© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 86/16 Unionsrechtliche Fragen der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 2 Unionsrechtliche Fragen der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 86/16 Abschluss der Arbeit: 17. Juni 2016 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Allgemeine Dienstpflicht im Anwendungsbereich des Unionsrechts 4 2.1. Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV 4 2.2. Art. 5 Art. 2 GRCh 5 3. Unionsrechtliche Anforderungen an die Einrichtung einer allgemeinen Dienstpflicht 6 3.1. Schutzbereich von Art. 5 Art. 2 GRCh 6 3.2. Rechtfertigung 7 4. Unionsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung einer allgemeinen Dienstpflicht 7 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung setzt sich mit den unionsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) auseinander . In diesem Rahmen geht die Ausarbeitung zunächst auf die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ein (hierzu 1.). Anschließend wird auf die Frage eingegangen, ob und welche Prämissen des Unionsrechts der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht potenziell entgegenstehen (hierzu 2.). Abschließend erfolgt eine Darstellung der unionsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung einer allgemeinen Dienstpflicht (hierzu 3.). Angesichts der Vielzahl von Ausgestaltungsmöglichkeiten liegt den folgenden Ausführungen das Verständnis einer allgemeinen Dienstpflicht entsprechend den Aufgaben des Bundesfreiwilligendienstes zugrunde. Gemäß § 1 Bundesfreiwilligendienstgesetz engagieren sich in diesem Dienst Frauen und Männer für das Allgemeinwohl, insbesondere im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich sowie im Bereich des Sports, der Integration und des Zivil- und Katastrophenschutzes . Dementsprechend wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die allgemeine Dienstpflicht nicht die Natur eines Wehrersatzdienstes entsprechend dem früheren Zivildienst hat (§ 1 Zivildienstgesetz). 2. Allgemeine Dienstpflicht im Anwendungsbereich des Unionsrechts Die Maßstäblichkeit des Unionsrechts für die Einführung und Ausgestaltung einer allgemeinen Dienstpflicht setzt voraus, dass hierfür grundsätzlich der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist. 2.1. Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV Dies ergibt sich nicht bereits aus der primärrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV)). Als Arbeitnehmer ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.1 Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.2 Als tatsächliche und echte Tätigkeiten werden indes nur solche tatsächlich erbrachte Leistungen angesehen, die auf dem Beschäftigungsmarkt üblich sind.3 Vor diesem Hintergrund sowie ausgehend von der Annahme, dass Pflichtdienstleistende unterstützende , zusätzliche Tätigkeiten verrichten und keine hauptamtlichen Kräfte ersetzen würden, 1 EuGH, Rs. C-228/07 (Petersen), Rn. 45. 2 EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Rn. 15; EuGH, Rs. C-194/04 (Kranemann), Rn. 12. 3 EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Rn. 24. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 5 sprechend die überwiegenden Argumente dafür, dass sie nicht als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV anzusehen sind.4 2.2. Art. 5 Art. 2 GRCh Die Einführung und Ausgestaltung einer allgemeinen Dienstpflicht könnte mit Blick auf das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit aus Art. 5 Art. 2 Grundrechtecharta (GRCh) in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh gilt die Charta für die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“. Soweit die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen und damit an die Charta gebunden sind, „achten sie die Rechte, halten sich an die Grundsätze und fördern deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten , die der Union in den Verträgen übertragen wurden“. Durchführung im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh verlangt jedenfalls einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen hat.5 Der erforderliche „hinreichende Zusammenhang von einem gewissen Grad“ hängt insbesondere davon ab, ob „eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann“. Die Frage, ob die Mitgliedstaaten bei der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht „bei der Durchführung des Unionsrechts“ im Sinne von Art. 51 Art. 1 GRCh handeln, lässt sich abschließend erst anhand der konkreten Ausgestaltung der Dienstpflicht und der sich hieraus ergebenden Bezüge zum Unionsrecht beurteilen. Mit Blick auf eine entsprechende Dauer der Dienstpflicht und der zeitlichen Inanspruchnahme der Dienstverpflichteten besteht prima facie jedenfalls die Möglichkeit, dass hiermit Beschränkungen der Dienstverpflichteten in ihren Grundfreiheiten (insbesondere Art. 45 und 49 AEUV) und ihrem allgemeinen Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV) verbunden sind.6 Darüber hinaus könnten die Mitgliedstaaten in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung der Dienstpflicht beispielsweise auch dadurch „bei der Durchführung des Unionsrechts “ handeln, dass durch eine allgemeine Dienstpflicht der „Zugang zur Beschäftigung [...] 4 Vgl. dementsprechend Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. August 2012 – L 13 AS 2352/12 ER-B. 5 EuGH, Rs. C-206/13 (Siragusa), Rn. 24, vgl. auch EuGH, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 26 ff.; EuGH, Rs. C-399/11 (Melloni), sowie der vom BVerfG geäußerte Vorbehalt in BVerfGE 133, 277 (315), wonach der Begriff der Durchführung nicht so verstanden werden dürfe, dass „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf diese ausreiche“. 6 Zur Anwendbarkeit der GRCh bei einer Beschränkung von Grundfreiheiten vgl. EuGH, Rs. C-60/00 (Carpenter), Rn. 40; EuGH, Rs. C-390/12 (Pfleger), Rn. 30 ff.; zur Wirkung der Unionsgrundrechte als Schranken-Schranken bei Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten vgl. Wollenschläger, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), EnzEuR Bd. 1, 2015, § 8, Rn 16. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 6 und zur Berufsausbildung“ gemäß Art. 1 lit. a) der Richtlinie 2006/54/EG7 unter Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits - und Beschäftigungsfragen verzögert wird. In diesen Fällen könnten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts handeln und wären damit auch an das Verbot aus Art. 5 Art. 2 GRCh gebunden. 3. Unionsrechtliche Anforderungen an die Einrichtung einer allgemeinen Dienstpflicht Sofern die Mitgliedstaaten bei der Einrichtung einer allgemeinen Dienstpflicht im Anwendungsbereich der GRCh handeln, könnte das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit gemäß Art. 5 Art. 2 GRCh der Dienstpflicht entgegenstehen. 3.1. Schutzbereich von Art. 5 Art. 2 GRCh Das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit in Art. 5 Art. 2 GRCh beruht auf der Erwägung, dass der Einsatz der eigenen Arbeitskraft grundsätzlich der autonomen Entscheidung des Einzelnen unterliegen muss.8 Da die Rechte in Art. 5 Abs. 2 GRCh und in Art. 4 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) inhaltlich identisch sind und es gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 1 keine abweichende Auslegung beider Rechte geben darf, ist die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 Abs. 2 EMRK verbindlich. Mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) lässt sich der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 2 GRCh dahingehend definieren, dass unter Zwangs- oder Pflichtarbeit jede Verpflichtung zu einer höchstpersönlichen Dienstleistung körperlicher oder geistiger Natur fällt, sofern diese nicht freiwillig übernommen, sondern unter Strafandrohung oder in einer vergleichbaren bedrohlichen Lage eingegangen wird.9 Ungeachtet der umstrittenen Frage, ob die Arbeit zusätzlich unterdrückend sein oder zwangsläufig inakzeptable Härten zur Folge haben muss oder ob die mit der Arbeit verbundenen Belastungen in einem völlig unangemessenen Verhältnis zu den erwarteten Vorteilen stehen müssen, ist jedenfalls eine umfassende, einzelfallbezogene und den Menschenwürdebezug berücksichtigende Gesamtwürdigung erforderlich.10 Über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh findet auch für Art. 5 Art. 2 GRCh der Negativkatalog des Art. 4 Art. 3 EMRK Anwendung, der bestimmte Verpflichtungen vom Schutzbereich ausnimmt. Für die Einrichtung einer Dienstpflicht sind hierbei insbesondere Dienstleistungen, die verlangt werden, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen (Art. 4 Art. 3 lit. c) EMRK) sowie Arbeiten oder Dienstleistungen, die zu den üblichen Bürgerpflichten 7 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. L 204 vom 26.7.2006, S. 23, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006L0054&qid=1466166970467&from=DE. 8 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 5, Rn. 12 ff. 9 Vgl. EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, Rantsev/Zypern und Russland), Nr. 25965/04, Rn. 276 ff. sowie Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 5 GRCh, Rn. 10. 10 Vgl. hierzu Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 2 – 3000 – 083/16 vom 15. Juni 2016, S. 4 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/16 Seite 7 gehören (Art. 4 Abs. 3 lit. d) EMRK), von Bedeutung. Arbeiten im Rahmen einer EMRK-konformen Dienstleistung im Fall von Notständen und Katastrophen sowie jede Arbeit, die zu den normalen Bürgerpflichten gehört, stellen demnach von vornherein keine verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit dar.11 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Auslegung des Begriffs „übliche Bürgerpflichten “. Hierzu werden jedenfalls solche Verpflichtungen gezählt, die von jedem Bürger einer demokratischen Gesellschaft erwartet werden können, soweit sie zumutbar sind. Beispiele für zumutbare Solidarleistungen sind die hergebrachten „Hand- und Spanndienste“ im Kommunalrecht , belastende Mitwirkungspflichten von Arbeitgebern bei der Steuererhebung, Pflichten zur Deichhilfe und zum Feuerwehrdienst oder eine ersatzweise Abgabe in Deutschland.12 Diese Beispiele lassen darauf schließen, dass eine allgemeine Dienstpflicht – vorbehaltlich ihrer konkreten Ausgestaltung – über die in Art. 4 Abs. 3 lit. d) EMRK genannte Schutzbereichsbegrenzung des Verbots von Zwangs- und Pflichtarbeit hinausginge und dementsprechend auch mit Art. 5 Art. 2 GRCh unvereinbar wäre.13 3.2. Rechtfertigung Aufgrund der Identität von Art. 5 Abs.  2 GRCh mit dem vorbehaltlos gewährten Art. 4 Abs. 1 EMRK ist ein Rückgriff auf die allgemeine Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh ausgeschlossen . Die aus Art. 52 Art. 3 GRCh folgende Maßgeblichkeit der konventionsrechtlichen Schrankenregelungen bewirkt, dass die Vorbehaltlosigkeit einer EMRK-Gewährleistung auch für das entsprechende Grundrecht der GRCh greift. Verstöße gegen die dort normierten Verbote sind daher grundsätzlich nicht rechtfertigungsfähig. Nur im Kriegs- und Notstandsfall kann das Verbot der Kriegs- und Zwangsarbeit eingeschränkt werden (Art. 15 EMRK). 4. Unionsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung einer allgemeinen Dienstpflicht Sofern die Einrichtung einer allgemeinen Dienstpflicht in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs.  2 GRCh fällt und in ihrer konkreten Ausgestaltung insbesondere mit der in Art. 4 Abs. 3 lit. d) EMRK genannte Schutzbereichsbegrenzung vereinbar wäre, wäre des Weiteren zu beachten , dass die entsprechenden Pflichten mit Blick auf Art. 21 GRCh und Art. 14 EMRK rechtlich wie tatsächlich in nichtdiskriminierender Weise verteilt sein sowie gemäß Art. 23 GRCh die Gleichheit von Frauen und Männern achten müssten. - Fachbereich Europa - 11 Vgl. EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2011 (Graziani-Weiss/Österreich), Nr. 31950/06, Rn. 48 ff. 12 Vgl. EGMR, Urteil vom 18. Juli 1994 (Karlheinz Schmidt/Deutschland), Nr. 13580/88 sowie Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 5 GRCh, Rn. 15. 13 Vgl. dementsprechend auch Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 2 – 3000 – 083/16 vom 15. Juni 2016, S. 6 f.