© 2016 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Einzelfragen zur geplanten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 2 Einzelfragen zur geplanten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Abschluss der Arbeit: Teil 1: 2. September 2013/Teil 2: 6. September 2013 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend PE 6: Europa Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 6 2. Vorbemerkungen 6 3. Teil 1 – Sachfragen zur Diskussion um den Vorschlag einer neuen EU-Verordnung über klinische Prüfungen mit Arzneimitteln 7 3.1. Motive für die EK zur Veränderung der Richtlinie 2001/20/EC 7 3.2. Zur Einwilligung bei klinischen Prüfungen von Arzneimitteln nach deutschem Arzneimittelrecht 8 3.3. Einzelfragen zur geplanten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln 10 3.3.1. Kontext des Art. 28Bericht 11 3.3.2. Kontext des Artikel 29 Bericht 11 3.3.3. Stellungnahmen zu den im Auftrag aufgeworfenen Fragestellungen 12 3.3.3.1. Welche wissenschaftlichen Veröffentlichungen stützen die Notwendigkeit von klinischen Arzneimittelprüfungen ohne Informed Consent nach den Vorgaben des Artikel 29 Absatz 3a bzw. mit „Broad Consent“ nach den Vorgaben des Artikel 28 Absatz 2a (Beschluss des ENVI-Ausschusses vom 29. Mai 2013)? 12 3.3.3.2. Welche Konstellationen klinischer Studien sind denkbar, in denen zwar die umfängliche schriftliche Aufklärung der potentiellen Studienteilnehmer über die klinische Arzneimittelprüfung sowie über ihr Recht, der Teilnahme ggf. auch nach der Randomisierung) zu widersprechen, durchführbar ist, jedoch die Einholung des Informed Consent aus methodischen Gründen nicht durchführbar sind? 13 3.3.3.3. Kann die Randomisierung aufrecht erhalten werden, wenn ein potentieller oder ein bereits randomisierter Teilnehmer seiner weiteren Teilnahme widerspricht? 14 3.3.3.4. Sind klinische Arzneimittelprüfungen ohne Einholung des Informed Consent bzw. unter seiner Reduktion auf „Broad Consent“ vereinbar mit der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes? 15 3.3.4. Positionen des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) 16 3.4. Ausgewählte wissenschaftliche Postionen zu den Artikeln 28 und 29 des Berichts 17 3.4.1. Positionen im Zusammenhang mit Art. 28Bericht 17 3.4.2. Positionen im Zusammenhang mit Artikel 29 des Berichts 19 3.4.2.1. Das “Ottawa Statement on the Ethical Design and Conduct of Cluster Randomized Trials” 19 3.4.2.2. Der Vorschlag der Einholung eines „Postponed Consent“ unter besonderen Bedingungen 21 Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 4 3.4.2.3. Probleme der Einhaltung eines „Informed Consent“ in bestimmten Cluster-randomisierten Studienkonstellationen 22 4. Überblick über Teil 2 24 5. Teil 2: Die Rechtmäßigkeit klinischer Arzneimittelprüfungen ohne Einholung des informed consent nach Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss 25 5.1. Zu Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss 25 5.2. Vereinbarkeit mit Art. 3 GRCh 26 5.2.1. Schutzbereich 27 5.2.1.1. Schutzbereichsbestimmung – zur Normstruktur des Art. 3 GRCh 27 5.2.1.2. Sachlicher Schutzbereich 30 5.2.1.3. Persönlicher Schutzbereich 30 5.2.1.4. Verpflichteter 30 5.2.2. Eingriff 30 5.2.3. Rechtfertigung 32 5.2.3.1. Anforderungen aus Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh 33 5.2.3.1.1. Gesetzliche Grundlage und Bestimmtheit 33 5.2.3.1.2. Wesensgehalt 34 5.2.3.2. Anforderungen aus Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh 35 5.2.3.2.1. Zur gerichtlichen Kontrolldichte 35 5.2.3.2.2. Legitimes Ziel 36 5.2.3.2.3. Geeignetheit 36 5.2.3.2.4. Erforderlichkeit 37 5.2.3.2.5. Angemessenheit im engeren Sinne 38 5.2.4. Zwischenergebnis 39 5.3. Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2001/20/EG 39 5.4. Vereinbarkeit mit der ICH-GCP-Leitline 40 5.5. Ergebnis 41 6. Teil 2: Die Rechtsmäßigkeit der Weiterverwendung von Daten nach Abschluss klinischer Arzneimittelstudien auf Grundlage des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI- Beschluss 41 6.1. Zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss 41 6.2. Vereinbarkeit mit Art. 8 GRCh 42 6.2.1. Schutzbereich 43 6.2.2. Eingriff 44 6.2.2.1. Vorgaben der Datenschutzrichtlinie für die Einwilligung in die Datenverarbeitung 44 6.2.2.2. Verständnis des Einwilligungstatbestandes in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss 46 6.2.2.3. Abweichung von den Vorgaben? 46 6.2.2.4. Zwischenergebnis 48 6.2.3. Rechtfertigung 48 6.3. Vereinbarkeit mit geltenden Richtlinien 49 Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 5 6.3.1. Richtlinie 2001/20/EG 49 6.3.2. Datenschutzrichtlinie 50 6.4. Vereinbarkeit mit der ICH-GCP-Leitlinie 50 6.5. Ergebnis 50 7. Teil 2: Die Kompromissvorschläge des LIBE-Ausschusses zu Art. 81 und 83 des Kommissionsvorschlags für eine Datenschutz-Grundverordnung im Lichte des informed consent und des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI- Beschluss 51 7.1. Zu Art. 81 und 83 des Kommissionsvorschlags für eine Datenschutz-Grundverordnung 51 7.2. Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zum informed consent 52 7.3. Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss 53 8. Zusammenfassung 54 8.1. Teil 1 54 8.2. Teil 2 54 Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 6 1. Einleitung Am 17. Juli 2012 legte die Europäische Kommission (EK) einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments (EP) und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG vor.1 Die Federführung für den Bericht hatte die britische EP-Abgeordnete Glenis Willmott. Daher firmiert der Bericht in der öffentlichen Diskussion unter der Bezeichnung Willmott-Bericht. Die geplante Verordnung soll in erster Linie die Genehmigungsverfahren entsprechender Studien beschleunigen. Gleichzeitig werden auch Kriterien benannt, in welchen Fällen Probanden wie in die Einwilligungsverfahren eingebunden werden. In Deutschland wurde der Vorschlag einmütig und deutlich kritisiert, da insbesondere die Rechte von Teilnehmern an den Studien im Hinblick auf die nun vorgesehenen Einwilligungsverfahren geschmälert würden. Diese Einschätzung fand auch ihren Niederschlag in einem interfraktionellen Antrag, der am 31. Januar 2013 im Deutschen Bundestag2 angenommen wurde. Angefragt wurden Stellungnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) sowie der Deutschen Krebsgesellschaft. Bei Abgabe dieser Ausarbeitung lagen diese Rückmeldungen noch nicht vor, werden aber nach Eingang nachgereicht. Maßgebliche internationale Grundlage für die Durchführung klinischer Studien ist die Studienleitlinie ICH-GCP (International Conference of Harmonization - Good Clinical Praxis), ein internationaler ethischer und wissenschaftlicher Standard für Planung, Durchführung, Dokumentation und Berichterstattung von klinischen Arzneimittelprüfungen am Menschen.3 Diese Leitlinie ist auch zwischen den EU-Mitgliedstaaten, den Vereinigten Staaten und Japan harmonisiert. 2. Vorbemerkungen Die zu diesem Themenbereich in Auftrag gegebene Ausarbeitung gliedert sich in zwei Teile. Im ersten, von WD 9 als federführendem Fachbereich verantworten Teil (siehe unter 3.) werden die dem Auftrag zugrunde liegenden Sachfragen beantwortet. Der zweite, vom Fachbereich PE 6 verantwortete Teil beinhaltet die sich aus dem Auftrag ergebenden Rechtsmäßigkeitsprüfungen, bei denen die in Teil 1 bearbeiteten Sachfragen aufgegriffen werden (siehe unter 4. bis 7.). 1 Der Vorschlag ist eingestellt auf: http://ec.europa.eu/health/files/clinicaltrials/2012_07/proposal /2012_07_proposal_de.pdf (Stand 12. August 2013). Im Folgenden zitiert als EK-Vorschlag. 2 Abgedruckt auf BT-Drucksache 17/12183 vom 26. Januar 2013. 3 Die aktuelle Fassung der ICH-GCP ist eingestellt auf: http://ichgcp.net/pdf/ich-gcp-en.pdf (Stand 8. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 7 3. Teil 1 – Sachfragen zur Diskussion um den Vorschlag einer neuen EU-Verordnung über klinische Prüfungen mit Arzneimitteln 3.1. Motive für die EK zur Veränderung der Richtlinie 2001/20/EC Anlass für die Initiative der EK waren nach deren Angaben die folgenden drei Aspekte: Die Zahl der Anträge für klinische Prüfungen sei von 2007 bis 2011 um 25 % zurückgegangen . Die Kosten für die Durchführung klinischer Prüfungen seien gestiegen. Die Sponsoren aus der Wirtschaft benötigten heute doppelt so viel Personal (+107 %) für die Bearbeitung des Verfahrens zur Genehmigung einer klinischen Prüfung wie vor der Einführung der Richtlinie 2001/20/EG; bei kleineren Unternehmen schlage die Erhöhung des Personalbedarfs noch drastischer zu Buche. Bei den nichtkommerziellen Sponsoren habe die Verschärfung der verwaltungstechnischen Anforderungen durch die Einführung der Richtlinie 2001/20/EG zu einer Erhöhung der Verwaltungskosten um 98 % geführt. Außerdem seien die Versicherungsprämien für Sponsoren aus der Wirtschaft seit Einführung der Richtlinie 2001/20/EG um 800 % gestiegen. Die durchschnittlich benötigte Vorlaufzeit vor Beginn einer klinischen Prüfung habe sich um 90 % auf 152 Tage verlängert. Zwar dürfe man den Rückgang der Aktivität im Bereich klinischer Prüfungen nicht ausschließlich auf die Richtlinie 2001/20/EG zurückführen. Die Richtlinie habe jedoch direkte Auswirkungen auf die Kosten und die Durchführbarkeit klinischer Prüfungen gehabt, die ihrerseits dazu geführt hätten, dass die Aktivität im Bereich klinischer Prüfungen in der EU nachgelassen habe. Außerdem hätten sich andere Faktoren (Gehaltskosten, die Notwendigkeit der Durchführung internationaler Prüfungen) aufgrund der rechtlichen Anforderungen und der sich daraus ergebenden Kosten der Richtlinie 2001/20/EG stärker ausgewirkt. Insgesamt scheinen daher die derzeit geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2001/20/EG die Durchführung klinischer Prüfungen in Europa behindert zu haben. Daher bestünde für die Kommission Handlungsbedarf.4 Ein weiteres Problem bei der Durchführung länderübergreifender Studien in der EU stellt nach Auffassung der EK derzeit zu hohe bürokratische Hürden im Hinblick auf die Genehmigungsverfahren dar. Deshalb wird die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle vorgeschlagen, die unter Einbeziehung landesspezifischer Arzneimittelbehörden und Ethikkommissionen einen Antrag auf Durchführung einer klinischen Studie bearbeitet. Die Notwendigkeit einer Änderung der Richtlinie 2001/20/EG wird somit nicht durch grundlegend veränderte Rahmenbedingungen für die Durchführung klinischer Studien, sondern in erster Linie mit dem Ziel der Schaffung einer größere Effizienz, einer Kostenreduzierung und einem 4 EK-Vorschlag, S. 3. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 8 Abbau von bürokratischen Hemmnisse begründet.5 Ein Beispiel für eine Kritik an den bestehenden Regelungen auf EU-Ebene im Hinblick auf die Erforschung humanmedizinischer Arzneimittel stellen die so genannten Multizentrischen Therapieoptimierungsstudien (TOS) dar, bei denen insbesondere im Zusammenhang mit Seltenen Erkrankungen die Wirkungsweise von bereits zugelassenen Medikamente auf andere Krankheitsbilder untersucht wird. Beklagt wird beispielsweise von Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), dass durch die aktuell gültige EU- Verordnung zur Arzneimittelprüfung (und hieraus folgend den Bestimmungen des AMG), für TOS die gleichen regulatorischen Prozesse eingehalten werden müssten, wie sie bei der Einführung eines neuen Medikaments Anwendung fänden. Dies führe zu einem enormen Organisationsaufwand, da die TOS methodisch bedingt, nicht an nur einem Standort durchgeführt werden könnten. 3.2. Zur Einwilligung bei klinischen Prüfungen von Arzneimitteln nach deutschem Arzneimittelrecht Die klinische Prüfung von Arzneimitteln ist im deutschen Recht in §§ 40 ff. Arzneimittelgesetz (AMG)6 geregelt. Klinische Prüfungen im Sinne des AMG sind nach der Legaldefinition des § 4 Absatz 23 AMG „jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen.“ Diese Definition entspricht fast wörtlich der Begriffsbestimmung in Artikel 2 der Richtlinie 2001/20/EG, mit der im Jahr 2001 auf EU-Ebene die Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Durchführung klinischer Arzneimittelprüfungen angeglichen wurden.7 Nicht als klinische Prüfung gelten so genannte nichtinterventionelle Prüfungen. Hierbei handelt es sich um Untersuchungen, in deren Rahmen Erkenntnisse aus der Behandlung von Personen mit Arzneimitteln anhand epidemiologischer Methoden analysiert werden. Dabei folgt die Behandlung einschließlich der Diagnose und Überwachung nicht einem vorab festgelegten Prüfplan , sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis (§ 4 Absatz 23 Satz 3 AMG). Entscheidendes Merkmal der nichtinterventionellen Prüfung ist also die Orientierung an der üblichen ärztlichen Praxis.8 Nichtinterventionelle Prüfungen werden etwa im Bereich der Anwendungsbeobachtung 5 Vergleiche hierzu auch: Gökbuget, N., Naumann, Ralph, für den Arbeitskreis AMG der DGHO, Beantragung der Bewilligung von akademischen Multicenterstudien bei der deutschen Ethikkommission, in Onkologie 1013, Ausg. 36 (Supplement 2), S. 29-35, 21. März 2013, eingestellt auf: http://www.dgho.de/informationen /presse/pressemitteilungen/Supplement%20Onkologie%20190313.pdf (Stand 14. August 2013). 6 Arzneimittelgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), das durch Artikel 2 des Gesetzes vom 23. Juli 2013 (BGBl. I S. 2565) geändert worden ist. 7 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln (ABl. L 121 vom 1.5.2001, S. 34. 8 Rehmann, Arzneimittelgesetz (AMG), 3. Auflage 2008, § 4 Rn. 25. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 9 durchgeführt. Auch die Definition in § 4 Absatz 23 Satz 3 AMG orientiert sich an der entsprechenden Begriffsbestimmung in Artikel 2 der Richtlinie 2001/20/EG. Auf nichtinterventionelle Prüfungen sind die §§ 40 ff. AMG nicht anwendbar. Aus den Regelungen §§ 40, 41 AMG ergeben sich verschiedene Zulässigkeitsvoraussetzungen für klinische Prüfungen. Hinsichtlich der Frage der Einwilligung gilt danach Folgendes: Eine klinische Arzneimittelprüfung darf nach § 40 AMG an einem Menschen nur dann durchgeführt werden, wenn die betroffene Person volljährig und einwilligungsfähig ist (§ 40 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 Buchstabe a AMG) und von einem Arzt über Wesen, Bedeutung, Risiken und Tragweite der klinischen Prüfung sowie über das Recht, die Teilnahme jederzeit zu beenden, aufgeklärt wurde (§ 40 Absatz 2 AMG). Nachfolgend muss der Teilnehmer seine schriftliche Einwilligung erteilt haben, die jederzeit widerrufen werden kann, ohne dass dem Betroffenen hieraus Nachteile entstehen dürfen (§ 40 Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 Buchstabe b in Verbindung mit Absatz 2 AMG). Einwilligungsfähig sind Personen, die Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten können (§ 40 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 Buchstabe a AMG). Klinische Arzneimittelprüfung mit minderjährigen Probanden sind nach § 40 Absatz 4 AMG nur unter zusätzlichen, engeren Voraussetzungen zulässig. Die Einwilligung ist in diesen Fällen vom gesetzlichen Vertreter abzugeben. Ist der Minderjährige in der Lage, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und seinen Willen hiernach auszurichten, so ist zusätzlich auch seine Einwilligung erforderlich. Die Einwilligung des Probanden nach sachgerechter und vollständiger Aufklärung ist also zwingende Voraussetzung für die klinische Prüfung. 9 „Damit sind Aufklärung und Einwilligung untrennbar miteinander verknüpft (Informed Consent).“10 Das zwingende Erfordernis der Einwilligung des Probanden beruht auf dem verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 GG).11 Die aufgrund des AMG erlassene Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung) 12 enthält in § 3 Absatz 2b der Verordnung eine Begriffsbestimmung der Einwilligung nach Aufklärung, die diesen Vorgaben entspricht: Einwilligung nach Aufklärung ist danach die Entscheidung über die Teilnahme an einer klinischen Prüfung, die in Schriftform abgefasst , datiert und unterschrieben werden muss und nach ordnungsgemäßer Unterrichtung über Wesen, Bedeutung, Tragweite und Risiken der Prüfung und nach Erhalt einer entsprechenden Dokumentation freiwillig von einer Person, die ihre Einwilligung geben kann oder aber, wenn die 9 Rehmann, Arzneimittelgesetz (AMG), 3. Auflage 2008, § 40 Rn. 5. 10 Wachenhausen, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 1. Auflage 2012, § 40 Rn. 49. 11 Magnus, Medizinische Forschung an Kindern, S. 40. 12 GCP-Verordnung vom 9. August 2004 (BGBl. I S. 2081), die zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 19. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2192) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 10 Person hierzu nicht in der Lage ist, von ihrem gesetzlichen Vertreter getroffen wird. Kann die betreffende Person nicht schreiben, so kann in Ausnahmefällen eine mündliche Einwilligung in Anwesenheit von mindestens einem Zeugen erteilt werden. Daneben sieht § 40 Absatz 2a in Verbindung mit Absatz 1 Satz 3 Nr. 3 Buchstabe c AMG eine besondere datenschutzrechtliche Einwilligung vor. Die vom Probanden nach entsprechender Aufklärung schriftlich zu erteilende Einwilligung bezieht sich auf bestimmte Verwendungsarten, bestimmte Verwendungszwecke und bestimmte Empfänger der Daten.13 Eine Weitergabe der Daten ist nur in pseudonymisierter Form vorgesehen. Für klinische Prüfungen an Personen, die an der Krankheit leiden, zu deren Behandlung das zu prüfende Arzneimittel eingesetzt werden soll, ergeben sich aus § 41 AMG teilweise ergänzende, teilweise abweichende Zulässigkeitsvoraussetzungen: Für die Frage der Einwilligung gelten zunächst die oben beschriebenen Grundsätze nach § 40 AMG. Jedoch kann nach § 41 Absatz 1 Satz 2 AMG in Notfallsituationen eine Behandlung auch ohne Einwilligung erfolgen, soweit diese erforderlich ist, um das Leben des Patienten zu retten, sein Leiden zu erleichtern oder seine Gesundheit wiederherzustellen. Die Einwilligung ist in diesen Fällen sobald wie möglich nachzuholen . Außerdem sind nach § 41 Absatz 3 AMG unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen auch Prüfungen an einwilligungsunfähigen Erwachsenen zulässig. Die Einwilligung wird in diesen Fällen durch den gesetzlichen Vertreter oder Bevollmächtigten abgegeben (§ 41 Absatz 3 AMG).14 3.3. Einzelfragen zur geplanten Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln Nach der Vorlage des EK-Berichts fand in den Ausschüssen des EP eine intensive Debatte statt. So enthält der Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europaischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG vom 7. Juni 2013 eine Reihe von Änderungsvorschlägen . Für die Frage, in welchem Rahmen die Standards hinsichtlich der Kriterien für eine Einwilligung beibehalten oder verändert werden sollen, sind insbesondere die Artikel 28 und 29 der Vorlage von Bedeutung.15 13 Wachenhausen, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 1. Auflage 2012, § 40 Rn. 87. 14 Literaturhinweise zum Kapitel 3: Kügel, Wilfried; Müller, Rolf-Georg; Hofmann, Hans-Peter (Hrsg.). Arzneimittelgesetz: AMG. 1. Auflage 2012. München: Verlag C.H Beck. Magnus, Dorothea. Medizinische Forschung an Kindern. 2006. Tübingen: Mohr-Siebeck. Rehmann, Wolfgang A. Arzneimittelgesetz (AMG), Kommentar. 3. Auflage 2008. München: Verlag C.H Beck. 15 Der Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europaischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG (COM(2012)0369 – C7- 0194/2012 – 2012/0192(COD)), Berichterstatter Glenis Willmott vom 7. Juni 2013, ist eingestellt auf : Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 11 3.3.1. Kontext des Art. 28Bericht Für Artikel 28 des Berichts wird ein neuer Absatz 2a) vorgeschlagen. Hierin wird die Möglichkeit geschaffen, dass mit Zustimmung des Probanden, dessen Daten für weitere historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke nutzbar sind. Der Proband hat das Recht, seine Zustimmung zu widerrufen.16 Dieses Verfahren wird als „Broad Consent“ bezeichnet. 3.3.2. Kontext des Artikel 29 Bericht In der ursprünglichen Fassung des Berichts heißt es in Artikel 29 (Einwilligung nach Aufklärung ): „1. Die Einwilligung nach Aufklärung erfolgt in Schriftform, ist datiert und unterzeichnet und wird vom Probanden oder seinem rechtlichen Vertreter freiwillig abgegeben, nachdem er über Wesen, Bedeutung, Tragweite und Risiken der klinischen Prüfung gebührend aufgeklärt worden ist. Sie wird in geeigneter Weise dokumentiert. Ist der Proband nicht in der Lage, seine Einwilligung schriftlich zu erteilen, so kann in Ausnahmefällen eine vor mindestens einem unparteiischen Zeugen mündlich erteilte Einwilligung ausreichen. Der Proband oder sein rechtlicher Vertreter erhalten eine Ausfertigung des Dokuments, mit dem die Einwilligung nach Aufklärung erteilt wurde. 2. Schriftliche Informationen, die dem Probanden und/oder seinem rechtlichen Vertreter zur Verfügung gestellt werden, um die Einwilligung zu erlangen, müssen knapp, klar, zweckdienlich und für Laien verständlich sein. Sie müssen sowohl medizinische als auch rechtliche Informationen enthalten. Der Proband muss darin von seinem Recht in Kenntnis gesetzt werden, seine Einwilligung jederzeit zu widerrufen. 3. Dem Probanden ist eine Kontaktstelle mitzuteilen, bei der er weitere Informationen einholen kann.“ Der ENVI-Ausschuss schlägt hierzu eine Reihe von Ergänzungen vor. So soll unter anderem ein Absatz 3a hinzugefügt werden. Zur Begründung dieser Ergänzung wird im Dokument 2012/0192(COD) vom 1. März 2013 (Amendment 473, S. 10 f.) darauf verwiesen, dass bei Clusterrandomisierten Studien methodologische Anforderungen einer Einwilligung nach Aufklärung entgegenstehen. Mit der Regelung des Abs. 3a soll daher unter bestimmten Voraussetzungen vom Erfordernis der Einwilligung abgesehen werden können. Seinem Wortlaut nach ist die Regelung des Abs. 3a auf folgende Konstellationen zugeschnitten: Aus methodologischen Gründen ist die Einbeziehung von Kliniken, Gesundheitszentren Kliniken erforderlich, nicht hingegen die Teilnahme von Menschen, es handelt sich um einen „low-risk trial“, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=REPORT&reference=A7-2013-0208&format=PDF&language =EN (Stand 12. August 2013). 16 Bericht, S. 84. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 12 bestimmte Protokollierungspflichten werden eingehalten, eine Ethikkommission wurde eingeschaltet, vor Beginn der Studie ist eine Aufklärung der (potentiellen) Teilnehmer erfolgt. Die nach Art. 29 Abs. 3a Buchstabe e) vorgeschriebene Aufklärung bleibt allerdings in einigen Gesichtspunkten hinter der in Art. 29 Abs. 1 für den „Normalfall“ vorgesehenen Aufklärung zurück.17 In beiden Fällen (Abs. 1 und 3a) muss umfänglich und verständlich („comprehensive and comprehensible“ bzw. „comprehensively and comprehensibly”) über „nature, duration, significance, implications and risks of the clinical trial“ aufgeklärt und „any other relevant information“ gegeben werden. Die Aufklärungspflicht nach Art. 29 Abs. 1 ist zwar insofern umfassender, als zwingend auch eine mündliche Aufklärung vorgesehen und über mögliche Behandlungsalternativen bei Abbruch der Studie zu informieren ist. Der Vergleich des Wortlauts von Art. 29 Abs. 1 und Abs. 3a (jeweils in der Fassung der Amendments) liefert aber zunächst keine Anhaltspunkte dafür, dass Abs. 3a gravierende Abstriche beim Umfang der (allerdings nur schriftlichen) Aufklärung vorsieht, die Teilnehmer sind vor Studienbeginn darauf hingewiesen worden, dass sie ihre Teilnahme jederzeit beenden können, ohne dass ihnen daraus Nachteile erwachsen, der Teilnehmer widerspricht seiner Teilnahme nicht. Die Regelung betrifft also Konstellationen, in denen nach (und trotz) Aufklärung eine Einwilligung für die Studie nicht eingeholt werden kann. Der Wortlaut der Regelung lässt auch erkennen, dass die Teilnehmer die Möglichkeit haben, der Teilnahme zu widersprechen.18 3.3.3. Stellungnahmen zu den im Auftrag aufgeworfenen Fragestellungen 3.3.3.1. Welche wissenschaftlichen Veröffentlichungen stützen die Notwendigkeit von klinischen Arzneimittelprüfungen ohne Informed Consent nach den Vorgaben des Artikel 29 Absatz 3a bzw. mit „Broad Consent“ nach den Vorgaben des Artikel 28 Absatz 2a (Beschluss des ENVI-Ausschusses vom 29. Mai 2013)? Studien, die im Zusammenhang mit klinischen Arzneimittelprüfungen die Notwendigkeit belegen , auf einen Informed Consent unter den im Änderungsantrag § 29 Abs. 3a (neu) des EK-Vorschlags beschriebenen Bedingungen zu verzichten, konnten nach eigener Recherche nicht gefunden werden. Die Ermittlung von Daten für Studien auf der Basis eines möglichen „Broad Consent“ gemäß Artikel Art. 28Abs. 2a des Berichts ist nicht durch spezifische Studienkonstellationen methodisch 17 Verglichen werden hier der Wortlaut der Vorschriften Art. 29 Abs. 1 Satz 1 und Art. 29 Abs. 3a Buchstabe e) jeweils in der Fassung des Dokuments A7-9999/2013 vom 7. Juni 2013. Für Art. 29 Abs. 1 Satz 1 wird die Textfassung des Amendments zu Grunde gelegt, nicht die Fassung des Vorschlages der EU-Kommission. 18 Ergänzend ist auf die Definition des „subjects“ (d. h. des Probanden) in Art. 2 Absatz 2 Nr. 15 hinzuweisen: „'Subject': an individual who freely and voluntarily participates in a clinical trial, either as recipient of an investigational medicinal product or as a control;“ Die Wörter “freely and voluntarily” waren im Vorschlag der EU- Kommission noch nicht enthalten. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 13 begründet, da es sich bei dem „Broad Consent“ nur um die Nutzung von Studienergebnissen handelt , die zuvor in einem anderen Studienkontext ermittelt worden waren. Die Einholung eines „Broad Consent“ ist eine Maßnahme zu einer effektiveren und effizienteren Nutzung erworbener Daten über die konkrete Einzelfallstudie hinaus, wobei eine spezifische Studienkonstellation für eine derartige Datennutzung nicht notwendig erscheint. Allerdings gibt der Teilnehmer einer bestimmten Studie seine erweiterte Einverständniserklärung im Sinne des „Broad Consent“ für die Weiterverwendung seiner Daten, ohne hierbei den Zusammenhang und den Zweck anderer Studien zu kennen. In der Literatur gibt es Hinweise, dass die Weitergabe auf der Basis eines „Broad Consent“ vor allem aus dem Bereich der Forschung mit biologischen Proben vom Menschen diskutiert wird.19 Studien, die die Einholung eines „Broad Consent“ im Zusammenhang mit klinischen Arzneimittelstudien für Notwendig erachten, konnten nicht gefunden werden. Auf Rückfrage teilte die Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes für Evidenzbasierte Medizin (DNEbM), Frau Prof. Meyer, mit, dass auch ihr keine Erkenntnisse darüber vorlägen, dass es im Bereich der Arzneimittelprüfung Konstellationen gibt, die die Einholung eines „Informed Consent“ methodisch ausschließen. Im Zusammenhang mit der Einholung des beschriebenen „Broad Consent“ unterstrich sie, dass möglichen Probanden, die auf Basis eines „Broad Consent“ mit der Weitergabe von Studienergebnissen aus einem anderen Kontext einverstanden sind, mitgeteilt werden müsste, zu welchem wissenschaftlichen Zweck ihre Daten Verwendung finden sollten. Sie sprach sich gegen eine Art Generalvollmacht zu Auswertung einmal aus klinischen Studien gewonnener Daten aus.20 3.3.3.2. Welche Konstellationen klinischer Studien sind denkbar, in denen zwar die umfängliche schriftliche Aufklärung der potentiellen Studienteilnehmer über die klinische Arzneimittelprüfung sowie über ihr Recht, der Teilnahme ggf. auch nach der Randomisierung ) zu widersprechen, durchführbar ist, jedoch die Einholung des Informed Consent aus methodischen Gründen nicht durchführbar sind? Auch hinsichtlich dieser Frage konnten nach eigenen Recherchen keine Studienkonstellationen im Rahmen klinischer Arzneimittelprüfungen gefunden werden, bei denen die Aufklärung eines möglichen Probanden, nicht aber die Einholung einer Einverständniserklärung im Sinne des „Informed Consent“, bedingt durch die spezifische Studienkonstellation möglich beziehungsweise sinnvoll ist. Auch hierzu waren der Vorsitzenden des DNEbM, Prof. Meyer, keine entsprechenden Studienkonstellationen bekannt. 19 Vgl. die unter 5.1 dieser Ausarbeitung genannten Quellen. 20 Gemäß einem Telefonat mit Frau Prof. Meyer am 14. August 2013. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 14 3.3.3.3. Kann die Randomisierung aufrecht erhalten werden, wenn ein potentieller oder ein bereits randomisierter Teilnehmer seiner weiteren Teilnahme widerspricht? Eine Definition des Begriffs Randomisierung in Medizinischen Kontexten bietet Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), einer gemeinsamen Einrichtung der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)“ „Unter ´Randomisierung` versteht man in der Evidenzbasierten Medizin ein Verfahren, das eine zufällige Verteilung der Patienten auf eine Therapie- und eine Kontrollgruppe bewirkt (s. a. randomisierte kontrollierte Studie). Dies kann durch (computergenerierte) Zufallszahlen oder andere Mechanismen erreicht werden. Damit soll sicher gestellt werden, dass alle Teilnehmer die gleiche Chance haben, der einen oder anderen Gruppe zugeordnet zu werden und es wahrscheinlich ist, dass sich (bei ausreichender Studiengröße) bekannte wie unbekannte Risiko- und Prognosefaktoren ausgeglichen auf die beiden Gruppen verteilen. Wenn sich zwischen den beiden Gruppen in den Endpunkten ein Unterschied zeigt, kann dieser tatsächlich der experimentellen Intervention zugeordnet werden.“21 Grundsätzlich ist eine Teilnahme freiwillig und ein Ausstieg auch ohne Angabe von Gründen möglich. Gemäß der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP- Verordnung - GCP-V) zuletzt geändert durch Art. 8 G vom 19. Oktober 2012 müssen wesentliche Unterlagen einer klinischen Prüfung, wozu auch die Prüfbögen (CRF) gehören, mindestens 10 Jahre aufbewahrt werden.22 Der Ausstieg eines Probanden aus einem Randomisierungsprozess im Sinne der ÄZQ-Definition hat nur die Auswirkung, dass die Daten des Probanden ab dem Zeitpunkt des Ausstiegs nicht mehr berücksichtigt werden können. Eine rückwirkende Nichtberücksichtigung bereits in den Randomsierungsprozess eingegangener Daten ist aus methodischen Gründen nicht möglich. Die Vorsitzende des DNEbM, Prof. Meyer, weist darauf hin, dass für die Erstellung einer belastbaren Studie vor dem Hintergrund von Erfahrungswerten vorab jeweils ein Anteil von Probanden kalkuliert wird, die voraussichtlich aus randomisierten Studien aussteigen. Bei der Planung randomisierter Studien wird hinsichtlich der Gesamtzahl der Probanden auch darauf geachtet, dass ein Ausstieg einer bestimmten Anzahl von Probanden die Aussagekraft einer Studie quantitativ nicht gefährden kann.23 21 Nach: ÄZQ, Leitlinien-Glossar, Randomisierung, http://www.leitlinien.de/leitlinienmethodik/leitlinienglossar /glossar/randomisierung (Stand 14. August 2013) unter Berufung auf das Deutsche Netzwerk evidenzbasierter Medizin, http://www.ebm-netzwerk.de/was-ist-ebm/grundbegriffe/glossar (Stand 14. August 2014). 22 Zur Frage des Umgangs mit Daten aus klinischen Studien siehe auch: Deutsche Krankenhausgesellschaft, Aktualisierter DKG-Leitfaden Aufbewahrungspflichten und –fristen von Dokumenten im Krankenhaus, Stand: Mai 2011m, eingestellt auf http://www.dkgev.de/media/file/9599.RS194%E2%80%9311_Anlage.pdf (Stand 14. August 2013). 23 Gemäß Telefonat mit Frau Prof. Meyer vom 14. August 2013. Informationen zum DNEbM auf http://www.ebmnetzwerk .de/wer-wir-sind (Stand 12. August 2014). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 15 3.3.3.4. Sind klinische Arzneimittelprüfungen ohne Einholung des Informed Consent bzw. unter seiner Reduktion auf „Broad Consent“ vereinbar mit der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes? Die Leitlinien zur ärztlichen Ethik setzende Deklaration24 richtet sich an Ärzte und wird darüber hinaus auch von Ethikkommissionen zur Begründung ihrer Entscheidungen herangezogen. Ihnen kommt aber kein völkerrechtlicher oder (primär-)unionsrechtlicher Rechtscharakter zu.25 Gleichwohl setzt die Helsinki-Deklaration international akzeptierte Maßstäbe für die Durchführung von klinischen Arzneimittelstudien. So stellt die Helsinki-Deklaration in Punkt 6 fest: „In der medizinischen Forschung am Menschen muss das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang vor allen anderen Interessen haben.“ Punkt 11 konkretisiert diese Verpflichtung: „Es die Pflicht des Arztes, der sich an medizinischer Forschung beteiligt, das Leben, die Gesundheit, die Würde, die Integrität, das Selbstbestimmungsrecht, die Privatsphäre und die Vertraulichkeit persönlicher Informationen der Versuchsteilnehmer zu schützen.“ Einschlägig für die Frage der Notwendigkeit der Einholung eines „Informed Consent“ ist Punkt 24: „Bei der medizinischen Forschung an einwilligungsfähigen Personen muss jede potentielle Versuchsperson angemessen über die Ziele, Methoden, Geldquellen, eventuellen Interessenkonflikte , institutionellen Verbindungen des Forschers, den erwarteten Nutzen und die potentiellen Risiken der Studie, möglicherweise damit verbundene Beschwerden sowie alle anderen relevanten Aspekte der Studie informiert (aufgeklärt) werden. Die potentielle Versuchsperson muss über das Recht informiert (aufgeklärt) werden, die Teilnahme an der Studie zu verweigern oder eine einmal gegebene Einwilligung jederzeit zu widerrufen, ohne dass ihr irgendwelche Nachteile entstehen . Besondere Beachtung soll dem spezifischen Informationsbedarf der individuellen potentiellen Versuchspersonen sowie den für die Übermittlung der Informationen verwendeten Methoden geschenkt werden. Nachdem er sich vergewissert hat, dass die potentielle Versuchsperson diese Informationen verstanden hat, hat der Arzt oder eine andere angemessen qualifizierte Person die freiwillige, Informierte Einwilligung (Einwilligung nach Aufklärung ‐ „Informed Consent“) der Versuchsperson – vorzugsweise in schriftlicher Form – einzuholen. Falls die Einwilligung nicht in schriftlicher Form eingeholt werden kann, muss die nichtschriftliche Einwilligung formell dokumentiert und bezeugt werden.“ Eine Reduktion oder ein Verzicht auf den „Informed consent“ sind in Punkt 24 der Helsinki-Deklaration nicht vorgesehen. Punkt 25 der Helsinki-Deklaration bezieht sich auf Forschungssituationen, in denen es nicht möglich oder erschwert ist, Einwilligungen potentieller Probanden einzuholen: „Bei medizinischer Forschung, bei der identifizierbare menschliche Materialien oder Daten verwendet werden, müssen Ärzte für die Sammlung, Analyse, Lagerung und/oder Wiederverwendung normalerweise eine Einwilligung einholen. In manchen Situationen kann es sich als unmöglich oder nicht prak- 24 Die aktuelle Version der Helsinki-Deklaration in deutscher Sprache ist eingestellt auf: http://www.bundesaerztekammer .de/downloads/deklHelsinki2008.pdf (Stand 8. August 2013). 25 Richters, Christoph; Bussar-Maatz, Roswitha, Deutsches Ärzteblatt, Standards ärztlicher Ethik, 18. März 2005, Heft 11, A 730; abrufbar unter http://data.aerzteblatt.org/pdf/102/11/a730.pdf. (Stand 12. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 16 tikabel erweisen, eine Einwilligung für derartige Forschung zu erhalten, oder dies würde die Gültigkeit der Forschung gefährden. In solchen Situationen darf die Forschung erst nach Beurteilung und Zustimmung einer Forschungsethik‐Kommission durchgeführt werden.“ In der Literatur wird als Kontext des Punkt 25 der Helsinki-Deklaration der Umgang mit identifizierbaren Körpermaterialien von Menschen von Menschen diskutiert.26 Ziel sei es demnach, Forschern den Umgang mit gelagerten Präparaten und den mit diesen im Zusammenhang stehenden Daten zu erleichtern, auch wenn die Einholung eines „Informed Consent“ nicht oder nicht mehr möglich ist. Allerdings ist diese gängige Interpretation nicht explizit in Punkt 25 angeführt. Der Punkt 25 wurde erst im Jahr 2008 als zusätzlicher Punkt in die Deklaration aufgenommen. Gleichwohl erscheint es fraglich, ob gegebenenfalls der Punkt 25 vor diesem Hintergrund in erster Linie für die Neufassung des Artikels 28, Abs. 2a des Berichts aber auch für den Artikel 29 Absatz 3a des Berichts rechtfertigend herangezogen werden kann. 3.3.4. Positionen des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) In Deutschland wird die Diskussion zu dem Bericht insbesondere mit den vorgeschlagenen Änderungen zu Artikel 29 durchweg kritisch geführt. Beispiele sind – neben dem Beschluss des Deutschen Bundestages – unter anderem die Stellungnahmen der Bundesärztekammer27 oder des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen.28 Auch die Hauptgeschäftsführerin des vfa, Birgit Fischer, unterstreicht diese kritische Haltung in einer Stellungnahme vom 16. Juli 2013.29 Grundsätzlich begrüßt Birgit Fischer den Ansatz, die Rahmenbedingungen für die Durchführung klinischer Tests auf europäischer Ebene zu standardisieren. Unter dem Hinweis, dass Deutschland nach den USA das Land mit den meisten durchgeführten klinischen Studien sei, wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die geplante Standardisierung auch zu einer Erhöhung der Studienzahlen führen werde. Sie erläutert, dass für den vfa ausschließlich die ICH-GCP-Leitlinien Grundlage für die Durchführung einer Studie sei. Eine Absenkung dieser international akzeptierten und angewandten Standards in Europa hätte negative Folgen für die Auftragsvergabe von an europäische Forschungsinstitute , da die Ergebnisse international nicht anerkannt werden würde. Dies betreffe insbesondere 26 Vergl.: Wiesing, Urban, Parsa-Parsi, Ramin W., Deklaration von Helsinki: Neustes Revision, in Deutsches Ärzteblatt , Ausg. 196(11), 2009, eingestellt auf: http://www.aerzteblatt.de/archiv/63784/Deklaration-von-Helsinki- Neueste-Revision (Stand 19. August 2013). 27 Die Stellungnahme der Bundesärztekammer vom 31. Januar 2013 ist eingestellt auf: http://www.bundesaerztekammer .de/page.asp?his=0.5.33.11134 (Stand 19. August 2013). 28 Die Stellungnahme des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen vom 21. August 2012 ist eingestellt auf: http://www.ak-med-ethik-komm.de/documents/StellungnahmeEUVerordnungklinischePruefungen.pdf (Stand 19. August 2013). 29 Fischer, Birgit, Kommende EU-Verordnung zu klinischen Studien: Was sagt der vfa?, 16. Juli 2013, eingestellt auf http://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/so-funktioniert-pharmaforschung/eu-verordnung-zu-klinischen -studien.html (Stand 12. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 17 die zwingend notwendige Einholung eines „Informed Consent“ als Grundlage einer Studie. Daher hielte der vfa es für sinnvoller, keine Ausnahmeregelungen zum „Informed Consent“ in den Beschluss der EU aufzunehmen. Selbst wenn die EU die Möglichkeit schaffte, in bestimmten Fällen klinischen Arzneimittelstudien ohne die Einholung eines „Informed Consent“ durchzuführen , würde der vfa aus diesen grundsätzlichen Überlegungen heraus hiervon keinen Gebrauch machen. 3.4. Ausgewählte wissenschaftliche Postionen zu den Artikeln 28 und 29 des Berichts Wie beschrieben, konnten im Zusammenhang mit den in den Kapiteln 4.1 und 4.2. aufgeworfenen Fragen keine Konstellationen gefunden werden, die methodisch die Nicht-Einholung eines „Informed Consent“ erforderlich machen. Hinter der Diskussion um die Frage, unter welchen Bedingungen auf die Einholung eines „Informed Consent“ insbesondere im Zusammenhang mit klinischen Studien im Bereich der Arzneimittelforschung und –genehmigung verzichtet werden kann, steht die normative Abwägung, ob der Aspekt der Selbstbestimmung des Probanden höher bewertet werden soll als ein möglicher medizinischer Nutzen, der bei einer Nichteinholung eines „Informed Consent“ erzielbar wäre. Im Folgenden wird eine Reihe von Positionen dargestellt, die zwar nicht für den konkreten Fall eine klinischen Arzneimittelprüfung, wohl aber für eine grundsätzliche Erörterung von Belang sind. 3.4.1. Positionen im Zusammenhang mit Art. 28Bericht Die vorgeschlagene Regelung zu Artikel 28, Abs. 2a soll Probanden die Möglichkeit eröffnen, bei Abgabe der Einwilligungserklärung für die Teilnahme an der Studie der behandelnden Einrichtung zugleich eine erweiterte Verwendung der gewonnenen Daten zu gestatten. Diese erweiterte Einwilligung soll sich auf die Verwendung der Daten für historische oder statistische Zwecke oder für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung erstrecken und ist jederzeit widerruflich. Die Frage eines „Broad Consent“ wird insbesondere für die Einwilligung in die Forschung mit biologischen Proben vom Menschen (z. B. Blut-, Gewebeproben) diskutiert. Diese Debatte hat auch Eingang in den Leitfaden für Mitglieder Medizinischer Ethikkommissionen30 gefunden: „Der medizinischen Ethikkommission muss der Umfang der eingeholten Einwilligung klar sein, der sich im Allgemeinen auf das jeweilige Forschungsprojekt beschränkt. Wenn eine spätere Verwendung der Forschungsdaten oder der biologischen Proben geplant ist, empfiehlt es sich für die Forscher, diese Möglichkeit bereits im ursprünglichen Einwilligungsverfahren zu 30 Leitfaden für Mitglieder Medizinischer Ethikkommissionen des Lenkungsausschusses für Bioethik (CDBI) des Europarates vom 3. Dezember 2010. Online abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dg3/healthbioethic/activities /02_biomedical_research_en/guide/Guide_DE.pdf (Stand 15. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 18 berücksichtigen. Eine uneingeschränkte ,Blanko-Einwilligung‘ für zukünftige Forschungsarbeiten sollte jedoch vermieden werden.“31 Der „Mustertext für die Information und -Einwilligung zur Durchführung genetischer Analysen von Proben volljähriger einwilligungsfähiger Personen“ des Arbeitskreises Medizinischer Ethik- Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e. V. vom 27.11.201032 enthält als mögliche Option eine Einwilligung mit folgendem Text: „Ich bin ausdrücklich damit einverstanden, dass die Zwecke wissenschaftlich-medizinischer Forschung, für die meine Probe verwendet wird, heute noch nicht eingegrenzt werden.“ Die Ethik-Kommission der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg veröffentlicht auf ihrer Webseite einen „Hinweis zur Reichweite der Einwilligungserklärung“:33 „Wenn die Spender über die Unsicherheit der konkreten zukünftigen Verwendungen der Proben bzw. der Daten aufgeklärt wurden und sie sich über die Tragweite ihrer Entscheidung im Klaren sind, wird auch eine globale Einwilligung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts für legitim erachtet.“ Dem stehen Äußerungen gegenüber, die aus datenschutzrechtlicher Sicht die Möglichkeit einer „Blanko-Einwilligung“ verneinen: „Eine Einwilligung, bei der der Betroffene nicht erkennen kann, zu welchen Forschungsvorhaben seine Daten verwendet werden, ist unwirksam (vgl. z.B. § 6 Abs. 4 BlnDSG, § 7 Abs. 2 HDSG, § 4 Abs. 2 BDSG). Die Einwilligungserklärung muss den konkreten Verwendungszweck – das vorgesehene Forschungsvorhaben – klarstellen. Unzulässig wäre es, auf eine unbegrenzte Anzahl künftiger Forschungsvorhaben oder auf nicht konkretisierte Forschungsvorhaben, über die sich der Betroffene noch keine Vorstellung machen kann, zu verweisen […].“34 31 a.a.O., S. 40. 32 Online abrufbar unter: http://www.ak-med-ethik-komm.de/formulare.html (Stand 19. August 2013). 33 Nach: http://www.ethik.med.uni-erlangen.de/wegweiser_zur_antragstellung/sonstige_biomedizinische_forschungsvorhaben /aufklaerung_und_einwilligungserklaerung.shtml (Stand 19. August 2013). 34 Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit (Hrsg.): Datenschutz in Wissenschaft und Forschung , 3. Auflage, Dezember 2002. Der Deutsche Ethikrat weist auf erhebliche Differenzen zwischen Ethikkommissionen und Datenschutzbeauftragten in der Frage hin, wie konkret sich die vom Spender erteilte Einwilligung auf die spätere Verwendung des Proben- und Datenmaterials beziehen müsse. Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Humanbiobanken für die Forschung – Stellungnahme, 2010, S. 19. Online abrufbar unter: http://www.ethikrat .org/dateien/pdf/stellungnahme-humanbiobanken-fuer-die-forschung.pdf (Stand 19. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 19 3.4.2. Positionen im Zusammenhang mit Artikel 29 des Berichts 3.4.2.1. Das “Ottawa Statement on the Ethical Design and Conduct of Cluster Randomized Trials ” Eine Gruppe überwiegend kanadischer Medizin- und Philosophiewissenschaftler ging der Frage nach, welche ethischen Standards für die Durchführung von randomisierten kontrollierten Gruppenstudien (Cluster-Studien) insbesondere im Bereich der Gesundheitsforschung gelten sollen.35 Das Statement ist auch für die Frage von Bedeutung, in welchem Maße die Probanden eine Einverständniserklärung im Sinne eines „Informed Consent“ abgeben sollten. Selbst unter den besonderen Bedingungen einer Cluster-Studie kommen die Autoren hier zu dem Schluss, dass eine Einverständniserklärung von den Probanden eingeholt werden muss.36 Allerdings werden keine konkreten Fälle genannt, in denen ein Bezug zu klinischen Arzneimittelprüfungen hergestellt wird. Der Bericht besteht im Wesentlichen aus 15 Empfehlungen. Abschließend weisen die Autoren auf die Notwendigkeit hin, die Erklärung ständig und zeitnah zu aktualisieren.37 Die Empfehlungen sind im Folgenden zusammengefasst: 1. Verglichen mit randomisierten Individualstudien ziehen die besagten Gruppenstudien statistische und methodische Schwierigkeiten nach sich. Daher ist es unerlässlich, sie vollumfänglich zu begründen und die gewonnenen Messdaten präzise statistisch auszuwerten und darzustellen. 2. Sofern Menschen als Probanden einer Gruppenstudie fungieren, ist es mit Blick auf deren Gesundheit und Willensfreiheit essentiell, eine Ethikkommission über die Durchführung der Studie entscheiden und wachen zu lassen. Dies gilt nachdrücklich für besonders schutzbedürftige Personengruppen. 3. Es muss deutlich sein, wer genau die Teilnehmer der Studien sind. Hierfür dienen einige Identifizierungskriterien, die jeweils alternativ vorliegen können: Teilnehmer ist, wer der intendierte Empfänger eines experimentellen Eingriffs ist (Hauptbeispiel: Arzneimitteltests ), wessen Umwelt durch die Studie gezielt verändert wird oder wer gegenüber einem Forscher Auskünfte gibt oder ihm einen konkludenten Schluss auf private Informationen ermöglicht. 4. Zur Sicherung der Autonomie eines jeden Teilnehmers, müssen Einverständniserklärungen eingeholt werden. Erst bei deren Vorliegen dürfen die experimentellen Vorgänge star- 35 Unter randomisierten Cluster-Studien versteht man Verfahren, bei der ganze Gruppenteile - nicht jeweils einzelne Individuen - nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Behandlungsmodalitäten ausgesetzt werden, wobei die erzielten Ergebnisse dann für jeden einzelnen Teilnehmer bemessen werden. Diese Studien finden auch im Bereich der Gesundheitsforschung Anwendung. 36 Siehe Punkt 4. der folgenden Auflistung. 37 Die Erklärung ist eingestellt auf: http://www.plosmedicine.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal .pmed.1001346 (Stand 8. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 20 ten. Die potenziellen Teilnehmer sind aufzuklären über den Zweck der Studie, Datenschutz , Vorteile und vor allem mögliche Risiken. Denkbar ist indes ein von der Ethikkommission getragener Verzicht hierauf (s. u. 6.). 5. Wenn die Rekrutierung von Probanden erst nach der Gruppenbildung möglich ist, sind Studienleiter angehalten, die Einverständniserklärung so zeitnah wie möglich einzuholen. Dies muss gleich nach der Identifizierung als Teilnehmer und jedenfalls noch vor ersten Maßnahmen erfolgen, damit die in Rede stehenden Personen über die Studienteilnahme noch autonom entscheiden können. Nachteilig kann sich hier eine gewisse Voreingenommenheit der zugeteilten Probanden auswirken. 6. Die Ethikkommission kann sich einzelfallabhängig dafür aussprechen, auf Einwilligungserklärungen (zum Teil) zu verzichten, wenn die Studie mit dem (vollen) Einwilligungserfordernis nicht durchführbar ist und die von der Studie ausgehenden Gefahren unterhalb einer alltäglichen Bagatellgrenze liegen. Die Beweislast tragen die Initiatoren der Studie. Relevante Faktoren sind etwa der Umfang der Studie, die Komplexität der Aufklärung und die infrastrukturellen und finanziellen Möglichkeiten der Forscher. Auch kann die Aufklärung mehr oder weniger detailliert separat für einzelne Studienvorgänge erfolgen. Sofern ein Verzicht auf individuelle Einwilligungen von der Ethikkommission gebilligt wird, mag es sinnvoll sein, öffentlich zugängliche Informationen allgemein zu verbreiten. 7. Auch von an der Studie mitwirkenden Dienstleistenden und Fachleuten muss eine Einverständniserklärung grundsätzlich erteilt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob etwa Medizinern eine moralische Verpflichtung zur Teilnahme an Gesundheitsstudien trifft. 8. Interessenvertretern der Probanden innerhalb der Testgruppen soll keine Kompetenz zugewiesen werden, Einverständniserklärungen stellvertretend zu erteilen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der höchstpersönlichen Zustimmung kommt nur mangels Einwilligungsfähigkeit in Betracht, sofern deren Mitwirkung als zulässig erachtet wird (s.u. 14.). 9. Interessenvertretern kommt die Aufgabe zu, sich im Rahmen der Studie gegenüber den Studienverantwortlichen für die Belange der Teilnehmer einzusetzen. Sie müssen hierfür ausreichend legitimiert sein: Neben ihrer formalen Funktion einschließlich der immanenten Befugnisse müssen sie in dieser Rolle auch von der vertretenen Gruppe anerkannt werden. Bei komplexen Experimenten mit vielschichtiger Gruppenbildung sind Konflikte mehrere Interessenvertreter untereinander vorstellbar. Forscher sollten größten Wert darauf legen, dass kein einzelner Gruppenvorsteher die Studienteilnahme beendet, da dies einschneidende Konsequenzen für die Verwertbarkeit der Studienergebnisse nach sich ziehen würde. 10. Die Interessenvertreter sollen weiterhin als Mittler zwischen Forschern und Probanden auftreten. So können sie darauf hinwirken, den Informationsfluss der Forscher hin zu den Probanden zu fördern, insbesondere, wenn im Zuge einer Studienmaßnahme berechtigte Interessen der Teilnehmer tangiert werden können. 11. Jede einzelne Maßnahme der Studie muss gerechtfertigt sein. Das heißt auch, dass eine Beurteilung der jeweils wahrscheinlich eintretenden Vor- und Nachteile einer Maßnahme transparent geliefert werden muss und sich mit Blick auf den Zweck einer Studie vertreten lässt. Zur Einschätzung dieser Fragen ist die Ethikkommission berufen. Was die Abwägung von Vor- und Nachteilen angeht, sind Kontroversen aufgrund unterschiedlicher Prognosen regelmäßig vorprogrammiert. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 21 12. Die Studienleiter sind auch angehalten, die Wahl der Kontrollbedingungen zu begründen, es sei denn es handelt sich um sozial-adäquate oder einflusslose Maßnahmen. Gleichwohl trifft die Forscher eine allgemeine Schutzpflicht hinsichtlich ihrer Probanden. Über die konkrete Bereitstellung von Schutzmaßnahmen entscheiden Forscher und Ethikkommission gemeinsam. 13. Die Forscher haben dafür Sorge zu tragen, dass sich die Art und Weise der Datengewinnung einer Studie rechtfertigen lässt. Damit zusammenhängende Gefahren müssen minimiert werden und in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Studie stehen. 14. Die jeweiligen Gruppen einer Studie können einige schutzbedürftige Personen umfassen. Hierzu zählen Kinder, nicht einwilligungsfähige Personen, mit Blick auf das konkrete Experiment risikoanfällige Personen und von den Studieninitiatoren sozial abhängige Personen . Wichtig ist, dass Forscher und die Ethikkommission über zusätzliche Schutzmechanismen für besagte Teilnehmer beraten. Die Mitwirkung solcher Personen soll in die allgemeine Kalkulation über mögliche Vor- und Nachteile der Studie einfließen. 15. Sofern Personen bezüglich der Studienteilnahme wegen ihrer hierarchischen Stellung innerhalb einer Gruppe nur eingeschränkt freiverantwortlich entscheiden könnten, muss gewährleistet sein, dass sie ihre Einwilligung unter speziellen angemessenen Bedingungen erteilen können. 3.4.2.2. Der Vorschlag der Einholung eines „Postponed Consent“ unter besonderen Bedingungen Zu ethischen Fragen einer möglichen methodischen Notwendigkeit des Verzichts auf die Einholung eines „Informed Consent“ nimmt Prof. Anhus J. Dawson in einem Artikel Stellung.38 Nach seiner Auffassung existieren Konstellationen in medizinischen Studien, in denen die Einholung eines "Informed Consent" zu einer Verfälschung des Ergebnisses führen könne, da die Information eines Patienten gegebenenfalls zu veränderten Verhaltensweisen führte. Er wirft hierbei die Frage auf, ob es ethisch vertretbar sei, auf medizinische Erkenntnisse zu verzichten, die möglicherweise zum medizinischen Fortschritt beitragen und somit unmittelbar zu einer Hilfe für Patienten führen können. Er schlägt daher für bestimmte Studienkonstellationen einen modifizierten Informed Consent vor, bei dem die Probanden nachträglich darüber informiert werden, dass er an einer Studie teilgenommen habe („Postponed Consent“). Allerdings ist aus dem Artikel nicht ersichtlich , ob sein Vorschlag auch für klinische Arzneimittelprüfungen Anwendung finden soll. 38 Dawson, Angus J, Commentary: Methodological reasons for not gaining prior informed consent are sometimes justified, erschienen in British Medical Journal 21. Juni 2004, eingestellt auf: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC449814/ (Stand 12. August 2013). Angus J Dawson ist Professor für Ethik im Bereich Öffentlicher Gesundheit, Ethik, Geschichte & Gesellschaft an der Universitäöt Birmingham, Großbritannien. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 22 3.4.2.3. Probleme der Einhaltung eines „Informed Consent“ in bestimmten Cluster-randomisierten Studienkonstellationen 1. In der Untersuchung „Participant Informed Consent in Cluster Randomized Trials: Review”39 von Bruno Giraudeau, Agnès Caille, Amélie Le Gouge und Philippe Ravaud werden bereits durchgeführte Cluster-randomisierte Studien (“cluster randomized trials (CRT)“) u. a. daraufhin geprüft, inwieweit Einwilligungen der Teilnehmer vorlagen. Die Autoren führen einleitend aus, dass bei CRTs verschiedene Gesichtspunkte die Einhaltung der Grundsätze eines „Informed Consent“ erschweren können:40 1. Es kommen zwei Ebenen für die Einholung der Einwilligung in Betracht, die Ebene der individuellen Teilnehmer und die der jeweiligen Vertreter des teilnehmenden Clusters (z. B. Krankenhaus). 2. Bei großen Clustern können sich logistische Probleme ergeben. 3. Die umfassende Aufklärung der Teilnehmer kann den Wert der Studienergebnisse beeinträchtigen . 4. Bei manchen Studien (z. B. die Fluorisierung des Trinkwassers oder die Anwendung ITgestützter Tools bei der Arzneimittelverschreibung durch den Arzt) haben die einzelnen Teilnehmer als Mitglied eines Clusters keine Möglichkeit des Widerspruchs („no opt-out option“). Im Hinblick auf Art. 29 Abs. 3a des Verordnungsvorschlags ist bemerkenswert, dass die in Art. 29 Abs. 3a zu Grunde gelegte Konstellation sich nicht mit den hier geltend gemachten Gesichtspunkten deckt. So bezieht sich einer dieser Gesichtspunkte (Nr. 3.) auf den Umfang der Aufklärung . Der Textvorschlag des Abs. 3a in Buchstabe e) lässt aber nicht erkennen, dass wesentliche Einschränkungen des Umfangs der Aufklärungspflicht geplant sind.41 Ein weiterer Gesichtspunkt (Nr. 4.) betrifft Studien, bei denen keine Möglichkeit des Widerspruchs besteht. Der Wortlaut von Art. 29 Abs. 3a setzt hingegen das Widerspruchsrecht voraus. Die Autoren der Untersuchung haben 173 im Jahr 2008 in der internationalen Datenbank MED- LINE (Medical Literature Analysis and Retrieval System Online) nachgewiesene CRTs u. a. daraufhin geprüft, ob eine informierte Einwilligung der Teilnehmer eingeholt wurde. Die CRTs betrafen schwerpunktmäßig den Bereich Prävention/Gesundheitsförderung, aber auch die Qualität der Betreuung, die Therapie und die Diagnose. 39 Die Studie ist eingestellt auf http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0040436 (Stand 14. August 2013). 40 Siehe S. 2 der Studie. 41 Vgl. unter 4.2 dieser Ausarbeitung. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 23 Die in den CRTs angewendeten Behandlungen oder Maßnahme (medikamentöse Therapie, chirurgische Maßnahme, Informationskampagnen, organisatorische Maßnahmen, etc.), deren Wirkungen jeweils untersucht werden sollen, werden als „Intervention“ bezeichnet. Die Interventionen der 173 CRTs bestanden häufig in Trainingsmaßnahmen für Gesundheitspersonal und Programmen zur Verhaltensänderung, in 20 CRTs aber auch in „Pharmacological treatment, supplementation , vaccine“ (Pharmakologische Behandlung / Ergänzungsmittel / Impfstoffe).42 In welchem Umfang diese 20 CRTs als Arzneimittelprüfungen im Sinne des EU-Rechts anzusehen wären , lässt sich aus der Untersuchung nicht ersehen. „Informed Consent“ der Teilnehmer lag in ca. 95 Prozent der CRTs vor, wenn es sich um eine Intervention auf der Ebene des individuellen Teilnehmers handelte, bei Interventionen auf Ebene des Clusters allerdings nur in ca. 70 Prozent der Fälle.43 Hinweise auf konkrete Beispiele sind der Untersuchung nicht zu entnehmen. Bei Zugrundelegung der genannten Zahlen ist zu erkennen, dass bei CRTs nur in einem geringen Prozentteil der Fälle auf „Informed Consent“ verzichtet wird. Auch haben CRTs überwiegend Maßnahmen außerhalb der Arzneimittelprüfung zum Gegenstand. 2. Der Leitfaden für Mitglieder Medizinischer Ethikkommissionen44 des Lenkungsausschusses für Bioethik des Europarates vom Dezember 2010 erwähnt CRTs zur Prüfung neuer Impfstofftypen. Die fraglichen Textpassagen werden nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben: „CRTs sind darüber hinaus für Forschungsprojekte in Entwicklungsländern wichtig, wenn z. B. die Wirkung eines neuen Impfstofftyps gegen eine Infektionskrankheit untersucht werden soll. Da Impfstoffe einen direkten Einfluss auf die Anfälligkeit von Personen gegenüber einer Infektion haben sowie einen indirekten Einfluss auf das Risiko einer Übertragung der Infektion auf andere, wird der neue Impfstoff in einigen Gemeinden verabreicht und die Ergebnisse werden mit den Ergebnissen aus Gemeinden verglichen, die den Impfstoff nicht erhalten haben. […] Die von der medizinischen Ethikkommission zu bedenkenden ethischen Fragen betreffen i. die Zustimmung der Cluster zur Randomisierung und ii. die Einwilligung der Einzelpersonen in die Intervention. So können z. B. beim Mammographie-Screening die Frauen nicht einzeln um ihre Einwilligung in die Randomisierung ihres Wohngebiets in die gescreente bzw. nicht-gescreente Gruppe gebeten werden. Wenn sie jedoch der gescreenten Gruppe zugeordnet wurden, müssen sie um ihre Einwilligung in die Mammographie gebeten werden. Informationen zur Studie müssen die Frauen in beiden Gruppen erhalten. Ähnlich können bei dem Impfstoffbeispiel die Einzelpersonen nicht individuell um die Zustimmung zur Randomisierung ihres Distrikts gebeten werden, müssen aber einzeln einwilligen, den Impfstoff verabreicht zu erhalten.“ Hier wird also davon ausgegangen, dass nach geltenden Standards bei CRTs für die konkrete Intervention (Impfung etc.) eine Einwilligung nach Aufklärung vorliegen muss. Dieses Verfahren 42 Table 1 der Studie, S. 4. 43 Table 2 der Studie, S. 5 44 Online abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dg3/healthbioethic/activities/02_biomedical_research _en/guide/Guide_DE.pdf (Stand 16. August 2013). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 24 (Einwilligung in die individuelle Behandlung) wurde auch bei der Vergabe von Nahrungsergänzungsmitteln an Frauen im gebärfähigen Alter in Nepal angewendet.45 3. Der Beitrag “Cluster randomised trials - Methodological and ethical considerations”46 aus dem November 2002 erwähnt als Beispiele einer Cluster-randomisierten Studie mit fehlender Einwilligungsmöglichkeit des Individuums die Fluorisierung des Leitungswassers sowie die Präsentation von Informationsvideos in Warteräumen von Arztpraxen. In diesen Fällen gebe es keine individuelle Entscheidung über die Teilnahme. Wichtig sei daher die Information der Teilnehmer, um ihnen zu ermöglichen, die Intervention zu vermeiden (z. B. statt des Konsums fluorisierten Leitungswassers der Kauf von Trinkwasser in Flaschen). 4. Überblick über Teil 2 Die Rechtmäßigkeitsprüfungen als Gegenstand des zweiten Teils der Ausarbeitung betreffen die beiden durch den ENVI-Ausschuss vorgeschlagenen Ergänzungen47 des Kommissionsvorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG48 in Art. 29 Abs. 3a49 (siehe unter 5.) sowie in Art. 28 Abs. 2a50 (siehe unter 6. – im Folgenden jeweils beide in Verbindung mit „ENVI-Beschluss“ zitiert). Anschließend wird das Verhältnis dieser beiden legislativen Ergänzungen zu zwei sachlich verwandten Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Kommissionvorschlag für die sog. Datenschutz -Grundverordnung51 (im Folgenden: KomDatSchGrund-VO) erörtert (siehe unter 7.). Auch 45 Vg. Taljaard, Monica; Weijer, Charles; et al.: Ethical and policy issues in cluster randomized trials: rationale and design of a mixed methods research study, 2009. Online abrufbar unter: http://www.trialsjournal.com/content /10/1/61 (Stand 19. August 2013). 46 Medical Research Council (MRC)(Hrsg.): Cluster randomised trials: Methodological and ethical considerations, November 2002. Online abrufbar unter: http://www.mrc.ac.uk/Utilities/Documentrecord/index .htm?d=MRC002406 (Stand 19. August 2013). 47 Vgl. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (engl. ENVI) über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, A7-0208/2013 (im Folgenden: ENVI- Bericht) online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+RE- PORT+A7-2013-0208+0+DOC+PDF+V0//DE – letztmaliger Abruf am 16.03.2016). 48 KOM(2012) 369 endg. (online abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/files/clinicaltrials/2012_07/proposal /2012_07_proposal_de.pdf – letztmaliger Abruf am 16.03.16). Im Folgenden: Kommissionsvorschlag 49 Ergänzung 167, ENVI-Bericht, S. 94 (siehe Fn. 47). 50 Ergänzung 162, ENVI-Bericht, S. 90 (siehe Fn. 47). 51 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates für eine Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz -Grundverordnung), KOM(2012) 11 endg. (online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/Lex UriServ.do?uri=COM:2012:0011:FIN:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 16.03.16). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 25 bei diesen beiden Vorschriften handelt es sich um zwei legislative Ergänzungen, die im laufenden Rechtssetzungsverfahren durch den federführenden LIBE-Ausschuss vorgeschlagen werden sollen (im Folgenden: LIBE-Vorschlag). 52 5. Teil 2: Die Rechtmäßigkeit klinischer Arzneimittelprüfungen ohne Einholung des informed consent nach Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss Die Rechtmäßigkeit des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss (zum genauen Inhalt siehe 5.1.) wird im Folgenden gemäß der Vorgaben im Auftrag im Lichte des Art. 3 GRCh (siehe unter 5.2.), der Richtlinie 2001/20/EG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln53 (im Folgenden: RL 2001/20/EG, siehe unter 5.3.) und schließlich der HCP-GCP-Leitlinie (siehe unter 5.4.) untersucht. 5.1. Zu Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss Wie oben im ersten Teil dargestellt, sieht Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss für eine besondere Art der klinischen Arzneimittelprüfung (sog. Cluster-Studien mit zusätzlich geringem Risiko [sog. low-risk-tial]) eine Abweichung von dem bis dahin in Art. 29 Abs. 1 und 2 Kommissionsvorschlag geregelten informed consent vor.54 Diese Abweichung kommt hinsichtlich der Einwilligungsebene im Wesentlichen dadurch zum Ausdruck, dass auf die ausdrückliche Äußerung einer Einwilligung in schriftlicher Form einschließlich Unterzeichnung und Datierung verzichtet wird. An ihre Stelle setzt Art. 29 Abs. 3a lit. g) ENVI-Beschluss eine Regelung, wonach für eine Teilnahme bereits genügt, dass (nach Aufklärung ) keine Einwände erhoben werden, d.h. kein Widerspruch geäußert wird. Während im Grundfall des informed consent somit ein positives Tun in Gestalt der Einwilligung für die Teilnahme erforderlich ist, soll diese bei der Ausnahme nach Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss bereits dann erfolgen, wenn keine Einwände erhoben werden. Hier muss also durch positives Tun ein Widerspruch formuliert werden, um nicht an der Prüfung teilzunehmen. Zu den (geringen) Unterschieden hinsichtlich der Aufklärungsebene, siehe oben im ersten Teil unter 3.3.2.55 52 Hierbei handel es sich noch nicht um einen endgültig beschlossenen Vorschlag des Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (engl. LIBE), sondern um eine Zusammenstellung der eingebrachten Ergänzungsvorschläge , auf die sich der Berichterstatter und die Schattenberichterstatter im Ausschuss verständigen konnten . Das entsprechende Dokument wurde dem Verfasser von Seiten des Auftraggebers elektronisch zur Verfügung gestellt. 53 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.April 2001, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2001L0020:20090807:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 16.03.16. 54 Siehe hierzu oben in Teil 1 unter 3.3.2.,S. 11. 55 Siehe S. 11. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 26 Begründet wird die Ausnahme in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss wie folgt: „Die klinischen Prüfungen, die in Clustern durchgeführt werden, unterliegen besonderen methodologischen Anforderungen, die mit der individuellen Information und der Einholung der Einwilligung nicht vereinbar sind. Prüfungen dieser Art sind jedoch unverzichtbar für die öffentliche Gesundheit (zum Beispiel zur Bekämpfung von Nosokomialinfektionen mit multiresistenten Erregern durch die selektive Darm-Dekontamination in durch Cluster randomisierten Krankenhäusern).“56 5.2. Vereinbarkeit mit Art. 3 GRCh Die Ausnahmeregelung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss zum informed consent könnte gegen Art. 3 GRCh verstoßen. Art. 3 Abs. 1 GRCh schützt unter anderem das Recht auf körperliche Unversehrtheit . Ergänzt wird dieses Grundrecht nach Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh um die im Rahmen der Medizin und Biologie zu beachtende freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend der gesetzlich festgelegten Einzelheiten. Als Recht auf Unversehrtheit war dieses Grundrecht auch schon vor Verbindlichkeit der Grundrechte -Charta in der Rechtsprechung des (Europäischen) Gerichtshofs als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt.57 In dem bisher einzigen Urteil hierzu anerkannte der EuGH auch die „unbeeinflusste Zustimmung […] in voller Kenntnis der Sachlage“ als Bestandteil dieses Grundrechts .58 Auf dieses Judikat beziehen sich auch die Erläuterungen zur Art. 3 Abs. 1 GRCh, die nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV sowie Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta-Grundrechte gebührend zu berücksichtigen sind.59 Von diesen Erläuterungen wird im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 GRCh auch das im Rahmen des Europarates angenommene Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin einschließlich des Zusatzprotokolls hierzu in Bezug genommen.60 In Art. 2 des Übereinkommens 56 ENVI-Ausschuss, Zusammenstellung der Änderungsanträge 461-606, Änderungsantrag 473 von Philippe Juvin, S. 11 f. (online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONS- GML+COMPARL+PE-506.161+01+DOC+PDF+V0//DE&language=DE – letztmaliger Abruf am 16.03.16). Bemerkenswert ist, dass diese Begründung nicht in den abschließenden ENVI-Bericht (vgl. Fn. 47) übernommen wurde. Unterstreichungen durch Verfasser. 57 EuGH, Rs. C-377/98, Slg. I-2001, 7079, Rn. 78 – Niederlande/Parlament u. Rat (Biopatentrichtlinie). Alle Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sind unter Angabe der Rs.-Nummer abrufbar unter http://curia.europa .eu/juris/recherche.jsf?language=de. 58 EuGH, Rs. C-377/98, Slg. I-2001, 7079, Rn. 78 – Niederlande/Parlament u. Rat (Biopatentrichtlinie). 59 Die Erläuterungen wurden unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents ausgearbeitet und aktualisiert. Veröffentlicht wurden sie im ABl.EU 2007 Nr. C 303/17 (online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 16.03.16). Zu Art. 3 GRCh, vgl. Punkt. 1, S. 18. Siehe zur Bedeutung der Erläuterungen allgemein Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 87. 60 Das Übereinkommen ist auf den Seiten des Europarats in deutscher Sprache abrufbar unter http://conventions .coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/164.htm (letztmaliger Abruf am 16.03.16), das Zusatzprotokoll unter http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/168.htm (letztmaliger Abruf am 16.03.16). Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 27 wird der Vorrang des Interesses und des Wohls des menschlichen Lebewesens gegenüber dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft statuiert. Art. 5 des Übereinkommens enthält sodann den Grundsatz der Einwilligung nach Aufklärung als allgemeine Regel. Das Vorliegen einer Einwilligung nach Aufklärung setzt u.a. Art. 16 des Übereinkommens voraus, der die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die medizinische Forschung am Menschen regelt. Weitere amtliche (Auslegungs-)Hinweise auf Inhalt und Umfang des Art. 3 GRCh liegen nicht vor.61 Auch gibt es bisher keine Rechtsprechung europäischer Gerichte unmittelbar zu dem in der Grundrechte-Charta enthaltenen Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die folgenden Ausführungen zur Rechtsmäßigkeitsprüfung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss beruhen daher – soweit nicht ausdrücklich anders angemerkt – auf den im Schrifttum vertretenen, rechtlich aber nicht verbindlichen Auslegungen dieses Grundrechts. Hierbei wird auch der dem Verfasser vom Auftraggeber zur Verfügung gestellte Vermerk des Landesamtes für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin berücksichtigt.62 5.2.1. Schutzbereich Zunächst müsste die in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss geregelte Abweichung vom informed consent in den Schutzbereich des Art. 3 GRCh fallen. 5.2.1.1. Schutzbereichsbestimmung – zur Normstruktur des Art. 3 GRCh Die Bestimmung des einschlägigen Schutzbereichs und damit des Prüfungsmaßstabs im Rahmen des Art. 3 GRCh wirft jedoch folgende Probleme auf: vorliegend steht nicht die in Art. 3 Abs. 1 GRCh geschützte körperliche Unversehrtheit und das Grundrecht in seiner Abwehrfunktion63 im Vordergrund, sondern eine gesetzliche Ausgestaltung der in Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh geregelten Einwilligung nach Aufklärung. Das Verhältnis beider Absätze des Art. 3 GRCh und damit seine Normstruktur ist im Schrifttum jedoch umstritten.64 Ungeklärt ist dabei insbesondere, welcher 61 Eine Orientierung an der EMRK nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist in diesem Fall zweifelhaft. So wird in den Erläuterungen (vgl. Fn. 59) zu Art. 52 Abs. 3 GRCh keine Entsprechung in den EMRK-Rechten zu Art. 3 GRCh aufgeführt . Zwar wird die körperliche Unversehrtheit von Art. 8 Abs. 1 EMRK mitumfasst, der den Schutz des Privatlebens zum Inhalt hat, vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 921. Dies wird allerdings als nicht ausreichend für eine Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GRCh betrachtet, so etwa Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 147 ff. Hieran anknüpfend wird die EMRK im Folgenden außer Betracht gelassen. 62 Christian von Dewitz, LAGeSo, Vermerk vom 31.07.2013 zum Vorschlag des ENVI-Ausschusses des Europäischen Parlaments zur Neueinführung eines Art. 29 Abs. 3a) neu betreffend klinische Prüfungen von Arzneimitteln – nicht veröffentlicht (im Folgenden: v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a). 63 Vgl. zu dieser Funktion des Art. 3 GRCh, Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 3 GRCh, Rn. 13. 64 Vgl. hierzu Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 138 ff., mit Nachweisen aus dem Schrifttum Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 28 rechtliche Charakter den in Abs. 2 geregelten Tatbeständen zukommt, ob es sich dabei um Konkretisierungen des Schutzbereichs in Abs. 1 handelt65, um eigenständige subjektive (Grund-) Rechte66 oder lediglich um Charta-Grundsätze im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Art. 52 Abs. 5 GRCh.67 Während die Ausgestaltung des informed consent im ersten Fall im Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GRCh zu verorten wäre und im Rahmen dieses Grundrechts geprüft werden müsste, wäre sie im zweiten Fall als eigenständiges (Grund-)Recht anzusehen und entsprechend zu erörtern. Handelt es sich hingegen um den dritten Fall eines Charta-Grundsatzes, so hätte dies zunächst allgemein zur Folge, dass Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh kein subjektiv-rechtlicher Gehalt zukäme und es lediglich als objektive Handlungspflichte der durch die Grundrechte-Charta gebundenen Subjekte anzusehen wäre.68 Gleichwohl käme Art. 3 Abs. 1 lit. a) GRCh auch dann als Rechtmäßigkeitsmaßstab zur Anwendung. Allerdings wäre dabei zu beachten, dass mit Blick auf den gesetzlichen Beurteilungsspielraum in solchen Fällen abweichende, im Ergebnis weniger restriktive Parameter bei der Beurteilung von Einschränkungen zur Anwendung gelangen würden.69 Dies unterstreicht, welche Bedeutung der zutreffenden rechtlichen Einordnung des Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh zukommt. Betrachtet man den Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 GRCh, so lässt sich jedenfalls kein Hinweis daraus entnehmen, dass es sich bei lit. a) um ein eigenständiges (Grund-)Recht handelt.70 Zum Ausdruck kommt vielmehr die Bezugnahme auf das Grundrecht in Abs. 1, in deren Rahmen das Gebot in lit. a) [sowie die drei Verbote in lit. b) bis d)] zu „beachten“ sind. Auch die Entstehungsgeschichte liefert keinen eindeutigen Beleg für die Auslegung. So fand sich in einem früheren Formulierungsvorschlag dieser Bestimmung zwar der Begriff „Grundsatz“.71 Der nun verbindlichen Version wurde er aber nicht zugrunde gelegt. Allerdings greifen die einschlägigen Erläuterungen 65 So wohl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 3 GRCh, Rn. 2; Borowsky in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 3, Rn. 40; im Ergebnis auch Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 143. Ferner v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 5, allerdings ohne das Problem der umstrittenen Normstruktur zu thematisieren. 66 Vgl. dazu Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 141 f. (im Ergebnis ablehnend). 67 So etwa Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 3 GRCh, Rn. 7. Unklar dagegen Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 965; Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 3 GRCh, Rn. 17. 68 Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 70. 69 So Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 677; Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 3 GRCh, Rn. 7; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 80 f. 70 So Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 141 f. 71 Vgl. Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 140 f., mit entsprechenden Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 29 zu Art. 3 Abs. 2 GRCh den Begriff „Grundsatz“ wieder auf.72 Für die Annahme eines solchen spricht auch die aktuelle Formulierung des Art. 3 Abs. 2 lit. a) ENVI-Beschluss: danach gilt die Berücksichtigungspflicht hinsichtlich einer entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten ausgestalteten Einwilligung nach Aufklärung. Es besteht insoweit Einigkeit, dass es sich dabei um eine an den jeweiligen Gesetzgeber gerichtete Ausgestaltungskompetenz handelt73, die ausweislich des Wortlauts des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRCh gerade (auch) für Charta-Grundsätze kennzeichnend ist. Hieraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass es sich bei Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh ausschließlich um einen (rein objektiven) Grundsatz in diesem Sinne handelt. Für einen subjektivrechtlichen Gehalt, der in Art. 3 Abs. 1 GRCh zu verorten ist, spricht zunächst, dass es sich bei der Einwilligung nach Aufklärung um einen Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts handelt74, welches in engem Zusammenhang mit der in Art. 1 GRCh geschützten Menschenwürde steht.75 Für eine darin zu sehende Konkretisierung des Art. 3 Abs. 1 GRCh spricht auch das bisher einzige Urteil des Gerichtshofs zu diesem Grundrecht als allgemeinem Rechtsgrundsatz, in der die „Zustimmung“ nach Aufklärung als Bestandteil des Rechts auf Unversehrtheit angesehen wird.76 Diese Auffassung wird schließlich auch durch folgenden Gedankengang gestützt: Unstreitig ist die Bedeutung der Einwilligung nach Aufklärung für die Ebene des Eingriffs. Dieser entfällt, soweit der Betroffene der Beeinträchtigung seiner Unversehrtheit nach vorheriger Aufklärung zugestimmt hat.77 Jede gesetzliche Ausgestaltung der Einwilligungsvoraussetzungen bestimmt somit über die Anforderungen an einen Eingriff, insbesondere im Verhältnis zwischen Privaten (etwa Patient einerseits und Arzt andererseits). Es erscheint angesichts dieses engen Zusammenhangs von Grundrechtsverletzung und Einwilligung widersprüchlich, wollte man die Einwilligungsvoraussetzungen lediglich als Gegenstand eines objektiven-rechtlichen Grundsatzes begreifen, bei dessen Ausformung dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zukommt. 72 Siehe Fn. 59. 73 Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 965; Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 3 GRCh, Rn. 17; Borowsky ,in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 3, Rn. 43. 74 Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 11, Rn. 14; Vormizeele, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 3 GRCh, Rn. 7. Im Ergebnis ebenfalls v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 5. 75 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 948, 927; Vormizeele, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 3 GRCh, Rn. 6. 76 EuGH, Rs. C-377/98, Slg. I-2001, 7079, Rn. 78 – Niederlande/Parlament u. Rat (Biopatentrichtlinie). 77 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 955; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 3 GRCh, Rn. 9; Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 3 GRCh, Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 30 Hiervon ausgehend, soll das Gebot in Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh im Folgenden als Konkretisierung des Art. 3 Abs. 1 GRCh verstanden und entsprechend im Schutzbereich der – hier körperlichen – Unversehrtheit verortet werden. 5.2.1.2. Sachlicher Schutzbereich Versteht man den informed consent – wie hier (vgl. oben 5.2.1.1.78) – in seinem Gebotsgehalt als Bestandteil des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, so ist von einer Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs auszugehen: Art. 3 Abs. 1 GRCh schützt in sachlicher Hinsicht unstreitig die biomedizinische Unversehrtheit des Menschen.79 Diese ist auch bei klinischen Arzneimittelprüfung am Menschen betroffen, wie v.a. durch Art. 15 ff. des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin bestätigt wird.80 Entsprechend ist auch die gesetzgeberische Ausgestaltung des informed consent im Zusammenhang mit derartigen Arzneimittelprüfungen am Maßstab dieses Grundrechts zu messen.81 5.2.1.3. Persönlicher Schutzbereich Hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs ist lediglich festzuhalten, dass Art. 3 Abs. 1 GRCh als Menschenrecht nicht nur Unionsbürger, sondern alle natürlichen Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit schützt.82 5.2.1.4. Verpflichteter An Art. 3 Abs. 1 GRCh gebunden sind – wie auch an die übrigen Grundrechte der Charta – nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh in erster Linie die Unionsorgane.83 Sie haben die Grundrechte insbesondere und gerade bei der hier einschlägigen Setzung von Sekundärrecht zu beachten. 5.2.2. Eingriff Bei der Prüfung des Eingriffs ist in konsequenter Umsetzung des hier zugrunde gelegten Schutzbereichsverständnisses (vgl. oben 5.2.1.1.84) zu beachten, dass vorliegend nicht unmittelbar eine 78 Siehe S. 28 ff. 79 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 3 GRCh, Rn. 5. Vgl. auch Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 935 ff. 80 Vgl. Fn. 60. Auf das Übereinkommen im Zusammenhang mit der Schutzbereichseröffnung verweist auch v. Dewitz , Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 5. 81 Vgl. Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 154 f. 82 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 930. 83 Dazu allgemein Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 16. 84 Siehe S. 28 ff. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 31 Beeinträchtigung der biomedizinische Unversehrtheit zu beurteilen ist, sondern die darauf bezogene Ausgestaltung des informed consent durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss. Fraglich ist, anhand welcher Maßstäbe in einem solchen Fall der Eingriffscharakter zu beurteilen ist. Angesichts der gesetzlichen Ausgestaltungskompetenz nach Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh ist fraglich, ob jede Ausgestaltung als Eingriff qualifiziert werden kann.85 Ohne an dieser Stelle einen allgemein gültigen Eingriffsmaßstab bestimmen zu müssen, erscheint es vertretbar, zunächst einen Mindeststandard festzulegen86. Hiervon ausgehend wären jedenfalls Unterschreitungen als Eingriff zu werten.87 Zur Bestimmung des Mindeststandards bietet sich hier vor allem das durch die Erläuterungen ausdrücklich in Bezug genommene Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin88 an. Ergänzend könnte ferner die bisherige sekundärrechtliche Ausgestaltung auf Unionsebene herangezogen werden. Das Übereinkommen sieht in Art. 5 Satz 1 vor, dass eine Intervention im Gesundheitsbereich erst dann erfolgen darf, nachdem die betroffene Person über sie aufgeklärt worden ist und frei eingewilligt hat. In Satz 2 ist geregelt, dass die betroffene Person zuvor angemessen über Zweck und Art der Intervention sowie über deren Folgen und Risiken aufzuklären ist. Nach Satz 3 darf die Einwilligung jederzeit frei widerrufen werden. Im Zusammenhang mit Forschung an Menschen im Bereich Medizin und Biologie legt Art. 16 Nr. v) des Übereinkommens fest, dass die nach Artikel 5 notwendige Einwilligung ausdrücklich und eigens für diesen Fall erteilt und urkundlich festzuhalten ist. Hinsichtlich des geltenden Sekundärrechts ist auf die Richtlinie 2001/20/EG89 abzustellen, die in Art. 2 lit. j) eine Begriffsbestimmung zur Einwilligung nach Aufklärung enthält. Danach ist darin eine Entscheidung über die Teilnahme an einer klinischen Prüfung zu sehen, die in Schriftform abgefasst, datiert und unterschrieben werden muss und nach ordnungsgemäßer Unterrichtung über Wesen, Bedeutung, Tragweite und Risiken der Prüfung und nach Erhalt einer entsprechenden Dokumentation freiwillig von einer Person, die ihre Einwilligung geben kann, oder aber, wenn die Person hierzu nicht in der Lage ist, von ihrem gesetzlichen Vertreter getroffen wird. Kann die betreffende Person nicht schreiben, so kann in Ausnahmefällen entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine mündliche Einwilligung in Anwesenheit von mindestens einem Zeugen erteilt werden. 85 Weniger restriktiv v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 5 f., allerdings ohne einen abstrakten Maßstab zu formulieren und ohne Verweis auf die gesetzgeberische Ausgestaltungskompetenz. 86 Die Orientierung an einem Mindeststandard wird auch für die Prüfung der Eingriffsebene im Falle von Charta- Grundsätzen erwogen, so etwa Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 681. 87 Weitergehend wohl Voß, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2011, S. 155. 88 Siehe Fn. 60. 89 Siehe Fn. 53. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 32 Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Regelung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss, so ist eine Unterschreitung des beschriebenen Mindeststandards jedenfalls hinsichtlich der Ebene der Einwilligung zu konstatieren. Denn nach ihrem Wortlaut verzichtet sie gerade auf die Äußerung einer ausdrücklichen, grundsätzlich schriftlich abgefassten Einwilligung und lässt für eine Teilnahme bereits genügen, dass keine Einwände erhoben, d.h. kein Widerspruch geäußert wird. Ob eine Unterschreitung auch hinsichtlich der Ebene der Aufklärung angenommen werden kann, erscheint fraglich. Einziger Anknüpfungspunkt hierfür wäre die Art und Weise der Aufklärung , die in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss nicht näher danach spezifiziert wird, ob sie nur schriftlich oder auch mündlich erfolgen muss.90 Die Begriffsbestimmung der Richtlinie 2001/20/EG weist durch die Unterscheidung von „Unterrichtung“ und „nach Erhalt einer entsprechenden Dokumentation“ darauf hin, dass sowohl mündlich als auch schriftlich aufzuklären ist. Dieser Aspekt ließe sich ggf. auch im Zusammenhang mit der Angemessenheit im Sinne des Art. 5 S. 2 des Übereinkommens problematisieren. Möglich erscheint aber auch eine andere Auslegung . Mit Blick auf die zweifelsfreie Unterschreitung der Mindeststandards auf der Einwilligungsebene sollen mögliche Abweichungen auf der Aufklärungsebene hinsichtlich ihrer Art und Weise im weiteren Verlauf der Prüfung außer Betracht bleiben. Hiervon ausgehend ist die Ausgestaltung der Einwilligung nach Aufklärung durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss jedenfalls auf der Einwilligungsebene als Eingriff zu werten.91 5.2.3. Rechtfertigung Die Charta-Grundrechte sind nicht schrankenlos gewährleistet, wie sich aus Art. 52 Abs. 1 GRCh ergibt. Diese Bestimmung formuliert in Satz 1 und Satz 2 verschiedene Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen (sog. Schranken-Schranken). Mögliche Ausnahmen von der Einschränkbarkeit , die sich im Zusammenhang mit den nach Art. 52 Abs. 3 GRCh zu berücksichtigenden EMRK-Rechten ergeben könnten92, sind hinsichtlich Art. 3 GRCh nicht einschlägig.93 Im Folgenden ist daher die Einschränkung durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss hinsichtlich der Einwilligungsebene allein im Lichte des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 (siehe unter 5.2.3.1.) und Satz 2 (siehe unter 5.2.3.2.) GRCh zu prüfen. 90 Siehe dazu oben im ersten Teil unter 3.3.2. S. 11. 91 Im Ergebnis ebenso v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 5 f. 92 Siehe hierzu allgemein Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 23 ff. 93 Vgl. dazu bereits oben Fn. 61. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 33 5.2.3.1. Anforderungen aus Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh 5.2.3.1.1. Gesetzliche Grundlage und Bestimmtheit Für die von Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh geforderte gesetzliche Grundlage einer Grundrechtseinschränkung genügt auch ein Unions(sekundär-)rechtsakt.94 Soweit Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss nach Abschluss des Rechtsetzungsverfahrens als Verordnungsbestimmung rechtswirksam werden sollte, wäre dies eine geeignete gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh.95 Die gesetzliche Grundlage muss sodann hinreichend bestimmt sein.96 Voraussetzung hierfür ist, dass eine Regelung, die nachteilige Folgen für Einzelne hat, klar und bestimmt und ihre Anwendung für die Einzelnen voraussehbar ist.97 Hieran könnten Zweifel bestehen, zum einen hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs dieser Regelung, zum anderen in Bezug auf ihre sachliche Anwendungsvoraussetzungen.98 Bezüglich des ersten Gesichtspunktes besteht eine Unsicherheit dahingehend, ob die in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss geregelte Ausnahme vom informed consent auch auf Nicht-einwilligungsfähige Personen (vgl. Art. 30 Kommissionsvorschlag) und Minderjährige (vgl. Art. 31 Kommissionsvorschlag ) Anwendung findet. Denn im ersten Satz von Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss wird lediglich Art. 32 Kommissionsvorschlag (Einwilligung in Notfallsituationen) erwähnt und nur insoweit eine Unberührtheit angeordnet. Allerdings statuiert der erste Satz im Übrigen lediglich eine Abweichung zu Art. 29 Abs. 1 und 2 Kommissionsvorschlag (Grundregelung des informed consent) und zur allgemeinen Regelung des Art. 28 Abs. 1 in dessen lit. c) und d) Kommissionsvorschlag , nicht aber zu Art. 30 und 31 Kommissionsvorschlag. Diese beiden Bestimmungen wiederum enthalten Voraussetzungen, die zusätzlich zu den in Art. 28 Kommissionsvorschlag genannten vorliegen müssen und nehmen ausdrücklich Bezug auf die Einwilligung nach Aufklärung , deren Parameter in Art. 29 Abs. 1 und 2 Kommissionsvorschlag/ENVI-Vorschlag geregelt sind. Ungeachtet der als wenig gelungen zu betrachtenden Regelungstechnik spricht dies im Ergebnis für eine Nichtanwendbarkeit des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss auf Nicht-einwilligungsfähige Personen und Minderjährige. Allerdings erscheint auch eine andere Auslegung denkbar. Im Zusammenhang mit der Bestimmtheit der sachlichen Anwendungsvoraussetzungen wird kritisiert , dass sich insbesondere aus Art. 29 Abs. 3a lit. a) und lit. b) ENVI-Beschluss nicht ergebe, welche Fallkonstellationen hiervon im Einzelnen erfasst würden.99 Dies mag zwar in der Sache 94 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 27. 95 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 572. 96 So etwa Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 29. 97 Vgl. EuGH, Rs. C-550/07 P, Slg. 2010, I-8301, Rn. 100 – Akzo Nobel Chemicals/Kommissio. 98 So im Ergebnis v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 6 f. 99 Vgl. v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 6 f. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 34 zutreffend sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine weitergehende Bestimmtheit erforderlich ist angesichts des Umstandes, dass niemand zu einer Teilnahme auch an derartigen Arzneimittelprüfungen verpflichtet ist. Ob die soeben beschriebenen Zweifel für einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz genügen , kann angesichts des damit verbundenen Wertungsspielraums einerseits und der im Übrigen klaren Anforderungen an Aufklärung und persönliche Teilnahmevoraussetzungen andererseits nicht abschließend beurteilt werden. 5.2.3.1.2. Wesensgehalt Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh fordert sodann, dass Einschränkungen den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts achten müssen. Welche Bedeutung diesem Kriterium zukommt, insbesondere in Relation zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der nach Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRCh ebenfalls als Schranke-Schranke zu beachten ist, und wie der Wesensgehalt bestimmt werden soll, ist in Rechtslehre und Rechtsprechung wenig geklärt.100 Betrachtet man in diesem Lichte Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss, so ist nicht ersichtlich, dass hierdurch eine Einschränkung des Wesensgehalts des Art. 3 Abs. 1 GRCh in seiner Konkretisierung durch Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh (vgl. insoweit oben unter 5.2.1.1.101) erfolgt ist102: Blickt man auf die hier allein relevante Einwilligungsebene, so ist zu konstatieren, dass Art. 29 Abs. 3a lit. g) ENVI-Beschluss auf die Äußerung einer ausdrücklichen Einwilligung verzichtet und an dieser Stelle für eine Teilnahme bereits genügen lässt, dass keine Einwände erhoben, d.h. kein Widerspruch geäußert wird. Hierin allerdings einen vollständigen Verzicht auf eine freiwillige Einwilligung zu sehen103, ginge indes zu weit. Denn auch in der bloßen Teilnahme nach erfolgter Aufklärung kann eine Art der freiwilligen Zustimmung gesehen werden und zwar eine konkludent geäußerte. Diese mag den anerkannten Standards des informed consent im medizinischen Bereich nicht entsprechen.104 Unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Ausgestaltungskompetenz spricht jedoch viel dafür, dass eine derartige Ausformung jedenfalls nicht als Beeinträchtigung der Wesensgehaltsgarantie angesehen werden kann. 100 Siehe dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 52 GRCh, Rn. 64; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 45 f. In neuerer Rechtsprechung unterstreicht der Gerichtshof jedoch die eigenständige Bedeutung der Wesengehaltsgarantie, vgl. EuGH, Rs. C- 283/11, Urt. v. 22.01.2013, noch nicht in amtl. Slg. veröffentlicht, Rn. 49 – Sky Österreich. 101 Siehe S. 28 ff. 102 Anders im Ergebnis v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 7. 103 So aber v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 7. 104 Siehe dazu hinsichtlich des Mindeststandards oben unter 5.2.2., S. 12 ff.. Vgl. im Übrigen zur Zulässigkeit einer konkludent geäußerten Einwilligung im Datenschutzrecht, Rogosch, Die Einwilligung im Datenschutzrecht, 2013, S. 61 ff. Kritisch zu einer solchen dagegen Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 1419. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 35 5.2.3.2. Anforderungen aus Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh dürfen Einschränkungen ferner unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 5.2.3.2.1. Zur gerichtlichen Kontrolldichte Das rechtliche Gewicht der aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden Schranken- Schranke für Eingriffe in Charta-Grundrechte wird in der Praxis maßgeblich durch die gerichtliche Kontrolldichte auf Seiten des (Europäischen) Gerichtshofs bestimmt, die unterschiedlich ausfällt.105 Sie ist einerseits um so größer, je mehr den handelnden Stellen ein Ermessen- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt ist.106 Andererseits ist sie gerade bei der Einschränkung personaler Grundrechte geringer als im Fall unternehmerischer Freiheiten.107 Ist danach von einem Fall geringer Kontrolldichte auszugehen, wird in der Rechtsprechung ein Verstoß nur angenommen , wenn die fragliche Maßnahme offensichtlich ungeeignet, offensichtlich irrig bzw. offensichtlich unverhältnismäßig ist.108 Von welcher Kontrolldichte vorliegend auszugehen wäre, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Für eine geringe lässt sich die in Art. 3 Abs. 2 lit. a) ENVI-Beschluss vorgesehene gesetzliche Ausgestaltungskompetenz anführen. Andererseits betrifft diese Kompetenz das in Art. 3 Abs. 1 GRCh verankerte Selbstbestimmungsrecht im Zusammenhang mit der körperlichen Unversehrtheit. Hierbei handelt es sich um ein personales und fundamentales Grundrecht mit starken Bezügen zur Menschenwürde nach Art. 1 GRCh.109 Dies dürfte zumindest einer geringen Kontrolldichte entgegenstehen. 105 Siehe hierzu ausführlich Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 607 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 42 ff. 106 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 622.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 42. 107 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 617; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 43. 108 Siehe mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung, Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 44. 109 Vgl. die Nachweise in Fn. 74 und 75. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 36 5.2.3.2.2. Legitimes Ziel Notwendig ist nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh in materieller Hinsicht zunächst, dass die Einschränkung durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss eine „von der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung“ verfolgt (legitimes Ziel). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Zielsetzung im primären Unionsrecht verankert ist.110 Ausweislich des Wortlauts von Art. 29 Abs. 3a lit. h) ENVI-Beschluss unterliegt die Durchführung der Arzneimittelprüfungen nach dieser Vorschrift der Bedingung, dass mit dieser ein Ziel der öffentlichen Gesundheit verfolgt wird. Aus der Begründung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss ergibt sich ferner, dass die sog. Cluster-Studien besonderen methodologischen Anforderungen unterliegen, die einerseits mit der individuellen Information und der Einholung der Einwilligung nicht vereinbar sind, andererseits aber unverzichtbar sind für die öffentliche Gesundheit .111 Die Politik der Union auf dem Gebiet des Gesundheitswesens ist ausweislich des Art. 168 Abs. 1 AEUV u.a. auf eine Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung gerichtet. Im Übrigen ist in allen Politikbereichen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, vgl. auch Art. 35 Satz 2 GRCh. Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss verfolgt mit der Förderung der öffentlichen Gesundheit im Bereich medizinischer Forschung somit eine primärrechtlich verankerte Zielsetzung und folglich einen legitimen Zweck. 5.2.3.2.3. Geeignetheit Auf der ersten Stufe des eigentlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Einschränkung durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss sodann geeignet sein. Das ist dann der Fall, wenn sie das verfolgte Ziel überhaupt erreichen kann.112 Die angeführten Gründe für die Einschränkung müssen zutreffend sein.113 Nach der Begründung zu Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss sind sowohl die individuelle Information als auch die Einholung der Einwilligung mit den besonderen methodologischen Anforderungen der von dieser Bestimmung erfassten Studien nicht vereinbar.114 Legt man dies zugrunde, so wäre jedenfalls der Verzicht auf die ausdrücklich und schriftlich zu erklärende Einwilligung geeignet , die Durchführung der Cluster-Studien zu ermöglichen und das mit ihnen verfolgte Ziel zu erreichen. 110 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 52 GRCh, Rn. 21; Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 633. 111 Siehe Fn. 56. 112 Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 656. 113 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 37. 114 Siehe Fn. 56. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 37 Vorliegend ist jedoch sehr zweifelhaft, ob die angeführte Begründung des Art. 29 Abs. 3a ENVI- Beschluss in tatsächlicher Hinsicht zutreffend ist. Wie sich aus Teil 1 der Ausarbeitung ergibt, konnten keine Studienkonstellationen im Zusammenhang mit klinischen Arzneimittelprüfungen ermittelt werden, die die Notwendigkeit belegen, auf einen informed consent unter den in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss genannten Bedingungen zu verzichten115, bei denen die Aufklärung eines möglichen Probanden (wie in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Vorschlag vorgesehen), nicht aber die Einholung einer Einwilligung möglich bzw. sinnvoll ist.116 Soweit danach nicht belegt werden kann, dass es für die von Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss erfassten Cluster-Studien methodologisch zwingend ist, insbesondere auf die Einholung einer ausdrücklichen Einwilligung zu verzichten, ist die Einschränkung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss im Hinblick auf die Einwilligungsebene bereits als (offensichtlich) ungeeignet zur Erreichung des legitimen Zwecks anzusehen.117 5.2.3.2.4. Erforderlichkeit Ausgehend von den Ausführungen zur Geeignetheit fehlt es auch an der Erforderlichkeit der in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss vorgenommenen Einschränkung des informed consent.118 Denn erforderlich wäre die Einschränkung durch Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss lediglich, wenn sie erstens nur so weit gehen würde, wie es zur Erreichung des legitimen Zwecks erforderlich ist und, wenn es zweitens keine alternativen Mittel gibt, mit denen das verfolgte Ziel ebenso gut erreicht werden kann und das weniger in das Grundrecht eingreift (sog. Grundsatz des milderen Mittels).119 Das ist nicht der Fall: Der Verzicht auf die Einholung einer ausdrücklichen Einwilligung ist bereits nicht notwendig, um sog. Cluster-Studien im Bereich klinischer Arzneimittelprüfungen durchführen zu können. Hieraus folgt zugleich, dass dieses Ziel ebenso gut erreicht werden kann, wenn eine ausdrückliche Einwilligung der Prüfungsteilnehmer eingeholt wird. Mit Blick auf die hier vertretene Ansicht , wonach ein Eingriff in Art 3 Abs. 1 GRCh durch Ausgestaltung des informed consent zumindest dann angenommen werden muss, wenn der Mindeststandard unterschritten wird (vgl. 115 Siehe oben im ersten Teil unter 3.3.3.1., S. 13. 116 Siehe oben im ersten Teil unter 3.3.3.2., S. 14. 117 So auch im Ergebnis v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 8f. 118 So im Ergebnis auch v. Dewitz, Vermerk zu Art. 29 Abs. 3a, S. 10. 119 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 38 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 38 5.2.2.120), würde es in diesem Fall bereits an einem Eingriff fehlen. Der informed consent wäre danach in jedem Fall das mildere Mittel. 5.2.3.2.5. Angemessenheit im engeren Sinne Schließlich wahrt Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss nach derzeitigem Kenntnisstand auch nicht die Angemessenheit im engeren Sinne. Eine solche setzt voraus, dass die durch die Einschränkung verursachten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen .121 Das nach der Begründung zu Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss angestrebte Ziel liegt in der Förderung der öffentlichen Gesundheit in Gestalt der hierfür als unverzichtbar angesehenen Cluster- Studien.122 Die hierdurch entstehenden Nachteile betreffen mit dem Verzicht auf die Einholung einer Einwilligung das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als Teil des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 Abs. 1 GRCh. Da es nach derzeitigem Kenntnisstand bereits an der Geeignetheit und Erforderlichkeit der in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss geregelten Einschränkung mangelt, stehen die durch sie verursachten Nachteile zwingend auch in einem unangemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel. Ob dies auch der Fall wäre, wenn die Einschränkung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss als geeignet und erforderlich angesehen werden müsste, lässt sich nicht mit der gleichen Eindeutigkeit beantworten. Hierzu müssten die Gründe bekannt sein, die eine Geeignetheit und Erforderlichkeit stützen würden. Zu beachten wäre jedenfalls, dass es sich bei Art. 3 Abs. 1 GRCh um ein fundamentales personales Grundrecht handelt, welches eng mit der Menschenwürde verbunden ist und daher ein besonderes Gewicht aufweist. Ihm gegenüber stünde die öffentliche Gesundheit in Gestalt der darauf bezogenen medizinischen Arzneimittelforschung. Für das Verhältnis beider Aspekte statuiert Art. 2 des Übereinkommens über Menschenrecht und Biomedizin einen Vorrang des Interesses und des Wohls des menschlichen Lebewesens gegenüber dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft. Zu beachten wäre jedoch, dass die Einschränkung in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss im Wesentlichen die Einwilligungsebene betrifft, nicht hingegen den Umfang der Aufklärung als Grundlage der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Auch bleibt dem Probanden ein jederzeit geltend zu machendes Widerspruchsrecht, ohne dass hieran – jedenfalls nach den Vorgaben des Art. 29 Abs. 3a lit. e) und f) ENVI-Beschluss – Nachteile zu knüpfen wären. Unter diesen Bedingungen ließe sich eine gleichwohl erfolgende Teilnahme auch als konkludente Zustimmung werten (vgl. oben 5.2.3.1.2.123). 120 Siehe S. 31. 121 Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 52 GRCh, Rn. 40 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 660. 122 Siehe Fn. 56. 123 Siehe S. 34. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 39 Andererseits wären jedoch auch die tatsächlichen Umstände derartiger Studiensituationen zu bedenken, in denen sich auf der einen Seite Personen befinden, die auf medizinische Hilfe regelmäßig angewiesen sind, und auf der anderen Seite an Cluster-Studien teilnehmene medizinische Einrichtungen und ihr Personal mit einem Interesse an deren erfolgreicher Durchführung. Ein potentielles Ungleichgewicht zu Lasten der erst genannten kann diesbezüglich – ungeachtet seines vom Einzelfall abhängigen Ausmaßes – nicht von der Hand gewiesen werden. Verzichtete man in einer solchen Konstellation generell auf die Einholung einer ausdrücklichen und schriftlich abgefassten Einwilligung, würde man die wohl entscheidende Vorkehrung für eine bewusste und damit freiwillige Ausübung des Selbstbestimmungsrechts beseitigen. Das Substitut in Art. 29 Abs. 3a lit. g) ENVI-Beschluss, dass lediglich keine Einwände erhoben werden dürfen, kann dies nicht aufwiegen und würde dem angesprochenen Ungleichgewicht zwischen Patienten bzw. Probanden einerseits und (forschenden) Ärzten bzw. den sie beschäftigenden medizinischen Einrichtungen andererseits kaum gerecht werden. 5.2.4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GRCh verstößt, als darin für die Teilnahme an bestimmten Arzneimittelprüfungen bereits genügt, dass die teilnehmende Person nach Aufklärung lediglich keine Einwände äußert. Die darin liegende Abweichung vom Mindeststandard des informed consent stellt einen Eingriff dar, der auf Grundlage der in Teil 1 gewonnenen Erkenntnisse den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht genügt. Diesem Ergebnis liegt allerdings eine unionsrechtlich nicht zwingende Auslegung des Art. 3 GRCh zugrunde, wonach es sich bei dem in Art. 3 Ab. 2 lit. a) GRCh geregelten Gebot der Einwilligung nach Aufklärung um einen konkretisierenden Bestandteil des Schutzbereichs des Rechts auf körperliche Unversehrtheit handelt. Nach anderen Auffassungen im Schrifttum wird Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh als Charta-Grundsatz angesehen, der weniger restriktiven Anforderungen an eine ausgestaltende Einschränkung unterliegt als dies im hier unterstellten grundrechtlichen Gehalt der Fall ist. 5.3. Vereinbarkeit mit der Richtlinie 2001/20/EG Die Frage nach der Vereinbarkeit des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss mit der Richtlinie 2001/20/EG124 ist angesichts der Tatsache, dass diese Richtlinie durch die zukünftige Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln aufgehoben werden soll, dahingehend zu verstehen , dass zu prüfen ist, ob auch auf Grundlage dieser aktuell geltenden Richtlinie eine Ausgestaltung wie im Fall des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss möglich wäre. Die Richtlinie 2001/20/EG definiert in Art. 2 lit. f) den Begriff der Einwilligung nach Aufklärung. Danach muss die Einwilligung als Entscheidung über die Teilnahme an einer klinischen Prüfung in Schriftform abgefasst sein, datiert und unterschrieben werden. Ausnahmen hiervon betreffen allein den Fall, dass die betreffende Person nicht schreiben kann. In derartigen Konstellationen kann eine mündliche Einwilligung in Anwesenheit von mindestens einem Zeugen erteilt 124 Siehe oben Fn. 53. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 40 werden. Wie bereits oben im Zusammenhang mit der Frage des Eingriffs in Art. 3 Abs. 1 GRCh festgestellt (vgl. 5.2.2.125), bleibt Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss dahinter zurück, da darin auf die Äußerung einer ausdrücklichen und schriftlich abgefassten Einwilligung gerade verzichtet wird. Abweichungen von den in der Begriffsdefinition festgelegten Merkmalen des informed consent sieht die Richtlinie 2001/20/EG nur insoweit vor, als die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 das Recht haben, Maßnahmen zum Schutz von Prüfungsteilnehmern zu treffen, wenn diese Bestimmungen eine größere Tragweite aufweisen als die der vorliegenden Richtlinie. Somit können die Mitgliedstaaten nur Maßnahmen mit einem höheren Schutzniveau vorsehen, nicht aber mit einem niedrigeren, wie dies bei Art. 29 Abs. 3a ENVI-Ausschluss der Fall ist. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass auf Grundlage der Richtlinie 2001/20/EG eine Ausgestaltung wie im Fall des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss nicht möglich wäre. 5.4. Vereinbarkeit mit der ICH-GCP-Leitline Hinsichtlich der Vereinbarkeitsprüfung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss mit der Leitlinie zur guten klinischen Praxis (Good Clinical Practice - GCP) der International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH)126 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Leitlinie an sich nicht rechtsverbindlich ist.127 In unionsrechtlicher Hinsicht kommt ihr allenfalls Empfehlungscharakter im Sinne des Art. 288 Abs. 5 AEUV zu.128 Rechtliche Verbindlichkeit hat der Inhalt der ICH-GCP jedoch insoweit erlangt, als er in den normativen Gehalt der einschlägigen Richtlinienbestimmungen eingeflossen ist.129 Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Bestimmungen der ICH-GCP-Leitlinie zum informed consent, so bildet dieser nach 2.8. der Leitlinie einen der ICH-Grundsätze der guten klinischen 125 Siehe S. 31 ff. 126 Online abrufbar auf den Kommissionsseiten unter http://ec.europa.eu/health/files/eudralex/vol- 10/3cc1aen_en.pdf (letztmaliger Abruf am 16.03.16). Eine (inoffizielle) deutsche Übersetzung findet sich unter http://www.dgrw-online.de/files/leitlinien_gcp_korrektur_2002_deutsche_version.pdf (letztmaliger Abruf am 16.03.16). 127 Ammann, Medizinethik und medizinethische Expertengremien im Licht des öffentlichen Rechts, 2012, S. 239. 128 Ein solcher könnte sich aus der Verweisung in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2005/28/EG der Kommission vom 8. April 2005 zur Festlegung von Grundsätzen und ausführlichen Leitlinien der guten klinischen Praxis für zur Anwendung beim Menschen bestimmte Prüfpräparate, ABL.EU 2005 Nr. L 91/13 (online abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/files/eudralex/vol-1/dir_2005_28/dir_2005_28_de.pdf – letztmaliger Abruf am 16.03.16) ergeben. Danach haben Prüfer und Sponsoren alle „einschlägigen Leitlinien für die Einleitung und Durchführung klinischer Prüfungen“ zu „berücksichtigen“. Zu den einschlägigen Richtlinien gehört aus Sicht der Kommission auch die ICH-GCP, wie sich aus Erwägungsgrund Nr. 8 dieser Richtlinie ergibt. Kritisch zur Wirksamkeit derartiger Verweisungen unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit und Rechtssicherheit, Ammann, Medizinethik und medizinethische Expertengremien im Licht des öffentlichen Rechts, 2012, S. 240. 129 Vgl. Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht - Handbuch für die pharmazeutische Praxis, 2010, § 12, Rn. 58, u.a. mit Verweis auf die Richtlinie 2001/20/EG. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 41 Praxis. Danach sollte vor der Teilnahme an einer klinischen Prüfung von jedem Prüfungsteilnehmer eine freiwillig abgegebene Einwilligungserklärung nach vorheriger Aufklärung eingeholt werden. Aus dem zur ICH-GCP-Leitlinie gehörenden Glossar (vgl. Punkt 1.28) ergibt sich zu dem Begriff des informed consent, dass die Einwilligung nach Aufklärung mittels einer schriftlichen, eigenhändig datierten und unterzeichneten Einwilligungserklärung dokumentiert wird. Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss bleibt mit seinem Verzicht auf die Äußerung einer ausdrücklichen Einwilligung folglich auch hinter diesen Anforderungen zum informed consent, die inhaltlich denen der soeben dargestellten Richtlinie 2001/20/EG (und umgekehrt) entsprechen, zurück (vgl. oben 5.3.130). Somit ist Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss auch mit der ICH-GCP-Leitlinie nicht vereinbar. 5.5. Ergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss vorgesehene Abweichung von der bisherigen Ausgestaltung des informed consent erheblichen rechtlichen Zweifeln begegnet. Dies betrifft zunächst die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GRCh, dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Versteht man – wie hier vertreten – das Gebot der Einwilligung nach Aufklärung in Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh als konkretisierenden Bestandteil des sachlichen Schutzbereichs des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GRCh, so ist von einem unverhältnismäßigen und damit nicht gerechtfertigten Eingriff auszugehen. Der in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss geregelte Verzicht auf die Äußerung einer ausdrücklichen und schriftlich abgefassten Einwilligung widerspricht sodann sowohl der geltenden Richtlinie 2001/20/EG als auch der (rechtlich nicht verbindlichen ) ICH-GCP-Leitlinie. 6. Teil 2: Die Rechtsmäßigkeit der Weiterverwendung von Daten nach Abschluss klinischer Arzneimittelstudien auf Grundlage des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss Die Rechtmäßigkeit des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss (zum genauen Inhalt siehe 6.1.) wird im Folgenden im Lichte des Art. 8 GRCh (siehe unter 6.2.), der einschlägigen geltenden Richtlinien (siehe unter 6.3.) und schließlich der HCP-GCP-Leitlinie (siehe unter 6.4.) untersucht. 6.1. Zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss knüpft an die Einwilligung des Prüfungsteilnehmers in die Verarbeitung seiner Daten im Rahmen einer Arzneimittelstudie und sieht vor, dass ihm dabei zusätzlich die Möglichkeit eingeräumt werden soll, eine weitere Einwilligung zu erklären (und jederzeit zu widerrufen). Bezugspunkt dieser weiteren (zweiten) Einwilligung ist eine Nutzung der Daten des Prüfungsteilnehmers nach Abschluss der Arzneimittelprüfung für historische, statistische oder wissenschaftliche Forschungszwecke. Diese Einwilligung wird auch als „broad consent“ bezeichnet. Begründet wird diese Ergänzung wie folgt: 130 Siehe S. 39. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 42 „Bei seiner Anmeldung zu einer klinischen Prüfung wird der Patient aufgefordert, ein Formular zu unterzeichnen, in dem er nach Aufklärung seine Einwilligung ausschließlich für die Dauer und die Zwecke der Prüfung erteilt. Nach Beendigung der Prüfung dürfen weitere Folgedaten auch nicht für Forschungszwecke verwendet werden, es sei denn, der Wissenschaftler hat dafür eine zusätzliche Einwilligung erhalten. Im Rahmen der ursprünglichen Einwilligung sollte der Patient die Möglichkeit erhalten, eine weiter gehende Einwilligung zu erteilen, damit seine Daten von der behandelnden Einrichtung für spätere Forschungstätigkeiten verwendet werden können.“131 6.2. Vereinbarkeit mit Art. 8 GRCh Die Regelung des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss könnte gegen das Datenschutzgrundrecht aus Art. 8 GRCh verstoßen. Nach Art. 8 Abs. 1 GRCh hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.132 Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh sieht vor, dass Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden dürfen. Besondere Bedeutung für die Auslegung dieses Grundrechts kommt gemäß der Erläuterungen zur Grundrechte-Charta vor allem der sog. Datenschutzrichtlinie 95/46/EG133 (im Folgenden: Datenschutzrichtlinie ) zu.134 Diesem Rechtsakt ist Art. 8 GRCh weitgehend nachgebildet.135 Die Datenschutzrichtlinie enthält ausweislich der Erläuterungen „Bedingungen und Beschränkungen für 131 Vgl. ENVI-Bericht, Änderungsantrag 162, S. 90 (Fn. 47). Unterstreichung durch Verfasser. 132 Siehe Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh, Rn. 3, zum Verhältnis von Art. 8 GRCh zu Art. 16 Abs. 1 AEUV. Letzterer enthält ebenfalls das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, ist aber keine Bestimmung im Sinne des Art. 52 Abs. 2 GRCh. Art. 8 GRCh ist danach die einzige Grundrechtsquelle zum Datenschutz. 133 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl.EG 1995 Nr. L 281/31. Konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONS- LEG:1995L0046:20031120:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 16.03.16. 134 Erläuterungen zur Grundrechte-Charta zu Art. 8 GRCh (siehe Fn. 59). Vgl. zu der Bedeutung der in der Erläuterung zu Art. 8 GRCh in Bezug genommenen Quellen, Johlen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 8 GRCh, Rn. 12 ff, zu denen auch Art. 8 EMRK gehört. Dort ist der Schutz personenbezogener Daten allerdings nur ein Teilaspekt der von dieser Vorschrift primär geschützten Privatsphäre. Zur hervorgehobenen Stellung der Datenschutzrichtlinie in diesem Kontext Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 1360, 1361 ff. 135 Vgl. Johlen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 8 GRCh, Rn. 16; Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 1361. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 43 die Wahrnehmung des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten.“136 Insbesondere dieser Rechtsakt ist daher für die Bestimmung des Schutzbereichs und des Eingriffs heranzuziehen.137 Hinsichtlich der hier vorzunehmenden Prüfung des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss am Maßstab dieses Grundrechts stellt sich ein ähnliches Problem wie oben im Zusammenhang mit der Untersuchung des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss im Lichte des Art. 3 GRCh (siehe 5.2.1.1.138): auch vorliegend geht es nicht um einen Eingriff von Seiten der Unionsorgane in Gestalt einer durch sie vorgenommenen Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten grundrechtsberechtigter Bürger und damit um das Grundrecht in seiner klassischen Abwehrfunktion. Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss enthält vielmehr einen besonderen Einwilligungstatbestand für die Datenverarbeitung im Verhältnis von Prüfungsteilnehmern an klinischen Arzneimittelprüfungen einerseits und den diese Prüfungen durchführenden Einrichtungen andererseits. Der aus dem Grundrecht verpflichtete Unionsgesetzgeber nimmt hierdurch eine Ausgestaltung des Grundrechts bzw. der darauf bezogenen Einwilligung vor. Dies gilt es bei der Prüfung von Art. 8 GRCh insbesondere im Rahmen des Schutzbereichs und des Eingriffs zu berücksichtigen. 6.2.1. Schutzbereich Das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GRCh schützt zunächst in sachlicher Hinsicht personenbezogene Daten. Zu diesen gehören auch solche über die Gesundheit einer Person139, um deren Nutzung es in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss geht. Schutzbereichsrelevant ist weiterhin die in Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh angesprochene Einwilligung, die als „vornehmster Ausdruck der informationellen Selbstbestimmung“ anzusehen ist.140 Ebenso wie im Zusammenhang mit Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss und Art. 3 GRCh (siehe oben 5.2.1.1.141), lässt sich auch hier vertreten, diese Einwilligung als konkretisierender Bestandteil des grundrechtlichen Schutzbereichs anzusehen. Denn hier wie dort besteht ein enger Zusam- 136 Erläuterungen zur Grundrechte-Charta zu Art. 8 GRCh (siehe Fn. 59). Daneben wird auch auf die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl.EU 2001 Nr. L 8/1, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/justice/policies /privacy/docs/application/286_de.pdf – letztmaliger Abruf am 16.03.16) verwiesen, die in dem hier relevanten Bereich jedoch weitgehend gleichlautende Bestimmung enthält wie die Datenschutzrichtlinie. 137 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh, Rn. 7. Vgl. allerdings zu möglichen Grenzen der Wechselwirkungen zwischen der Datenschutzrichtlinie und dem Grundrecht, Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 1361 ff. 138 Siehe S. 28 ff. 139 Vgl. etwa Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 6; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh, Rn. 9. 140 Brühann, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Recht der Europäischen Union, Bd. III, 40. Aufl. 2009, A 30, Art. 7, Rn. 13. 141 Siehe S. 28 ff. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 44 menhang zwischen Grundrechtsverletzung und der einen Eingriff ausschließenden Einwilligung .142 Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss unterfällt nach dieser Lesart somit auch hinsichtlich seiner Ausgestaltung als Einwilligungstatbestand dem sachlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GRCh. In persönlicher Hinsicht schützt Art. 8 Abs. 1 GRCh jedenfalls alle natürlichen Personen.143 Verpflichtet werden auch durch dieses Grundrecht nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh in erster Linie die Unionsorgane bei der hier betroffenen Sekundärrechtsetzung.144 6.2.2. Eingriff Auf der Ebene des Eingriffs geht es vorliegend nicht um eine von Seiten der verpflichteten Unionsorgane vorzunehmende Verarbeitung von personenbezogenen Daten.145 Als möglicher Eingriff kommt hier nur der in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss geregelte Einwilligungstatbestand in Betracht, der sich auf das Verhältnis zwischen Prüfungsteilnehmer und klinischer Einrichtung bezieht und die weitergehende Nutzung von Daten des ersteren zu bestimmten Zwecken erfasst. Ebenso wie bei der Prüfung der Eingriffsqualität des Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss im Zusammenhang mit Art. 3 GRCh (vgl. oben 5.2.2.146) stellt sich vorliegend die Frage, unter welchen Voraussetzung die in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss liegende sekundärrechtliche Ausgestaltung als Eingriff angesehen werden kann. Auch an dieser Stelle erscheint es vertretbar, jedenfalls das Abweichen von einem noch näher zu bestimmenden Mindeststandard als Eingriff zu werten. Als Bezugspunkt für diesen Standard kommt in diesem Kontext vor allem die Datenschutzrichtline und ihre Vorgaben für die Einwilligung in die Datenverarbeitung in Betracht.147 6.2.2.1. Vorgaben der Datenschutzrichtlinie für die Einwilligung in die Datenverarbeitung Die datenschutzrechtliche Einwilligung wird in Art. 2 lit. h) Datenschutzrichtlinie als jede Willensbekundung definiert, die ohne Zwang, für den konkreten Fall und in Kenntnis der Sachlage 142 Zur Funktion der Einwilligung nach Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh als Eingriffsausschlussgrund, siehe Frenz, Handbuch Europarecht - Band 4 Europäische Grundrechte, 2009, Rn. 1417; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 9. 143 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 7. 144 Vgl. bereits oben zu Art. 3 GRCh, 5.2.1.4., S. 12. 145 Siehe zum typischen Eingriff in Art. 8 GRCh, Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 8; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh, Rn. 12. 146 Siehe S. 31 ff. 147 So etwa Frenz, Handbuch Europarecht - Band 3 Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1418; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 8 GRCh, Rn. 13; beide allerdings abstrakt in Bezug auf die Anforderungen an eine Art. 8 GRCh entsprechende, einen Eingriff ausschließende Einwilligung. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 45 erfolgt und mit der die betroffene Person akzeptiert, dass personenbezogene Daten, die sie betreffen , verarbeitet werden. Entscheidend ist vorliegend, ob die Voraussetzungen der Kenntnis in Sachlage und des konkreten Falls erfüllt sind. Für die Bestimmung der Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit die Einwilligung in Kenntnis der Sachlage erfolgt, liegt es nahe, auf die Aufklärungspflichten der Datenschutzrichtlinie in Art. 10 abzustellen.148 Danach sind von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen anzugeben : die Identität des für die Verarbeitung Verantwortlichen und gegebenenfalls seines Vertreters , die Zweckbestimmungen der Verarbeitung, weitere Informationen, sofern sie unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände, unter denen die Daten erhoben werden, notwendig sind, um gegenüber der betroffenen Person eine Verarbeitung nach Treu und Glauben zu gewährleisten, wie insbesondere o die Empfänger oder Kategorien der Empfänger der Daten, […] o das Bestehen von Auskunfts- und Berichtigungsrechten bezüglich sie betreffender Daten. Wann eine Erteilung für den konkreten Fall erfolgt, wird in der Datenschutzrichtlinie nicht näher definiert. Im Schrifttum findet man dazu die Aussage, dass die Einwilligung nicht pauschal erfolgen darf, sondern sich auf eine konkrete Verarbeitung beziehen sowie ein Verantwortlicher und der Zweck der Verarbeitung bestimmt sein muss.149 Ergänzend ist an dieser Stelle noch hinzuzufügen, dass die Datenschutzrichtlinie an mehreren Stellen die Verarbeitung personenbezogener Daten zu historischen, statistischen und wissenschaftlichen Forschungszwecken, auf die sich auch der broad consent bezieht, im Vergleich zu anderen Zwecken hinsichtlich der Zulässigkeitsanforderungen an die Datenverarbeitung privilegiert , auch wenn diese Privilegierungen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Vorgaben zur Einwilligung stehen. Nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) Datenschutzrichtlinie etwa ist eine Weiterverarbeitung von Daten zu historischen, statistischen oder wissenschaftlichen Zwecken im allgemeinen nicht als unvereinbar mit den Zwecken der vorausgegangenen Datenerhebung anzusehen, sofern die Mitgliedstaaten geeignete Garantien vorsehen. Nach dem hier nicht einschlägigen Art. 11 Abs. 2 Datenschutzrichtlinie150 finden die Informationspflichten nach dessen Absatz 1 — insbesondere bei Verarbeitungen für Zwecke der Statistik oder der historischen oder wissenschaftlichen Forschung — keine Anwendung, wenn die Information der betroffenen Person unmöglich ist, unverhältnismäßigen Aufwand erfordert oder die Speicherung oder Weitergabe durch Gesetz 148 Hierbei wird davon ausgegangen, dass Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss nur solche Gesundheitsdaten erfasst, die bei dem Prüfungsteilnehmer selbst erhoben wurden. Nur diese Konstellation wird von Art. 10 Datenschutzrichtlinie regelt. In Fällen, in denen personenbezogene Daten nicht bei der die betreffenden Person, sondern auf andere Weise erhoben wurden, regelt Art. 11 Datenschutzrichtlinie die Informationspflichten. Diese entsprechen allerdings weitgehend den in Art. 10 Datenschutzrichtlinie vorgesehenen Pflichten. 149 Vgl. Johlen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 8 GRCh, Rn. 53; Ehmann/Helfrich, EG-Datenschutzrichtlinie, 1999, Art. 2, Rn. 71. 150 Vgl. hierzu die Ausführungen in Fn. 148. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 46 ausdrücklich vorgesehen ist. In diesen Fällen haben die Mitgliedstaaten geeignete Garantien vorzusehen . 6.2.2.2. Verständnis des Einwilligungstatbestandes in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss Für die Frage, ob Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss den soeben dargestellten Mindestanforderungen genügt, ist zunächst zu klären, wie diese Regelung zu verstehen ist. Mit Blick auf den Umstand, dass Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss Teil eines Verordnungsvorschlags zu den Voraussetzungen klinischer Arzneimittelprüfungen ist, ließe sich sein Norminhalt dahingehend verstehen, dass er hinsichtlich der Einwilligungsanforderungen lediglich auf datenschutzrechtliche (Spezial-)Bestimmungen verweist und die für diesen Einwilligungstatbestand vorgesehenen Zwecke (historische, statistische, und wissenschaftliche Forschungszwecke) nur allgemein umschreibt. In der Konsequenz läge es an der klinischen Einrichtung, diesen Einwilligungstatbestand entsprechend den geltenden datenschutzrechtlichen Vorgaben im Einzelfall auszugestalten. Bei einem solchen Verständnis läge kein Abweichen vom Mindeststandard und somit kein Eingriff vor, da gerade auf die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Vorgaben verwiesen würde. Möglich ist aber auch eine andere Auslegung. Es lässt sich angesichts des Wortlauts und des Fehlens eines ausdrücklichen Verweises auf die Beachtung datenschutzrechtlicher Bestimmungen vertreten, dass Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss ein in sich vollständigen Einwilligungs-tatbestand enthält, der in dieser Formulierung auch einem entsprechendem Vordruck zugrunde gelegt werden könnte. Für diesen Fall stellte sich die Frage, ob darin nicht eine Abweichung von dem Mindeststandard zu sehen wäre. Vorzugswürdiger erscheint die erste Lesart, da nur diese dem Umstand Rechnung trägt, dass es sich um zwei verschiedene sachliche Materien handelt, die jeweils in zwei verschiedenen Rechtsakten ihren Ausdruck – in der Richtlinie 2001/20/EG einerseits und in der Datenschutzrichtlinie andererseits – gefunden hat. Zwingend ist diese Auslegung jedoch nicht. Wie bereits erwähnt, ist der Wortlaut mehrdeutig und auch die Begründungserwägung enthält keine Hinweise für die eine oder andere Interpretation. Vor diesem Hintergrund ist für die weitere Untersuchung zu unterstellen, dass Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss einen in sich vollständigen Einwilligungstatbestand enthält. 6.2.2.3. Abweichung von den Vorgaben? Zu den zwingenden Vorgaben in Art. 10 Datenschutzrichtlinie für die Kenntnis der Sachlage gehört zum einen die Identität des für die Verarbeitung Verantwortlichen und die Zweckbestimmung der Verarbeitung. Ersteres ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss, da diesem nur entnommen werden kann, dass die Einwilligung gegenüber der zu behandelnden Einrichtungen zu erklären ist, nicht aber, ob auch nur diese für die Verarbeitung verantwortlich zeichnet. Dieser Umstand folgt zwar aus der Begründung zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss, wonach die Daten „von der behandelnden Einrichtung für spätere Forschungstätigkeiten verwendet Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 47 werden können“.151 Ob dies für eine Kenntnis der Sachlage in Bezug auf die Identität des für die Verarbeitung Verantwortlichen genügt, erscheint zweifelhaft. Hinsichtlich der Zweckbestimmung der Verarbeitung verweist Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss auf historische, statistische, und wissenschaftliche Forschungszwecke. Hierdurch erfolgt zwar eine Zweckfestlegung auf bestimmte Bereiche. Sie verbleibt aber allgemein. Sowohl unter historische als auch wissenschaftliche Forschungszwecke lässt sich eine Vielzahl verschiedener Verwendungskonstellationen fassen, so dass eine konkretere Zweckbestimmung ohne weiteres möglich wäre. Fraglich ist allein, ob die Datenschutzrichtlinie eine derart konkrete Zweckbestimmung fordert. Mit Blick auf fehlende Rechtsprechung zu dieser Frage, lässt sich an dieser Stelle keine abschließende Antwort geben. Stützt man sich auf die im Schrifttum geforderten Anforderungen an eine Einwilligung, so wird etwa vertreten, dass der Zweck der Datenverarbeitung vor Erteilung der Einwilligung so genau wie möglich festgelegt sein muss.152 Angesichts der allgemein gefassten Zwecke wäre hier sicherlich eine genauere Angabe möglich. Genau dieser Aspekt führt auch zu Schwierigkeiten hinsichtlich der Vorgabe, wonach die Einwilligung für einen konkreten Fall zu erteilen ist. Von seinem Wortlaut zielt Art. 28 Abs. 2a ENVI- Beschluss ersichtlich auf eine zukünftige Verwendung der Daten zu den genannten Zwecken. Zum Zeitpunkt der Einwilligung wird zumeist gar nicht feststehen, vor allem zu welchen konkreten historischen oder wissenschaftlichen Forschungszwecken die Daten zukünftig verarbeitet werden könnten. Im Übrigen müsste auch hinsichtlich der Konkretheit u.a. feststehen, wer verarbeitet . Dies ist – wie eben festgestellt – jedenfalls dem Wortlaut des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss nicht hinreichend klar zu entnehmen. Im Zusammenhang mit den Anforderungen an die Kenntnis der Sachlage ist ferner noch zu fragen , ob nicht auch „weitere Informationen“ nach Art. 10 Datenschutzrichtlinie notwendig wären , wie die beispielhaft angegebenen Empfänger oder Kategorien der Empfänger der Daten sowie das Bestehen von Auskunfts- und Berichtigungsrechten. Hierzu enthält Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss ausdrücklich keine Angaben. Allerdings sind dies nach Art. 10 Datenschutzrichtlinie auch keine zwingenden Informationen. Erforderlich sind sie nur, sofern sie unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände, unter denen die Daten erhoben werden, notwendig sind, um gegenüber der betroffenen Person eine Verarbeitung nach Treu und Glauben zu gewährleisten. Ob derartige „spezifische Umstände“ bei der Erhebung von Gesundheitsdaten bei Prüfungsteilnehmern klinischer Arzneimittelstudien anzunehmen sind, erscheint fraglich. Bezug genommen wird im Schrifttum insoweit auf Situationen, in denen die Erhebung der personenbezogenen Daten den Beginn eines komplexen Verarbeitungsprozesses darstellt, in dessen Verlauf eine Vielzahl unterschiedlicher Verantwortlicher für die Verarbeitung beteiligt sind und der betroffenen Person keine Kenntnis davon möglich ist, wann und durch wen erhobene Daten und zu welchen Zwecken verarbeitet und weitergeleitet werden.153 Versteht man Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss 151 Vgl. ENVI-Bericht (Fn. 131). 152 So etwa Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 9 153 Ehmann/Helfrich, EG-Datenschutzrichtlinie, 1999, Art. 10, Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 48 dahingehend, dass nur die die Arzneimittelprüfung durchführende Einrichtung die Daten verwenden darf, so liegt eine derartige Situation fern und die Angabe weiterer Informationen wäre nicht notwendig. Spezifisch an der von Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss erfassten Konstellation ist vielmehr die Allgemeinheit der Verwendungszwecke und die darin angelegte Ausrichtung auf eine zukünftige Verarbeitung der Daten. Ob dies allerdings für die Pflicht zur Angabe weiterer Informationen im Sinne des Art. 10 Datenschutzrichtlinie genügt, ist angesichts des Wortlauts dieser Passage fraglich. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Regelung des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss in dem hier betrachteten Verständnis als in sich abschließender Einwilligungstatbestand durchaus Zweifel aufwirft hinsichtlich der Einhaltung der Vorgaben der Datenschutzrichtlinie zur Einwilligung . Diese Zweifel betreffen zum einen die Allgemeinheit der Verwendungszwecke und zum anderen die Ausrichtung auf eine zukünftige Verarbeitung der Daten. Vor diesem Hintergrund erscheint es vertretbar anzunehmen, dass die Einwilligung nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss den Anforderungen an ihre Erteilung für den konkreten Fall und in Kenntnis der Sachlage nicht entspricht. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Datenschutzrichtlinie die Anforderungen an die einzelnen Merkmale der Einwilligung nur allgemein beschreibt bzw. definiert. Es verbleibt mithin ein Auslegungsspielraum, der vorliegend einer eindeutigen Aussage entgegensteht. Hinzu kommt, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten gerade zu den von Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss erfassten Zwecken der Historie, Statistik und der wissenschaftlichen Forschung in der Datenschutzrichtlinie hinsichtlich der Zulässigkeitsanforderungen privilegiert wird. Hieraus ließe sich ableiten, dass insoweit auch an eine darauf bezogene Einwilligung geringere Anforderungen gestellt werden, als bei einer Verarbeitung von Daten zu anderen Zwecken. Vor diesem Hintergrund muss die Frage, ob Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss eine Abweichung von den Mindeststandards der Datenschutzrichtlinie zur Einwilligung bewirkt, offen bleiben. 6.2.2.4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss jedenfalls dann nicht als Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GRCh angesehen werden kann, wenn darin hinsichtlich der Einwilligungsanforderungen im Einzelnen lediglich ein Verweis auf datenschutzrechtliche Bestimmungen zu sehen ist. Nur soweit man in diesem broad consent einen in sich vollständigen Einwilligungstatbestand erblickt, bestünde Raum für eine Prüfung, ob hierin von dem Mindeststandard der Datenschutzsrichtlinie zur Einwilligung abgewichen wird. Legt man ein solches Verständnis von Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss jedoch zugrunde, lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob eine Abweichung und damit ein Eingriff angenommen werden kann. 6.2.3. Rechtfertigung Für eine Rechtfertigungsprüfung wäre im Zusammenhang mit dem broad consent nur dann Raum, wenn man darin einen Eingriff in Art. 8 GRCh sehen würde. Unterstellte man dies im Folgenden, so würde das bedeuten, dass von einer Abweichung von den Mindeststandards der Datenschutzrichtlinie zur Einwilligung durch Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss auszugehen wäre. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 49 Da diese Bestimmung ersichtlich als Einwilligungstatbestand konzipiert ist, der bei Einschlägigkeit bereits einen Eingriff ausschließen soll, wäre fraglich, ob Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss dann überhaupt noch gerechtfertigt werden könnte, wenn gerade dieser Aspekt sich durchgreifenden rechtlichen Bedenken ausgesetzt sehen würde. Nimmt man dies gleichwohl an, so wäre – zusätzlich zu den Anforderungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh154 – Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRCh zu berücksichtigen. Nach letzterem dürfen Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke auf einer gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden.155 Wie oben bereits angemerkt (vgl. 6.2.2.3.156), sind die Zwecke hier nur sehr allgemein angegeben. Das Erfordernis einer eindeutigen Zweckbindung ist jedoch Ausdruck der notwendigen Vorhersehbarkeit, derer es bedarf, damit die Adressaten ihr Verhalten danach ausrichten können.157 Ob Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss dem genügt, ist daher zweifelhaft. Würde man dies jedoch bejahen wollen, so könnte in der Verfolgung der Zwecke des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss zwar eine gesetzliche legitime Grundlage erblickt werden, fraglich wäre aber die Verhältnismäßigkeit und dort insbesondere die Erforderlichkeit. Eine datenschutzrechtlich ordnungsgemäße Einwilligung würde hier in jedem Fall ein milderes Mittel darstellen . 6.3. Vereinbarkeit mit geltenden Richtlinien Die Frage nach der Vereinbarkeit des broad consent mit geltenden Richtlinien wird vorliegend dahingehend verstanden, dass zu prüfen ist, ob auf Grundlage des aktuellen Sekundärrechts eine Ausgestaltung wie im Fall des Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss vorgesehen möglich wäre.158 Als einschlägige Rechtsakte kommen vorliegend die Richtlinie 2001/20/EG (siehe unter 6.3.1.) sowie die Datenschutzrichtlinie (siehe unter 6.3.2.) in Betracht. 6.3.1. Richtlinie 2001/20/EG Die Richtlinie 2001/20/EG enthält selbst keine spezifischen Regelungen zur Verarbeitung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit der Durchführung von Arzneimittelprüfungen. Für die damit zusammenhängenden Fragen wird vielmehr ausdrücklich auf die Datenschutzrichtli- 154 Vgl. insoweit oben 5.2.3., S. 14 ff. 155 Vgl. zum Verhältnis von Art. 8 Abs. 2 GRCh und Art. 52 Abs. 1 GRCh Frenz, Handbuch Europarecht - Band 3 Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1426 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 8 GRCh, Rn. 11 f. 156 Siehe oben S. 28 ff. 157 Frenz, Handbuch Europarecht - Band 3 Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1433, mit Verweis auf Rechtsprechung , allerdings nicht unmittelbar zur GRCh. 158 Da Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss nach Wirksamwerden ebenfalls im Rang von Sekundärrecht stehen würde, könnte er hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit nicht am Maßstab anderer Sekundärrechtsakte gemessen werden. Vgl. insoweit bereits 5.3, S. 39. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 50 nie verwiesen. Zu nennen ist hierbei insbesondere Art. 3 Abs. 2 lit. c) Richtlinie 2001/20/EG. Danach darf eine klinische Prüfung u.a. nur durchgeführt werden, wenn das Recht des Prüfungsteilnehmers auf den Schutz der ihn betreffenden Daten entsprechend der Datenschutzrichtlinie gewährleistet wird. Hieraus folgt, dass unionssekundärrechtliche Vorgaben für den Datenschutz auch in diesem Bereich allein der Datenschutzrichtlinie zu entnehmen sind, nicht aber der Richtlinie 2001/20/EG. Auf Grundlage letzterer lässt sich der broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss somit nicht beurteilen. 6.3.2. Datenschutzrichtlinie Auf die Datenschutzrichtlinie und deren Vorgaben zur Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten wurde bereits ausführlich im Zusammenhang mit der Eingriffsprüfung im Rahmen des Art. 8 GRCh eingegangen (vgl. 6.2.2.159). Auf diese Ausführungen kann verwiesen werden. Denn auch unter Berücksichtigung allein der Datenschutzrichtlinie kommt man hinsichtlich der Zulässigkeit des broad consent zu keinem abweichendem Ergebnis: An den Anforderungen dieser Richtlinie wäre Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss zunächst nur dann zu messen, wenn es sich dabei um einen in sich vollständigen Einwilligungstatbestand handeln würde. Geht man hiervon aus, so muss die Zulässigkeit des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss letztlich offen bleiben, da sich der Datenschutzrichtlinie insoweit keine hinreichend genauen Vorgaben entnehmen lassen (vgl. insbesondere 6.2.2.3.160). 6.4. Vereinbarkeit mit der ICH-GCP-Leitlinie Ähnlich wie die Richtlinie 2001/20/EG enthält auch die ICH-GCP-Leitlinie keine spezifischen Bestimmungen zur Verarbeitung personenbezogener Daten und deren individualgerichteten Schutz, am Maßstab derer der broad consent in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss vorliegend beurteilt werden könnte. 6.5. Ergebnis Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss geregelten broad consent ist festzuhalten, dass keine eindeutigen Schlussfolgerungen gezogen werden können. Grund hierfür ist zunächst, dass diese Vorschrift unterschiedlich ausgelegt werden kann. Versteht man die darin geregelte Einwilligungskonstellation letztlich als Verweis auf datenschutzrechtliche Bestimmungen zur Einwilligung, die im Einzelfall einzuhalten sind, so fehlt es bereits an einem Eingriff in das Datenschutzgrundrecht aus Art. 8 GRCh. Nur soweit man in Art. 28 Abs. 2a ENVI- Beschluss einen in sich vollständigen Einwilligungstatbestand erblickt, bestünde Raum für eine grundrechtliche Eingriffsprüfung. Der Maßstab hierfür wäre der im Rahmen des Art. 8 GRCh maßgeblich zu berücksichtigenden Datenschutzrichtlinie und ihren Vorgaben zur Einwilligung zu entnehmen. Ob auf dieser Grundlage eine Abweichung von diesem Standard anzunehmen wäre, kann sodann ebenfalls unterschiedlich beurteilt werden. Grund hierfür ist, dass die Datenschutzrichtlinie insoweit keine hinreichend detaillierten Vorgaben enthält und es zudem zu dieser Frage keine einschlägige Rechtsprechung gibt. Aus dem gleichen Grunde lässt sich ferner 159 Siehe S. 44 ff. 160 Siehe S. 46. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 51 nicht entscheiden, ob der broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss allein im Lichte der Datenschutzrichtlinie zulässig wäre. Der Richtlinie 2001/20/EG sowie der ICH-GCP-Leitlinie können zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss hingegen keine Aussagen entnommen werden, da beide Regelungswerke keine spezifischen Bestimmungen zur Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener (Gesundheits-) Daten enthalten, die Gegenstand des broad consent ist. 7. Teil 2: Die Kompromissvorschläge des LIBE-Ausschusses zu Art. 81 und 83 des Kommissionsvorschlags für eine Datenschutz-Grundverordnung im Lichte des informed consent und des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss 7.1. Zu Art. 81 und 83 des Kommissionsvorschlags für eine Datenschutz-Grundverordnung Art. 81 des Kommissionsvorschlags für eine Datenschutz-Grundverordnung (im Folgenden: KomDatSchGrund-VO) regelt die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten, Art. 83 KomDatSchGrund-VO die Datenverarbeitung zu historischen oder statistischen Zwecken sowie zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung. Soweit Gesundheitsdaten zu den in Art. 83 KomDatSchGrund-VO genannten Zwecken verarbeitet werden, findet nach Art. 82 Abs. 2 KomDatSchGrund-VO Art. 83 KomDatSchGrund-VO Anwendung. In ihrer Vorschlagsfassung enthalten beide Bestimmungen keine Vorgaben zu einer Einwilligung in die Datenverarbeitung. Art. 83 Abs. 2 lit a) KomDatSchGrund-VO sieht die Einwilligung als eine der möglichen Zulässigkeitsvoraussetzungen nur für den Fall der Veröffentlichung oder der sonstigen Bekanntmachung von personenbezogenen Daten vor, nicht aber für die Datenverarbeitung selbst. Zu beiden Vorschriften hat der im Europäischen Parlament für diesen Kommissionsvorschlag federführende LIBE-Ausschuss Ergänzungen vorgeschlagen (im Folgenden: LIBE-Vorschlag), die dem Verfasser lediglich im Englischen-Originalwortlaut vorliegen.161 Im hier vorliegenden Kontext sind zunächst die gleichlautenden Ergänzungen in Art. 81 Abs. 1b LIBE-Vorschlag und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag von Bedeutung: „Where the data subject’s consent is required, a one-time consent is sufficient for the processing of medical data exclusively for public health purposes of epidemiological, translational and clinical research.“ Nach diesem Ergänzungsvorschlag genügt in Fällen, in denen eine Einwilligung der betreffenden Person erforderlich ist, diese einmal erteilte Einwilligung auch für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten für Zwecke der öffentlichen Gesundheit in Gestalt epidemiologischer, translatorischer und klinischer Forschung. Von Bedeutung sind ferner die Ergänzungen in Art. 81 Abs. 1c und Abs. 2 LIBE-Vorschlag: 161 Siehe unter Fn. 52. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 52 „1c. For the purpose of consenting to the participation in scientific research activities in clinical trials, the relevant provisions of Directive 2001/20/EC shall apply.” Nach diesem Ergänzungsvorschlag finden auf die Einwilligung in die Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung im Rahmen klinischer Prüfungen die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2001/20/EG Anwendung. „2. Processing of personal data concerning health which is necessary for historical, statistical or scientific research purposes shall be permitted only with the consent of the data subject, and shall be subject to the conditions and safeguards referred to in Article 83.” Nach diesem Ergänzungsvorschlag ist die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten , die für historische und statistische Zwecke sowie für wissenschaftliche Forschungszwecke notwendig ist, nur nach Einwilligung der betreffenden Person möglich, und sie unterliegt den Bedingungen und Garantien des Artikel 83. 7.2. Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zum informed consent Betrachtet man zunächst das Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zum informed consent im Sinne der grundsätzlich erforderlichen Einwilligung nach Aufklärung in die Teilnahme an klinischen Arzneimittelprüfungen, so ist zu konstatieren, dass die Ergänzung in Art. 81 Abs. 1c LIBE-Beschluss klarstellt, dass letzeres ausschließlich den Bestimmungen der Richtlinie 2001/20/EG unterliegt. Es ist nach dem LIBE-Vorschlag somit zwischen der Einwilligung in die Teilnahme an klinischen Arzneimittelprüfungen einerseits und der Einwilligung in die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten andererseits sowie den darauf jeweils anwendbaren Rechtsakte zu unterscheiden. Dies entspricht im Ergebnis auch der geltenden Rechtslage aus der Perspektive der Richtlinie 2001/20/EG, die selbst keine inhaltlichen Vorgaben zu Fragen der Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten im Zusammenhang mit der Durchführung klinischer Arzneimittelprüfungen enthält, sondern insoweit auf die Datenschutzrichtlinie verweist (vgl. oben 6.3.1.162). Mit Blick auf den Umstand, dass die Richtlinie 2001/20/EG durch die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln aufgehoben und inhaltlich ersetzt werden soll, ist zu erwarten, dass der Verweis auf die Richtlinie 2001/20/EG in einen Verweis auf eben jene Verordnung geändert wird. Abweichungen in der Sache würden sich daraus zunächst nicht ergeben. Maßgeblich für die Einwilligung in die Teilnahme an Arzneimittelprüfungen wären dann die Bestimmungen der Verordnung. Ob insoweit dann ein informed consent zur Anwendung käme oder etwa die in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss vorgeschlagene Abweichung hiervon, wäre dann allein auf Grundlage dieser Verordnung zu entscheiden. 162 Siehe S. 49. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 53 Fraglich wäre vor diesem Hintergrund allerdings die Bedeutung und insbesondere das Verständnis des broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss (vgl. hierzu bereits oben 6.2.2.2.163), der die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten regelt, aber eben nicht Bestandteil eines spezifisch datenschutzrechtlichen Rechtsaktes ist. 7.3. Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss Um das Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss zu erörtern , ist es zunächst erforderlich, das Verhältnis der beiden erst genannten Vorschriften zueinander zu klären. Probleme bereitet dieses zum einen angesichts des Umstandes, dass der sog. one-time-consent inhaltsgleich sowohl in Art. 81 Abs. 1b LIBE-Vorschlag als auch in Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag geregelt wird, obwohl es sich dabei um eine Bestimmung im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken handelt. Letzteres soll ausweislich des Wortlautes von Art. 81 Abs. 2 LIBE-Vorschlag nur Art. 83 LIBE-Vorschlag unterliegen . Insoweit wäre eine Regelung des one-time-consent auch nur in dieser Vorschrift zu erwarten gewesen. Zum anderen statuiert Art. 81 Abs. 2 LIBE-Vorschlag die allgemeine Voraussetzung, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten für historische, statistische Zwecke sowie für wissenschaftliche Forschungszwecke nur nach Einwilligung möglich ist und verweist lediglich im Übrigen auf die Bedingungen und Garantien in Art. 83 LIBE-Vorschlag. Hierzu steht jedoch der one-time consent in Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag und letztlich auch der inhaltsgleiche Art. 81 Abs. 1b LIBE-Vorschlag im Widerspruch, da in diesem Fall gerade auf eine gesonderte Einwilligung für Zwecke öffentlicher Gesundheit in Gestalt bestimmter Forschungsanliegen verzichtet wird, soweit eine Einwilligung für die erstmalige Verarbeitung der betreffenden Gesundheitsdaten, wohl zu gewöhnlichen Behandlungszwecken, erteilt wurde. Um diesen Widerspruch aufzulösen, wird vorliegend davon ausgegangen, dass der one-time consent in Art. 81 Abs. 1b und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag für die dort angegebenen Zwecke einen Spezialfall darstellt, der der allgemeinen Regelung in Art. 81 Abs. 2 LIBE-Vorschlag, wonach bei der Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten zu historischen oder statistischen Zwecken sowie zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung immer eine Einwilligung erforderlich ist, vorgeht. Für diese speziell in Art. 81 Abs. 1b und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag beschriebenen Fälle ist daher keine gesonderte Einwilligung erforderlich, es genügt die für die erstmalige Verarbeitung der Gesundheitsdaten zu anderen Zwecken erteilte Einwilligung. Diese erfasst dann auch die weitergehende Verarbeitung. Von einem solchen Verständnis ausgehend ist das Verhältnis der Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zum broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss zu erörtern: In Bezug auf die allgemeine Regel in Art. 81 Abs. 2 LIBE-Vorschlag ist ein inhaltlicher Gleichlauf insoweit zu konstatieren, als auch Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss in jedem Fall eine gesonderte Einwilligung für die Verarbeitung von Daten zu historischen, statistischen und wissenschaftlichen Forschungszwecken vorsieht. Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die 163 Siehe S. 46. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 54 Frage nach der Notwendigkeit einer doppelten Regelung in zwei verschiedenen Sekundärrechtsakten . Abweichungen bestehen hingegen zur Regelung des one-time consent in Art. 81 Abs. 1b und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag, der auf eine gesonderte Einwilligung bei Vorliegen der darin geregelten speziellen Zwecke eben verzichtet. In einen inhaltlichen Widerspruch können der one-time consent und der broad consent allerdings nur insoweit geraten, als sich die Zwecke beider im Einzelfall überschneiden. Denn dann wäre nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss eine Einwilligung erforderlich, nach Art. 81 Abs. 1b und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag nicht. Um diesen möglichen Konflikt zu vermeiden, wäre es empfehlenswert, beide Regelungen aufeinander abzustimmen .164 8. Zusammenfassung 8.1. Teil 1 Im Hinblick auf die Fragestellungen die in den Kapiteln 4.1. und 4.2. behandelt wurden, konnten keine Studien beziehungsweise Fallkonstellationen ermittelt werden, die die Notwendigkeit der Nicht-Einholung eines Informed Consent belegen. Etwaige Regelungen, die die Standards der Helsinki-Deklaration insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit zur Einholung eines „Informed Consent“ nicht einhielten, stehen dieser entgegen beziehungsweise können aus dieser nicht unmittelbar abgeleitet werden. Ein Widerspruch eines Probanden zur weiteren Beteiligung oder einer Beteiligung generell an einer Randomisierung spricht nicht gegen deren Aufrechterhaltung (Kap. 4.3.) Die angefragten Stellungnahmen des BMG, des vfa und der Deutschen Krebsgesellschaft zu den in den Kapiteln 4.1., 4.2., 4.3., 4.5. lagen bei Abgabe noch nicht vor und werden nachgereicht. 8.2. Teil 2 1. In Bezug auf die Rechtmäßigkeit der in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss vorgesehenen Abweichung von der bisherigen Ausgestaltung des informed consent ist festzuhalten, dass diese erheblichen rechtlichen Zweifeln begegnet. Dies betrifft zunächst die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GRCh, dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Versteht man – wie hier vertreten – das Gebot der Einwilligung nach Aufklärung in Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh als konkretisierenden Bestandteil des sachlichen Schutzbereichs des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GRCh, so ist von einem unverhältnismäßigen und damit nicht gerechtfertigten Eingriff auszugehen. Eine andere Bewertung ist allerdings möglich, soweit in Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRCh in Anknüpfung an dessen Wortlaut („entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten“) lediglich ein Charta-Grundsatz im Sinne von Art. 52 Abs. 5 GRCh gesehen 164 Anderenfalls wäre das Rangverhältnis dieser gleichgeordneten Rechtsakte entscheidend. Hierzu sowie zur Anwendung der allgemeinen juristischen Kollisionsregeln, Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 288 AEUV, Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 55 wird, der geringeren Rechtsfertigungsanforderungen unterliegt als dies bei einem grundrechtlichen Gehalt der Fall ist. Unvereinbar ist der in Art. 29 Abs. 3a ENVI-Beschluss geregelte Verzicht auf die Äußerung einer ausdrücklichen und schriftlich abgefassten Einwilligung sodann allerdings sowohl mit der geltenden Richtlinie 2001/20/EG als auch mit der (rechtlich nicht verbindlichen) ICH-GCP-Leitlinie. 2. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss geregelten broad consent ist festzuhalten, dass keine eindeutigen Schlussfolgerungen gezogen werden können. Grund hierfür ist zunächst, dass diese Vorschrift unterschiedlichen Auslegungen zugänglich ist. Versteht man die darin geregelte Einwilligungskonstellation letztlich als Verweis auf datenschutzrechtliche Bestimmungen zur Einwilligung, die im Einzelfall einzuhalten sind, so fehlt es bereits an einem Eingriff in das Datenschutzgrundrecht aus Art. 8 GRCh. Nur soweit man in Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss einen in sich vollständigen Einwilligungstatbestand erblickt, bestünde Raum für eine grundrechtliche Eingriffsprüfung. Der Maßstab hierfür wäre der im Rahmen des Art. 8 GRCh maßgeblich zu berücksichtigenden Datenschutzrichtlinie und ihren Vorgaben zur Einwilligung zu entnehmen. Ob auf dieser Grundlage eine Abweichung von diesem Standard anzunehmen wäre, kann sodann ebenfalls unterschiedlich beurteilt werden . Begründet liegt dies darin, dass die Datenschutzrichtlinie insoweit keine hinreichend detaillierten Vorgaben enthält und es zudem zu dieser Frage keine einschlägige Rechtsprechung gibt. Aus dem gleichen Grunde lässt sich ferner nicht entscheiden, ob der broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss allein im Lichte der Datenschutzrichtlinie zulässig wäre. Der Richtlinie 2001/20/EG sowie der ICH-GCP-Leitlinie können zu Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss hingegen keine Aussagen entnommen werden, da beide Regelungswerke keine spezifischen Bestimmungen zur Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener (Gesundheits-) Daten enthalten, die Gegenstand des broad consent sind. 3. Für das Verhältnis von Art. 81 und 83 LIBE-Vorschlag zum informed consent einerseits und dem broad consent nach Art. 28 Abs. 2a ENVI-Beschluss andererseits, gilt es zu unterscheiden: Hinsichtlich des informed consent im Sinne der Einwilligung nach Aufklärung in die Teilnahme an einer klinischen Arzneimittelprüfung stellt Art. 81 Abs. 1c LIBE-Vorschlag zunächst klar, dass sich diese Einwilligung allein nach den Vorschriften der Richtlinie 2001/20/EG richtet (und zukünftig wohl nach der sie ersetzenden Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln richten wird). Hieraus ist zu schlussfolgern, dass zwischen der Einwilligung in die Teilnahme an klinischen Arzneimittelprüfungen einerseits und der Einwilligung in die Verarbeitung der dabei erhobenen personenbezogenen Gesundheitsdaten andererseits zu unterscheiden ist und hierauf entsprechend verschiedene Sekundärrechtsakte Anwendung finden. In Bezug auf den broad consent in Art. 28 abs. 2a ENVI-Beschluss ist zu konstatieren, dass ein inhaltlicher Gleichlauf mit Art. 81 Abs. 2 LIBE-Vorschlag besteht, da beide Bestimmungen eine gesonderte Einwilligung für die (Weiter-)Verarbeitung von Gesundheitsdaten zu historischen, statistischen oder wissenschaftlichen Forschungszwecken vorsehen. Wissenschaftliche Dienste/ Unterabteilung Europa Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 064/13 (Teil 1)/PE 6 – 3000 – 85/13 (Teil 2) Seite 56 Eine Abweichung besteht indes im Verhältnis zum one-time consent in Art. 81 Abs. 1b und Art. 83 Abs. 1a LIBE-Vorschlag, da diese beiden Bestimmungen auf eine gesonderte Einwilligung für die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten für bestimmte Forschungszwecke öffentlicher Gesundheit verzichten und insoweit das Vorliegen einer vorhergehenden, auf andere Zwecke bezogenen Einwilligung ausreichen lassen.