© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 86/14 Unionsrechtliche Zulässigkeit einer degressiven Abschreibung von Wohnraum in Ballungszentren Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 2 Unionsrechtliche Zulässigkeit einer degressiven Abschreibung von Wohnraum in Ballungszentren Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 86/14 Abschluss der Arbeit: 24. April 2014 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Hintergrund 4 3. Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht 5 3.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit 6 3.2. Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit 6 3.3. Rechtfertigung der Beschränkung 8 3.3.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund: Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV 8 3.3.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 9 3.3.3. Geeignetheit 10 3.3.4. Erforderlichkeit und Angemessenheit 11 3.4. Zusammenfassung 11 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, ob und unter welchen Bedingungen eine degressive Abschreibung von Anschaffungs- und Herstellungskosten für Wohnraum in Ballungszentren wie Berlin, Hamburg oder München mit dem Recht der Europäischen Union (EU) vereinbar ist. 2. Hintergrund Den Hintergrund der Fragestellung bilden die bestehenden Möglichkeiten zur Abschreibung von Anschaffungs- und Herstellungskosten für Wohnraum, die sog. Absetzung für Abnutzung (AfA). Das deutsche Recht lässt dem Steuerpflichtigen im Einkommenssteuergesetz (EStG1) für die steuerliche Abschreibung von Anschaffungs- und Herstellungskosten für dem Wohnzweck dienende Gebäude unter bestimmten Voraussetzungen die Wahl zwischen verschiedenen Methoden, insbesondere der Abschreibung in gleichen Jahresbeträgen (lineare Abschreibung, § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG) und der Abschreibung in fallenden Jahresbeträgen (degressive Abschreibung, § 7 Abs. 5 Satz 2 EStG). Entsprechend dem Begünstigungszweck der Abschreibungsmöglichkeiten, die steuerlichen Rahmenbedingungen für den Mietwohnungsbau verbessern, um das Angebot von Mietwohnungen auf dem Wohnungsmarkt zu verstärken und eine verbesserte Versorgung mit Mietwohnungen zu erreichen,2 ist der Abzug der degressiven AfA gemäß § 7 Abs. 5 S. 2 EStG nur bei Gebäuden zulässig , deren Herstellung oder Anschaffung das Angebot auf dem Mietwohnungsmarkt erweitert hat. Für sonstige Gebäude, die zu einem Betriebsvermögen gehören und nicht zu Wohnzwecken dienen bestand gemäß § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 EStG lediglich die Möglichkeit einer linearen Absetzung für Abnutzung bis zur vollen Absetzung mit einem jährlichen Abzug von 3 % der Anschaffungs - und Herstellungskosten. Zudem konnte die degressive AfA gemäß § 7 Abs. 5 EStG a.F. zunächst nur für im Inland belegene Gebäude in Anspruch genommen werden. Für im Ausland belegene Gebäude bestand lediglich die Möglichkeit einer linearen Abschreibung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG. Daher kommt ein Steuerpflichtiger mit einer Immobilie im Ausland im Gegensatz zu einem in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen, der in eine Immobilie in diesem Mitgliedstaat investiert hat, weder in den Genuss einer sofortigen Berücksichtigung etwaiger negative Einkünfte aus der Vermietung einer Immobilie3 noch eines höheren anfänglichen Abschreibungssatzes. Hierdurch wird ihm potenziell ein Liquiditätsvorteil vorenthalten, da die Möglichkeit einer degressiven Abschreibung in den ersten Jahren zu einer deutlich höheren Geltendmachung von Verlusten aus 1 Einkommensteuergesetz (EStG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 2009, BGBl. I S. 3366, ber. I 2009 S. 3862. 2 BT-Drs. 11/4688, S. 10; BFH, Urteil vom 14. 3. 2000 - IX R 8–97; BFHE 191, 502, BStBl II 2001, 66. 3 Vgl. EuGH, Rs. C-347/04 (Rewe Zentralfinanz), Rn. 69. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 5 der Vermietung und damit zu einer deutlich geringeren Steuerbelastung für diesen Steuerpflichtigen als die lineare Abschreibung führen kann.4 Dementsprechend stellte der EuGH im Urteil zur Rechtssache C-35/08 (Busley und Fernandez) fest, dass die in § 7 Abs. 5 EStG getroffene Beschränkung auf inländische Gebäude gegen Unionsrecht verstößt. Hierdurch werde in die Kapitalverkehrsfreiheit eingegriffen, da der aus der Beschränkung folgende steuerliche Nachteil bzw. die Vorenthaltung des Liquiditätsvorteils geeignet sei, eine Person sowohl davon abzuhalten, in eine in einem Mitgliedstaat belegene Immobilie zu investieren, als auch davon, eine solche in ihrem Eigentum stehende Immobile zu behalten.5 Aufgrund dieser Entscheidung des EuGH wurde § 7 Abs. 5 EStG dahingehend geändert, dass die Möglichkeit der degressiven Abschreibung nunmehr auch bei Gebäuden Anwendung findet, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Staat belegen sind, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) angewendet wird.6 Vor diesem Hintergrund zielt die Fragestellung dieser Ausarbeitung darauf ab ob beispielsweise eine Ausgestaltung der degressiven Abschreibungsmöglichkeiten für Wohnimmobilien in Ballungsräumen mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wonach ein in Deutschland Steuerpflichtiger entsprechend § 7 Abs. 5 EStG bei einer in einem Ballungszentrum gelegenen Immobilie eine degressive AfA mit höheren abzugsfähigen Beträgen in Anspruch nehmen kann, während für eine nicht in Ballungszentren gelegene Immobilie niedrigere Beträge für die AfA abzugsfähig sind. 3. Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Die Möglichkeit einer degressiven Abzugsfähigkeit setzt die Steuerpflichtigkeit gemäß § 1 EStG des potenziell gemäß § 7 Abs. 5 EStG Anspruchsberechtigten voraus und betrifft damit eine Frage der Ausgestaltung der direkten Steuern. Direkte Steuern fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten . Diese müssen ihre Zuständigkeit jedoch unter Wahrung des Unionsrechts ausüben und dürfen insbesondere nicht gegen die unionsrechtlich gewährleisteten Grundfreiheiten verstoßen.7 Dementsprechend stellt sich die Frage, ob die steuerliche Privilegierung bestimmter Gebiete innerhalb eines Mitgliedstaates mit den Grundfreiheiten und insbesondere der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar ist. 4 EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 25 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-446/04 (Test Claimants in the FII Group Litigation), Rn. 84, 153; EuGH, Rs. C-347/04 (Rewe Zentralfinanz), Rn. 29. 5 EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 27. 6 Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 8. April 2010, BGBl. I 2010, S. 386. 7 St. Rspr. des EuGH, vgl. Rs. C-279/93 (Schumacker), Rn. 21, 26; Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 16; Rs. C-250/95 (Futura Participations und Singer), Rn. 19; Rs. C-264/96 (ICI v Colmer), Rn. 19; Rs. C-35/98 (Verkooijen), Rn. 32; Rs. C-324/00 (Lankhorst-Hohorst), Rn. 26; Rs. C-446/03 (Marks&Spencer), Rn. 29; Rs. C-345/05 (Kommission /Portugal), Rn. 10; Rs. C-104/06 (Kommission/Schweden), Rn. 12. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 6 3.1. Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit Die in Art. 63 Abs. 1 AEUV normierte Kapitalverkehrsfreiheit verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Staaten. Unter dem Begriff „Kapital“ werden allgemein alle Vermögenswerte verstanden.8 So beschreibt der EuGH den Kapitalverkehr als „Transfer von Vermögenswerten“9 und greift in ständiger Rechtsprechung zur näheren Konkretisierung des Begriffs auf Anhang I der Kapitalverkehrsrichtlinie 88/36110 zurück.11 Nach deren dortigen enumerativen, aber nicht abschließender Aufzählung fallen unter den Begriff des Kapitalverkehrs unter anderem Immobilieninvestitionen bzw. die Ausübung des Rechts, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates Immobilien zu erwerben, zu nutzen und darüber zu verfügen.12 Die Grundfreiheiten gelangen nur zur Anwendung, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Ein grenzüberschreitender Bezug ist hergestellt, wenn sich die in dem Mitgliedstaat angestrebten Regelungen in mehr als nur einem Mitgliedstaat auswirken im Hinblick auf den Marktzutritt oder Marktaustritt eines Grundfreiheitsberechtigten. 3.2. Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber dritten Ländern. Unter Beschränkung wird jede nationale Maßnahme verstanden, die geeignet ist, von der Wahrnehmung der Freiheit abzuschrecken oder grenzüberschreitenden Kapitalverkehr weniger attraktiv zu machen.13 Der Begriff der Beschränkung in Art. 63 Abs. 1 AEUV umfasst sowohl diskriminierende nationale Regelungen als auch solche Maßnahmen, die unterschiedslos für grenzüberschreitende und innerstaatliche Transaktionen gelten.14 8 Von Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, 2009, § 12 IV 1, Rn. 2. 9 EuGH, verb. Rs. C-358/93 und 416/93 (Aldo Bordessa u.a.), Rn. 13. 10 Richtlinie 88/361 des Rates vom 24 Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. L 178, S. 5 ff., online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:1988:178:0005:0018:DE:PDF. 11 EuGH, Rs. C-222/97 (Trummer), Rn. 21; EuGH, Rs. C-468/98 (Kommission/Schweden), Rn. 5. 12 EuGH, verb. Rs. C-515/99 u.a. (Reisch), Rn. 29; EuGH, Rs. C-370/05 (Festersen), Rn. 22 f. 13 St. Rspr. des EuGH, vgl. Rs. C-439/97 (Sandoz), Rn. 19; Rs. C-484/93 (Svensson); Rn. 10; Rs. C-222/97 (Trummer ), Rn. 26 f.; Rs. C-483/99 (Kommission/Frankreich), Rn. 41; Rs. C-463/00 (Kommission/Spanien), Rn. 61. 14 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 2009, § 31, Rn. 20. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 7 Es sind somit alle nationalen Regelungen unzulässig, die In- und Auslandssachverhalte prima facie zwar gleich behandeln, aber grenzüberschreitende Betätigungen faktisch gegenüber den innerstaatlichen erschweren.15 Dementsprechend zählen zu den nach Art. 63 Abs. 1 AEUV verbotenen Beschränkungen des Kapitalverkehrs solche Maßnahmen, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat und die dort Ansässigen von Investitionen in einem anderen Staat abzuhalten.16 Hierunter fallen sowohl Maßnahmen, die geeignet sind, den Erwerb von in anderen Mitgliedstaaten belegenen Immobilien zu verhindern oder zu beschränken als auch Maßnahmen, die davon abhalten können, solche Immobilien zu behalten.17 Im Bereich der direkten Steuern liegt eine die Ausübung der Grundfreiheiten beschränkende Ungleichbehandlung insbesondere dann vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleiche Situationen angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift in unterschiedlichen Situationen angewandt wird.18 Umgekehrt ist eine steuerliche Ungleichbehandlung hingegen gerechtfertigt, wenn die unterschiedliche Behandlung unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels an objektiv nicht miteinander vergleichbaren Situationen anknüpft.19 Gebietsfremde und Gebietsansässige befinden sich im Hinblick auf die direkte Besteuerung regelmäßig nicht in der gleichen Situation, da das Einkommen, das ein Gebietsfremder im Hoheitsgebiet eines Staates erzielt, meist nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellt. Entsprechend § 1 Abs. 1 EStG ist dieses Globaleinkommen regelmäßig an dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der betroffenen Person unbeschränkt einkommenssteuerpflichtig.20 Ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit durch privilegierte degressive Abschreibungsmöglichkeiten für Wohnimmobilien in Ballungsräumen setzt somit voraus, dass sich der Gebietsfremde hinsichtlich der Einkommensteuerpflicht objektiv in derselben Situation wie der in diesem Staat Ansässige befindet.21 In diesem Fall ist das Steuersubstrat bzw. die steuerliche Bemessungsgrundlage die gleiche, ohne dass es zu einer Differenzierung nach der Ansässigkeit käme.22 Dementsprechend ist ein Gebietsfremder bei Immobilieninvestitionen in Deutschland im Sinne des 15 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rn. 835. 16 EuGH, Rs. C-370/05 (Festersen), Rn. 24; EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 20 m.w.N. 17 EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 20 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-377/07 (STEKO), Rn. 24. 18 EuGH, Rs. C-319/02 (Manninen), Rn. 28 f.; EuGH Rs. C-265/04 (Bouanich), Rn. 32 ff. 19 Vgl. in diesem Sinne die Entscheidungen des EuGH in den Rs. C-279/93 (Schumacker), Rn. 31 ff.; Rs. C-431/01 (Mertens), Rn. 32 ff.; Rs. C-152/03 (Ritter-Coulais), Rn. 19; Rs. C-347/04 (Rewe Zentralfinanz), Rn. 42 ff.; Rs. C- 345/04 (Centro Equestre da Lezíria Grande Lda), Rn. 22 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-250/95 (Futura Participations und Singer), Rn. 21 f. und EuGH, Rs. C-446/03 (Marks&Spencer), Rn. 39; Rs. C-152/05 (Kommission /Deutschland), Rn. 18; Rs. C-318/07 (Persche), Rn. 24 ff.; Rs. C-337/08 (X Holding), Rn. 22; Rs. C-25/10 (Missionswerk ), Rn. 29; Rs. C-18/11 (Philips Electronics UK), Rn. 17. 20 Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Rn. 31 ff.; EuGH, Rs C-234/01 (Gerritse), Rn. 43. 21 Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-279/93 (Schumacker), Rn. 36; EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 20. 22 EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 20. Wegen der insoweit nur hypothetischen Fragestellung muss vorliegend eine Betrachtung der konkreten Auswirkungen des jeweils einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens und der darin gewählten Anrechungs- oder Freistellungsmethode außer Betracht bleiben. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 8 Art. 63 Abs. 1 AEUV in gleichen Maßen von einer nach Ballungszentren und anderen Regionen differenzierende Regelung im Sinne des § 7 Abs. 5 EStG betroffen, so dass hieraus keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des Art. 63 Abs. 1 AEUV resultiert. Für dieses Ergebnis spricht zudem, dass die Grundfreiheiten mit dem Ziel der Errichtung eines Binnenmarktes (Art. 26 AEUV) eine beschränkungsfreie grenzüberschreitende Tätigkeit der Grundfreiheitsberechtigten und die Beseitigung von Marktzutritts- oder Marktaustrittshindernissen intendieren. Dementsprechend garantieren die Grundfreiheiten den diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den nationalen Märkten. Sofern der nationale Gesetzgeber innerhalb des nationalen Marktes eine rechtsdifferenzierende Regelung zwischen einzelnen Regionen im selben Markt vornimmt, so betrifft dies nicht die Frage des Marktzugangs oder des Marktaustritts an sich, sondern vielmehr die Möglichkeiten auf diesem Markt. Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass eine Regelung, die eine degressive Abschreibung von Wohnraum in Ballungsgebieten privilegiert, grundsätzlich – vorbehaltlich der konkreten Ausgestaltung der Regelung – keine unionsrechtswidrige Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellt. 3.3. Rechtfertigung der Beschränkung Nähme man entgegen der hier vertretenen Auffassung an, dass die Ausgestaltung einer Regelung zur degressiven Abschreibung von Immobilien in Ballungsräumen eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit im Sinne von Art. 63 Abs. 1 S.1 AEUV bewirkt, so könnte sie gleichwohl gerechtfertigt sein. Nationale Maßnahmen, die den freien Kapitalverkehr beschränken, können aus den in Art. 65 AEUV oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses unter der Voraussetzung gerechtfertigt sein, dass sie dazu geeignet sind, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten und dass sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.23 3.3.1. Geschriebener Rechtfertigungsgrund: Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV Man könnte in diesem Zusammenhang an den geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV denken. Hiernach ist es den Mitgliedstaaten gestattet, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Allerdings ist der Anwendungsbereich dieser Norm durch eine zum Vertrag von Maastricht aufgenommene Erklärung Nr. 7 zu Art. 73d des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) (später Art. 58 EGV, jetzt Art. 65 AEUV) erheblich eingeschränkt worden: Hiernach gilt das in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV erwähnte Recht der Mitgliedstaaten, „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, nur für die einschlägigen Vorschriften (…), die Ende 1993 bestehen“ (sog. Stillhalteerklärung).24 Seit 23 EuGH, Rs. C-112/05 (Kommision/Deutschland), Rn. 72 f.; EuGH, Rs. C-104/06 (Kommission/Schweden), Rn. 25. 24 ABl. 1992 Nr. C 191/99. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 9 der Beitrittsakte 2003 ist diese Stillhalteklausel auch im Primärrecht verankert.25 Neue Regelungen im Kapital- und Zahlungsverkehr der Mitgliedstaaten, die nach Wohnort oder Anlageort differenzieren , können damit nicht auf Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV gestützt und gerechtfertigt werden .26 3.3.2. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Richterrechtlich hat der EuGH seit seiner Cassis de Dijon-Entscheidung27 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe entwickelt, die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls/-interesses“.28 Es handelt sich hierbei um einen nicht abgeschlossenen Kanon.29 Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses kommt grundsätzlich nur bei Maßnahmen in Betracht, die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten.30. Eine Regelung, die eine degressive Abschreibung von Wohnraum in Ballungsgebieten privilegiert , würde auf alle in Deutschland unbegrenzt steuerpflichtigen Personen Anwendung finden, so dass eine Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls grundsätzlich in Betracht käme. Mit Blick auf den potenziellen Regelungszweck, die steuerlichen Rahmenbedingungen für den Mietwohnungsbau zu verbessern, um das Angebot von (Miet-)Wohnungen insbesondere auf angespannten Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten zu verstärken und in diesen Gebieten eine verbesserte Versorgung mit (Miet-)Wohnungen zu erreichen,31 könnte sich das erforderliche Allgemeininteresse aus der mit der Regelung verfolgten Wohnungspolitik in Gebieten mit besonderer Wohnungsknappheit ergeben. Diesbezüglich hat der EuGH anerkannt, dass zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die den freien Kapitalverkehr beschränken dürfen, grundsätzlich nationale Regelungen zählen, die der Bekämpfung des Drucks auf dem Grundstücksmarkt oder der Erhaltung einer beständigen Bevölkerung in ländlichen Gebieten als 25 Anhang IV der Akte über die Bedingungen des Beitritts von Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn , Malta, Polen, Slowenien und der Slowakei, ABl. 2003 L 236/33 (797). 26 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 2010, Rdnr. 1002; Glasner, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2009, Art. 58 EGV, Rn. 2. 27 EuGH, Rs. 120/78 (Rewe Zentral), Rn. 8. 28 Zur Herleitung solcher zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses durch den EuGH vgl. von Wilmowsky , in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2009, § 12 IV 1, Rn. 12; Haratsch /Koenig/Pechstein, Europarecht, 2010, Rn. 843 ff. 29 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, 2009, Rn. 835. 30 EuGH, Rs. C-302/97 (Konle), Rn. 40 f.; Rs. C-503/99 (Kommission/Belgien), Rn. 45. EuGH, Rs. C-464/02 (Kommission /Dänemark), Rn. 34 f.; EuGH, Rs. C-318/05 (Kommission/Deutschland), Rn. 114 f. 31 Vgl. BT-Drs. 11/4688, S. 10; BFH, Urteil vom 14. 3. 2000 - IX R 8–97; BFHE 191, 502, BStBl II 2001, 66. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 10 Raumordnungsziel dienen.32 Dahingehende Erwägungen können durch bestimmte Besonderheiten , die die Lage auf dem innerstaatlichen Markt kennzeichnen wie beispielsweise ein struktureller Mangel an Wohnraum und eine besonders hohe Bevölkerungsdichte an Bedeutung gewinnen .33 Dementsprechend lässt sich eine Regelung, die eine degressive Abschreibung von Wohnraum in Ballungsgebieten privilegiert, grundsätzlich –in Abhängigkeit von ihrer tatsächlichen Ausgestaltung – auf ein rechtfertigungsfähiges Allgemeininteresse stützen. 3.3.3. Geeignetheit Zudem müsste die Regelung geeignet sein, das projektierte Ziel zu erreichen. Das ist der Fall, wenn sie für das Erreichen der zwingenden Gründe des Allgemeinwohlinteresses tatsächlich förderlich ist.34 Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme regelmäßig keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt vielmehr den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einen Prognosespielraum.35 Verlangt wird allerdings, dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.36 In der Rechtssache C-35/08 (Busley und Fernandez) stellte der EuGH für § 7 Abs. 5 EStG a.F., welcher die degressive Abschreibungsmöglichkeit von der Belegenheit der Immobilie im Inland abhängig machte, fest, dass die Norm nicht geeignet war, ihr sozialpolitisches Ziel zu fördern. Vergleichbar mit dem (unterstellten) Regelungsziel einer privilegierten degressiven Abschreibungsmöglichkeit für Wohnimmobilien in Ballungsräumen intendierte § 7 Abs. 5 EStG a.F., „einen Anreiz zum Bau von Mietwohnungen zu schaffen, um den Bedarf der deutschen Bevölkerung an solchen Wohnungen zu decken“37. Die im Rahmen der Entscheidung C-35/08 (Busley und Fernandez) getroffenen Feststellungen dürften maßgeblich sein für eine unionsrechtskonforme Ausgestaltung einer Regelung zur Privilegierung von Wohnimmobilien in Ballungsräumen durch degressive Abschreibungsmöglichkeiten: „Selbst wenn das genannte Ziel eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich, dass eine derartige nationale Maßnahme, die klar danach unter- 32 EuGH, Rs. C-302/97 (Konle), Rn. 40; EuGH, verb. Rs. C-515/99 u.a. (Reisch), Rn. 29; EuGH, Rs. C-152/05 (Kommission /Deutschland), Rn. 26 f.; EuGH, Rs. C-370/05 (Festersen), Rn. 22 f.; EuGH, Rs. C-567/07 (Sint Servatius), Rn. 29 ff. 33 EuGH, Rs. C-567/07 (Sint Servatius), Rn. 30. 34 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. 35 EuGH, Rs. C-293/93 (Houtwipper), Rn. 22; EuGH, Rs. C-394/97 (Sami Heinonen), Rn. 43; EuGH, Rs. C-208/05 (ITC), Rn. 39. 36 Sedlaczek/Züger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 65 AEUV, Rn. 47. 37 EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 31. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 86/14 Seite 11 scheidet, ob die Mietwohnungen im Inland belegen sind oder nicht, geeignet wäre, seine Erreichung zu gewährleisten. Anstatt nämlich Orte festzulegen, an denen der Mangel an Mietwohnungen besonders ausgeprägt wäre, lässt § 7 Abs. 5 S. 1 Nr. 3a EStG a.F. … den in Deutschland von Region zu Region unterschiedlichen Bedarf unberücksichtigt. Zudem kann für alle Kategorien von Mietwohnungen – von der einfachsten bis zur luxuriösesten – eine degressive Abschreibung in Anspruch genommen werden. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden , dass private Investoren, die sich in erster Linie von finanziellen Erwägungen leiten lassen, das angeblich sozialpolitische Ziel dieser Bestimmung erfüllen.“38 3.3.4. Erforderlichkeit und Angemessenheit Bejahte man die Geeignetheit der Einführung einer Regelung für privilegierte degressive Abschreibungsmöglichkeiten für Wohnimmobilien in Ballungsräumen. Diese fehlt, wenn der Zweck mit genauso wirksamen milderem Mittel erfüllt werden kann.39 Für den Zweck, das Angebot von (Miet-)Wohnungen insbesondere auf angespannten Wohnungsmärkten in Ballungsgebieten zu verstärken und in diesen Gebieten eine verbesserte Versorgung mit (Miet-)Wohnungen zu erreichen ist ein milderes Mittel ohne weitgehende staatliche Interventionen schwer denkbar. Schließlich müsste die Regelung auch angemessen sein. Zu prüfen ist insoweit die Zweck-Mittel- Relation40. Eine konkrete Prüfung der Erforderlichkeit und der Angemessenheit der in der Fragestellung dieser Ausarbeitung angedeuteten Regelung setzt eine genaue Analyse ihrer konkreten Ausgestaltung voraus, die an dieser Stelle mangels konkretisierter Regelung nicht vorgenommen werden kann. 3.4. Zusammenfassung Es sprechen überwiegende Gründe dafür, in der Ausgestaltung einer Regelung für degressive Abschreibungsmöglichkeiten , die Immobilien in Ballungsräumen privilegiert, keine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit zu sehen. Bejaht man entgegen der hier vertretenen Auffassung eine Beschränkung, könnte diese grundsätzlich durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden. Mit Blick auf die Rechtfertigungsfähigkeit der Regelung sind bei Ihrer Ausgestaltung die vom EuGH in der Rechtssache C-35/08 (Busley und Fernandez) umschriebenen Parameter zu berücksichtigen. - Fachbereich Europa - 38 EuGH, Rs. C-35/08 (Busley und Fernandez), Rn. 32. 39 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2010, § 10 Rn. 57. 40 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, 2012, Rdnr. 562 f.