© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 090/20 Differenzierte Integration in Europa Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Differenzierte Integration in Europa Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 090/20 Abschluss der Arbeit: 27.10.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Politische Konzepte differenzierter Integration 4 Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten 5 Föderales Kerneuropa 5 Flexibles Europa à la carte 6 3. Verwirklichung differenzierter Integration im geltenden EU-Recht 6 Primärrechtliche Vorgabe des Integrationszieles 6 Gestaltungsoptionen für differenzierte Integration de lege lata 7 Umsetzung eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten innerhalb der Verträge 7 Verstärkte Zusammenarbeit 8 Sektoral differenzierte Integration in einzelnen Politikbereichen 8 Differenzierte Integration im Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP), insb. der Gemeinsamen Verteidigungspolitik (GSVP) 11 Nationale Einschränkungen der Grundfreiheiten 11 4. Verwirklichung differenzierter Integration außerhalb der Verträge 12 5. Grenzen der differenzierten Integration 14 Unionsrechtliche Beschränkungen für Integrationsfortschritte auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge 14 Wahrung des Identitätskerns der Europäischen Union als materielle Grenze der Integrationsentwicklung 15 6. Mehr Integration durch differenzierte Integration? 16 7. Vorschläge der Kommission zur Fortentwicklung der Europäischen Union 16 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich Europa ist beauftragt worden, eine Übersicht über Konzepte der differenzierten Integration in Europa zu erstellen und dabei Überlegungen mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen zunehmender Diversität der Mitgliedstaaten und der konsensualen Entscheidungsfindung in zentralen Politikbereichen sowie Reaktionsmuster in Gestalt von Opt-outs und Nutzung intergouvernementaler Handlungsoptionen einzubeziehen. Untersucht werden soll zudem, ob differenzierte Integration zu mehr Integration geführt hat und welche Festlegungen in den Verträgen einem Konzept der Differenzierung entgegenstehen. Nachfolgend werden zunächst politische Konzepte differenzierter Integration kurz skizziert (2.). Sodann wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese sich im geltenden Unionsrecht wiederfinden (3.) und welche Handlungsoptionen sich außerhalb der Unionsverträge für die Fortentwicklung des erreichten Integrationsstandes durch völkerrechtliche Vereinbarungen der Mitgliedstaaten eröffnen (4.). Im Anschluss daran wird untersucht, welche Grenzen das Unionsrecht der Fortentwicklung differenzierter Integration setzt (5) und eine Einschätzung dafür gegeben, ob differenzierte Integration zu mehr Integration führt (6). Die Ausarbeitung schließt mit einer Darstellung der Vorschläge der Kommission zur Fortentwicklung der EU (7). 2. Politische Konzepte differenzierter Integration Politische Konzepte einer differenzierten Integration umschreiben eine Binnendifferenzierung des Integrationsprozesses, nach der nicht alle Mitgliedstaaten (zeitgleich) Integrationsschritte nachvollziehen. Flexibilisierungskonzepte lassen sich danach unterscheiden, ob sie am erreichten Integrationsstand im Grundsatz festhalten und auf die Erreichung gemeinsamer Ziele ausgerichtet sind oder ob sie sich als Alternative zum Grundsatz der Einheitlichkeit der Integration verstehen.1 Konzepte der differenzierten Integration, die ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder ein föderales Europa verfolgen, verstehen die sachliche, räumliche oder zeitliche Abstufung des Integrationsprozesses als Wege der Einheitsbildung. Angestrebt wird eine einheitliche Europäische Union im Wege der differenzierten Integration auf Grundlage gemeinsamer Verträge und Institutionen.2 Davon unterscheiden sich Integrationsansätze, die an dem Ziel eines einheitlichen institutionellen Rahmens für die Integration nicht festhalten. Konzepte differenzierter Integration lassen sich von ihrer Grundausrichtung unterscheiden als Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten (2.1.) Förderales Kerneuropa (2.2.) Flexibles Europa à la carte (2.3.) 1 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar 4. Aufl. 2019, Art. 20 EUV Rn. 6. 2 Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar 4. Aufl. 2019, Art. 20 EUV Rn. 6. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 5 Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten lässt sich dahin umschreiben, dass eine Differenzierung bei der Integrationsfortentwicklung den Unterschieden der Mitgliedstaaten Rechnung trägt, andererseits alle Mitgliedstaaten an dem Ziel der Einheitlichkeit der Integration festhalten. Differenzierung wird als Übergangsphänomen verstanden, in dem die Mitgliedstaaten, die zunächst an Integrationsschritten nicht teilnehmen, diese zeitverzögert umsetzen.3 Mit dieser Strategie der gestaffelten Integration werden mithin zunächst partielle Integrationsfortschritte angestrebt , ohne das Ziel einer letztlich einheitlichen Integration aufzugeben. Föderales Kerneuropa Dieser Ansatz strebt die weitere Vertiefung der Europäischen Union an und trägt dabei der fehlenden Integrationsbereitschaft einiger Mitgliedstaaten durch Binnendifferenzierung des Unionsrechts und Opt-out Regelungen Rechnung. Das Kerneuropamodell baut auf einem festen Kreis von integrationswilligen Mitgliedstaaten auf. Die Vertiefung der Integration soll nach dem sog. Schäuble/Lamers-Papier4 notfalls durch ein Kerneuropa um Deutschland und Frankreich als Kern des Kerns verwirklicht werden.5 Den als Leitbild dienenden Integrationsintensivierungen voranschreitender Staaten können und sollen sich die anderen Mitgliedstaaten anschließen. Im gleichen Sinne zu verstehen ist das Modell eines Europas der konzentrischen Kreise, nach dem überschneidende und nichtüberschneidende Klubs unterschiedlicher Mitgliedstaaten, die für unterschiedliche Politikfelder gebildet werden, für einzelne Vorhaben über den Status quo des Integrationsstandes hinausgehende Regelungen treffen können.6 Differenzierung dient nach diesem Politikkonzept als Mittel der Vertiefung, indem die fehlende Integrationsbereitschaft einiger Mitgliedstaaten durch eine Binnendifferenzierung aufgefangen wird und die Union dauerhaft als privilegierte Form der Zusammenarbeit durch Schaffung eines europäischen Mehrwertes mit Modellcharakter für nicht an einer Pioniergruppe teilnehmende Mitgliedstaaten gestärkt werden soll.7 Dieses Konzept der Binnendifferenzierung diente der Bewältigung der Währungskrise etwa mit Hilfe des ESM-Vertrags und des Fiskalpakts. 3 Vgl. dazu Ehlermann, EuR 1997, 362 (363); Langeheine EuR 1983, 227 (230); Stubb, JCMS 1996, 283 (287); Martenczuk, ZEuS 1998, 447 (451). 4 Wolfgang Schäuble/Karl Lamers: Überlegungen zur Europapolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1994, 1271. 5 Vgl. dazu Wolfgang Schäuble/Karl Lamers: Überlegungen zur Europapolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1994, 1271; dazu auch Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar 4. Aufl. 2019, Art. 20 EUV Rn. 8. 6 So der Vorschlag seinerzeit der französischen Regierung Balladur, dazu Weidenfeld, Internationale Politik 1995, 11 ff; vgl. auch Giering, Integration 1997, 72 f.; Martenczuk, ZEuS 1998, 447 (452). 7 Callies, NVwZ 2018, 1 (8). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 6 Flexibles Europa à la carte Das Integrationsmodell eines Europa à la carte steht für die ungebundene Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Auswahl der ihnen genehmen Regelungen und Projekte europäischer Integration. Die Mitgliedstaaten entscheiden im Einzelfall à la carte über ihre Teilnahme hieran.8 Wesenseigentümlich für dieses Konzepts sind folgende Momente: Die Union hat keinen festen Integrationskern. Das Ziel der einheitlichen Integration unter Wahrung des Acquis communautaire wird aufgegeben. Föderale Zielvorstellungen der Union werden aufgegeben. Die Union soll stattdessen verstärkt am nationalen Interesse ausgerichtet werden.9 Die damit verbundene Abkehr von föderalen Zielvorstellungen einer Europäischen Union als politische Gemeinschaft dürfte seinerzeit der Position des Vereinigten Königreichs entsprochen haben . Als Konsequenz dieses Politikkonzeptes schlug der frühere PM Cameron vor, die Zielvergabe eines „immer engeren Zusammenschusses der europäischen Völker“ aus der Präambel zum Lissaboner Vertrag zu streichen.10 3. Verwirklichung differenzierter Integration im geltenden EU-Recht Primärrechtliche Vorgabe des Integrationszieles Ziel der Europäischen Union ist die Vertiefung des erreichten Integrationsstandes und zunehmende Integrationsdichte, ohne dass im Unionsvertrag ihr Endzustand definiert wird.11 Art. 1 Abs. 2 EUV definiert als Ziel der Europäischen Union eine immer engere Union. Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden. Dieser Zielvorgabe würden integrationspolitische Zielsetzungen nicht entsprechen, die ein Weniger an Integration anstreben. 8 Thym, in: Enzyklopädie Europarecht, Band 1: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, 2014, § 5 Rn. 12. 9 Beck, Abgestufte Integration im Europäischen Gemeinschaftsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Umweltrechts , 1995, 4. 10 Cameron, Speech at Bloomberg, 23.1.2013. 11 Nettesheim, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 1 EUV Rn 21. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 7 Gestaltungsoptionen für differenzierte Integration de lege lata Im geltenden Europarecht werden weder das Kerneuropa noch das Europa à la carte in Reinform verwirklicht. Stattdessen normiert das Primärrecht punktuelle Freiräume für differenzierte Integration , ergänzt um das in den Verträgen verankerte Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit . Diese Gestaltungsoptionen dienen der Binnendifferenzierung, indem ein oder mehrere Mitgliedstaaten von einem Integrationsschritt ausgenommen werden. Eine vergleichbare Situation besteht außerhalb des EU-Rechts, wenn einzelne Mitgliedstaaten einen völkerrechtlichen Vertrag schließen, etwa nach dem Modell des Schengener Übereinkommens12 und des Fiskalpakts. Optionen für eine differenzierte Integration bestehen mithin im Rahmen der EU-Verträge und außerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen Union auf völkerrechtlicher Grundlage. Maßnahmen außerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen Union gelten als „Laboratorien“, da sie später in den Rechtsrahmen der Europäischen Union überführt werden sollen. Die Zusammenarbeit wird zuerst in einer kleineren Gruppe von Mitgliedstaaten in einem intergouvernementalen Format getestet.13 Die Überführung solcher Labore in den rechtlichen Rahmen der Europäischen Union ist vielfach ein definierter Bestandteil intergouvernementaler Verträge. Gestaltungsoptionen für differenzierte Integration sind entweder primärrechtlich vorgesehen oder in Gestalt von opt-out Regelungen in Protokollen, die vorsehen, welcher Mitgliedstaat von Regelungen eines Politikbereichs ausgenommen sind. Umsetzung eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten innerhalb der Verträge Unter vorstehendem Aspekt ist die Währungsunion zu nennen, soweit ein Beitritt von der Erreichung der Konvergenzkriterien abhängig gemacht wird und die betreffenden Mitgliedstaaten gem. Art. 140 Abs. 2 AEUV vom Rat zur Teilnahme ausgewählt werden. Als Gegenbeispiel im Rahmen des gleichen Politikgebiets ist der opt-out von der Währungsunion nach dem Protokoll Nr. 15 zu nennen, da die Teilnahme an der Währungsunion nicht von dem Sachkriterium der Erfüllung von Konvergenzkriterien abhängig ist, sondern als politische Wahlmöglichkeit ausgestaltet ist. Die Währungspolitik zeigt sich als Gestaltungsform einer abgestuften Integration14 auch darin, dass an Abstimmungen nur die Euro-Staaten teilnehmen (Art. 136 Abs. 2 AEUV, Art. 138 Abs. 3 AEUV, Art. 139 Abs. 4 AEUV). Als weiteres Beispiel für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sind beitrittsbedingte Übergangsregeln für neue Mitgliedstaaten zu nennen, die befristete Ausnahmen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit vorsehen. 12 Nachdem die Schengen-Zusammenarbeit zunächst auf rein völkerrechtlicher Basis erfolgte, wurde sie durch das Schengen-Protokoll zum Amsterdamer Vertrag in die EU einbezogen. Der Schengen-Besitzstand (Schengener Abkommen und die auf dieser Grundlage erlassenen Regelungen) und seine Weiterentwicklung wurde in weiten Bereichen in den Unionsrahmen überführt; dazu näher Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht , 2004, 80 f. 13 Tekin, Integration 2017, 263 (264). 14 Haratsch, EuR 2020, 471 (477). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 8 Regelungen, die differenzierte Integration ermöglichen sollen, lassen sich in zeitlicher Hinsicht unter dem Aspekt der Integrationsgeschwindigkeit unterscheiden. Während Bestimmungen der Verträge wie die Ausnahmeregelung zum Binnenmarkt in Art. 27 AEUV eine intensivere Integration zumindest vorübergehend zu bremsen vermögen, gibt es auch andere Instrumente, die auf eine Erhöhung der Integrationsgeschwindigkeit zielen, wie insb. die Verstärkte Zusammenarbeit . Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gibt einigen Mitgliedstaaten Raum, im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit Integrationsfortschritte zu erreichen, während andere Mitgliedstaaten zeitversetzt sich dem neuen Stand der Integration anpassen können. Verstärkte Zusammenarbeit Der gestuften Integration eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten dient die Verstärkte Zusammenarbeit (VZ).15 Diese erfordert mindestens neun Mitgliedstaaten und eröffnet die Option des Erlasses von nur teilnehmende Mitgliedstaaten bindenden Rechtsakten. Bislang wurde im Wege der VZ Sekundärrecht im Recht der Ehescheidung16, im Patentrecht17, bei der Finanztransaktionssteuer18 und für die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft19 geschaffen. Eine Sonderform der VZ ist die auf das Gebiet der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) beschränkte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) in der GSVP.20 Sektoral differenzierte Integration in einzelnen Politikbereichen Nachfolgend sollen in einer Übersicht die primärrechtlichen Regelungen zur Ermöglichung differenzierter Integration nach ihren unterschiedlichen Funktionalitäten oder Sachgebieten beschrieben werden. 15 Geregelt in Art. 20 EUV, Art. 326 AEUV. 16 2010/405/EU: Beschluss des Rates vom 12. Juli 2010 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts. 17 2011/167/EU: Beschluss des Rates vom 10. März 2011 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes. 18 2013/52/EU: Beschluss des Rates vom 22. Januar 2013 über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Finanztransaktionssteuer. 19 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA). 20 Art. 42 Abs.6 EUV i.V.m. Art. 46 EUV und Protokoll (Nr. 10) über die PESCO. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 9 Beibehaltung des Status quo oder Verstärkung von unionsrechtlichen Schutzmaßnahmen Art. 27 AEUV eröffnet die Möglichkeit zur Schaffung vorübergehender Ausnahmeregelungen bei der Fortentwicklung des Binnenmarkts nach Integrationsstand der Mitgliedstaaten , insb. dem Entwicklungsstand ihrer Volkswirtschaften.21 Art. 114 Abs. 4 AEUV eröffnet den Mitgliedstaaten Möglichkeiten, von Harmonisierungsvorhaben der Europäischen Union abweichende Regelungen beizubehalten. Art. 153 Abs. 4 AEUV verleiht den Mitgliedstaaten die Befugnis, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen und strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu treffen, die im Übrigen mit den Verträgen vereinbar sind. Im Bereich des Verbraucherschutzes dürfen die Mitgliedstaaten strengere Schutzmaßnahmen beibehalten oder ergreifen, soweit diese mit den Verträgen vereinbar sind (Art. 169 Abs. 4 AEUV). Im Bereich der Umweltpolitik steht es den Mitgliedstaaten frei, verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen (Art. 193 S. 1 AEUV). Aussetzung des Gesetzgebungsverfahrens zur Berücksichtigung länderspezifischer Besonderheiten im Bereich der sozialen Sicherheit sowie der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit Eine Aussetzung des Gesetzgebungsverfahrens ist vorgesehen bei: Ansprüchen und Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (Art. 48 Abs. 2 AEUV), Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität (Art: 48 Abs. 3 AEUV), Maßnahmen zur polizeilichen Zusammenarbeit zwischen allen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der Polizei, des Zolls und anderer auf die Verhütung oder die Aufdeckung von Straftaten sowie entsprechende Ermittlungen spezialisierter Strafverfolgungsbehörden (Art. 87 Abs. 3 AEUV) und Maßnahmen zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension (Art. 82 Abs. 3 AEUV). 21 Das BVerfG hebt in seiner Entscheidung zur Europäischen Bankenunion (Urt. v. 30.7.2019, 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 Rn. 263) zur Möglichkeit der unionsrechtskonformen Teilintegration des Binnenmarkts folgendes hervor: Das Unionsrecht kennt jedoch keinen allgemeinen Grundsatz, wonach der Binnenmarkt nur durch für alle Mitgliedstaaten geltende Regelungen verwirklicht bzw. verbessert werden kann… Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 10 Differenzierte Integration durch Berücksichtigung nationaler bzw. regionaler Besonderheiten Diesem Ziel dienen Regelungen, die den Anwendungsbereich eines Sekundärrechtsakts auf bestimmte Mitgliedstaaten beschränken. Auf Grundlage des Art. 114 Abs. 5 AEUV lassen sich einzelstaatliche Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt aufgrund eines spezifischen Problems für einen betroffenen Mitgliedstaat einführen, das sich nach dem Erlass der Harmonisierungsmaßnahme ergibt. Die Umweltpolitik der Union zielt unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Union auf ein hohes Schutzniveau ab (Art. 191 Abs. 2 S. 1 AEUV). Mitgliedstaaten sind vom Nachvollzug der Integration in bestimmten Politikfeldern befreit, insb. auf Grundlage von opt-out-Regelungen in Protokollen, und beteiligen sich freiwillig Im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 136  ff. AEUV) war der politische Integrationswille eines (früheren) Mitgliedstaates über die Euro-Teilnahme maßgebend. Sofern das Vereinigte Königreich dem Rat nicht notifiziert, dass es den Euro einzuführen beabsichtigt, ist es dazu nicht verpflichtet.22 An der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) beteiligen sich die Mitgliedstaaten, die sich beteiligen möchten, die die militärischen Fähigkeiten dafür erfüllen und bestimmte Verpflichtungen eingehen (Art. 46 Abs. 1 EUV): Die Mitgliedstaaten, die sich an der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Sinne des Artikels 42 Absatz 6 beteiligen möchten und hinsichtlich der militärischen Fähigkeiten die Kriterien erfüllen und die Verpflichtungen eingehen, die in dem Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit enthalten sind, teilen dem Rat und dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik ihre Absicht mit. Im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bestehen eine Reihe von Optout -Regelungen in den Protokollen Nr. 19 bis Nr. 22 zum Vertrag von Lissabon für Dänemark, das Vereinigte Königreich und Irland. 22 Protokoll (Nr. 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland Ziff. 1, ABl. 2008 C 115/284); sinngemäß das Protokoll Nr. 16 über einige Bestimmungen betreffend Dänemark , ABl. EU 2008 C 115/287. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 11 Differenzierte Integration im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), insb. der Gemeinsamen Verteidigungspolitik (GSVP) Die Zuständigkeit der Europäischen Union im Bereich der GASP erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Bereich der GSVP, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann (Art. 24 EUV). Umstritten ist der Grad der Verbindlichkeit von EU-Vorgaben in diesem Bereich, insbesondere ob die GASP Durchgriffswirkung unmittelbar in den Mitgliedstaaten mit Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht erzeugt. Die GASP unterliegt prinzipiell dem Einstimmigkeitsprinzip (Art. 31 Abs. 1 EUV). Im Rahmen der GASP eröffnet die spezielle Brückenklausel in Art. 31 Abs. 3 EUV die Option des Übergangs von einstimmiger Beschlussfassung im Rat zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, was allerdings einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates voraussetzt (Art. 31 Abs. 3 EUV). Vor diesem Hintergrund bestehen hohe Hürden für weitere Integrationsschritte – auch in Gestalt differenzierter Integration –, zumal der Kompetenzrahmen des EUV hierfür alleine nicht ausreicht .23 In Deutschland bestehen zudem hohe verfassungsrechtliche Hürden für die Übertragung von Hoheitsbefugnissen im Bereich der GSVP auf die EU. In seiner Lissabon-Entscheidung formulierte das BVerfG hierzu grundlegend: „Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte besteht auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort. Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates oder seines Parlaments zurückzugreifen.“24 Handlungspotentiale für differenzierte Integration im Bereich der GSVP in Gestalt eines kooperativen Zusammenwirkens von Union und Mitgliedstaaten eröffnet die PESCO. Einer Gruppe williger und fähiger Mitgliedstaaten eröffnet dies Kooperationsformen, die im Verbund aller Mitgliedstaaten nicht zustande kämen. Nationale Einschränkungen der Grundfreiheiten In den Grundfreiheiten selbst angelegt sind Beschränkungsmöglichkeiten mit Blick auf Besonderheiten in den jeweiligen Mitgliedstaaten mit Blick auf die Kompetenzverteilung der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten, die territorial beschränkte Regelungen gegenüber Grundfreiheiten zulassen.25 Ausnahmen von Grundfreiheiten können aus Gründen der öffentlichen Ordnung erfolgen. Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist nicht unionsrechtlich vorgegeben. 23 Oppermann, Europarecht, 8. Aufl. 2018, § 39 Rn. 1 f. 24 BVerfGE 123, 267 Rn. 381. 25 Becker in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 20 EUV Rn. 19. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 12 Vielmehr ist es Sache jedes Mitgliedstaates, den Begriff im Einklang mit seiner Werteordnung und in der von ihm gewählten Form auszufüllen. Aufschlussreich hierfür ist eine ältere Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1977: „…besonderen Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein können, so daß insoweit den zuständigen innerstaatlichen Behörden ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den Vertrag und die zu seiner Anwendung erlassenen Vorschriften gesetzten Grenzen zuzubilligen ist.“26 4. Verwirklichung differenzierter Integration außerhalb der Verträge Soweit der bestehende Kompetenzrahmen der Europäischen Union eine politisch als notwendig angesehene Fortschreibung bestehender Integration nicht ermöglicht, ist den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, einen angestrebten Integrationsfortschritt im Rahmen völkerrechtlicher Verträge zu vereinbaren, soweit Unionsrecht dem nicht entgegensteht. Dies führt zu differenzierter Integration, wenn nur einige der Mitgliedstaaten völkerrechtliche Vereinbarungen zur Ergänzung des erreichten Stands unionaler Integration miteinander schließen, die in einer späteren Phase bei einer Fortentwicklung der Unionsverträge Teil der Unionsrechtsordnung werden können. Beispiele hierfür sind das frühere Schengener Abkommen, bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen oder der deutsch-französische Vertrag über den familienrechtlichen Güterstand der Wahl- Zugewinngemeinschaft. Politische Vorhaben wurden z.T. allerdings nicht allein auf völkerrechtlicher Grundlage verwirklicht sondern durch Kombination mit dem geltenden Unionsrecht. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt der Bankenunion. Rechtstechnisch ist diese eine Kombination aus EU-Sekundärrechtsetzung unter weitreichender Interpretation der EU-Verträge und einem ergänzenden völkerrechtlichen Vertrag27 verbunden mit der Möglichkeit der Verstärkten Zusammenarbeit.28 26 EuGH Urt. v. 27.10 197,7 Rs. 30/7 Rn. 33/35. 27 An der Bankenunion teilnehmende Mitgliedstaaten haben sich im Wege eines völkerrechtlichen Übereinkommens verpflichtet, die von ihnen auf nationaler Ebene erhobenen Beiträge auf den Abwicklungsfonds zu übertragen ; Rat der Europäischen Union, Dok. Nr. 8457/1 v. 14.5.2014, vgl. dazu Schorkopf, Zustimmungserfordernisse des Deutschen Bundestages bei der geplanten Reform des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), 2020, 15. 28 Die VO 806/2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds (SRM-VO) findet nur für Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und den nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten Anwendung, die sich für eine Beteiligung am einheitlichen Aufsichtsmechanismus entscheiden (im Folgenden „teilnehmende Mitgliedstaaten “) ErwG 7, Art. 2, 4 Abs. 1 SRM-VO. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 13 Intergouvernementale Verträge – der ESM-Vertrag, Fiskalpakt und der Euro-Plus-Pakt – außerhalb des rechtlichen Rahmens der Europäischen Union dienten als Ausweg in der Finanz- und Schuldenkrise. Diese sind aus mehreren Gründen (noch) nicht Teil der EU-Verträge. Vertragsreformen der Europäischen Union sind sehr langwierig und werden aufgrund der zunehmend größeren Zahl der Mitgliedstaaten auch immer komplexer. Die Ratifizierung der Vertragsreformen ist in einigen Mitgliedstaaten referendumspflichtig . In Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise, welche den Euro-Skeptizismus schürt, steht dem Reformprozess eine kritisch eingestellte Öffentlichkeit gegenüber. Nicht alle Mitgliedstaaten waren bereit oder in der Lage, bspw. dem Fiskalpakt sowie dem Euro-Plus-Pakt beizutreten. Deren Vetopositionen verhinderten die Verabschiedung dieser Pakte auf der Grundlage der EU-Verträge. Aufgrund dieser Erschwernisse lassen sich Antworten auf unvorhergesehene Krisen kurzfristig nur außerhalb der Verträge finden, indem die Mitgliedstaaten auf völkerrechtliche Handlungsformen ausweichen.29 Dieser Prozess voranschreitender Integration ist allerdings nicht ohne Nebenwirkungen zu haben. Im Schrifttum wird vereinzelt befürchtet, dass eine Strategie des (vermehrten ) Voranschreitens außerhalb des rechtlichen Rahmens der EU das Risiko eines ‚l’Europe à la carte‘ begründen könne und damit eines Auseinanderfallens der Europäischen Union.30 Wendet man den Blick von der Lösung der Eurokrise auf den Integrationsprozess insgesamt, so lassen sich als Gründe für den Weg einer differenzierten Integration außerhalb der Unionsverträge anführen: Ein wesentlicher Grund hierfür ist der begrenzte Kompetenzrahmen der Europäischen Union. Die Fortentwicklung der Verträge dürfte mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, weil sowohl zwischen den politisch Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten als auch in der europäischen Öffentlichkeit (derzeit) kein Konsens über die künftige Rolle der Europäischen Union und der von ihr wahrzunehmenden Aufgaben bestehen dürfte, insb. vor dem Hintergrund der zu bewältigenden Aufgaben in der Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und der Reformen im Euroraum im Zuge der Finanz- und Währungskrise.31 Erschwernisse der Konsensfindung dürften nicht unwesentlich in der Heterogenität der Mitgliedstaaten begründet liegen. Die tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede der Mitgliedstaaten führen zu Interessenkonflikten, die sich nicht durch formelle Mehrheitsentscheide im Rat dauerhaft ausgleichen lassen.32 29 Uerpmann-Wittzack EuR Beiheft 2 2013, 49 (57). 30 Helmut P. Gaisbauer: Main stages of differentiated integration, in: JHA: A theory of clubs perspectives, 5. PanEuropean Conference on EU Politics, Portugal 2010. 31 Callies NVwZ 2019, 1. 32 Schorkopf, NVwZ 2018, 9 (12). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 14 Die Bewältigung von Krisen im Wege der intergouvernementalen Zusammenarbeit ist einerseits souveränitätsfreundlich, da auf diesem Wege Integrationsfortschritte erreichbar sind ohne Souveränität von den Mitgliedstaaten auf die EU übertragen zu müssen. Damit verbunden sind allerdings auch Fragen der demokratischen Legitimation, weil das Europäische Parlament hierbei keine Rolle spielt. Da dieses politische Kontrolle nach Maßgabe der Unionsverträge ausübt (Art. 14 Abs. 1 S. 2 EUV) stellt sich die Frage, ob die intergouvernementale Zusammenarbeit hinreichend legitimiert ist.33 5. Grenzen der differenzierten Integration Unionsrechtliche Beschränkungen für Integrationsfortschritte auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge Eine Grenze für differenzierte Integration auf Grundlage völkerrechtlicher Verträge besteht darin, dass hierdurch das Unionsrecht nicht beeinträchtigt werden darf und die Kompetenzen der Unionsorgane nicht verfälscht werden dürfen. Der EuGH formulierte dies in seiner Pringle-Entscheidung zum ESM wie folgt: Die genannten Mitgliedstaaten dürfen sich jedoch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten in diesem Bereich nicht über die Beachtung des Unionsrechts hinwegsetzen […] Die strengen Auflagen, denen die Gewährung einer Finanzhilfe nach Abs. 3 von Art. 136 AEUV – der Bestimmung, auf die sich die Änderung des AEU-Vertrags bezieht – unterliegt, soll aber gewährleisten, dass beim Einsatz dieses Mechanismus das Unionsrecht, einschließlich der von der Union im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen, beachtet wird.34 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Mitgliedstaaten in Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, berechtigt sind, außerhalb des Rahmens der Union die Organe mit Aufgaben wie der Koordinierung einer von den Mitgliedstaaten gemeinsam unternommenen Aktion oder der Verwaltung einer Finanzhilfe zu betrauen […], sofern diese Aufgaben die den Organen durch den EU-Vertrag und den AEU-Vertrag übertragenen Befugnisse nicht verfälschen […].35 33 Uerpmann-Wittzack. EuR Beiheft 2013/2, 49 (53); Hölscheidt, EuR Beiheft 2013/2, 61 (70); Thym, EuR Beiheft 2013/2, 22 (32). 34 EuGH, Urt. v. 27.11.2012, Rs. C-370/12 Rn. 69 35 EuGH, Urt. v. 27.11.2012, Rs. C-370/12 Rn. 158. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 15 Wahrung des Identitätskerns der Europäischen Union als materielle Grenze der Integrationsentwicklung Der verfassungsrechtliche Rahmen der Europäischen Union steht aus Sicht des EuGH im Dienste des in Art. 2 Abs. 1 EUV umschriebenen Integrationsprozesses und soll Orientierungs- und Begrenzungsmaßstab für Integrationsprozesse sein. Aufschlussreich hierfür ist das Gutachten 1/17 zum Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA): „Die Autonomie der Unionsrechtsordnung besteht somit darin, dass die Union über einen eigenen verfassungsrechtlichen Rahmen verfügt. Hierzu gehören die in Art. 2 EUV genannten ‚Werte, auf die sich die Union gründet‘, nämlich ‚die Achtung der Menschenwürde , Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ‘, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die Vorschriften der Charta und die Vorschriften des EU- und des AEU Vertrags, zu denen insbesondere die Vorschriften über die Übertragung und Aufteilung von Zuständigkeiten, die Vorschriften über die Arbeitsweise der Unionsorgane und des Gerichtssystems der Union und die Grundregeln in speziellen Bereichen gehören, die so gestaltet sind, dass sie zur Verwirklichung des Integrationsprozesses im Sinne von Art. 1 Abs. 2 EUV beitragen“ […].36 Ein Teil des CETA-Abkommens wird hierin für unionsrechtswidrig erklärt, soweit es die Unionsorgane daran hindert, gemäß dem verfassungsrechtlichen Rahmen der Union zu funktionieren. Das bedeutet: Nicht nur die Verträge sind Prüfungsmaßstäbe für die Fortentwicklung der Integration , sondern auch die aus ihnen abgeleiteten Verfassungsgrundsätze.37 Diese Rechtsentwicklung wird dahin interpretiert, dass hiernach ein veränderungsfester, wertegeleiteter Kernbestand bestehen soll und so die in Art. 2 EUV normierten Werte einer unionsrechtlichen Ewigkeitsklausel unterliegen sollen38 und dadurch auch dem Integrationsprozess unionsverfassungsrechtliche Grenzen setzt. Schorkopf39 beschrieb dies jüngst wie folgt: Es gibt einfaches Recht und es gibt qualifizierte Metaprinzipien, deren Aussagen Unverfügbares markieren, nicht derogiert werden können und vorrangig durchzusetzen sind. […] Die Metaprinzipien werden als eine Art zwingendes Unionsrecht behandelt […]. Die EU sucht und findet an diesem Punkt die Verbindung zum Global Constitutionalism, der Legitimation öffentlicher Gewalt jenseits des Staates in Menschenrechten, Demokratie und der Rule-of law zu begründen sucht. […] Gerade in Zeiten des Infragestellens und der Desintegration könnte dieser Wertekonstitutionalismus also den Anspruch manifestieren, das Eigentliche der Integration, die ever closer Union (Art. 1 Abs. 2 EUV) einerseits zu symbolisieren und andererseits rechtlich zu operationalisieren. Der „streitentzogene Konsens“, der mit diesem zivilreligiösen Konzept manifestiert werden soll, hat allerdings stets mit der Gefahr zu rechnen, dass der postulierte normative Konsens desintegrierend wirkt, weil 36 EuGH Gutachten 1/17 Rn. 100. 37 Schorkopf, JZ 2020, 477 (482). 38 Bergmann, Zur Souveränitätskonzeption des Europäischen Gerichtshofs, 2018, 251 ff. 39 Schorkopf JZ 2020, 477. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 16 er nicht mit einem materiellen Konsens in den Mitgliedstaaten und deren Gesellschaften unterlegt ist. […] Der auch vom Gerichtshof verwendete Hinweis darauf, dass die Werteklausel (Art. 2 EUV) von den Mitgliedstaaten ratifiziertes Primärrecht sei und deshalb Konsens bestünde, ist kein tragendes Gegenargument. Denn der Konflikt entspringt der Anwendungskonkretisierung dieser ratifizierten, hochabstrakten Werte. […]40 6. Mehr Integration durch differenzierte Integration? Ob differenzierte Integration zu mehr Integration führt, lässt sich nicht zuverlässig einschätzen. Dafür könnte sprechen, dass differenzierte Integration Handlungspotentiale durch kooperatives Zusammenwirken einer Gruppe williger und fähiger Mitgliedstaaten eröffnet, die im Verbund aller Mitgliedstaaten nicht entstehen. Besteht zwischen den Mitgliedstaaten ein tiefgreifender Dissens in zentralen politischen Fragen, könnte ein Grundkonsens innerhalb einer größeren bzw. einflussreichen Gruppe von Mitgliedstaaten dazu führen, der Europäischen Union insgesamt Impulse für die künftige Richtung zu geben.41 Differenzierte Integration birgt allerdings auch das Risiko, die öffentliche Wahrnehmung von der Europäischen Union auf die Impulse setzenden Mitgliedstaaten zu lenken, was tendenziell die Gefahr in sich tragen könnte, eine Stärkung der nationalen Identität zu begünstigen auf Kosten des erreichten Standes eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls.42 7. Vorschläge der Kommission zur Fortentwicklung der Europäischen Union Mit einem Weißbuch zur Zukunft Europas43 aus dem Jahr 2017 skizzierte die Kommission fünf Szenarien zur Entwicklung der Union bis 2025, die keine konkreten Vorschläge darstellten, sondern einen Reflexionsprozess anstoßen wollten, im Zuge dessen sich Regierungen, Parlament 40 Schorkopf JZ 2020, 477 (483). 41 Blanke/Pilz EuR 2020, 270 (300). 42 Thym EuR Beiheft 2013 Band 2 S. 23 (44). 43 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 17 und Bürger der Mitgliedstaaten über den einzuschlagenden europäischen Weg Klarheit verschaffen sollten.44 Ergänzt wird dieses durch Reflexionspapiere zur Entwicklung der sozialen Dimension Europas45, zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion46, zu den Chancen der Globalisierung 47, zur Zukunft der europäischen Verteidigung48 und zur Zukunft der EU-Finanzen49. Szenario 1: „Weiter wie bisher“50 In diesem Szenario konzentriert sich die Union auf die Umsetzung und Aktualisierung ihrer positiven Reformagenda entsprechend den Poltischen Leitlinien der Kommission „Ein neuer Start für Europa“ von 201451 und der im Jahr 2016 angenommenen Erklärung von Bratislava52. In der gesamten Union bleiben die sich aus dem Unionsrecht ableitenden Bürgerrechte gewahrt.53 In einigen Bereichen wird die Beschlussfassung aufgrund von Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten langwierig und schwierig bleiben. Szenario 2: „Schwerpunkt Binnenmarkt“54 In diesem Szenario bildet der Binnenmarkt inklusive eines Abbaus von EU-Regulierung den Schwerpunkt der Zusammenarbeit. In anderen Politikfeldern setzt man auf bilaterale Abkommen . Dieses Szenario entspricht am ehesten einem Europa à la carte. Die sich aus dem Unionsrecht ableitenden Bürgerrechte werden auf Dauer nicht mehr vollumfänglich gewährleistet.55 Es 44 Callies, Bausteine einer erneuerten Europäischen Union – Auf der Suche nach dem europäischen Weg: Überlegungen im Lichte des Weißbuchs der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas, NVwZ 2018, 1 (3). 45 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf. 46 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-emu_de.pdf. 47 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-globalisation_de.pdf. 48 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-defence_de.pdf. 49 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-eu-finances_de.pdf. 50 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf, S. 16 f. 51 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/juncker-political-guidelines-speech_de_1.pdf. 52 https://www.consilium.europa.eu/media/21232/160916-bratislava-declaration-and-roadmap-de.pdf. 53 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. 54 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf, S. 18 f. 55 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 18 bestehen Unterschiede bei Verbraucher-, Sozial- und Umweltstandards, Steuern und der Verwendung öffentlicher Subventionen, wobei das Risiko eines „Wettlaufs nach unten“ droht.56 Szenario 3: „Wer mehr will, tut mehr“57 In diesem Szenario schreitet die Union wie bisher voran. Einige Mitgliedstaaten schließen sich zusammen, um einen darüber hinaus gehenden Integrationsfortschritt zu erzielen. Die übrigen Mitgliedstaaten können sich dem zu späterer Zeit anschließen. Hier kommen die Konzepte des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten und des Kerneuropas bzw. des Europas der konzentrischen Kreise zum Tragen. Die sich aus dem Unionsrecht ableitenden Bürgerrechte unterscheiden sich zwischen den Mitgliedstaaten .58 Bei den Mitgliedstaaten, die ihre Zusammenarbeit vertiefen, erfolgt eine Harmonisierung von Steuervorschriften oder Sozialstandards, wodurch Rechtsbefolgungskosten sinken, die Steuerhinterziehung in Grenzen gehalten wird und die Arbeitsbedingungen verbessert werden .59 Zwischen den „Willigen“ wird außerdem die Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit , Justiz und Verteidigung vertieft. Szenario 4: „Weniger, aber effizienter“60 In diesem Szenario konzentriert sich die Union auf einige Politikbereiche, während Zuständigkeiten in anderen reduziert oder aufgegeben werden. In den auf Unionsebene geregelten Bereichen soll die Einhaltung der Vorschriften durch größere Durchsetzungsbefugnisse gewährleistet werden. In einigen Bereichen werden die sich aus dem Unionsrecht ableitenden Bürgerrechte gestärkt, in anderen abgebaut.61 Im Bereich der Sozialpolitik wird die Harmonisierung auf ein striktes Mindestmaß begrenzt, was zu erheblichen Unterschieden innerhalb Europas führt.62 Es soll eine sys- 56 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. 57 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf, S. 20 f. 58 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. 59 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. 60 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf, S. 22 f. 61 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. 62 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-social-dimension-europe_de.pdf, S. 22. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 090/20 Seite 19 tematische Zusammenarbeit in den Bereichen Grenzmanagement, Asylpolitik und Terrorismusbekämpfung geben, zu allen Themen der Außenpolitik mit einer Stimme gesprochen und eine Europäische Verteidigungsunion geschaffen werden. Szenario 5: „Viel mehr gemeinsames Handeln“63 In diesem Szenario werden der Union weitere Kompetenzen übertragen. Sämtliche Mitgliedstaaten arbeiten auf allen Gebieten enger zusammen als je zuvor. Dieses Szenario verfolgt das Ziel des Art. 1 Abs. 2 EUV einer immer engeren Union, beinhaltet allerdings die Gefahr eines Austrittswillens weiterer Mitgliedstaaten, die dazu nicht bereit sind. Mit Ausnahme des Szenarios 2 wird die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion in allen Szenarien - in unterschiedlichem Umfang - verwirklicht. Hinsichtlich der Zukunft der europäischen Verteidigung unterscheidet das entsprechende Reflexionspapier drei Szenarien64: Diese reichen von einer Zusammenarbeit in der bisherigen Form über eine geteilte Verantwortung bis hin zur gemeinsamen Verteidigung und Sicherheit. - Fachbereich Europa - 63 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf, S. 24 f. 64 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-defence_de.pdf, S. 16.