art. 17 Abs. 2 PR-RL darstellen. Höchstrichterliche Rechtsprechung ist zu dieser Frage nicht ersichtlich.21 Der für einen Staatshaftungsanspruch erforderliche „hinreichend qualifizierte Verstoß“22 gegen das Unionsrecht erfordert dabei zunächst überhaupt einen Verstoß des § 651r Abs. 3 BGB gegen Art. 17 Abs. 2 PR-RL. Daher ist zunächst allgemein zu prüfen, ob eine Begrenzung der Haftungssumme im Insolvenzfall mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL vereinbar ist (Ziff. 4.1.) sowie darauf folgend, ob insbesondere die vom 20 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 89 f.. 21 Zur entsprechenden Regelung Vorgängerrichtlinie 90/314/EWG vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 8.10.1996, verb. Rs. C-178/94; C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94 (Dillenkofer u. a./Bundesrepublik), Slg. 1996, I-4867, siehe dazu auch die Ausführungen von Baumgärtner, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, 51. Edition, 01.08.2019, § 651r BGB, Rn. 39; ferner EuGH, Urteil vom 15.6.1999, Rs. C-140/97 (Rechberger u. a./Österreich), Slg. 1999, I- 3522. 22 Siehe oben unter Ziff. 2.2.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 11 deutschen Gesetzgeber gewählte Begrenzung in Höhe von EUR 110 Mio. mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL vereinbar ist (Ziff. 4.2.). 4.1. Vereinbarkeit einer Begrenzung der Haftungssumme mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL Zunächst ist die grundsätzliche Vereinbarkeit der Begrenzung einer Haftungsumme mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL zu prüfen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 PR-RL eine Begrenzung der Sicherheit auf „die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten“ grundsätzlich vorsieht. Zusätzlich bestimmt der Erwägungsgrund 40, dass ein wirksamer Insolvenzschutz nicht bedeutet, dass „sehr unwahrscheinliche Risiken berücksichtigt werden müssen“. Dies soll gemäß des Erwägungsgrunds 40 „beispielsweise die gleichzeitige Insolvenz mehrerer der größten Reiseveranstalter , wenn dies unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Kosten des Schutzes haben und somit seine Wirksamkeit beeinträchtigen würde“ sein.23 Nach überwiegender Ansicht des Schrifttums folgt daraus, dass eine Begrenzung der Höhe der Sicherheit im deutschen Recht grundsätzlich europarechtskonform möglich sein soll, soweit durch die Begrenzung allein „sehr unwahrscheinliche Risiken“ ungesichert blieben.24 Allerdings soll der Gesetzgeber verpflichtet bleiben, eine Anpassung der Begrenzung vorzunehmen, soweit die Begrenzung in einem unerwarteten Insolvenzfall zu einem Haftungsausfall führen würde.25 Andere Stimmen in der Literatur weisen mit Blick auf den Erwägungsgrund 40 auf den Ausnahmecharakter einer Begrenzung hin („gleichzeitige Insolvenz mehrerer der größten Reiseveranstalter “), betonen jedoch gleichzeitig auch die Einschätzungsprärogative des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers .26 Im Ergebnis ist dem überwiegenden Schrifttum zuzustimmen, dass eine grundsätzliche Begrenzung der Haftungssumme im Rahmen von Art. 17 Abs. 2 PR-RL aufgrund des Wortlauts und der Berücksichtigung des Erwägungsgrundes 40 nicht ausgeschlossen erscheint. 23 Siehe oben Fn. 16. 24 Blankenburg, in: Harke, beck-online.Großkommentar BGB, 2018, Reisevertrag, § 651r Rn. 65 ff. m. w. N.; Baumgärtner, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, 51. Edition 01.08.2019, § 651r BGB, Rn. 39; Tonner, MDR 2018, 305, 309; a. A. früher Staudinger, RRa 2015, 281, 285 f.; nunmehr weniger kritisch Staudinger, in: Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019, § 651r BGB, Rn. 7; anders noch die Einschätzung zur Umsetzung der Vorgängerrichtlinie 90/314/EWG in § 651k Abs. 2 BGB a. F., siehe dazu Tonner, in: Münchener Kommentar BGB, 7. Auflage 2017, § 651k Rn. 16 ff. 25 Blankenburg, in: Harke, beck-online.Großkommentar BGB, 2018, Reisevertrag, § 651r Rn. 69.2. 26 Staudinger, RRa 2015, 281, 286. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 12 4.2. Vereinbarkeit einer Begrenzung auf EUR 110 Millionen mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL Nachfolgend ist prüfen, ob die konkrete Begrenzung auf EUR 110 Millionen in § 651r Abs. 3 BGB mit Art. 17 Abs. 2 PR-RL vereinbar ist. Auf welcher Grundlage eine Begrenzung in Höhe von EUR 110 Mio. vom Gesetzgeber gewählt wurde, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung vom 11.01.2017 nicht. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass in den Jahren seit 1994 der höchste durch die Insolvenz eines Reiseveranstalters eingetretene Versicherungsschaden rund EUR 30 Mio. betrug.27 In der Gesetzesbegründung vom 1.7.1993 zur Vorgängerregelung in § 651k Abs. 2 BGB a. F., wies der Gesetzgeber zur Begründung darauf hin, dass eine Begrenzung über (damals) DM 200 Mio. hinaus nicht rückversicherbar sei.28 Ob die Einschätzung im Rahmen der Gesetzesbegründung29 im Hinblick auf die Begrenzung auf einen Betrag in Höhe von EUR 110 Mio. angemessen ist, lässt sich seitens des Verfassers nicht abschließend beurteilen.30 Problematisch erscheint jedoch vor dem Hintergrund der Inflation und des Wachstums des Reisemarktes31, dass die Begrenzung seit 1993 der Höhe nach nicht angepasst wurde. In die gleiche Richtung zielt auch die Kritik des Bundesrates in seiner Stellungnahme vom 16.12.2016, der die festgelegte Höchstgrenze von EUR 110 Mio. pro Absicherer und Geschäftsjahr als zu niedrig bemessen ansieht und darüber hinaus die Prüfung einer flexiblen Höchstgrenze der Insolvenzabsicherung fordert.32 Konkret führt der Bundesrat in seinen Erwägungen vom 16.12.2016 dazu aus: „7. Zu Artikel 1 Nummer 4 (§ 651r Absatz 3 Satz 3 BGB) a) Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die für die Haftung von Kundengeldabsicherern bei Insolvenz eines Reiseveranstalters festgelegte Höchstgrenze von 110 Millionen Euro pro Absicherer und Geschäftsjahr zu niedrig bemessen ist. Allein im Geschäftsjahr 27 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 89; kritisch Staudinger, RRa 2015, 281, 285. 28 Gesetzes der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (BT-Ds. 12/5354) vom 1.7.1993, S. 12. 29 Siehe oben Ziff. 3.2. 30 Anders Blankenburg, in: Harke, beck-online.Großkommentar BGB, 2018, Reisevertrag, § 651r Rn. 68, 69.2., nach dessen Ansicht es nicht offensichtlich sei, dass – vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen – die Regelung in § 651r Abs. 2 Satz 1 BGB keinen wirksamen Schutz bietet. 31 Im Jahr 2001 betrug der Gesamtumsatz für Pauschalreiseleistungen EUR 18,9 Mrd., wohingegen im Jahr 2014/2015 der Gesamtumsatz für Pauschalreiseleistungen bereits EUR 27,4 Milliarden betrug (Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 118). 32 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 118. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 13 2014/2015 gaben die Deutschen 27,4 Milliarden Euro für vorab gebuchte Pauschalreiseleistungen aus (fvw, Deutsche Veranstalter 2015, Beilage zu Nr. 26 vom 18. Dezember 2015), 2001 waren es laut dem Verbraucherzentrale Bundesverband nur 18,9 Milliarden Euro. Die Höchstgrenze wurde vor über 20 Jahren mit umgerechnet 110 Millionen Euro festgelegt und seither trotz dieser Steigerung und trotz Inflation nicht angepasst. Des Weiteren wird der Anwendungsbereich durch die neue Richtlinie erweitert, so dass dies zu einer Erhöhung des Absicherungsbedarfs führen wird. Schließlich verweist die Begründung zum Gesetzentwurf darauf, dass der Schaden im größten Insolvenzversicherungsfall 30 Millionen Euro betragen habe. Das zeigt schon, dass der jetzige Höchstbetrag gerade einmal für drei Insolvenzen dieser Größenordnung vollständig ausreichen würde – ohne Berücksichtigung möglicher kleinerer Insolvenzfälle. b) Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren die Einführung einer flexiblen Höchstgrenze der Insolvenzabsicherung, beispielsweise in Abhängigkeit von dem jeweils abzusichernden Gesamtvolumen, zu prüfen. Nach Artikel 17 Absatz 2 und den Erwägungsgründen 39 und 40 der Richtlinie (EU) 2015/2302 muss der Insolvenzschutz „wirksam“ sein und zwar auch in jedem vorhersehbaren, nicht gänzlich unwahrscheinlichen Einzelfall. Soweit sich die Begründung zum Gesetzentwurf auf Erwägungsgrund 40 am Ende beruft, so wird in diesem nur eine Begrenzungsbefugnis in Ausnahmefällen zugestanden (vgl. „In solchen Fällen […]“). Eine starre Höchstgrenze pro Absicherer erfasst jedoch alle Fälle. Sie gilt gleichermaßen für kleine Absicherer mit vernachlässigbarem Absicherungsvolumen sowie für Großabsicherer mit mehreren großen Reiseveranstaltern als Kunden und einem entsprechend großen Absicherungsvolumen. Für Letztere ist die Wirksamkeit des Insolvenzschutzes bei einer so niedrig bemessenen, starren Grenze nicht gesichert. c) Im Falle der Beibehaltung eines starren Höchstbetrags bittet der Bundesrat, diesen zumindest zu erhöhen und durch eine entsprechende Regelung sicherzustellen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher, die von einer Unternehmerinsolvenz betroffen sind, bei einer Überschreitung der Höchstgrenze nicht vollkommen leer ausgehen. Da die Erstattung jeweils „unverzüglich“ (§ 651r Absatz 3 Satz 2 BGB) erfolgen muss, ist nicht ausgeschlossen, dass der Absicherer bei einer Insolvenz gegen Ende seines Geschäftsjahres Erstattungen bereits bis zur Höchstgrenze ausgezahlt hat. Laut der Begründung des Gesetzentwurfes ist eine anteilige Rückforderung nur für eine unter Vorbehalt geleistete Erstattung vorgesehen. Hat der Absicherer bisher vorbehaltlos erstattet, so müsste er an den von der letzten Insolvenz betroffenen Reisenden keinerlei Erstattungen mehr leisten, sofern die Höchstgrenze schon erreicht ist. Gleichzeitig gilt es zu verhindern, dass Reisende, die vorbehaltslos eine Erstattung erhalten haben, am Jahresende mit einer unerwarteten Rückzahlungsforderung konfrontiert werden.“ [Hervorhebung durch den Verfasser] Dem Kritikpunkt der fehlenden Berücksichtigung der Umsatzsteigerung des Reisemarktes durch den Bundesrat in der Stellungnahme vom 16.12.2016 hält die Bundesregierung u. a. entgegen, dass aufgrund der Zunahme der Vorauszahlungen der Reiseveranstalter an die Leistungserbringer , das Schadenspotential nicht in gleicher Höhe wie der Umsatz gestiegen sei: „Zu Nummer 7 (Artikel 1 Nummer 4 – § 651r Absatz 3 Satz 3 BGB) Die Bundesregierung wird das Anliegen des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren prüfen. Sie gibt jedoch bereits jetzt zu bedenken, dass die derzeitige Haftungshöchstsumme von 110 Mio. Euro, die in § 651r Absatz 3 Satz 3 BGB-E beibehalten wird, nach wie vor ausreichend bemessen erscheint. In den Jahren seit 1994 betrug der höchste durch die Insolvenz eines Reiseveranstalters eingetretene Versicherungsschaden rund 30 Mio. Euro. Es Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 14 müsste innerhalb eines Geschäftsjahres also schon zu mehreren solcher großen Schadensfälle kommen, um den Betrag auszuschöpfen. Solche sehr unwahrscheinlichen Risiken dürfen laut Erwägungsgrund 40 der Richtlinie bei der Berechnung jedoch unberücksichtigt bleiben . Ebenso wenig bedarf es eines Inflationsausgleichs. Die Umsätze der Veranstalter sind in den letzten Jahrzehnten zwar angestiegen. Gleichzeitig haben aber auch die Vorauszahlungen der Reiseveranstalter an die Leistungserbringer zugenommen, so dass das Schadenspotential nicht in gleicher Weise wie der Umsatz gestiegen ist. Schließlich wirken sich auch die Ausweitung der Definition des Begriffs „Pauschalreise“ sowie eine etwaige Insolvenzsicherungspflicht bei der Vermittlung verbundener Reiseleistungen im Hinblick auf Großveranstalter, deren Absicherungspflicht für die Bemessung der Haftungshöchstgrenze letztlich ausschlaggebend ist, kaum aus. Diese Unternehmer sichern sich bereits derzeit umfassend gegen Insolvenz ab. Gleichwohl soll die Entwicklung des Reise- und Versicherungsmarktes genau beobachtet werden, um auch künftig sicherzustellen, dass Reisende richtlinienkonform entschädigt werden. Es ist daher beabsichtigt, zeitnah nach der Umsetzung der Richtlinie ein Forschungsvorhaben zur Insolvenzsicherung im Reiserecht in Auftrag zu geben, welches unter anderem den deutschen Markt der Kundengeldabsicherung analysieren und verschiedene Alternativmodelle zum derzeitigen System darstellen und bewerten wird. […]“33 [Hervorhebung durch den Verfasser] Ob die Haftungsbegrenzung auf einen Betrag in Höhe von EUR 110 Mio. entsprechend der Gesetzesbegründung vom 11.01.2017 angemessen ist, lässt sich seitens des Verfassers nicht abschließend beurteilen. In der Sache zutreffend erscheint nach Ansicht des Verfassers hingegen die Einschätzung des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung vom 11.01.2017, dass die Entwicklung des Reise- und Versicherungsmarktes sehr genau beobachtet werden muss, um auch künftig sicherzustellen, dass Reisende richtlinienkonform entschädigt werden.34 Ob die Entwicklung des Reise- und Versicherungsmarktes vom Gesetzgeber entsprechend beobachtet wurde, um sicherzustellen, dass Reisende richtlinienkonform entschädigt wurden, ist dem Verfasser nicht bekannt. Eine abschließende Beurteilung zur Vereinbarkeit von § 651r Abs. 3 BGB mit Art. 17 Abs. 2 PR- RL ist dem Verfasser aufgrund der vorstehenden Erwägungen nicht möglich. 5. Ergebnis Im Ergebnis ist zunächst festzuhalten, dass zur Frage, ob die Begrenzung des Insolvenzschutzes gemäß § 651r Abs. 3 BGB auf EUR 110 Millionen einen Verstoß gegen Art. 17 Abs. 2 PR-RL begründet und ob daraus ein individueller Staatshaftungsanspruch für solche Verbraucher folgt, die 33 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 125. 34 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vorschriften (BT-Ds. 18/10822), 11.01.2017, S. 89 sowie S. 125. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 093/19 Seite 15 aufgrund der Haftungsbegrenzung keine entsprechende Ersatzleistung erhalten, keine höchstrichterliche Rechtsprechung ersichtlich ist. Die wohl überwiegende Meinung im rechtswissenschaftlichen Schrifttum geht zunächst davon aus, dass eine mitgliedstaatliche Begrenzung der Höhe der Sicherheit grundsätzlich europarechtskonform möglich sein soll, soweit entsprechend Art. 17 Abs. 2 PR-RL sowie dem Erwägungsgrund 40 zur PR-RL die Sicherheit wirksam ist und durch die Begrenzung allein „sehr unwahrscheinliche Risiken“ ungesichert bleiben.35 Nicht unproblematisch erscheint allerdings die konkrete Festsetzung der Haftungsgrenze in Höhe EUR 110 Mio in § 651r Abs. 3 Satz 3 BGB. Ob die Haftungsbegrenzung auf einen Betrag in Höhe von EUR 110 Mio. entsprechend der Gesetzesbegründung vom 11.01.2017 angemessen ist, lässt sich seitens des Verfassers nicht abschließend beurteilen. Problematisch erscheint jedoch vor dem Hintergrund der allgemeinen Inflation und des Wachstums des Reisemarktes, dass die Begrenzung seit 1993 der Höhe nach nicht angepasst wurde. Ob die Entwicklung des Reise- und Versicherungsmarktes vom Gesetzgeber – wie beabsichtigt – beobachtet wurde und wird, um sicherzustellen , dass Reisende richtlinienkonform entschädigt wurden, ist dem Verfasser nicht bekannt . In der Folge lässt sich vom Verfasser daher nicht abschließend beurteilen, ob im Ergebnis ein Verstoß gegen das Unionsrecht bei der Umsetzung von Art. 17 Abs. 2 PR-RL in § 651r Abs. 3 Satz 3 BGB vorliegt. Letztlich bleibt darauf hinzuweisen, dass nicht jeder Umsetzungsfehler einen Staatshaftungsanspruch begründet, da insbesondere die Anforderungen, die der EuGH an einen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ und damit an das Vorliegen einen Staatshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Umsetzung stellt, gegenüber einem einfachen Verstoß gegen das Unionsrecht deutlich erhöht sind.36 Eine abschließende Entscheidung bleibt dem EuGH vorbehalten. – Fachbereich Europa – 35 Blankenburg, in: Harke, beck-online.Großkommentar BGB, 2018, Reisevertrag, § 651r Rn. 65 ff. m. w. N.; Baumgärtner, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, 51. Edition 01.08.2019, § 651r BGB, Rn. 39; Tonner, MDR 2018, 305, 309; a. A. früher Staudinger, RRa 2015, 281, 285; nunmehr weniger kritisch Staudinger, in: Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage 2019, § 651r BGB, Rn. 7. 36 Siehe dazu oben Ziff. 2.