© 2015 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 91/15 Die Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts für die Staatsschulden Griechenlands mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 2 Die Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts für die Staatsschulden Griechenlands mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 91/15 Abschluss der Arbeit: 13. Juli 2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Bezugspunkte eines möglichen Schuldenschnitts 4 2.1. 1. Hilfspaket 2010 5 2.2. 2. Hilfspaket 2012 5 2.3. Griechische Staatsanleihen 5 3. Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts mit dem Unionsrecht 5 3.1. Schuldenschnitt für die EFSF-Finanzhilfen 6 3.1.1. Verbot des gegenseitigen Beistands, Art. 125 AEUV 6 3.1.2. Vereinbarkeit der EFSF-Darlehen mit Art. 125 AEUV 6 3.1.3. Vereinbarkeit eines teilweisen Verzichts auf die Forderungen aus den EFSF-Darlehen mit Art. 125 AEUV 7 3.1.3.1. Anwendbarkeit von Art. 125 Abs. 1 AEUV 7 3.1.3.2. Rechtsnatur eines Schuldenschnitts für EFSF-Forderungen 8 3.1.3.2.1. Schuldenschnitt als Verwirklichung des Kreditrisikos im Rahmen des bestehenden Kreditvertrages 9 3.1.3.2.2. Schuldenschnitt als eigenständige Hilfeleistung 9 3.1.3.2.3. Zusammenfassung 11 3.1.3.3. Vereinbarkeit mit Art. 125 AEUV 11 3.1.3.3.1. Anreizwirkung 12 3.1.3.3.2. Haftungsposition 13 3.1.3.3.3. Rückzahlung 14 3.1.4. Folgerungen 15 3.2. Schuldenschnitt für die bilateralen Finanzhilfen 15 3.3. Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt 15 3.3.1. Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung, Art. 123 AEUV 15 3.3.2. Folgerungen für eine Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt 16 3.3.3. Bewertung einer Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt 17 3.3.4. Zusammenfassung 18 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, ob das Primärrecht der Europäischen Union (EU) und insbesondere die Art. 123 und 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) einen Schuldenschnitt für die Staatsschulden eines Euro-Mitgliedstaates verbietet. Der Begriff des Schuldenschnitts (sog. hair cut) wird vorliegend im Sinne einer nachträglichen Verringerung des ursprünglich vereinbarten Rückzahlungsbetrags aufgrund einer Einigung und einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Gläubiger(n) und Schuldner für bestehende Verbindlichkeiten beispielsweise in Form eines teilweisen Erlasses von gewährten Krediten verstanden . Ein Schuldenschnitt dient dem Ziel, die Situation eines staatlichen Schuldners durch Senkung seiner Schuldenlast und mithin seine Schuldentragfähigkeit so weit zu verbessern, dass er in der Lage ist, den Rest seiner Schulden abzubezahlen. Insoweit ist der Begriff des Schuldenschnitts für staatliche Schuldner von anderen Formen der Schuldenerleichterung wie insbesondere einer Umschuldung bzw. eine sog. Restrukturierung von Schulden abzugrenzen, die ebenfalls auf eine Reduktion der Schuldenlast eines Staates und damit auf dessen Schuldentragfähigkeit abzielen.1 Im Gegensatz zu einem Schuldenschnitt erfolgt bei einer Umschuldung oder Restrukturierung kein kompletter oder teilweiser Erlass der Schulden , sondern beispielsweise eine Verringerung der Zinsspanne und eine Verlängerung der Laufzeiten der gewährten Kredite durch Modifikation von Anleiheverträgen und anderen Schuldinstrumenten . 2. Bezugspunkte eines möglichen Schuldenschnitts Ein Schuldenschnitt im vorstehend genannten Sinne bezieht sich auf die Reduktion des öffentlichen Schuldenstandes eines Staates. Für die Antwort auf die Frage, ob eine solche Maßnahme mit dem Unionsrecht vereinbar ist, ist zwischen den verschiedenen Forderungen zu differenzieren , auf denen der öffentliche Schuldenstand beruht und auf die sich dementsprechend ein Schuldenschnitt beziehen kann. Für den öffentlichen Schuldenstand der Hellenischen Republik (Griechenland) sind insbesondere die folgenden Forderungen als Bezugspunkt eines Schuldenschnitts von Bedeutung:2 1 Vgl. hierzu beispielsweise allgemein v. Bogdandy/Goldmann, Die Restrukturierung von Staatsschulden als Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt: Zur Möglichkeit der inkrementellen Entwicklung eines Staateninsolvenzrechts , ZaöRV 73 (2013), S. 61 ff. sowie konkret in Bezug auf Griechenland Darvas/Hüttl, How to reduce the Greek debt burden?, Bruegel Policy Contribution, 9. Januar 2015, abrufbar unter http://www.bruegel.org/nc/blog/detail/article/1533-how-to-reduce-the-greek-debt-burden/. 2 Vgl. hierzu im Überblick Referat PE2, EU-Sachstand vom 15. Dezember 2014, Die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands unter dem EFSF-Anpassungsprogramm (Aktualisierung) sowie Sinn, Die griechische Tragödie, ifo Schnelldienst 68 (Sonderausgabe Mai), S. 3 (6), abrufbar unter http://www.cesifogroup .de/DocDL/SD_Mai_2015_Sonderausgabe_1.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 5 2.1. 1. Hilfspaket 2010 Forderungen aus bilateralen Krediten der Staaten der Eurogruppe im Rahmen der sog. Greek Loan Facility (GLF) von 20103 Forderungen aus Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) 2.2. 2. Hilfspaket 2012 Forderungen aus Darlehen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)4 Forderungen aus Darlehen des IWF 2.3. Griechische Staatsanleihen Forderungen von privaten Anleihekäufern Forderungen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) bzw. der EZB als Käuferin von griechischen Staatsanleihen insbesondere im Rahmen ihres Programms für die Wertpapiermärkte (Securities Markets Programme, SMP)5 3. Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts mit dem Unionsrecht Vor dem Hintergrund der verschiedenen Gläubiger und Forderungen, die für den öffentlichen Schuldenstand von besonderer Bedeutung sind, beschränkt sich die folgende Darstellung auf die Prüfung der unionsrechtlichen Zulässigkeit eines Schuldenschnitts für Forderungen öffentlicher Gläubiger. Hierdurch wird einerseits die Frage nach einer unionsrechtlichen Zulässigkeit eines Schuldenschnitts für Forderungen von privaten Gläubigern ausgeklammert.6 Andererseits sind von der folgenden Darstellung die Fragen betreffend die Kredite des IWF ausgenommen, welche nicht durch unionsrechtliche, sondern die spezifischen Regeln des IWF bestimmt werden.7 3 Vgl. hierzu BT-Drs. 17/1544. 4 Vgl. hierzu im Überblick http://www.efsf.europa.eu/about/operations/ sowie BT-Drs. 17/8730, 17/8731, zur Programmanpassung vgl. BT-Drs. 17/11647 sowie Eurogroup statement on Greece vom 27. November 2012. 5 Vgl. hierzu den Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 14. Mai 2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte, EZB/2010/5, 2010/281/EU, ABl. 2010 L 124/8 sowie im Überblick https://www.ecb.europa .eu/mopo/implement/omt/html/index.en.html. 6 Zum Schuldenschnitt Griechenlands 2012 in Form eines Anleihentauschs vgl. BT-Drs. 17/8731, Anlage 2; EuGH, verb. Rs. C-226/13 u.a. (Fahnenbrock), Rn. 51 ff.; Sandrock, Nationaler und internationaler Schutz von privaten Inhabern von Staatsanleihen gegenüber Schuldenschnitten, WM 2013, S. 393 ff. 7 Vgl. hierzu IWF, Preliminary Draft Debt Sustainability Analysis, IMF Country Report No. 15/165, vom 26. Juni 2015, abrufbar unter http://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2015/cr15165.pdf sowie IWF, The Problem that Wasn’t: Coordination Failures in Sovereign Debt Restructurings, IMF Working Paper 2011, WP/11/265, abrufbar unter http://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2011/wp11265.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 6 3.1. Schuldenschnitt für die EFSF-Finanzhilfen 3.1.1. Verbot des gegenseitigen Beistands, Art. 125 AEUV Nach der sog. „Nichtbeistandsklausel“ des Art. 125 AEUV haften Union und Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates und treten auch nicht für sie ein. Nach einer kontroversen Debatte8 über die Reichweite des Beistandsverbots und das – auch durch die Konkretisierungen gemäß Art. 125 Abs. 2 AEUV in der Verordnung (EG) Nr. 3603/19939 nicht näher definierte – Merkmal „Eintreten für Verbindlichkeiten“ hat der EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) Art. 125 AEUV dahingehend ausgelegt, dass diese Norm der Union und den Mitgliedstaaten dem Wortlaut nach nicht jede Form der finanziellen Unterstützung anderer Mitgliedstaaten verbietet.10 Würde Art. 125 AEUV jede finanzielle Unterstützung der Union oder der Mitgliedstaaten verbieten, hätte in Art. 122 AEUV klargestellt werden müssen, dass diese Norm eine Ausnahme von Art. 125 AEUV darstellt.11 Zudem stellt der EuGH auf den von Art. 123 AEUV abweichenden Wortlaut des Art. 125 AEUV ab: Das Verbot der Gewährung von Überziehungs- oder anderen Kreditfazilitäten in Art. 123 AEUV sei gegenüber dem Beistandsverbot enger gefasst, woraus im Umkehrschluss folge, dass das Verbot in Art. 125 AEUV im Gegensatz zu dem in Art. 123 AEUV nicht absolut gelte und sich damit nicht auf jedwede Form der Unterstützung zugunsten eines Mitgliedstaates erstreckt.12 Die „Nichtbeistandsklausel“ des Art. 125 AEUV solle primär sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten auf eine solide Haushaltspolitik achten, indem sie gewährleiste, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung der Marktlogik unterworfen bleiben. Sie verbiete daher auch vom Normzweck her nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat eine (freiwillige) Finanzhilfe gewähren, sofern die daran geknüpften Auflagen geeignet sind, diesen zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen und dieser gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt.13 3.1.2. Vereinbarkeit der EFSF-Darlehen mit Art. 125 AEUV Nach den vom EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) dargelegten Maßstäben begründen die EFSF- Hilfen keine Strukturen der direkten Haftungsübernahme, welche die Empfängerstaaten von dem 8 Zur Diskussion vgl. Schorkopf, AöR 136 (2011), S. 323 (339); Kube/Reimer, NJW 2010, S. 1911 ff.; Frenz/Ehlenz, EWS 2010, S. 65 ff.; Knopp, NJW 2010, S. 1777 ff.; Herrmann, EuZW 2010, S. 413. 9 VO (EG) 3603/1993 des Rates v. 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, ABl. L 332/1. 10 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 137. 11 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 131. 12 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 132. 13 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle.), Rn. 136 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 7 Marktdruck lösen würden.14 Die EFSF und die an ihm beteiligten Mitgliedstaaten haften nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängerstaates aus einer Finanzhilfe und sie treten auch nicht für sie ein. Der Empfängerstaat bleibt vielmehr für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar. Mit einer Finanzhilfe entsteht eine neue Verbindlichkeit gegenüber der EFSF, für die die übrigen EFSF-Mitglieder bürgen und die es dem Empfängerstaat letztlich ermöglichen soll, sich wieder unter normalen Bedingungen am Kreditmarkt zu refinanzieren. In diesem Rahmen sollen strenge Auflagen die Vereinbarkeit der EFSF-Hilfen mit der „Nichtbeistandsklausel“ sicherstellen, deren Normzweck solchen Beistand verbietet, der Anreize zu solider Haushaltsführung schmälert. Dies ist bei den EFSF-Hilfen insofern nicht der Fall, da sie nicht auf einem Haftungsautomatismus beruhen, zur Wahrung der Finanzstabilität insgesamt unabdingbar und durch ein makroökonomisches Anpassungsprogramm des Empfängerstaates bedingt sein müssen.15 Mit anderen Worten wird im Rahmen von EFSF-Hilfen der Druck der Finanzmärkte durch den Druck der Bedingungen der EFSF-Hilfen substituiert. 3.1.3. Vereinbarkeit eines teilweisen Verzichts auf die Forderungen aus den EFSF-Darlehen mit Art. 125 AEUV Vor dem Hintergrund der primärrechtlichen Prämissen für einen finanziellen Beistand in Form von Darlehen und der daraus folgenden, grundsätzlich primärrechtskonformen Begründung einer neuen Verbindlichkeit zwischen der EFSF als Gläubigerin und dem Empfängerstaat als Schuldner stellt sich die Frage nach der primärrechtlichen Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts auf die im Rahmen der EFSF gewährten Darlehen. Die Bewertung am Maßstab des Art. 125 Abs. 1 AEUV hängt dabei insbesondere von den Fragen ab, ob Art. 125 Abs. 1 AEUV auf einen Schuldenschnitt überhaupt Anwendung findet (hierzu sogleich 3.1.3.1.), welche rechtliche Qualität einem Schuldenschnitt im EFSF-Kontext zukommt (hierzu sogleich 3.1.3.2.) und inwiefern ein Schuldenschnitt mit den Grenzen des Art. 125 AEUV vereinbar ist, wie sie der EuGH herausgearbeitet hat (hierzu sogleich 3.1.3.3.). Angesichts des mehrdeutigen Begriffs „Eintreten für Verbindlichkeiten “ sind insbesondere die Zielsetzung und der Zweck des Art. 125 Abs. 1 AEUV16 für die Bestimmung der Reichweite des Handlungsverbots von entscheidender Bedeutung.17 3.1.3.1. Anwendbarkeit von Art. 125 Abs. 1 AEUV Gemäß Art. 125 Abs. 1 AEUV dürfen die Union und Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten haften und auch nicht für derartige Verbindlichkeiten eintreten. Dementsprechend bezieht sich das Beistandsverbot primär auf finanzielle Leistungen und setzt mit Blick auf das Erfordernis von Verbindlichkeiten das Bestehen eines Verhältnisses zwischen 14 In seiner Argumentation geht der EuGH nicht auf die zusätzliche, die Unionsrechtskonformität des ESM stützende ultima-ratio-Argumentation Irlands und der Irland unterstützenden Staaten und Unionsorgane ein, wonach ein absolutes Beistandsverbot eine Kettenreaktion auslösen könnte, die die Stabilität des Euros ungleich ernsthafter gefährde als ein Beistand im Krisenfall. Wäre ein Notbeistand in der Relation von wechselseitiger Verbundenheit und dem Eigenstand der Mitgliedstaaten völlig ausgeschlossen, würde das Primärziel der wirtschaftlichen Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion so erst Recht verletzt. 15 Vgl. EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 136, 141. 16 Siehe oben 3.1.1. 17 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 133. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 8 Gläubigern, Empfängerstaat und Unterstützerstaat(en) voraus. Dies legt die Annahme nahe, dass ein Schuldenerlass, mit dem die Finanzierungskosten des betroffenen Staates gesenkt und dadurch seine Schuldentragfähigkeit gesichert werden sollen und der sich im bilateralen Verhältnis von Empfängerstaat und Geberstaaten im Euro-Währungsgebiet abspielt, nicht von dem Beistandsverbot erfasst wäre. Vor diesem Hintergrund ist jedoch zu erwägen, dass der EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) die Gewährung von Finanzhilfen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als die Entstehung einer „neuen Schuld“ des Empfängermitgliedstaates gegenüber dem ESM qualifiziert, die zusätzlich zu der unberührt bleibenden Verbindlichkeit gegenüber den Gläubigern entsteht. Aus der Entstehung einer neuen Schuld leitet der EuGH ab, dass der ESM als Gläubiger nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängerstaates haftet. Bei einem (Teil-)Erlass der Nominalschuld im Rahmen eines Schuldenschnitts erlischt diese neue Schuld jedoch. Zudem zeitigt ein Schuldenerlass dem Grundsatz nach die Wirkung, dass der die Schulden erlassende Gläubiger (d.h. vorliegend die EFSF und mittelbar ihre Gesellschafter) sowohl Gläubiger im Sinne des Art. 125 Abs. 1 AEUV ist – zugleich aber auch durch den Erlass im Verhältnis zu sich selbst in die Verbindlichkeit des Empfängerstaates eintritt. Mit anderen Worten wird die EFSF als Darlehensgeberin und mittelbar die sie tragenden Mitgliedstaaten durch einen Schuldenschnitt Gläubiger und Haftende in Personalunion. Verzichtet die EFSF auf die Rückzahlung eines gewährten Darlehens aufgrund eines Schuldenschnitts, würden sie somit „haften“ für die Verbindlichkeiten des Empfängerlandes gegenüber ihnen selbst. Insofern entspricht ein Schuldenschnitt funktional einer finanziellen Hilfe zugunsten eines Mitgliedstaates , und Art. 125 Abs. 1 AEUV entfaltet Maßstabswirkung auch für die unionsrechtliche Bewertung eines Schuldenschnitts. 3.1.3.2. Rechtsnatur eines Schuldenschnitts für EFSF-Forderungen Mit Blick auf die Anwendbarkeit des Art. 125 Abs. 1 AEUV auf einen Schuldenschnitt stellt sich die Frage, ob ein Schuldenschnitt für EFSF-Forderungen der Verwirklichung eines Kreditausfallrisikos in der Beziehung zwischen Empfängerstaat und der EFSF entspricht – oder ob ein Schuldenschnitt als ein eigenständiges, durch die EFSF vermitteltes Eintreten der Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates im Sinne des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV zu bewerten ist, welches sich angesichts des offenen Wortlauts von Art. 125 Abs. 1 AEUV18 sowohl auf die Übernahme einer Verbindlichkeit durch Begründung einer eigenen Schuld als auch auf das tatsächliche Erfüllen einer fremden Verbindlichkeit beziehen kann.19 18 Vgl. dementsprechend den englischen (shall not be liable for or assume the commitments) und französischen (ne répond pas […] ni ne les prend à sa charge) Wortlaut. 19 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 120. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 9 3.1.3.2.1. Schuldenschnitt als Verwirklichung des Kreditrisikos im Rahmen des bestehenden Kreditvertrages Auf der einen Seite ließe sich vertreten, dass ein Schuldenschnitt einem Zahlungsausfall entspricht und sich damit ein Kreditrisiko verwirklicht, welches jeder Kreditbeziehung immanent ist.20 Demnach entspräche ein Schuldenschnitt einer Modifikation der bestehenden Rechtsbeziehung und nicht der Begründung einer neuen Schuld. Für die Auffassung, wonach sich in dem Schuldenschnitt das Kreditausfallrisiko realisiert, welches nicht von Art. 125 AEUV erfasst wird, ließe sich – bei einer entsprechenden Ausgestaltung des Schuldenschnitts – anführen, dass der ursprüngliche Kreditvertrag als solcher durch die Vereinbarung über einen Schuldenschnitt nicht berührt wird, sondern mit verändertem Inhalt fortgesetzt wird. Vereinbaren die Parteien also beispielsweise eine „Vertragsergänzung“, könnte von einer solchen Schuldänderung ausgegangen werden, die nicht im Sinne einer Novation21 mit dem Abschluss eines neuen Kreditvertrages gleichzusetzen ist. Dementsprechend wäre eine „Schuldenerleichterung “ bereits von der grundsätzlich zulässigen Hilfeleistung und den hierfür geltenden Anforderungen erfasst, so dass für die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 125 AEUV auf die ursprüngliche Finanzhilfevereinbarung22 unter Berücksichtigung des diese begleitenden Memorandums of Understanding (MoU) abzustellen wäre. 3.1.3.2.2. Schuldenschnitt als eigenständige Hilfeleistung Andererseits ließe sich die Auffassung vertreten, dass ein einvernehmlicher Schuldenschnitt, der auf einer Vereinbarung zwischen Gläubiger(n) und Schuldner beruht, nicht lediglich Ausdruck der Realisierung eines wirtschaftlichen Kreditrisikos wäre, sondern einem gezielten Beistand im Sinne einer neuen Rechtsbeziehung zwischen Gläubiger(n) und Schuldner entspräche, der neben die ursprüngliche Finanzhilfevereinbarung tritt und zugleich die zuvor eingegangene Kreditbeziehung modifiziert.23 Für die Bewertung einer Schuldenschnittvereinbarung für EFSF-Forderungen als eigenständige Hilfeleistung spricht zunächst die Annahme, dass ein Schuldenschnitt in der Sache nicht mit ei- 20 Vgl. Christoph Herrmann, in: „Der Streit über den Schuldenschnitt“, Die Welt vom 8. Juli 2015. 21 Schlussanträge GA Tizzano zu EuGH, Rs. C-264/02 (Cofinoga/Sachithanathan), Rn. 44; Schlussanträge GA Kokott zu EuGH, Rs. C-454/06 (pressetext), Rn. 52. Zur Rechtsfigur der Novation (Schuldersetzung) aus Sicht des deutschen Schuldrechts, bei der die Aufhebung des bisherigen Schuldverhältnisses und die Begründung eines neuen an dessen Stelle tretenden Schuldgrundes als ein Rechtsgeschäft verschmelzen vgl. Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 488 BGB, Rn. 22. 22 Vgl. beispielsweise BT-Drs. 17/8730 und 17/8731. 23 Vgl. Matthias Ruffert, in: „Der Streit über den Schuldenschnitt“, Die Welt vom 8. Juli 2015. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 10 nem markttypischen Verlustrisiko bei einem Zahlungsausfall vergleichbar ist, sondern es bei einem vereinbarten Schuldenschnitt vielmehr um die aktiv und zielgerichtet herbeigeführte Schuldenerleichterung geht.24 Diese Wesensverschiedenheit von Schuldenschnitt und Verlustrisiko wird im System der EFSF durch die Vorgaben des EFSF-Rahmenvertrags25 als Grundlage für die gewährten Kredite gestützt. Der EFSF-Rahmenvertrag, abgeschlossen in der Situation einer drohenden Zahlungsunfähigkeit von Euro-Mitgliedstaaten, sieht bei der Realisierung dieser Gefahr gerade nicht die Möglichkeit eines Schuldenschnitts vor, sondern geht von einem potenziellen Zahlungsausfall aus: Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat seine aus einer Hilfsfazilität ausstehende Zahlung verspätet oder nicht zahlt und dies zu einem Fehlbetrag führt, so dass durch die EFSF eine planmäßige Zahlung eines Kapitalbetrags entsprechend dem von der EFSF emittierten Finanzierungsinstrument nicht geleistet werden kann, finden die Sicherungsmechanismen aus Art. 5 Abs. 2 EFSF-Rahmenvertrag Anwendung.26 Sofern die Ziehung einer Bürgschaft durch die EFSF erforderlich wird, erfolgt dies gleichermaßen für alle Sicherungsgeber im Verfahren gemäß Art. 6 EFSF-Rahmenvertrag. Dieses Sicherungssystem der EFSF für den Ausfall eines Kreditnehmers lässt somit darauf schließen , dass das EFSF-System für Finanzhilfevereinbarungen nicht die Möglichkeit eines Schuldenschnitts umfasst und ein solcher – völkervertragsrechtlich grundsätzlich möglicher – Schritt daher eine Vereinbarung erfordert, die neben die ursprüngliche Finanzhilfevereinbarung tritt und diese zugleich modifiziert. Für diese Bewertung spricht zudem ein Vergleich mit den Schuldenschnitten Griechenlands im Jahre 2012, durch die Griechenland eine Umschuldung all derjenigen Staatsanleihen vorgenommen hat, die sich in den Händen von privaten Anlegern befanden und die vom griechischen 24 Vgl. GA Cruz Villalón, Schlussanträge zu EuGH, Rs. 62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 235. 25 Abrufbar unter http://www.efsf.europa.eu/attachments/20111019_efsf_framework_agreement_en.pdf. 26 Gem. Art. 5 Abs. 2 lit. a EFSF-Rahmenvertrag hat die EFSF zunächst die Bürgschaften im Hinblick auf den fälligen Betrag zu Anteilen gemäß der Lastenverteilung des Kapitalschlüssels von allen Sicherungsgebern mit Ausnahme der Stepping-Out-Guarantors zu ziehen, die das jeweilige Finanzierungsinstrument abgesichert haben. Soweit die Inanspruchnahme der Bürgschaften nicht zur Deckung des Fehlbetrags ausreicht, kann die EFSF auf ihre Bar-Reserve zugreifen oder weitere Maßnahmen zur Bonitätssteigerung treffen (Art. 5 Abs. 2 lit. b und c EFSF-Rahmenvertrag). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 11 Recht beherrscht worden sind und dementsprechend einer Schuldenregelung zugänglich waren .27 Der Schuldenschnitt beruhte auf einem griechischen Gesetz,28 in dem Griechenland seinen privaten Anleihegläubigern in den Monaten Februar und Dezember 2012 zwei Angebote unterbreitet hat, auf Grund deren diese Anleihegläubiger ihre „alten“ griechischen Anleihen zwei Mal in „neue“ Anleihen umtauschen konnten. Bei Annahme des ersten Angebots mussten die Gläubiger einen Schuldenschnitt von etwa 75% bis 80% des Nennwertes ihrer Forderungen in Kauf nehmen, bei Annahme des zweiten Angebots noch einmal einen solchen von 60% bis 70%. Ungeachtet der Frage, ob die (neuen) Rechtsbeziehungen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern durch einen Ausdruck hoheitlicher Befugnisse seitens Griechenland geprägt sind, weil Befugnisse wahrgenommen worden sind, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen insbesondere bei der Emission von Anleihen geltenden allgemeinen Rechtsregeln abweichen:29 Der Erlass des „Umschuldungsgesetzes“ hat nicht zur unmittelbaren und sofortigen Änderungen der finanziellen Bedingungen der betreffenden Wertpapiere geführt. Vielmehr sollten diese Änderungen im Anschluss an eine Entscheidung einer Mehrheit der Anleiheinhaber auf der Grundlage der durch dieses Gesetz in die Emissionsverträge eingefügten Umtauschklausel erfolgen, so dass sich ein Schuldenschnitt auch in diesem Fall aus einem eigenständigen, von den ursprünglichen Kreditbeziehungen verschiedenen Rechtsgeschäft ergibt. 3.1.3.2.3. Zusammenfassung Aus hiesiger Sicht sprechen die überwiegenden Argumente dafür, dass durch einen Schuldenschnitt eine eigenständige Rechtsbeziehung zwischen den Gläubiger(n) und dem Schuldnerstaat geschaffen wird. Dies folgt insbesondere aus den Rahmenbedingungen für die Gewährung von EFSF-Hilfen sowie einem Vergleich mit dem im Jahre 2012 erfolgten Schuldenschnitt in Griechenland . Abschließend dürfte sich diese Frage jedoch nur durch eine entsprechende Entscheidung des EuGH beurteilen lassen. 3.1.3.3. Vereinbarkeit mit Art. 125 AEUV Sofern man der Auffassung folgt, dass ein zwischen Griechenland und der EFSF einvernehmlich vereinbarter Schuldenschnitt einem gezielten Beistand im Sinne einer neuen Rechtsbeziehung 27 Für Anleihen, die beispielsweise vom englischen Recht beherrscht wurden und dementsprechend nicht von Griechenland durch Schuldenschnitte restrukturiert werden konnten vgl. Sandrock, Ersatzansprüche geschädigter deutscher Inhaber von griechischen Staatsanleihen, RIW 2012, 429 (430 ff.); Sandrock, Drei Ergänzungen zu möglichen Ersatzansprüchen geschädigter deutscher Inhaber von griechischen Staatsanleihen, RIW 2013, 12 (22 ff.); Berberich/Hagen/Lenz/Faddoul: Der Umtausch griechischer Staatsanleihen und die Folgen für die Steuerbilanz , DStR 2012, S. 2501 ff.; Bauer, The Euro Area's Collective Action Clause, in: ders./Cahn/Kenadjian (Hrsg.), Collective Action Clauses and the Restructuring of Sovereign Debt, 2013, S. 3 ff. 28 Das Gesetz Nr. 4050/2012 vom 23. Februar 2012 („Regeln zur Änderung von Wertpapieren, die vom griechischen Staat emittiert oder garantiert wurden, mit Zustimmung der Anleiheinhaber“) (FEK Aʼ 36/23.2.2012) legt die Modalitäten für die Umstrukturierung der Anleihen des griechischen Staates fest. Das Gesetz sieht im Wesentlichen vor, dass die Inhaber bestimmter griechischer Staatsanleihen ein Umstrukturierungsangebot erhalten und dass eine Umstrukturierungsklausel (sog. Collective Action Clause, CAC) eingefügt wird, die es ermöglicht, dass eine Änderung der ursprünglichen Emissionsbedingungen der Wertpapiere mit qualifizierter Mehrheit des ausstehenden Kapitals beschlossen wird und dann auch für die Minderheit gilt. 29 EuGH, verb. Rs. C-226/13 u.a. (Fahnenbrock u.a.), Rn. 51 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 12 zwischen Gläubiger(n) und Schuldner entspricht, so stellt sich die Frage, ob ein solcher Schuldenschnitt den in der Rs. C-370/12 (Pringle) herausgearbeiteten Anforderungen genügt, wonach Hilfen nur unter strengen Konditionen vergeben werden dürfen, um die von Art. 125 AEUV bezweckten positiven Anreizwirkungen für den Empfängermitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik nicht zu beeinträchtigen. Auch wenn man der Ansicht folgt, dass der ursprüngliche Kreditvertrag als solcher durch die Vereinbarung über einen Schuldenschnitt nicht berührt wird, sondern mit verändertem Inhalt fortgesetzt wird, so muss auch dieser Änderungsvertrag und die dementsprechend veränderte Finanzhilfevereinbarung in gleichem Maße den Anforderungen des Art. 125 AEUV genügen. In beiden Fällen und entsprechend einer normzweckkonformen Auslegung des Beistandsverbots des Art. 125 AEUV müsste ein Schuldenschnitt jedenfalls drei Bedingungen erfüllen: Bei der Hilfeleistung muss eine positive Anreizwirkung für eine solide Haushaltspolitik durch strenge Auflagen gewährleistet sein, die geeignet sind, um den Mitgliedsstaat zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen („Anreizwirkung“, hierzu sogleich 3.1.3.3.1.).30 Der begünstigte Mitgliedstaat muss für seine Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleiben („Haftungsposition “, hierzu sogleich 3.1.3.3.2.)31, die gewährte Finanzhilfe muss vom Empfänger zurückgezahlt werden und der zurückzuzahlende Betrag muss um eine angemessene Marge erhöht werden („Rückzahlung“, hierzu sogleich 3.1.3.3.3.).32 3.1.3.3.1. Anreizwirkung Ein finanzieller Beistand in Form eines Schuldenschnitts fiele dann unter das Verbot des Art. 125 AEUV, wenn er den Normzweck des Art. 125 AEUV umgehen und die Anreizwirkungen für den Empfängermitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik beeinträchtigen würde.33 Dementsprechend muss der Beistand mit strengen Auflagen verknüpft werden, die den betreffenden Mitgliedstaat auch in der Beistandssituation dazu veranlassen, eine solide Haushaltspolitik zu verfolgen.34 Negative Anreizwirkungen (sog. moral hazard), die dem Normzweck des Art. 125 Abs. 1 AEUV zuwider laufen, können durch die Pflicht zur Durchführung von Reformen funktionsäquivalent ausgeglichen werden, deren Erfüllung die Voraussetzung für die tranchenweise Auszahlung des Beistandes ist und die den Mitgliedstaat mittelfristig wieder in die Lage versetzen sollen, dauerhaft eine eigenständige Refinanzierung sicherzustellen und ihn dementsprechend wieder vollständig der disziplinierenden Wirkung des Marktes auszusetzen. 30 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 137. 31 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139. 32 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139. 33 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 136 f., vgl. hierzu Calliess, ZEuS 2011, S. 213 (262). 34 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 136, 143. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 13 Bei einem einvernehmlichen Forderungsverzicht der Gläubiger liegt jedoch die Annahme nahe, dass der (teilweise) Erlass der Nominalschuld eine negative Anreizwirkung im Sinne eines „moral hazard“ erzeugt: Konnte ein Euro-Mitgliedstaat bei einer drohenden Zahlungsunfähigkeit auf Grundlage der seit 2010 geschaffenen Mechanismen mit Finanzhilfen der anderen (Euro-)Mitgliedstaaten rechnen, so könnte er nunmehr sogar auf einen Teilerlass seiner Nominalschuld spekulieren mit der Gefahr einer nachlassenden oder unterbleibenden Haushaltskonsolidierung.35 Während verlängerte Laufzeiten und Zinsabsenkungen im Rahmen einer Umschuldung die Nominalschuld und damit auch den Druck bestehen lassen, ihre Rückzahlung durch Haushaltskonsolidierung zu ermöglichen, wird der Anreiz zur Haushaltsdisziplin umso geringer, je substantieller auf die Rückzahlung der Kredite verzichtet wird. Hiergegen ließe sich zwar einwenden, dass ein Forderungsverzicht mit Konditionalitäten verknüpft werden könnte. Während die Einhaltung makroökonomischer Anpassungsprogramme bei einer Darlehensgewährung durch eine tranchenweise Auszahlung sichergestellt werden kann, dürfte sich bei einem Forderungsverzicht aber die Schwierigkeit der Sicherstellung einer Funktionsäquivalenz zwischen der Disziplinierungswirkung von Marktmechanismen und der Steuerungswirkung von Auflagen dadurch ergeben, dass ein Forderungsverzicht zu einem entsprechenden Erlöschen der jeweiligen Nominalschuld führt und der erloschene Forderungsbetrag somit keiner fortlaufenden Konditionalitätskontrolle mehr zugänglich ist. Vor diesem Hintergrund – vorbehaltlich der konkreten Ausgestaltung einer Schuldenschnittvereinbarung – erscheint somit bereits fraglich, ob ein Schuldenschnitt in Form eines Forderungsverzichts der Anforderung entsprechen kann, keine negative Anreizwirkung auf den Empfängermitgliedstaat auszuüben. 3.1.3.3.2. Haftungsposition Ein mit Art. 125 AEUV vereinbarer Beistand setzt nach Ansicht des EuGH zudem voraus, dass aus einer freiwilligen Vereinbarung über die grundsätzliche Gewährung von finanziellem Beistand keine Verpflichtung der anderen Mitgliedstaaten zur Erfüllung der Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates folgt.36 Der Empfängermitgliedstaat muss gegenüber seinen Gläubigern für seine Verbindlichkeiten haftbar bleiben, der finanzielle Beistand darf die Gläubiger des betreffenden Mitgliedstaates nicht unmittelbar begünstigen und für potenzielle Gläubiger eines Mitgliedstaates muss die Unsicherheit Bestand haben, ob ein möglicher finanzieller Beistand zugunsten eines Mitgliedstaates tatsächlich zu einer Begleichung ihrer Forderungen führt.37 Dementsprechend gewährleistet die Entstehung einer Neuschuld des Empfängerlandes gegenüber den Finanzhilfegläubigern aufgrund der Finanzhilfe, dass diese Gläubiger auch nicht indirekt in die Verbindlichkeiten des Empfängerlandes eintreten. 35 Steinbach, Die Beteiligung öffentlicher Gläubiger im Rahmen der europäischen Staatsschuldenkrise, JZ 2013, S. 1148 (1150). 36 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139; vgl. dementsprechend auch GA Kokott, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 147. 37 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 13; vgl. dementsprechend auch GA Kokott, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 148. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 14 Der (Teil-)Erlass einer Nominalschuld der Forderungen der EFSF als Gläubigerin gegenüber Griechenland als Schuldner hätte jedoch entsprechend dem im EFSF-Rahmenvertrag vorgesehenen Haftungssystem zur Folge, dass die entsprechenden Verbindlichkeiten Griechenlands direkt von den übrigen EFSF-Mitgliedstaaten übernommen werden müssten und ihre Haftung mithin unmittelbar ausgelöst würde. Diese Folge eines Schuldenschnitts beträfe zwar nur das bilaterale Verhältnis zwischen dem Empfängerstaat als Schuldner und der EFSF (bzw. mittelbar ihren Gesellschaftern ) als Gläubigerin und ließe das Verhältnis zu dritten Gläubigern unberührt. Jedoch wurde die EFSF durch die Finanzhilfen selbst zur Gläubigerin des Empfängerstaates und würde, wenn sie (bzw. die EFSF-Gesellschafter) auf die Rückzahlung verzichtet, die Haftung der ihr geschuldeten Kredite übernehmen, so dass der Tatbestand des Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV erfüllt wäre. Hiergegen ließe sich zwar einwenden, dass die Haftungsübernahme durch die bürgenden Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den EFSF-Gläubigern auch im Falle eines Zahlungsausfalls eintreten würde. Jedoch zielte ein Forderungsverzicht gerade auf das Erlöschen eines Teilbetrags der Nominalforderung und mithin auf die Erfüllung einer Verbindlichkeit. 3.1.3.3.3. Rückzahlung Schließlich muss ein mit Art. 125 AEUV konformer Beistand zu nicht konzessionären Bedingungen in dem Sinne erfolgen, dass gegenüber dem Beistandsgläubiger eine neue Schuld resultiert und der gewährte Betrag „um eine angemessene Marge erhöht“ an den Beistandsleistenden zurückgezahlt werden muss.38 Dabei stellen die Erfordernisse der Rückzahlung und der Pflicht zur angemessenen Marge insbesondere Kriterien für die Gewährleistung dar, dass die Gläubiger nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängerstaates haften und der betreffende Mitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik angehalten bleibt.39 Im Gegensatz zu einer Umschuldung in Form von Zinssenkungen oder Fristverlängerungen wird bei einem (Teil-)Erlass der Nominalschuld die Rückzahlungspflicht aufgehoben und steht somit im Widerspruch zu den vom EuGH dargelegten Anforderungen an einen gegenseitigen Beistand. Hiergegen ließe sich einwenden, dass der EuGH die Rückzahlungs- und Zinszahlungspflicht in der Rs. C-370/12 (Pringle) nicht als Voraussetzung des Art. 125 AEUV formuliert hat, sondern diese Prämissen nur als Indiz für die Einhaltung der Voraussetzung dienen, dass der Gläubiger nicht in Verbindlichkeiten des Schuldners eintritt. Zwar erscheint in diesem Kontext die Differenzierung zwischen einer Zinserleichterung bzw. Laufzeitverlängerung im Rahmen einer Umschuldung einerseits und einem Nominalschulderlass im Rahmen eines Schuldenschnitts andererseits insoweit formalistisch, dass beide unter dem Gesichtspunkt der Marktäquivalenz einen Schnitt auf die Schuld bedeuten, die Griechenland auf dem Markt zahlen müsste. Jedoch stellt Art. 125 Abs. 1 AEUV in der Auslegung des EuGH gerade auf das Fortbestehen einer Nominalschuld und einer daraus folgenden Rückzahlungspflicht bzw. Haftbarkeit des Schuldners ab.40 Dementsprechend erscheint ein Schuldenschnitt nicht mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar, bei 38 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139, 141. 39 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 138. vgl. auch Calliess, Der ESM zwischen Luxemburg und Karlsruhe, NVwZ 2013, S. 97 (103). 40 EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Rn. 139, 144. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 15 dem die EFSF und damit mittelbar die übrigen Mitgliedstaaten die Nominalschuld durch den Erlass die Verbindlichkeit übernehmen und die Rückzahlungspflicht aufgehoben wird. 3.1.4. Folgerungen Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein Schuldenschnitt für die Forderungen der EFSF gegenüber Griechenland grundsätzlich nicht mit den vom EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) formulierten Anforderungen aus Art. 125 AEUV für einen finanziellen Beistand vereinbar wäre. 3.2. Schuldenschnitt für die bilateralen Finanzhilfen Die vorstehenden Ausführungen zur Vereinbarkeit eines Schuldenschnitts auf die Forderungen der EFSF gegenüber Griechenland mit Art. 125 Abs. 2 AEUV gelten entsprechend für die von den Mitgliedstaaten im Jahr 2010 bilateral gewährten Kredite. Vorbehaltlich der konkreten Ausgestaltung eines Forderungsverzichts41 dürfte ein solcher Verzicht nicht mit den vom EuGH in der Rs. C-370/12 (Pringle) herausgearbeiteten Anforderung vereinbar sein, wonach Hilfen nur unter strengen Konditionen vergeben werden dürfen, um die von Art. 125 AEUV bezweckten positiven Anreizwirkungen für den Empfängermitgliedstaat zu einer soliden Haushaltspolitik nicht zu beeinträchtigen . 3.3. Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt 3.3.1. Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung, Art. 123 AEUV Gemäß Art. 123 Abs. 1 AEUV ist es weder der EZB noch den nationalen Zentralbanken gestattet, der EU oder den Mitgliedstaaten direkte Kredite zu gewähren oder deren Schuldtitel unmittelbar zu erwerben (sog. monetäre Haushaltsfinanzierung). Das Verbot umfasst alle Arten von Krediten einschließlich Kreditfazilitäten42 und Überziehungsfazilitäten43. Durch das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung soll eine unmittelbare Refinanzierung der EU oder der Mitgliedstaaten über die EZB oder die jeweilige nationale Zentralbank zu deren – im Vergleich zu den Kapitalmärkten günstigeren – Bedingungen ausgeschlossen werden. Die Mitgliedstaaten sind so für ihren Refinanzierungsbedarf den Kapitalmärkten auf Grundlage der Bewertung ihrer Bonität ausgesetzt und tragen das Risiko für ihr haushalts- und fiskalpolitisches Verhalten. Dies soll die mitgliedstaatliche Haushaltsdisziplin sicherstellen.44 Das Verbot der monetären Finanzierung ist zudem von entscheidender Bedeutung, um die Gewährleistung von 41 Zur entsprechenden Qualifizierung siehe oben 3.1.3.1. 42 D.h. die Finanzierung von Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten und jede Transaktion mit dem öffentlichen Sektor, die zu einer Forderung an diesen führt oder führen könnte, vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. b VO (EG) 3603/93, ABl. 1993 Nr. L 332/1. 43 D.h. die Bereitstellung von Mitteln zugunsten des öffentlichen Sektors, deren Verbuchung einen Negativsaldo ergibt oder ergeben könnte, vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. a VO (EG) 3603/93, ABl. 1993 Nr. L 332/1. 44 Vgl. Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV/AEUV, 4. Auflage 2012, Art. 123 AEUV, Rn. 3. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 16 Preisstabilität als das vorrangige Ziel der Geldpolitik der Zentralbanken sowie die Unabhängigkeit der EZB und des Eurosystems sicherzustellen.45 Eine Refinanzierung der Mitgliedstaaten unter Umgehung der Kapitalmärkte bei einer Zentralbank könnte inflationsfördernd wirken.46 Vor dem Hintergrund des Normzwecks von Art. 123 AEUV muss das Verbot weit ausgelegt werden , um seine strikte Anwendung zu gewährleisten.47 Das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung des Art. 123 AEUV umfasst jegliche Finanzierung der Verpflichtung des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten sowie – allgemeiner – jede Form der Finanzierung der öffentlichen Haushalte durch die EZB und die nationalen Zentralbanken.48 Auch wenn Art. 123 Abs. 1 AEUV speziell auf Kreditfazilitäten Bezug nimmt, die also die Verpflichtung zur Rückzahlung der Gelder beinhalten, gilt mit Blick auf den Normzweck das Verbot a fortiori auch für andere Formen der Finanzierung, bei denen keine Rückzahlungspflicht besteht.49 3.3.2. Folgerungen für eine Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt Erwirbt die EZB im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auf dem Sekundärmarkt marktfähige Anleihen von Eurostaaten,50 geht das Eigentum an dem Vermögenswert vollständig vom Verkäufer auf den Käufer über und die EZB tritt in die Rechte und Pflichten des Voreigentümers der Anleihen ein. Dieser muss grundsätzlich nur in dem Fall auf seine Forderung gegenüber dem Emittenten verzichten , wenn dieser bei einer drohenden Zahlungsunfähigkeit den Weg einer Restrukturierung unter Gläubigerbeteiligung wählt, um Zahlungsschwierigkeiten zu bewältigen. Hierzu können mit den Privatgläubigern Bedingungen für einen Anleihentausch mit einem prozentualen Schuldenschnitt des Nennwerts der bisherigen Papiere verhandelt werden. Auf der Grundlage kollektiver Haftungsklauseln (collective action clauses) und einer befürwortenden Gläubigermehrheit erstreckt sich dieser Schuldenschnitt auch auf eine diesen Schritt ablehnende Minderheit.51 Von diesem vertraglich vereinbarten oder auf nachträglichen Verhandlungen beruhenden Schuldenschnitt würde sich die Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt in Form eines oben beschriebenen Forderungsverzichts – soweit ersichtlich – dadurch unterscheiden, dass er auf einer freiwilligen und individuellen Entscheidung der EZB als Gläubigerin beruhen, ihren potenziellen 45 Stellungnahme der EZB vom 17.3.2011 (CON/2011/24, ABl. EG C 140 v. 11.5.2011, S. 8, Anm. 9). 46 Vgl. Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, 2005, S. 98; Kempen, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 1. Auflage 2003, Art. 101 EGV, Rn. 1; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 101 EGV, Rn. 1. 47 EZB Konvergenzbericht Mai 2012, S. 32. 48 VO (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993. 49 Vgl. EZB Konvergenzbericht Mai 2012, S. 32. 50 Vgl. die Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 2. August 2012 über zusätzliche zeitlich befristete Maßnahmen hinsichtlich der Refinanzierungsgeschäfte des Eurosystems und der Notenbankfähigkeit von Sicherheiten und zur Änderung der Leitlinie EZB/2007/9, EZB/2012/18 (2012/476/EU) sowie EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 53 ff. 51 Zu der Beteiligung der EZB am sog. Griechenland II-Paket vgl. Sachstand WD 11 – 3000 – 34/12. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 17 Gewinn mindern und den Emittenten einseitig begünstigen würde. Der Schuldenschnitt würde zudem nicht auf einem grundsätzlich alle Gläubiger in gleicher Weise betreffenden Zwang zum Verzicht auf Forderungen beruhen. 3.3.3. Bewertung einer Beteiligung der EZB an einem Schuldenschnitt Die – von Seiten der EZB wiederholt verneinte52 – Zulässigkeit eines solchen Forderungsverzichts betrifft das Spannungsfeld zwischen der erwünschten Stabilisierungswirkung für den Emittenten und dem insoweit auslegungsbedürftigen Verbot monetärer Staatsfinanzierung gemäß Art. 123 Abs. 1 AEUV, welches unmittelbar nur den Forderungserwerb – d.h. die Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten bei der EZB und den nationalen Zentralbanken sowie den unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen – regelt, nicht jedoch den Umgang der EZB mit erworbenen Forderungen gegenüber den Mitgliedstaaten. Für die unionsrechtliche Zulässigkeit eines einseitigen Forderungsverzichts der EZB gegenüber emittierenden Euro-Staaten ließe sich der Normzweck des Art. 123 Abs. 1 AEUV anführen, zur Gewährleistung einer soliden Haushalts- und Fiskalpolitik die Kreditaufnahme des Staates den Marktmechanismen zu unterwerfen.53 Dieser Zweck bliebe gewahrt, soweit Anleihen bei ihrer Emission zunächst den Mechanismen des Marktes ausgesetzt sind. Der spätere Umgang eines Gläubigers mit erworbenen Forderungen ist von dem Erwerb grundsätzlich unabhängig und einem privaten Gläubiger stünde es frei, nach seinem Belieben mit seinen Forderungen zu verfahren und sich insbesonderem auch einem Schuldenschnitt zu unterwerfen. Demgegenüber unterliegen Handlungen der EZB jedoch kompetenziellen Grenzen des Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie den materiellen Schranken des Art. 123 Abs. 1 AEUV. Danach erscheint ein einvernehmlicher Verzicht der EZB auf die Forderungen, die sie mit dem Ankauf von Staatsanleihen erworben hat, aus hiesiger Sicht zunächst als Verstoß gegen ihre primärrechtlichen Zuständigkeiten.54 Der grundsätzlich zulässige Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB auf dem Sekundärmarkt muss der Durchführung ihrer Geldpolitik und der Gewährleistung von Preisstabilität dienen.55 Zwar ist es mit dem geldpolitischen Mandat der EZB und dem Verbot der 52 Vgl. Benoit Coeure in Neue Zürcher Zeitung vom 9. Januar 2015: „Kein Schuldenerlass für Athen“; Hamburger Abendblatt vom 27.7.2012, wonach die EZB die Kommentierung des Verzichts auf Forderungen zu Lasten öffentlicher Gläubiger ablehnt; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. August 2012, wonach IWF-Direktorin Christine Lagarde die öffentlichen Gläubiger zu einem Forderungsverzicht drängt; Jens Weidmann im Interview mit Handelsblatt vom 15. Februar 2012, „Ein Forderungsverzicht ist uns nicht erlaubt“; Mario Draghi in einem Bericht der FAZ vom 15.2.2012, „Finanzminister der Eurogruppe sagen Griechenland-Treffen ab“. 53 Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 101 EGV, Rn. 1. 54 EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 34 ff. 55 EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 34 ff.; Erwägungsgrund 2 und 3 Beschluss EZB v. 14.5.2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte, EZB/2010/5, Abl. 2010 Nr. L 124, S. 8; vgl. Mario Draghi, Interview mit Le Mond vom 21.7.2012: „“Our mandate is not to resolve the finacial problems of countries, but to ensure price stability and to contribute to the stability of the financial system”. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 91/15 Seite 18 monetären Haushaltsfinanzierung grundsätzlich vereinbar, dass von der EZB gekaufte Staatsanleihen durch markttypisches Verlustrisiko bei einem Zahlungsausfall wertlos werden können.56 Bei einem Schuldenschnitt geht es aber nicht um ein Marktrisiko, sondern um eine aktiv und zielgerichtet herbeigeführte Schuldenerleichterung. Erwirbt die EZB zunächst Staatsanleihen mit dem geldpolitischen Motiv, das Funktionieren des Transmissionsmechanismus zu gewährleisten und erfolgt später ein Schuldenschnitt auf diese Anleihen, so entspräche dieser Forderungsverzicht einer „Umwidmung“ des ursprünglich geldpolitisch motivierten Ankaufgrundes, wenn der Erwerb nachträglich dazu eingesetzt wird, die Schuldentragfähigkeit eines Staates zu stabilisieren oder ihn vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren.57 Mit dieser Zielsetzung entspräche ein einvernehmlicher Forderungsverzicht einer Umgehung des Verbots aus Art. 123 Abs. 1 AEUV, indem er durch den Schuldenerlass auf den öffentlichen Schuldenstand Einfluss nimmt und mithin auf die Finanzierung eines öffentlichen Haushalts abzielt.58 Mit einem freiwilligen Schuldenschnitt trüge die EZB infolge des Wegfalls einer Schuld zur Senkung des Defizits und damit direkt und unabhängig von den Finanzmärkten zur Finanzierung des öffentlichen Defizits eines Mitgliedstaats bei. Gegen die Vereinbarkeit eines freiwilligen Forderungsverzichts mit dem Unionsrecht spricht zudem , dass die EZB mit dem Sekundärmarktkauf Ansprüche gegen den emittierenden Staat erwirbt und durch Zinsansprüche Gewinn erzielen kann. Verzichtet die EZB rechtsgrundlos – d.h. ohne Beteiligung anderer Gläubiger im Rahmen kollektiver Haftungsklauseln (CAC) – auf diese potenziellen Gewinne, widerspräche es der Prämisse für EZB-Handlungen, Geschäfte nach den Marktgepflogenheiten abzuwickeln, die für die bei der Transaktion verwendeten Schuldtitel üblich sind,59 indem die Anteilseigner der EZB ohne Zwang ihre Ansprüche auf Auskehr des nicht realisierten Zentralbankgewinns verlören. 3.3.4. Zusammenfassung Erwirbt die EZB zunächst Staatsanleihen zum Zweck der Wiederherstellung der geldpolitischen Funktionsfähigkeit der Währungszone und erfolgt später ein Schuldenschnitt auf erworbene Anleihen , so wäre ein solcher Forderungsverzicht durch die EZB gleichbedeutend mit der nach Art. 123 Abs.1 AEUV verbotenen monetären Staatsfinanzierung. 56 EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 125. 57 Vgl. BVerfG, Urteil v. 12. September 2012, 2 BvR 1390/12 u.a., Rn. 277 mit Verweis auf die Stellungnahme der EZB vom 17. März 2011 (CON/2011/24, ABl. C 140 v. 11.5.2011, S. 8, Anm. 9); Herrmann, EuZW 2012, S. 811 ff.; Steinbach, JZ 2013, S. 1148 (1151). 58 Vgl. 7. Erwägungsgrund der VO (EG) Nr. 3603/93; Mayer, Unabhängigkeit und Legitimität der EZB im Rahmen der Staatsschuldenkrise, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen 2011, S. 130 sowie prägnant GA Cruz Villalón , Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Rn. 235, wonach es für die Vereinbarkeit von Anleihekäufen mit Art. 123 AEUV gerade entscheidend sei, „dass die EZB nicht aktiv dazu beitragen wird, dass es zu einer Umstrukturierungsmaßnahme kommt, sondern dass sie die vollständige Erfüllung des Darlehensanspruchs aus dem Schuldtitel anstreben wird“. 59 Vgl. die Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems (EZB/2011/14), (2011/817/EU).