© 2013 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 92 /13 Ausarbeitung Durchsuchungs- und Vernichtungsaktion bei der britischen Tageszeitung „The Guardian“ Verstoß gegen die Europäische Grundrechte-Charta? Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 2 PE 6 - 3000 – 92/13 Durchsuchungs- und Vernichtungsaktion bei der britischen Tageszeitung „The Guardian“ Verstoß gegen die Europäische Grundrechte-Charta? Aktenzeichen: PE 6 - 3000 – 92/13 Abschluss der Arbeit: 23.08.2013 Fachbereich: PE 6: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 3 PE 6 - 3000 – 92/13 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta 4 2.1. Durchführung von EU-Recht 4 2.2. Bindung an die Grundrechte-Charta wegen Einschränkungen von Grundfreiheiten? 5 2.2.1. Einschränkung der Grundfreiheiten? 5 2.2.2. Grundrechte-Charta als eigenständiger Prüfungsmaßstab? 9 2.2.3. Zwischenergebnis 10 2.3. Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta auf Grund des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich zum EUV 10 2.4. Zwischenergebnis 10 3. Verletzung von Charta-Grundrechten 11 3.1. Medienfreiheit (Art. 11 GRCh) 11 3.1.1. Schutzbereich 11 3.1.2. Eingriff 12 3.1.3. Rechtfertigung des Eingriffs 12 3.1.3.1. Rechtfertigungsmöglichkeiten 12 3.1.3.2. Rechtfertigung im konkreten Fall? 14 3.2. Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRCh) 15 3.2.1. Schutzbereich 15 3.2.2. Eingriff 15 3.2.3. Rechtfertigung 16 3.3. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 7 GRCh) 16 3.3.1. Schutzbereich 17 3.3.2. Eingriff 18 3.3.3. Rechtfertigung 18 3.4. Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 15 und 16 GRCh) 18 3.4.1. Schutzbereich 19 3.4.2. Eingriff 19 3.4.3. Rechtfertigung 20 4. Ergebnis 20 Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 4 PE 6 - 3000 – 92/13 1 . E i n l e i t u n g Pressemeldungen1 zufolge hat der britische Geheimdienst die Geschäftsräume der Zeitung „The Guardian“ durchsucht und den Chefredakteur zur Zerstörung von Festplatten unter Aufsicht von Regierungsbeamten gezwungen, auf denen Daten des US-Enthüllers Edward Snowden gespeichert waren. Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Frage, inwiefern ein solches Vorgehen der Britischen Regierung gegen die Europäische Grundrechte-Charta verstoßen könnte. Ausdrücklich nicht geprüft wird, wie die Maßnahme nach britischem Recht zu bewerten ist. Angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und vor dem Hintergrund der nicht vollständig bekannten Tatsachengrundlage , kann – wie telefonisch abgesprochen – nur eine kursorische Prüfung erfolgen. 2. Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta Die Handlungen des UK-Geheimdienstes verstießen nur dann gegen die Grundrechte-Charta (GRCh), wenn ihr Anwendungsbereich eröffnet wäre. Handeln wie hier nicht Organe der EU, sondern die Mitgliedstaaten selbst, so ist der Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh nur dann eröffnet, wenn die Mitgliedstaaten EU-Recht durchführen. Ob ein Fall der Durchführung von Unionsrecht vorliegend angenommen werden kann, ist zweifelhaft . 2.1. Durchführung von EU-Recht Nach der Rechtsprechung des (Europäischen) Gerichtshofs liegt eine Durchführung von Unionsrecht immer dann vor, wenn das nationale Handeln, welches am Maßstab der Grundrechte- Charta geprüft werden soll, in den Anwendungsbereich des Unionsrecht fällt.2 Eine feststehende Formel, unter welchen Voraussetzungen der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Es sind jedoch bestimmte Fallgruppen anerkannt, in denen von einer Eröffnung des Anwendungsbereichs auszugehen ist.3 1 Vgl. etwa Süddeutsche Zeitung vom 20. August 2012 (online abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/grossbritannien-regierung-zwang-guardian-snowden-daten-zu-loeschen- 1.1750015, zuletzt abgerufen am 22.08.2013). 2 EuGH, Urt. vom 16.02.2013, Rs. C-617/10, noch nicht in amtl. Slg. veröffentlicht, Rn. 19 ff. – Åkerberg Fransson. Alle Entscheidungen sind online abrufbar unter Angabe der. Rs.-Nr. unter http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de. Vgl. zum Begriff der Durchführung auch die Erläuterung zur Grundrechte-Charta zu Art. 51 GRCh, die nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV. 3 Siehe den Überblick bei Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 51, Rn. 16 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 5 PE 6 - 3000 – 92/13 Hierzu gehören vor allem der Vollzug von Verordnungen und die Umsetzung von Richtlinien.4 Eine weitere Fallgruppe betrifft die Einschränkung von Grundfreiheiten.5 Insgesamt betrachtet, lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Tendenz entnehmen, den Anwendungsbereich des Unionsrecht weit zu verstehen und auch Konstellationen einzubeziehen , in denen das Unionsrecht das nationale Recht zwar inhaltlich nicht vollständig determiniert , aber gleichwohl Anknüpfungspunkte zum EU-Recht bestehen.6 Hiervon ausgehend lässt sich zunächst festhalten, dass die Handlungen des britischen Geheimdienstes und die ihnen zu Grunde liegenden Rechtsvorschriften im britischen Recht weder der Umsetzung von Richtlinien noch dem Vollzug von Verordnungen dienten. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass hier ein Fall der Einschränkung von Grundfreiheiten vorliegt (dazu sogleich unter 2.2.). Sonstige Anknüpfungspunkte im Unionsrecht für einen Bezug der Handlungen des britischen Geheimdienstes sind auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen nicht ersichtlich. 2.2. Bindung an die Grundrechte-Charta wegen Einschränkungen von Grundfreiheiten? Im Zusammenhang mit dieser Fallgruppe gilt es vorliegend zwei Fragen zu klären. Zum einen ist zu prüfen, ob die Grundfreiheiten selbst anwendbar sind und eine Einschränkung der anwendbaren wirtschaftlichen Gewährleistung durch die Handlungen des britischen Geheimdienstes angenommen werden kann (siehe unter 2.2.1.). Zum anderen stellt sich die Frage, ob dies genügt, um die Grundrechte-Charta als eigenständigen Prüfungsmaßstab für das betreffende mitgliedsstaatliche Handeln zu aktivieren (siehe unter 2.2.2). Denn im Rahmen dieser Fallgruppe kamen die Charta-Grundrechte bislang in der Regel nur als ein die mitgliedsstaatliche Rechtfertigung begrenzender Aspekt zur Anwendung (Grundrecht als sog. Schranken-Schranke).7 2.2.1. Einschränkung der Grundfreiheiten? Fraglich ist zunächst, ob die Durchsuchung der Geschäftsräume des Guardian und die Zerstörung von Festplatten einen Verstoß gegen Grundfreiheiten darstellt. In Betracht kommen hier die Wa- 4 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 8. 5 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 51 GRCh, Rn. 21. 6 EuGH, Urt. vom 16.02.2013, Rs. C-617/10, noch nicht in amtl. Slg. veröffentlicht, Rn. 29 – Åkerberg Fransson. Diese Entwicklung wird nicht nur im Schrifttum zum Teil kritisiert. Auch das BVerfG hat in seinem Urteil zur Anti-Terror-Datei eine zurückhaltende Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRCh im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Bindung angemahnt (vgl. 1 BvR 1215/07, Rn. 88ff.). Dies ist allerdings nur insoweit relevant, als es die Überprüfung von Handlungen deutscher Hoheitsgewalt am Maßstab der EU-Grundrechte im Raum steht. Keine Bedeutung hat dies für den hier vorliegenden Fall, da es um Handlungen der britischen Regierung geht. 7 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 51 GRCh, Rn. 21. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 6 PE 6 - 3000 – 92/13 renverkehrsfreiheit nach Art. 35 AEUV und/oder die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass der personelle und sachliche Anwendungsbereich einer oder beider Grundfreiheiten eröffnet ist. In personeller Hinsicht schützen sowohl die Warenverkehrsfreiheit als auch Dienstleistungsfreiheit nicht nur Unionsbürger, sondern auch Gesellschaften und juristische Personen.8 Nach Angaben von Wikipedia wird „The Guardian“ von Guardian News & Media Ltd. und damit von einer Gesellschaft englischen Rechts veröffentlicht.9 Somit unterfällt dieses Unternehmen jedenfalls in personeller Hinsicht dem Schutz beider Grundfreiheiten. In sachlicher Hinsicht geht es um die grundfreiheitlich zutreffende Verortung der wirtschaftlichen Tätigkeit des „The Guardian“. Als Presseunternehmen veräußert es journalistische Inhalte in gedruckter Form als Tageszeitung oder stellt sie online, wobei die Finanzierung wohl über entgeltliche (online) Anzeigen gegenfinanziert wird. Ob diese Arten der wirtschaftlichen Tätigkeiten – vorbehaltlich des sogleich zu erörternden grenzüberschreitenden Bezugs – als Warenverkehr oder Dienstleistungen anzusehen sind, lässt sich nicht einheitlich beurteilen. Unter die Warenverkehrsfreiheit fällt die Verbringung körperlicher Gegenstände, die einen Handelswert haben10, während Dienstleistungen nach Art. 57 Abs. 1 AEUV selbständige Leistungen sind, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden und nicht den anderen Grundfreiheiten unterfallen.11 Vorliegend könnte vor allem das körperliche Produkt „Tageszeitung“ als Ware angesehen werden12, der dahinter stehende immaterielle „journalistische“ Input hingegen als selbstständige (entgeltliche) Leistung.13 Auch hinsichtlich der online-Version ist eine klare Zuordnung zumindest dann nicht möglich, wenn es zu einer Speicherung oder einem Ausdruck der Inhalte kommt.14 Überschneiden sich diese beide Grundfreiheiten, ist zu prüfen, ob sich der zu beurteilende wirtschaftliche Vorgang aufspalten lässt; ist das nicht der Fall, ist eine Zuordnung 8 Für die Warenverkehrsfreiheit, vgl. Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 34 AEUV, Rn. 24. Für die Dienstleistungsfreiheit ergibt sich das unmittelbar aus dem AEUV, vgl. Art. 56 AEUV in Verbindung mit Art. 20 AEUV für Unionsbürger und Art. 62 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV für Gesellschaften und juristische Personen. 9 Siehe unter http://de.wikipedia.org/wiki/TheGuardian. 10 Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 34 AEUV, Rn. 19. 11 Zum Dienstleistungsbegriff im Einzelnen, vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 955 ff. 12 So etwa EuGH, Rs. 18/84, Slg. 1985, 1339, Rn. 12 – Kommission/Frankreich, für Druckereiarbeiten, die zur Herstellung einer Zeitung führen. 13 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 1 Grundfreiheiten 2. Aufl. 2012, Rn. 3153, 3159. 14 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 1 Grundfreiheiten 2. Aufl. 2012, Rn. 3160. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 7 PE 6 - 3000 – 92/13 nach dem Schwerpunkt der Maßnahme zu bestimmen.15 Vorliegend geht es mit Blick auf die Handlungen der britischen Geheimdienste einerseits weniger um das körperliche Produkt „Tageszeitung “ als vielmehr um eine Unterbindung der journalistischen Tätigkeit im Hinblick auf einen bestimmten Fall. Anderseits kommt die wirtschaftliche Tätigkeit nicht allein in der journalistischen Leistung zum Ausdruck, sondern erst in der Veräußerung ihres verkörperten Endprodukts in Gestalt des Druckerzeugnisses. Vor diesem Hintergrund erscheint weder eine Aufspaltung der wirtschaftlichen Tätigkeit in Betracht zu kommen, noch lässt sich hier ein eindeutiger Schwerpunkt feststellen. Daher soll im Folgenden von der Einschlägigkeit beider Grundfreiheiten ausgegangen werden Beide Grundfreiheiten erfordern sodann das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs.16 Auf rein innerstaatliche Sachverhalte finden die Grundfreiheiten nach allgemeiner Meinung keine Anwendung. Für die Warenverkehrsfreiheit kann der grenzüberschreitende Bezug nach Art. 35 AEUV angenommen werden, wenn eine Ware in einen anderen Mitgliedstaat ausgeführt wird. Die Zeitung „The Guardian“ ist im EU-Ausland sowohl in gedruckter Form erhältlich als auch online einsehbar , soweit man auch letzteres als Warenverkehr ansieht. Bei der Dienstleistungsfreiheit ist die sog. Korrespondenzdienstleistung eine der klassischen Konstellationen der Grenzüberschreitung. Sie kennzeichnet sich dadurch, dass weder der Dienstleistungserbringer (hier das hinter der Zeitung „The Guardian“ stehende Unternehmen) noch der Dienstleistungsempfänger (hier der Leser) die Grenze überschreiten, sondern nur die Dienstleistung 17, die hier in dem journalistischen Substrat gesehen werden könnte. Wäre hiernach der Anwendungsbereich beider Grundfreiheiten als eröffnet anzusehen, müsste ferner ein Eingriff vorliegen. Da es sich aus Sicht der Warenverkehrsfreiheit um einen Fall der Ausfuhr handeln würde, wäre hinsichtlich des Eingriffs auf Art. 35 AEUV abzustellen. Nach der Rechtsprechung bewertet sich ein Eingriff in die Warenausfuhrfreiheit nach der sog. Groenveld-Formel, wonach alle Maßnahmen verboten sind, die eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit zu einer ungleichen Behandlung des Binnen- und des Außenhandels eines Mitgliedsstaates führen, so dass die inländische Produktion oder der Binnenmarkt des betreffenden Staates eines besonderen Vorteil erlangt.18 Damit besteht ein Unterschied zur Wareneinfuhrfreiheit , die nach der sog. Dassonville-Formel über einen weitergehenden Eingriffsbegriff ver- 15 Allgemein zur Abgrenzung dieser beiden Grundfreiheiten in sachlicher Hinsicht, vgl. Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art 56 AEUV, Rn. 25. 16 Allgemein zu dieser Voraussetzung Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 790. 17 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 963. 18 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Rs. 15/79, Slg. 1979, 3409, Rn.7 – Groenveld. Weitere Nachweise aus der Rechtsprechung bei Frenz, Handbuch Europarecht - Band 1 Grundfreiheiten 2. Aufl. 2012, Rn. 1039 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 8 PE 6 - 3000 – 92/13 fügt.19 Dessen ungeachtet werden die Merkmale der Groenveld-Formel durch die Handlungen des britischen Geheimdienstes nicht erfüllt, da diese sich – aus der Perspektive der Warenverkehrsfreiheit – allgemein gegen das Produkt „The Guardian“ im Zusammenhang mit einer bestimmten Thematik richten, nicht aber speziell gegen dessen Ausfuhr ins EU-Ausland. Obgleich die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV von ihrem Wortlaut her die Ausfuhrdimension nicht ausdrücklich erfasst, ist allgemein anerkannt, dass auch sie Schutz gegen Maßnahmen der Herkunftsstaates des Dienstleistungserbringers, hier gegen Großbritannien, gewährt .20 Anders als bei der Warenverkehrsfreiheit differenziert die Rechtsprechung hinsichtlich der Behinderungen der Ein- und Ausfuhr von Dienstleistungen nicht. In beiden Dimensionen umfasst der Gewährleistungsgehalt in Gestalt des Beschränkungsverbots ein Verbot, die Tätigkeit eines in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ansässigen Dienstleisters zu unterbinden, zu behindern oder auch nur weniger attraktiv zu machen.21 Ob diese Voraussetzung vorliegend erfüllt sind, könnte insoweit zweifelhaft sein, als sich die Durchsuchung der Geschäftsräume des Guardian und die Zerstörung von Festplatten nicht allgemein gegen die wirtschaftliche (Dienstleistungs-) Tätigkeit des Guardian richtet, sondern gegen die Ausübung der journalistischen Tätigkeit in einem konkreten Fall. Ziel dieser Maßnahmen war offensichtlich eine Unterbindung der weiteren Berichterstattung im Zusammenhang mit den Enthüllungen im Fall Snowden. Die Eingriffsqualität derartiger unspezifischer Maßnahmen wird im Schrifttum ungeachtet der weiten Formel des Beschränkungsverbots überwiegend abgelehnt.22 Der Rechtsprechung lässt sich eine konkrete Eingrenzung jedoch nicht entnehmen. Mit Blick auf das Urteil in der Rs. Carpenter, in der die Ausweisung der Ehefrau eines Dienstleisters in dessen Herkunftsstaat als Eingriff in Art. 56 f. AEUV angesehen wurde23, ließe sich allerdings auch hier vertreten, dass eine Beschränkung durch die Handlungen des britischen Geheimdienstes vorläge. Fasst man die Ausführungen zusammen, so ist festzuhalten, dass aus Sicht der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 35 AEUV zwar eine Eröffnung des Anwendungsbereichs angenommen werden könnte, ein Eingriff hingegen abzulehnen wäre. Stellte man auf die Dienstleistungsfreiheit ab, so könnte deren Anwendungsbereich ebenfalls als eröffnet angesehen werden. Doch auch insoweit wäre das Vorliegen eines Eingriffs zweifelhaft. Mit Blick auf die Entscheidung in der Rs. Carpenter könnte ein Eingriff jedoch nicht per se ausgeschlossen werden. 19 Und zwar ungeachtet der Einschränkungen im Einzelnen, vgl. hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 838. 20 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 971. 21 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, Rn. 982 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Siehe zum Beschränkungsverbot bei Austrittskonstellationen auch Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 56 AEUV, Rn. 95 ff.; allgemein zum Beschränkungsverbot bei der Dienstleistungsfreiheit Frenz, Handbuch Europarecht - Band 1 Grundfreiheiten 2. Aufl. 2012, Rn. 3256 ff. 22 Vgl. etwa Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 56 AEUV, Rn. 96. 23 EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 39 – Carpenter. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 9 PE 6 - 3000 – 92/13 2.2.2. Grundrechte-Charta als eigenständiger Prüfungsmaßstab? Ginge man von einem Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit aus, läge ein anerkannter Fall für die Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta vor. Kennzeichnend für diesen ist allerdings, dass die EU-Grundrechte in dieser Fallgruppe nur im Rahmen der Grundfreiheitsprüfung auf der Ebene der Rechtfertigung als Schranken-Schranke zur Anwendung gelangen.24 Nach den einschlägigen EuGH-Entscheidungen bedeutet dies, dass der von den Mitgliedstaaten geltend gemachte Rechtfertigungsgrund im Lichte der EU-Grundrechte auszulegen ist.25 Ob und inwieweit auf Grundlage dieser Fallgruppe auch eine eigenständige EU-Grundrechteprüfung möglich ist, ist in der Rechtsprechung und in der Literatur bislang ungeklärt. Hierfür könnte sprechen, dass eine Auslegung im Lichte der Grundrechte nur dann in Betracht kommt, wenn diese in materieller Hinsicht betroffen sind. Entsprechend prüft der Gerichtshof etwa im Urteil Familia Press kurz eine Beeinträchtigung des in Bezug genommenen Grundrechts an.26 Eine weitere getrennte Prüfung nur des Grundrechts erfolgt sodann in dieser Entscheidung aber nicht.27 Unklar ist in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Urteils in der Rechtssache Karner. Auch hier unternahm der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Untersuchung eines Grundfreiheitsverstoßes eine Grundrechtsprüfung.28 Anders als in den Leitentscheidungen zur Fallgruppe der Einschränkung von Grundfreiheiten, ließ der Gerichtshof hierfür genügen, dass lediglich der Anwendungsbereich der einschlägigen Warenverkehrsfreiheit eröffnet war, da er das Vorliegen eines Eingriff abgelehnt hatte.29 Dementsprechend erfolgte die anschließende Grundrechtsprüfung ohne Einbettung in die Rechtfertigung des Grundfreiheitsverstoßes.30 Ob diese Rechtssache jedoch verallgemeinerungsfähig ist, erscheint zweifelhaft. Soweit ersichtlich, besteht keine Folgerechtsprechung, in der dieser Ansatz bestätigt wurde. Im Schrifttum wird dieser Ansatz zudem kritisiert, da sich hieraus aufgrund des weiten Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten bei gleichzeitigem Verzicht auf das Vorliegen eines Eingriffs eine sehr weitgehende Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ergeben würde. 24 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 51, Rn. 21. 25 Siehe EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 ff. – ERT; EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 – Familia Press. 26 EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 26 – Familia Press. 27 EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 27 ff. – Familia Press. 28 EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I- ????, Rn. 48 ff. – Karner. 29 EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I- ????, Rn. 43 ff. – Karner. 30 EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I- ????, Rn. 50 ff. – Karner. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 10 PE 6 - 3000 – 92/13 2.2.3. Zwischenergebnis Nach alledem ist äußerst zweifelhaft, ob vorliegend der Anwendungsbereich der Grundrechte- Charta eröffnet ist. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass hier ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit vorläge und dadurch die Grundrechte-Charta zur Anwendung kommen könnte, ist weiter zweifelhaft, ob die mitgliedstaatlichen Maßnahmen dann einer Grundrechtsprüfung zu unterziehen sind, oder ob nicht allenfalls im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit die Grundrechte-Charta heranzuziehen wäre. 2.3. Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta auf Grund des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich zum EUV Ginge man davon aus, dass vorliegend der Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta eröffnet wäre, fragt sich, ob sich aus Protokoll (Nr. 30)31 dennoch ergibt, dass im Falle Großbritanniens eine Anwendung der Charta ausscheidet. In Art. 1 Abs. 1 heißt es dort: „Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.“ Daraus ergibt sich aber nach Auffassung des EuGH nicht, dass das Protokoll (Nr. 30) die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich in Frage stellt. Es ist danach weder bezweckt, das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freizustellen , noch, ein britisches Gericht daran zu hindern, für die Einhaltung dieser Bestimmungen zu sorgen.32 An dieser Stelle kann nicht geprüft werden, inwiefern diese Entscheidung auch in der hiesigen Konstellation durchgreift. Es wird für die weitere Prüfung jedoch davon ausgegangen, dass sich allein aus dem Protokoll (Nr. 30) nicht ergibt, dass die Grundrechte-Charta nicht zur Anwendung kommt. 2.4. Zwischenergebnis Zusammenfassend ist es zweifelhaft, ob der Anwendungsbereich der Europäischen Grundrechte- Charta vorliegend eröffnet ist. Es ist angesichts der Praxis des EuGH, den Anwendungsbereich eher weit auszulegen jedoch nicht ganz ausgeschlossen, dass die Handlungen der britischen Behörden an der Grundrechte-Charta zu messen wären. Daher wird im folgenden kurz geprüft, wel- 31 Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, zuletzt geändert durch Art. 1 Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (konsolidierte Fassung 2012), ABl. C 326 vom 26. Oktober 2012, S. 13ff., abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/index.htm (zuletzt abgerufen am 22.08.13). 32 EuGH, verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 (N.S.), Urteil vom 21.12.2011, Rn. 119f. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 11 PE 6 - 3000 – 92/13 che verbrieften Grundrechte durch die Durchsuchung und die beaufsichtigte Zerstörung der Festplatten verletzt sein könnten. 3. Verletzung von Charta-Grundrechten Bei einer Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta käme vorliegend insbesondere eine Verletzung des Rechts der Medienfreiheit, normiert in Art. 11 GRCh in Betracht. Möglicherweise könnten auch Eingriffe in Art. 7 GRCh (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) und Art. 15, 16 (Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit) vorliegen. 3.1. Medienfreiheit (Art. 11 GRCh) Art. 11 GRCh enthält in seinem Absatz 1 Satz 1 das Recht auf freie Meinungsäußerung, in Abs. 2 das Recht auf Medienfreiheit. Die Medienfreiheit des Art. 11 Abs. 2 geht im Verhältnis zur Meinungsfreiheit als lex specialis vor.33 Geschützt werden im Medienbereich tätige Personen in ihrer Vermittlungsfunktion, insbesondere im Hinblick auf die Medienprodukte und die Medienorganisation . Ginge es dagegen allein um die Zulässigkeit bestimmter Meinungen und Inhalte in einem Medium wäre Art. 11 Abs. 1 GRCh einschlägig. 3.1.1. Schutzbereich Zunächst müssten die Durchsuchung von Geschäftsräumen der Redaktion einer Tageszeitung und die Anordnung zur Zerstörung von auf Festplatten gespeicherten Daten in den Schutzbereich der Medienfreiheit fallen. Dies ist der Fall, wenn das Grundrecht sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung findet. Art. 11 Abs. 2 schützt die Medien im Sinne der Massenmedien. Gekennzeichnet werden die Medien durch die Aufbereitung und Übermittlung von Inhalten an eine unbestimmte Personenmehrheit . Entscheidend ist, dass die Personen und/oder Zahl der Rezipienten nicht bestimmt sind. Die Art und Weise der Übermittlung, etwa durch Druck, Film oder mit Hilfe von Rundfunkwellen ist unerheblich. Entsprechend werden neben der Presse auch Bücher und andere nicht periodisch erscheinenden Erzeugnisse geschützt. Hinzu kommen alle Arten elektronischer Verbreitung, Filme und die sogenannten neuen Medien. Das Internet wird dabei insofern erfasst, als dass es nicht um Individualkommunikation sondern um eine Kommunikation an eine unbestimmte Personenmehrheit geht.34 Geschützt sind dabei alle mit der Eigenart der Medienarbeit verbundenen Tätigkeiten, von der Beschaffung der Information, über deren Verarbeitung bis hin zu ihrer Verbreitung.35 33 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 32 m.w.N. 34 Zum Ganzen vgl. Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, 33ff. m.w.N. 35 EGMR, Nr. 50693/99 vom 10.1.2006, Rn. 24, zitiert nach Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 34 Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 12 PE 6 - 3000 – 92/13 Träger des Grundrechts sind neben natürlichen Personen auch juristische Personen und Personenvereinigungen , insbesondere Medienunternehmen, Verleger und Vertriebsunternehmen.36 Auch die einzelnen Mitarbeiter dürften Grundrechtsträger sein.37 Entsprechend ist davon auszugehen, dass jedenfalls die journalistischen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Zeitung in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 2 GRCh fallen: Sowohl über ihre Printausgabe als auch im Internet kommunizieren die „Guardian Ltd.“38 und ihre Journalisten mit einer unbestimmten Personenmehrheit. Entsprechend dürfte die Beschaffung der Informationen von Edward Snowden und ihre Speicherung auf Festplatten der Redaktion mit dem Ziel ihrer weiteren Verwendung und Verwertung als medienspezifische Tätigkeit zu qualifizieren sein und damit in den Schutzbereich der Pressefreiheit fallen. 3.1.2. Eingriff Ein Eingriff in die Medienfreiheit liegt vor, wenn das geschützte Verhalten in belastender Weise geregelt oder mittelbar bzw. faktisch in qualifizierter Weise behindert wird.39 So hat der EGMR etwa die Durchsuchung und Beschlagnahme in der Wohnung und im Büro eines Journalisten als Eingriff in die Pressefreiheit qualifiziert.40 Auf Basis der nur aus der Presse bekannten Tatsachen dürfte entsprechend von einem Eingriff in die Medienfreiheit sowohl der Guardian Ltd. als auch der betroffenen Redakteure durch die Maßnahmen der britischen Behörden auszugehen sein. 3.1.3. Rechtfertigung des Eingriffs Die Grundrechte der Charta enthalten zwar nur in wenigen Fällen Rechtfertigungstatbestände für Eingriffe, sie sind aber bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise der Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GRCh) nicht schrankenlos gewährt. Vielmehr findet sich die allgemeine Schrankenbestimmung in Art. 52 GRCh. Art. 52 GRCh enthält v.a. zwei Einschränkungsklauseln: Die Verweisung auf die EMRK in Abs. 3 bewirkt, dass die Rechte der Charta, die der EMRK entlehnt sind, mindestens in dem Umfang gewährt werden, den ihnen die EMRK einräumt. Nach Abs. 1 können Eingriffe im Übrigen auf Basis einer gesetzlichen Grundlage gerechtfertigt werden, soweit sie verhältnismäßig sind. 3.1.3.1. Rechtfertigungsmöglichkeiten Für Art. 11 GRCh (Medienfreiheit) ist unsicher, ob wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh auch die Vorgaben des Art. 10 Abs. 2 EMRK beachtet werden müssen. In Art. 10 Abs. 2 EMRK ist geregelt, dass die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit Pflichten und Verantwortung 36 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 35 m.w.N. 37 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, 35 m.w.N. 38 Vg. oben Fn. 9. 39 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, 36 m.w.N 40 EGMR, Nr. 20477/05 (Tillack./.Belgien), Urteil vom 27.11.2007, NJW 2008, 2655, Rn. 56. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 13 PE 6 - 3000 – 92/13 verbunden ist und daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden kann, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für die einzelnen aufgeführten Zwecke sind. Gegen eine Anwendung von Art. 10 Abs. 2 EMRK spricht, dass Art. 11 Abs. 2 GRCh einen selbständigen, im Vergleich zu Art. 11 Abs. 1 GRCh verschiedenen, Grundrechtstatbestand enthält.41 Dennoch hat der EuGH Art. 10 Abs. 2 EMRK bei Einschränkungen von Rundfunkunternehmen geprüft42, so dass auch bei Einschränkungen von Presseunternehmen wie vorliegend43 die Wertungen der EMRK zu beachten sein dürften. Jedenfalls bedarf die Einschränkung der Medienfreiheit einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (vgl. Art. 52 Abs. 1 GRCh). Soweit die EU-Grundrechte die Mitgliedstaaten binden44, ermächtigt Art. 52 Abs. 1 GRCh zu Grundrechtseinschränkungen durch nationale Rechtsvorschriften.45 Im Hinblick auf die unterschiedlichen Gesetzestraditionen der Mitgliedstaaten wird man den Gesetzesvorbehalt hier – wie im Bereich der EMRK – als weit gefassten Rechtssatzvorbehalt einzustufen haben, der Gewohnheitsrecht und – jedenfalls in den Ländern des Common Law wie z.B. Großbritannien – Richterrecht einschließt. Notwendig ist aber eine Regelung des Außenrechts. Rein verwaltungsintern geltende Vorschriften können nicht genügen. Das bloße Vorliegen eines einschränkenden Gesetzes, welches den Vorgaben von Art. 52 Abs. 1 GRCh im Hinblick auf seine Bestimmtheit und Zugänglichkeit genügt, reicht für eine Rechtfertigung der konkreten Maßnahme jedoch nicht. Vielmehr muss die Maßnahme auch verhältnismäßig, also zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen , d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne, sein und den Wesensgehalt der betroffenen Grundrechte achten. Wenn man die Regelung des Art. 10 Abs. 2 EMRK als beachtlich einstuft, dürfen Grundrechtseinschränkungen allein die in dieser Vorschrift aufgeführten legitimen Ziele verfolgen. Entsprechend müssten die Maßnahmen der britischen Behörden in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sein für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Angesichts der weiten Auslegung dieser Einschränkungsziele durch den EGMR ergibt sich daraus keine Restriktion der legitimen Ziele im Vergleich zu Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh. 41 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 40 m.w.N. 42 EuGH, Rs. 368/95 (Familiapress), Urteil vom 26.06.1997, Rn. 26; Rs. 245/01 (RTL TV), Urteil vom 23.10.2003, Rn. 69. 43 Vgl. oben Fn. 9. 44 Siehe oben 2. Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta, S. 4ff. 45 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 28 Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 14 PE 6 - 3000 – 92/13 Der Eingriff in die Medienfreiheit müsste des Weiteren geeignet sein, ein etwaig legitimes Ziel zumindest zu fördern. Maßgeblich ist insoweit die abstrakte Eignung.46 Die Maßnahme müsste zudem erforderlich sein. Das wäre sie dann, wenn es keine alternativen Maßnahmen gäbe, mit denen das verfolgte Ziel ebenso gut erreicht werden könnte und die in geringerem Umfang in Grundrechte eingriffe (milderes Mittel).47 Schließlich müssten die Durchsuchung und die Anordnung zur Zerstörung der Festplatten im engeren Sinne verhältnismäßig, d. h. angemessen, sein. Die verursachten Nachteile müssten in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen . Dabei steht den Mitgliedstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. 3.1.3.2. Rechtfertigung im konkreten Fall? Entscheidend ist zunächst, ob die Maßnahmen der britischen Behörden eine entsprechende gesetzliche Grundlage hatten. Das ist von hier aus nicht überprüfbar. Bestünde eine entsprechende Rechtsgrundlage, wäre zu prüfen, ob die Maßnahmen ein legitimes Ziel verfolgten. Denkbar erscheint hier gegebenenfalls, dass Ziel der Maßnahmen die nationale Sicherheit, öffentliche Sicherheit , Verhütung von Straftaten oder Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen gewesen sind. Ob dies tatsächlich so war, kann von hier aus nicht beurteilt werden, da die dafür erforderlichen Informationen nicht vorliegen. Käme man zu dem Ergebnis, dass ein solches Ziel hinter den behördlichen Maßnahmen gegen die Redaktion der Zeitung „The Guardian“ stünde, käme es darauf an, ob die konkreten Maßnahmen hier geeignet waren und ob es ein milderes , gleich geeignetes Mittel zur Erreichung jenes Zieles gegeben hätte. Ob dann bereits die Eignung zu verneinen wäre, ist zweifelhaft, da hier für den Grundrechtsverpflichteten ein recht weiter Beurteilungsspielraum besteht. Ebenso wäre gegebenenfalls die Erforderlichkeit der Maßnahme noch zu bejahen, da regelmäßig nicht dargetan werden kann, dass alternative, mildere Mittel (hier etwa die gerichtliche Anordnung der Herausgabe der Festplatten mit den Daten) tatsächlich gleich geeignet gewesen wären. Als äußerst fragwürdig erweist sich jedoch die Angemessenheit der Maßnahmen. Wegen der Bedeutung, die der Medienfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, bedarf es aber eines überwiegenden öffentlichen Interesses für eine derart starken Eingriff wie ihn die Durchsuchung von Redaktionsräumen und die Vernichtung von Daten darstellt. Der EGMR hat die Durchsuchung des Büros eines Journalisten zur Ermittlung einer journalistischen Quelle als unverhältnismäßig angesehen. In die Abwägung hat er u.a. den Umfang der anlässlich der Durchsuchung durchgeführten Beschlagnahmen und die Dauer der Beschlagnahme eingestellt .48 Würde vorliegend davon ausgegangen, dass tatsächlich anlässlich der Durchsuchung Daten auf Festplatten vernichtet worden und damit die auf ihnen gespeicherten Datum unwiederbringlich verloren sind, spricht viel dafür, auch hier von einer Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen auszugehen. 46 Inwiefern die Richtlinie konkrete Erfolge erzielt hat, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Dazu hätte die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat spätestens am 15. September 2010 eine Bewertung der Anwendung dieser Richtlinie vorlegen müssen. Dies ist bislang nicht erfolgt. 47 Jarass, , in: ders., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, München 2010, Art. 52 GRCh, Rn. 38. 48 EGMR, Nr. 20477/05 (Tillack), NJW 2008, 2565, 2567/Rn. 63ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 15 PE 6 - 3000 – 92/13 Angesichts der nicht hinreichend bekannten Tatsachengrundlage kann vorliegend jedoch nicht abschließend geprüft werden, inwiefern die Maßnahmen gegen den Guardian auf einer gesetzlichen Grundlage basierten, einen legitimen Zweck verfolgten und verhältnismäßig waren. 3.2. Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRCh) Die britischen Maßnahmen, insbesondere die Anordnung zur Zerstörung von Festplatten auf denen Daten gespeichert sind, könnten auch den Schutzbereich des Art. 8 GRCh berühren. Der Schutz personenbezogener Daten gilt als einer der wichtigsten Teilbereiche des Schutzes des Privatlebens. 3.2.1. Schutzbereich Als personenbezogene Daten werden alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person eingestuft. Bestimmbar ist eine Person, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann. Die Daten müssen eine natürliche Person betreffen. Keine Rolle spielt die Art der Speicherung der Daten und ob sie allgemein zugänglich sind.49 Erfasst werden Informationen, die die Privatsphäre i.e.S. einschließlich der Intimsphäre betreffen. Daten ohne echten Personenbezug hingegen werden nicht erfasst. Umstritten ist, ob neben natürlichen Personen auch juristische Personen Grundrechtsträger sind. Einerseits sind die in den Charta-Erläuterungen genannten Sekundärrechtsakte auf den Schutz von Daten natürlicher Personen beschränkt. Andererseits spricht aber Art. 8 von Person und nicht von Mensch, was auf eine Berechtigung juristischer Personen hindeutet. Zudem wird das Recht auf Privatleben, das an sich auch den Schutz personenbezogener Daten erfasst, auf juristische Personen erstreckt. Der EuGH sieht juristische Personen nur insoweit geschützt, als der Name der juristischen Personen eine oder mehrere natürliche Personen enthält.50 Möglicherweise lässt sich daraus folgern, dass auch juristische Personen Grundrechtsträger sind, der Schutz aber nur Daten zu Privatpersonen betrifft.51 Abhängig davon, welcher Art die auf den zerstörten Festplatten gespeicherten Daten waren, insbesondere ob diese etwa die Privatperson Edward Snowden betroffen haben, erscheint es jedenfalls denkbar, dass der Schutzbereich von Art. 8 GRCh betroffen ist. 3.2.2. Eingriff Fraglich ist, ob ein Eingriff vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn in den Maßnahmen der britischen Behörden, insbesondere in der Anordnung zur Zerstörung der Festplatten eine Verarbeitung von Daten i.S.d. Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh zu erblicken ist. Unter Verarbeiten ist jede Erhe- 49 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 5 m.w.N. 50 EuGH, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 (Schecke), Urteil vom 9.11.2010, Rn. 53 (zitiert nach Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 7 51 So Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 7 Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 16 PE 6 - 3000 – 92/13 bung, Speicherung, Verwendung und auch Löschung von Daten zu verstehen.52 Gemäß Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh fehlt es an einem Eingriff jedenfalls dann, wenn der Betroffene in Kenntnis der Sachlage in die Verarbeitung seiner Daten einwilligt.53 Dass die Löschung hier nach einer Einwilligung erfolgte, ist nicht ersichtlich. Entsprechend dürfte die Anordnung zur Löschung von Daten durchaus als Eingriff zu verstehen sein: Es kann nach hiesiger Auffassung keinen Unterschied machen, ob ein Grundrechtsverpflichteter die Daten selbst löscht, oder die Löschung anordnet und per Zwang durchsetzt. Sollten also personenbezogene Daten durch die Zerstörung der Festplatten gelöscht worden und damit der Schutzbereich eröffnet sein, spricht einiges dafür, dass die britischen Maßnahmen auch einen Eingriff darstellten . 3.2.3. Rechtfertigung Eingriffe in Art. 8 GRCh können nach Art. 52 Abs. 1 GRCh und nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh i.V.m. Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden. Entsprechend bedarf jede Einschränkung auch hier einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Als Einschränkungsziele kommen gem. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh die „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ oder der „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer “ in Betracht. Zudem greift Art. 8 Abs. 2 EMRK. Danach darf eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer. Im Hinblick auf die Rechtfertigung der hier gegenständlichen konkreten Maßnahmen wird auf die unter 3.1.3.2 „Rechtfertigung im konkreten Fall?“ zur Medienfreiheit gemachten Ausführung verwiesen.54 3.3. Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 7 GRCh) Möglicherweise liegt auch ein Eingriff in Art. 7 GRCh vor. Art. 7 GRCh enthält neben den Grundrechten auf Achtung des Privat- (1. Alt.) und des Familienlebens (2. Alt.) auch das Grundrecht auf Achtung der Wohnung (3. Alt.) und der vermittelten Kommunikation (4. Alt.). Vorliegend kommt allenfalls ein Eingriff in das Recht auf Achtung der Wohnung in Betracht. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Geschäftsräume des „Guardian“ als Wohnung i.S.d. Art. 7 3. Alt. GRCh zu verstehen wären. Durch die in Art. 7 gesicherte Achtung der Wohnung soll jedermann ein privater räumlicher Bereich, ein „Rückzugsgebiet“ freigehalten werden, in dem er unbeeinflusst von äußeren Anfor- 52 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 8 m.v.w.N. 53 Im Einzelnen dazu Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 9 54 Vgl. oben S. 14f. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 17 PE 6 - 3000 – 92/13 derungen und Regeln nach seinen persönlichen Vorstellungen leben kann. Die Garantie sichert also die räumliche Grundlage des Privatlebens.55 Insofern ist fraglich, ob Geschäftsräume umfasst sind. 3.3.1. Schutzbereich Als Wohnung sind zunächst alle Räume einzustufen, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen und zur Stätte des Privatlebens (i.w.S.) gemacht sind . Dazu gehören auch wohnungsnahe Gebäude und Gebäudeteile wie Keller, Dachböden, Terrassen und Innenhöfe. In früherer Rechtsprechung hat der EuGH verneint, dass Geschäfts- und Betriebsräume erfasst werden.56 Demgegenüber wurde die Frage vom EGMR in gewissem Umfang bejaht.57 Er hat, wie der EuGH im Anschluss (wohl zustimmend) festhielt, den Schutz „unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt“.58 Welche Umstände das sind, bleibt allerdings offen. Demgegenüber wird im Schrifttum für eine umfassende Anwendung des Art. 7 auf Geschäfts- und Betriebsräume plädiert.59 Dafür spricht, dass das Grundrecht auch juristischen Personen zugutekommt und damit Abgrenzungsprobleme vermieden werden. Die im Vergleich zu Privatwohnungen reduzierte Schutzbedürftigkeit ist im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung zu berücksichtigen. Kein Schutz dürfte lediglich bestehen, wenn und soweit Geschäfts- und Betriebsräume jedermann ohne Kontrolle zugänglich sind, da es dann bereits an der räumlichen Abschottung fehlt.60 Entscheidend dürfte nach hiesiger Auffassung sein, dass die Achtung der Wohnung auch durch Art. 8 EMRK geschützt wird. Entsprechend darf der Schutz der Wohnung nach Art. 7 GRCh nicht hinter dem Schutz aus Art. 8 EMRK zurückbleiben.61 Damit wären Geschäftsräume vom Schutzbereich erfasst. Grundrechtsträger können sowohl natürliche als auch juristische Personen und Personenvereinigungen sein. Nach alledem dürfte die von den britischen Behörden durchgeführte Durchsuchung der Redaktionsräume der Redaktion des „Guardian“ den Schutzbereich des Grundrechts auf Achtung der Wohnung berühren, da soweit ersichtlich die Redaktionsräume nicht - wie etwa Ladenlokale - der Allgemeinheit zugänglich und damit hinreichend abgeschottet sind. 55 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 32 m.w.N. 56 EuGH, Rs. 46/87 (Hoechst), Urteil vom 21.09.1989, Rn. 18f. 57 EGMR, Nr. 13710/88 vom 16.12.1992, Rn. 30ff.; Nr. 37971/97 vom 16.4.2002, Rn. 33. 58 EuGH, Rs. 94/00 (Roquette), Urteil vom 22.10.2002, Rn. 29. 59 Vgl. die Nachweise bei Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Fn. 158 60 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 36 61 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 31 Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 18 PE 6 - 3000 – 92/13 3.3.2. Eingriff Ein Eingriff liegt vor, wenn die Privatheit der geschützten Räume durch eine staatliche Maßnahme beeinträchtigt wird. Dies geschieht insbesondere durch ein Betreten der Räumlichkeiten ohne Einwilligung des Grundrechtsträgers.62 Erfasst werden also insbesondere Durchsuchungen, wie sie ausweislich der Presseberichte vorliegend erfolgt sind. 3.3.3. Rechtfertigung Da Art. 7 GRCh auf Art. 8 EMRK zurückgeht, ist gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh die Schrankenbestimmung des Art. 8 Abs. 2 EMRK anwendbar.63 Eine Rechtfertigung des Eingriffs kommt also in Betracht, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und u. a. für die nationale oder öffentliche Sicherheit und zur Verhütung von Straftaten notwendig ist. Mit Blick auf den Schutz des Privatlebens hat der EuGH das Grundrecht „Beschränkungen unterworfen (...), sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“.64 Im Hinblick auf die Rechtfertigung der hier gegenständlichen konkreten Maßnahmen wird auf die unter 3.1.3.2 „Rechtfertigung im konkreten Fall?“ zur Medienfreiheit gemachten Ausführung verwiesen.65 3.4. Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 15 und 16 GRCh) Die britischen Maßnahmen könnten auch den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der berufsund wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit berühren. Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung die Berufsfreiheit als „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an“.66 Die Berufsfreiheit in Art. 15 und die Unternehmerfreiheit in Art. 16 GRCh gewährleisten sowohl die selbständige als auch die unselbständige berufliche Tätigkeit im Sinne einer umfassenden wirt- 62 Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 38 63 Siehe die (nicht verbindlichen) Erläuterungen zur Charta der Grundrechte durch das Präsidium des Konvents, hier zu Art. 7 GRCh. 64 EuGH, C-62/90, 08.04.1992, Rn. 23. 65 Vgl. oben S. 14f. 66 EuGH, Rs. 4/73, „Nold“, Slg. 1974, 491 ff.; EuGH, Rs. 44/79, „Hauer“, Slg. 1979, 3727 ff.; EuGH, Rs. C-280/93, „Deutschland/Rat“, Slg. 1994, I-4973 Tz. 78 ff.; EuGH, Rs. C-122/95 „Deutschland/Rat“, Slg. 1998, I-973 Tz. 74 ff.; EuGH, Rs. C-210/03, „Swedish Match AB/Secretary of State for Health“, Slg. 2004, I-11893 Tz. 72 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 19 PE 6 - 3000 – 92/13 schaftlichen Betätigungsfreiheit.67 Das Grundrecht auf Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist parallel zur Medienfreiheit anwendbar.68 3.4.1. Schutzbereich Zunächst müsste der Schutzbereich der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit eröffnet sein. Eine Definition des Schutzbereichs findet sich in der Rechtsprechung des EuGH soweit ersichtlich bislang nicht. Aus den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents ergibt sich jedoch , dass die unternehmerische Freiheit im Wesentlichen als Ausprägung der Berufsfreiheit zu verstehen ist.69 Daher umfasst der Gewährleistungsbereich des Gemeinschaftsgrundrechts jede Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit eines Unternehmens, mithin jede dem Erwerb dienende Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist.70 Träger des Grundrechts sind alle natürlichen und juristische Personen, sowie Personenvereinigungen.71 Die Veröffentlichung und der Vertrieb der Zeitung „The Guardian“ dient offensichtlich dem Erwerb und ist auf Dauer angelegt, so dass der sachliche Schutzbereich als eröffnet anzusehen ist. Unabhängig davon, wessen Erwerb – ob einer natürlichen oder juristischen Person – die Herstellung und der Vertrieb der Zeitung dient, dürfte auch der persönliche Schutzbereich eröffnet sein. So kann es zum einen um die wirtschaftliche Tätigkeit der einzelnen Redakteure und Mitarbeiter, denen ihre Arbeit beim Guardian als Erwerbsgrundlage dient, und zum anderen um die Geschäftstätigkeit der „Guardian Ltd.“ der Zeitung gehen. 3.4.2. Eingriff Ein Grundrechtseingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit liegt zunächst vor, wenn ein Grundrechtsverpflichteter eine Maßnahme trifft, die für den Grundrechtsinhaber im Hinblick auf die unternehmerischen Aktivitäten einen Nachteil bezweckt oder unmittelbar bewirkt.72 Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass die Durchsuchung und Zerstörung der Festplatten im Hinblick auf 67 Ruffert, Matthias, in: Calliess, Christan/Ruffert, Matthias, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage 2007, Art. 15 GRCh, Rn. 4 mit Hinweis auf EuGH, Verb. Rs. 63/84 und 147/84, Slg. 1985, 2857, Rn. 23 (Finsider). Die Ausführungen zum Schutzbereich der und zum Eingriff in die Grundrechte der Berufs- und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit gehen in Teilen zurück auf die Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 92/13 „Die Vereinbarkeit der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten mit der Europäischen Grundrechte-Charta“ von Dr. Denkinger aus dem Jahre 2011. 68 So Jarass, in: ders. (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 11 GRCh, Rn. 6. 69 Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Auflage 2011, Art. 16 GRCh, Rn. 1. 70 Vgl. Jarass, , EU-Grundrechte, § 21 Rn. 6; Ruffert, in: Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten , § 16 Rn. 11. 71 Jarass, in: ders., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, München 2010, Art. 16 GRCh, Rn. 11 mit dem Hinweis darauf, dass die Rechtslage bei öffentlichen Unternehmen, deren Anteile von Grundrechtsverpflichteten gehalten werden, umstritten ist. 72 Jarass, in: ders., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, München 2010, Art. 16 GRCh, Rn. 12 mit Hinweis auf EuGH, Rs. 200/96, Slg. 1998, I-1953 Rn. 28. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 20 PE 6 - 3000 – 92/13 die unternehmerischen Aktivitäten der Mitarbeiter und Eigentümer des Guardian einen Nachteil für das wirtschaftliche Wirken der Guardian Ltd. oder ihrer Redakteure bezweckt oder unmittelbar bewirkt.73 Den britischen Behörden ging es soweit ersichtlich nicht darum, dem Guardian in wirtschaftlicher Hinsicht einen Nachteil zuzufügen. Auch das Vorliegen mittelbarer bzw. faktischer Auswirkungen der Durchsuchung und Anordnung der Zerstörung der Festplatten, welche ähnlich wie nach dem modernen Eingriffsbegriff im deutschen Recht auch auf europäischer Ebene anerkannt sind74, auf die Geschäftstätigkeit lässt sich vorliegend nur schwer begründen. Es ist auf Basis der bekannten Tatsachen nicht ersichtlich , dass durch die Durchsuchung und Zerstörung der Festplatten ein unternehmerischer Nachteil für den Guardian entstanden ist. Möglicherweise ist in der Zerstörung der Festplatten, welche eine Arbeitsgrundlage für die wirtschaftliche Betätigung darstellen könnten (Stichwort: Zerstörung von Arbeitsmitteln), ein mittelbarer Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit zu sehen. Eine abschließende Stellungnahme kann auf Grundlage der vorliegenden Informationen hierzu nicht gegeben werden. 3.4.3. Rechtfertigung Eingriffe in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit können nach Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigt sein.75 Im Hinblick auf die Rechtfertigung der hier gegenständlichen konkreten Maßnahmen wird auf die unter 3.1.3.2 „Rechtfertigung im konkreten Fall?“ zur Medienfreiheit gemachten Ausführung verwiesen.76 4. Ergebnis Es bestehen zusammenfassend erhebliche Zweifel daran, ob die Handlungen der britischen Behörden als mitgliedstaatliche Maßnahme überhaupt in den Anwendungsbereich der Europäischen Grundrechte-Charta fallen. Dies könnte allenfalls bejaht werden, wenn in der Durchsuchung und der Zerstörung von Festplatten ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit gesehen werden könnte. Würde davon ausgegangen, wäre weiter zweifelhaft, ob eine eigenständige Grundrechtsprüfung zu erfolgen hätte, oder ob nicht die Europäische Grundrechte-Charta allenfalls im Rahmen der Rechtfertigung des mitgliedstaatlichen Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit heranzuziehen wären. 73 Vgl. oben S. 8. 74 So z. B. EuGH, Rs. T-113/96 „Dubois et fils/Rat und Kommission“, Slg. 1998, II-125, Rn. 75; Rs. C-84/95 „Bosphorus“, Slg. 1996, I-3953, Rn. 22 f. 75 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte durch das Präsidium des Konvents, Art. 16 GRCh. Im Einzelnen zur Möglichkeit der Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufs- und wirtschaftliche Bestätigungsfreiheit vgl. Jarass , in: Jarass (Hrsg.), Charta der EU-Grundrechte, 2. Aufl. 2013, Art. 15, Rn. 13; Art. 16, Rn. 18. 76 Vgl. oben S. 14f. Fachbereich Europa Ausarbeitung Seite 21 PE 6 - 3000 – 92/13 Materiell könnte in der Durchsuchung der Geschäftsräume der Zeitung „The Guardian“ ein Eingriff in Art. 11 Abs. 2 GRCh (Medienfreiheit) und in Art. 7 GRCh (Unverletzlichkeit der Wohnung ) vorliegen. Abhängig von der Art der Daten, die sich auf den zerstörten Festplatten befunden haben, käme ggfls. auch ein Eingriff in Art. 8 GRCh (Schutz personenbezogener Daten) in Betracht. Möglicherweise ließe sich auch ein Eingriff in Art. 15, 16 GRCh (Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit) konstruieren. Ob diese Eingriffe gerechtfertigt sein könnten, kann von hier aus mangels einer hinreichenden Tatsachengrundlage nicht abschließend geprüft werden. Jedenfalls müssten die Maßnahmen der britischen Behörden auf einer gesetzlichen Grundlage basieren, ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein. Es spricht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR zur Pressefreiheit einiges dafür, dass Durchsuchungen in der Redaktion einer Tageszeitung nicht als angemessen zu betrachten wären. - Fachbereich Europa -