PE 6 - 3000 - 081/19 (12.09.2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Der Fachbereich Europa ist beauftragt worden zu prüfen, ob es der Deutschen Bahn nach geltendem Unionsrecht und insbesondere nach der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 (VO 1371/2007)1 erlaubt sei, Fahrgästen bei einer Reiseverspätung höhere Entschädigungen auszuzahlen, als in der VO 1371/2007 vorgesehen ist. Zunächst ist die Vereinbarkeit der Zahlung erhöhter Entschädigungen durch die Deutsche Bahn mit der VO 1371/2007 zu prüfen (Ziff. 1). Ferner wäre bei der Gewährung erhöhter Entschädigungen durch die Deutsche Bahn das weitere Unionsrecht, insb. das europäische Wettbewerbsrecht zu beachten (Ziff. 2). 1. Vereinbarkeit erhöhter Entschädigungen mit der VO 1371/2007 Die VO 1371/2007, die u. a. gemäß Art. 1 lit. c) die Pflichten von Eisenbahnunternehmen gegenüber den Fahrgästen bei Verspätungen regelt, sieht in Art. 17 Abs. 1 VO 1371/2007 konkrete Mindestentschädigungen für den Fahrgast für Verspätungen vor, für die er keine Fahrpreiserstattung nach Art. 16 VO 1371/2007 erhalten hat. Der Begriff „Mindestentschädigung“ deutet dabei bereits darauf hin, dass weitergehende Entschädigungen von Art. 17 VO 1371/2007 nicht ausgeschlossen sind. Für diese Auslegung spricht Art. 6 Abs. 2 VO 1371/2007, der vorsieht, dass Eisenbahnunternehmen Vertragsbedingungen anbieten können, die für den Fahrgast günstiger sind als die in der VO 1371/2007 vorgesehenen.2 1 VERORDNUNG (EG) Nr. 1371/2007 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, Abl. EU 2007, L 315/14 vom 3.12.2007. 2 Siehe dazu auch Staudinger, EuZW 2008, 751, 753. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 – Zulässigkeit der Zahlung von erhöhten Entschädigungen bei Verspätungen im Eisenbahnverkehr Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 – Zulässigkeit der Zahlung von erhöhten Entschädigungen bei Verspätungen im Eisenbahnverkehr Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 Die Vorschriften in der VO 1371/2007 berechtigen somit Eisenbahnunternehmen, Fahrgästen bei einer Reiseverspätung höhere Entschädigungen auszuzahlen, als in Art. 17 Abs. 1 VO 1371/2007 vorgesehen ist.3 2. Beachtung des europäischen Wettbewerbsrechts, Art. 101 ff. AEUV Im Falle der Zahlung höherer als in der VO 1371/2007 vorgesehenen Entschädigungen durch die Deutsche Bahn wären zudem die europäischen Wettbewerbsregeln zu beachten, Art. 101 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Ziel der europäischen Wettbewerbsregeln ist u. a. gemäß Art. 3 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) i. V. m. Protokoll Nr. 27 der unverfälschte Wettbewerb im Binnenmarkt.4 Zu beachten ist insbesondere das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV bzw. das Verbot des Missbrauchs einer Stellung als öffentliches Unternehmen gemäß Art. 106 Abs. 1 AEUV i. V. m. Art. 102 AEUV. Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH liegt ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung i. S. v. Art. 102 AEUV grundsätzlich in „Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindern, welche von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen“.5 Denkbar wären insoweit Fälle missbräuchlich marktwidriger Entschädigungen („Kampfpreise“) durch die Deutsche Bahn mit dem Ziel Konkurrenten aus dem Markt zu verdrängen.6 Insoweit wäre jedoch bei entsprechenden Anhaltspunkten eine konkrete Einzelfallprüfung erforderlich. Soweit die Deutsche Bahn zur Finanzierung höherer Entschädigungszahlungen staatliche Zuwendungen erhielte, käme zudem eine konkrete Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Verbots staatlicher Beihilfen in Betracht, Art. 107 ff. AEUV. – Fachbereich Europa – 3 In der Literatur ist umstritten, inwieweit die Mitgliedstaaten weitergehende Rechte der Fahrgäste selbst festschreiben können, siehe dazu die Diskussion bei Staudinger, EuZW 2008, 751, 753 m. w. N. 4 EuGH, Urteil vom 21.2.1973, Rs. 6/72 (Europemballage u.a./Kommission), Slg. 1973, 215, Rn. 23, 24; hierzu aus der Literatur: Weiß, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 102 AEUV, Rn. 24; Jung, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 102 AEUV, Rn. 121. 5 EuGH, Urteil vom 13.2.1979, Rs. 85/76 (Hoffman-La Roche/Kommission), Slg. 1979, 461, Rn. 9; vgl. ferner zum Missbrauchsbegriff die Darstellungen in der Literatur: Weiß, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 102 AEUV, Rn. 24 ff.; Jung, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 67. EL Juni 2019, Art. 102 AEUV, Rn. 119 ff. m. w. N.. 6 EuGH, Urteil vom 3.7.1991, Rs. C-62/86 (AKZO/Kommission), Slg. 1991, I-3359, Rn. 70 ff.; Prioritätenmitteilung der Kommission, Abl. EU 2009, Nr. C-45/7, Rn. 63 ff.; siehe hierzu aus der Literatur Weiß, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 102 AEUV, Rn. 31.