Deutscher Bundestag Diskussion um die Einführung eines Insolvenzverfahrens für Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 11 – 3000 – 79/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 2 Diskussion um die Einführung eines Insolvenzverfahrens für Mitgliedstaaten des Euro- Währungsgebiets Aktenzeichen: WD 11 – 3000 – 79/12 Abschluss der Arbeit: 18. April 2012 Fachbereich: WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Vorschläge zur Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten 4 2.1. Vorschlag von Paulus 4 2.2. Vorschlag von Fuest, Hellwig, Sinn und Franz 5 2.3. Vorschlag von Gros und Mayer 7 2.4. Arbeitspapier der Bundesministerien der Finanzen und Justiz laut Bericht des Spiegels 7 2.5. Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und Politik für ein Insolvenzrecht für Staaten 9 3. Rechtliche Umsetzungsmöglichkeiten 10 4. Ausblick 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 4 1. Einleitung Seit dem Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird in Wissenschaft und Politik verstärkt die Frage diskutiert, wie ein souveräner Staat notwendigenfalls einem Insolvenzverfahren unterworfen werden kann.1 Die Diskussion hatte im Jahr 2010 seit der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, des aus diesem Grunde beschlossenen 110-Milliarden-Euro-Hilfspakets der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets für Griechenland und den anschließend gespannten Rettungsschirmen an Intensität zugenommen. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat beispielsweise schon in einem Interview vom März 2010 ein Insolvenzverfahren für Staaten gefordert.2 Eine entsprechende Forderung folgte von Bundeskanzlerin Angela Merkel3 und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Mai 2010.4 Die Diskussion bzgl. der Notwendigkeit der Einführung eines Insolvenzrechts für Staaten ist nach wie vor aktuell. So fand vom 13. bis 14. Januar 2012 eine internationale Tagung an der Humboldt -Universität Berlin statt zum Thema „A Debt Restructuring Mechanism for European Sovereigns – Do We Need a Legal Procedure?” statt, bei welcher Wolfgang Schäuble die Eröffnungsrede hielt. 2. Vorschläge zur Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten 2.1. Vorschlag von Paulus In einem Beitrag im Focus vom 5. Mai 2010 hat der Berliner Professor für Insolvenzrecht Christoph G. Paulus einen Vorschlag für ein Insolvenzverfahren für den begrenzten Raum der Euro- Zone unterbreitet.5 Er nennt als unabdingbare Voraussetzung für ein derartiges Verfahren die Schaffung eines neutralen und unabhängigen Gerichts, das zweckmäßigerweise aus einem fest 1 Vgl. z. B. Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff.; Aden, Staateninsolvenz, online abrufbar auf der Seite der Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft e.V. unter: http://www.swg-hamburg.de/Archiv/Beitrage_aus_der_Rubrik_- _Wirt/Staateninsolvenz.pdf (Stand: 18. April 2012). 2 Interview im Focus vom 20. März 2010, „Köhler fordert Insolvenzverfahren für Staaten“, online abrufbar unter: http://www.focus.de/politik/deutschland/focus-interview-koehler-fordert-insolvenzverfahren-fuer-staaten _aid_491428.html (Stand: 18. April 2012). 3 Unter Bezugnahme auf ein Interview der Bundeskanzlerin mit der ARD, Welt vom 4. Mai 2010, „Schäuble fordert Insolvenzverfahren für EU-Staaten, online abrufbar unter: http://www.welt.de/politik/deutschland/article 7463650/Schaeuble-fordert-Insolvenzverfahren-fuer-EU-Staaten.html (Stand: 18. April 2012). 4 Vgl. Focus vom 4. Mai 2010, „Schäuble fordert Insolvenzverfahren für Staaten“, online abrufbar unter: http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/schuldenkrise-schaeuble-fordert-insolvenzverfahrenfuer -staaten_aid_504689.html (Stand: 18. April 2012). 5 Paulus, „Wie ein Insolvenzverfahren aussehen könnte“, Focus vom 5. Mai 2010, online abrufbar unter: http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/staatspleite-wie-ein-insolvenzverfahren-aussehen-koennte _aid_505064.html (Stand: 18. April 2012). Vgl. ausführlich auch Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 5 angestellten Präsidenten besteht sowie aus einem Pool aus 20 bis 30 Schadenregulierungsexperten . Dieses Gericht soll das Verfahren ab dem Moment leiten, von dem an ein Staat die Einleitung des Schuldenrestrukturierungsverfahrens beantragt. Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag sei die „Untragbarkeit der Schuldenlast“. Als mögliche Folge der Einleitung eines derartigen Verfahrens beschreibt Paulus etwa die Einführung eines allgemeinen Moratoriums für alle Gläubiger ; ferner die Berechtigung des Schuldnerstaats, bestimmte frühere Verträge zu annullieren oder gar weggegebene Vermögenswerte unter bestimmten Voraussetzungen zurückzuholen. Wichtig sei, dass das Verfahren nicht etwa auf bestimmte Gläubiger begrenzt werde, sondern dass alle davon erfasst würden. Das Gericht solle auch die Kompetenz haben, die Berechtigung der Gläubigerforderungen zu überprüfen. Als regelungsbedürftige Fragen wirft Paulus Folgendes auf: Bestimmt werden müsse, was genau mit dem Begriff „Staat“ gemeint sein soll. Außerdem müsse die Frage geklärt werden, ob und, wenn ja, wie die Gläubiger am Verfahren teilnehmen können oder sollen. Ggf. könnten Gläubigerinteressen gebündelt und durch einen Vertreter repräsentiert werden. Im eigentlichen Kern des Verfahrens müsse die Entscheidung getroffen werden über den Plan der Maßnahmen zur Schuldenrestrukturierung : Wer darf einen solchen Plan entwerfen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein derartiger Plan die Gläubiger bindet? Soll es zur Annahme des Planes eine Abstimmung durch den Gläubiger geben, oder ist die Annahme des Planes abhängig von der Billigung des Gerichts? Eine ausführliche Diskussion von Vorschlägen und ein konkreter Vorschlag einer rechtlichen Handhabe zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten findet sich in einem Aufsatz von Paulus aus dem Jahr 2009.6 2.2. Vorschlag von Fuest, Hellwig, Sinn und Franz Die Wissenschaftler Clemens Fuest, Martin Hellwig, Hans-Werner Sinn und Wolfgang Franz haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juni 2010 „Zehn Regeln zur Rettung des Euro“ veröffentlicht.7 Diese beinhalten u. a. auch die Schaffung eines Insolvenzverfahrens für Staaten. Die Autoren plädieren dafür, dass die Rettungspakete in der jetzigen Form nicht über die vereinbarten Fristen hinaus verlängert werden dürften. Denn sie sähen einen vollständigen Freikauf der Gläubiger von Staaten in Zahlungsschwierigkeiten vor, ohne dass diese Gläubiger einen Teil der Risiken, die sie eingingen, tragen müssten. Dies verführe zur Sorglosigkeit bei der Zinsvergabe und erzeuge ein Übermaß an Zinskonvergenz. Bis zum Auslaufen der Rettungspakete müsse die Politik ein tragfähiges Konzept für die künftigen fiskalpolitischen Regeln in Europa 6 Paulus, Rechtliche Handhaben zur Bewältigung der Überschuldung von Staaten, Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2009, S. 11 ff. 7 Fuest/Hellwig/Sinn/Franz, Appell an die Bundesregierung – Zehn Regeln zur Rettung des Euro, FAZ vom 18. Juni 2010, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/Rub3ADB8A210E754E748F42960CC7349BDF/Doc~EF60849D23B2942438A646C0FB5943 456~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand: 18. April 2012); vgl. auch den älteren Artikel von Fuest in der FAZ vom 20. Mai 2010, „Wege zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euro-Raum“, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/RubC9401175958F4DE28E143E68888825F6/Doc~EE903C526FDA14A1CB677D55C41D8B B8F~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand: 18. April 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 6 entwickeln. Dieses Konzept müsse zwei Elemente enthalten: schärfere politische Schuldenschranken und vor allem ein Insolvenzverfahren für Staaten. Um staatliche Haushaltsdisziplin in Europa durchzusetzen, müsse man den Kapitalmärkten glaubwürdig vermitteln, dass im Fall einer Überschuldung eines Landes zuerst die Gläubiger haften, bevor Hilfen von Gemeinschaftsinstitutionen oder anderen Mitgliedstaaten in Frage komme. Die Autoren plädieren für folgende fiskalpolitischen Regeln für die Eurozone: 1. Hilfen könnten bedrängten Staaten grundsätzlich nur nach einer einstimmigen Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit durch die an den Hilfsaktionen beteiligten Länder und den Internationalen Währungsfonds (IWF) gewährt werden. 2. Die Hilfen sollten als verzinsliche Bürgschaften (Avalkredite) oder als Kredite gewährt werden, deren Zins um einen angemessenen Prozentsatz (möglicherweise 3,5 Punkte) über dem europäischen Durchschnittszins liege. Die Kredite sollten einen bestimmten maximalen Prozentanteil des Bruttoninlandsproduktes des hilfsbedürftigen Landes nicht überschreiten. 3. Zugleich mit der Gewährung der Hilfen müssten die Altgläubiger durch einen sogenannten Hair Cut auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten. Der maximale Verzicht sollte klar beziffert werden, um eine panikartige Zuspitzung des Krisengeschehens auszuschließen. Die Autoren halten einen Hair Cut von 5 Prozent pro Jahr seit der Emission eines Staatspapiers für angemessen. 4. Das Budget des von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Landes werde unter die Kontrolle der Europäischen Kommission (Kommission) gestellt. Die Kommission erarbeite mit dem betreffenden Land ein Programm zur Sanierung der Staatsfinanzen, das auch Reformen zur Stärkung des Wirtschaftswachstums beinhalten könne. Die Hilfen würden unter der Bedingung aufrechterhalten, dass das Land die Auflagen des Programms erfülle. 5. Diese Insolvenzordnung dürfe keinesfalls durch andere Hilfssysteme unterlaufen werden, die Anreize zu opportunistischem Verhalten gäben, insbesondere nicht durch Eurobonds. 6. Die Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sollten nach Auffassung der Autoren in Abhängigkeit von der Schuldenquote modifiziert werden, um von hochverschuldeten Ländern frühzeitig mehr Haushaltsdisziplin einzufordern. 7. Für die Überschreitung der Schuldengrenzen seien Strafen zu definieren, die automatisch ohne weiteren politischen Beschluss fällig würden, wenn die Statistikbehörde der Kommission (Eurostat) die Defizite formell festgestellt hat. Die Strafen könnten pekuniärer Natur sein und die Form von Pfandbriefen annehmen, die mit privatisierbarem Staatsvermögen besichert sind, und sie könnten auch nicht-pekuniäre Elemente enthalten wie z. B. den Entzug von Stimmrechten im Rat der EU. 8. Eurostat solle zum Zweck der Feststellung der Defizite und Schuldenquoten die Befugnis erhalten, von allen Ebenen der nationalen Statistikbehörden direkt Auskunft zu verlangen und vor Ort eigenständige Kontrollen der Erhebungsprozeduren vorzunehmen. 9. Schlussendlich sollte für den Fall, dass alle genannten Hilfs- und Kontrollsysteme versagten und dennoch eine abermalige Insolvenz einträte, das Ausscheiden des betroffenen Landes aus dem Euro-Währungsverbund durch mehrheitlichen Beschluss der Euro-Staaten ermöglicht werden. 10. Der freiwillige Austritt aus dem Euro-Währungsverbund sollte jederzeit möglich sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 7 Schon in einer früheren Publikation hatte Fuest ein Insolvenzverfahren für hochverschuldete Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets gefordert.8 In einem solchen Verfahren müssten die Gläubiger des insolventen Landes einen Teil ihrer Forderungen einbüßen. Das Verfahren müsse in der Hand einer mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Institution liegen, etwa eines neu zu schaffenden Europäischen Währungsfonds. Bis zur Schaffung einer neuen Institution könnte die Europäische Zentralbank (EZB) mit der Umschuldung beauftragt werden und vorübergehend entsprechende Kompetenzen erhalten. 2.3. Vorschlag von Gros und Mayer Daniel Gros und Thomas Mayer schlagen in einer Studie von Februar 2010 die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds vor.9 Dieser Europäische Währungsfonds soll Verfahren vorsehen, um eine geordnete Insolvenz eines seiner Mitglieder zu ermöglichen.10 Die Autoren schlagen vor, dass der Europäischen Währungsfonds den Gläubigern des zahlungsunfähigen Staates eine Umschuldung anbietet im Gegenzug für einen gleichmäßigen Hair Cut der Ansprüche gegen den Europäischen Währungsfonds. So würde der Europäische Währungsfonds alle Ansprüche gegen den zahlungsunfähigen Staat erwerben. Auf diese Weise könnte der Europäische Währungsfonds einen Rahmen für die Insolvenz eines Staates vorsehen, der vergleichbar sei mit dem sog. Kapitel -11-Verfahren, das in den Vereinigten Staaten für insolvente Unternehmen, die für eine Restrukturierung geeignet seien, existiere.11 2.4. Arbeitspapier der Bundesministerien der Finanzen und Justiz laut Bericht des Spiegels Nach einem Bericht der Zeitschrift Der Spiegel von Oktober 2010 erarbeiteten das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das Bundesministerium der Justiz (BMJ) ein Konzept für eine Insolvenzordnung für Staaten.12 Es ist – soweit ersichtlich – bislang nicht der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Im Folgenden wird das Konzept der beiden Ministerien für eine geordnete Insolvenz anhand der Berichterstattung der Zeitschrift Der Spiegel referiert, da sich hieraus vermutlich zumindest Anhaltspunkte für dessen Inhalt und Struktur ergeben. Experten von BMF und BMJ würden ein Verfahren in zwei Schritten vorschlagen: 8 Fuest, Wege zur Bewältigung der Schuldenkrise im Euro-Raum“, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/RubC9401175958F4DE28E143E68888825F6/Doc~EE903C526FDA14A1CB677D55C41D8B B8F~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand: 18. April 2012). 9 Gros/Mayer, How to deal with sovereign default in Europe: Create the European Monetary Fonds now!, Hrsg. CEPS, No. 202/February 2010, online abrufbar unter: http://www.ceps.eu/ceps/download/2912 (Stand: 18. April 2012); vgl. auch Gros/Mayer, Financial Stability beyond Greece, Making the most of the European Stabilisation Mechanism, Hrsg. CEPS, online abrufbar unter: http://www.ceps.eu/ceps/download/3308 (Stand: 18. April 2012). 10 Gros/Mayer, a.a.O., S. 4 ff. 11 Gros/Mayer, a.a.O., S. 5. 12 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 8 Der erste Schritt besteht aus einem Forderungsverzicht der Gläubiger. Nach Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sollen wie bei jeder Insolvenz eines Unternehmens auch bei einer Staateninsolvenz die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen.13 Hiervon erhoffe man sich eine erzieherische Wirkung für Geldgeber und Kreditnehmer. Der Privatsektor solle so in das Verfahren eingebunden werden, um die finanziellen Lasten nicht allein dem Steuerzahler aufzubürden. Die Gläubiger erhielten über den Coupon eine Risikoprämie und müssten demzufolge dieses gesondert prämierte Risiko auch tragen. Das Konzept erhalte eine maßgeschneiderte Kombination aus Laufzeitverlängerung und angemessener Herabsetzung des Nominalwerts oder des Zinssatzes der entsprechenden Anleihen. Im Gegenzug für diesen Verzicht bekämen die Anleger den Restwert der Anleihe, höchstens den halben Nennwert, garantiert. Der Vorteil für die Anleger bestünde damit darin, dass sie nicht die komplette Anleihe abschreiben müssten. Das Schuldnerland müsse eine Garantiegebühr entrichten und trage somit auch eigene Lasten. Als „internationaler Garantiegeber“ fungiere ein neu zu gründender Berliner Club. Hierbei soll es sich um eine entpolitisierte und rechtlich selbständige Einrichtung handeln.14 Diese Institution solle nach Vorbild des Pariser Clubs, der Umschuldungen von Krediten zwischen Privaten regelt, und des Londoner Clubs, der auf Verbindlichkeiten zwischen Banken und Staaten spezialisiert ist, errichtet werden. Der Berliner Club solle sich in Abgrenzung zu diesen Institutionen auf Staatsanleihen und davon abgeleitete Wertpapiere, sogenannte Derivate, konzentrieren. Die Mitglieder des Berliner Clubs könnten sich aus der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20) rekrutieren; denkbar sei aber auch, dass er im Rahmen der Euro-Zone gegründet würde. Weder die Sprecherin des BMF Jeanette Schwamberger noch der damalige Regierungssprecher Ulrich Wilhelm haben auf den Bericht des Spiegels jedoch bestätigt, dass die Bundesregierung eine Art „Berliner Club“ gründe wolle, unter dessen Regie die Umschuldung zahlungsunfähiger Staaten organisiert werden könnte.15 Nach Informationen des Spiegels soll der IWF von Anfang an der Umschuldung beteiligt sein. Dem IWF obliege es festzustellen, ob die erste Stufe des Insolvenzverfahrens, d. h. Schuldenverzicht der Gläubiger und Umstrukturierung, fehlgeschlagen sei. Der zweite Schritt des Verfahrens laufe auf eine vollständige Umschuldung hinaus. Es werde dabei zu einer Einschränkung der souveränen Dispositionsbefugnisse kommen müssen. Anstelle der Regierung des Schuldenlandes solle eine mit den regionalen Besonderheiten des Schuldnerlandes vertraute Persönlichkeit oder Gruppe von Persönlichkeiten die Vermögensinteressen des zahlungsunfähigen Staates wahrnehmen. Zukünftig solle davon abgesehen werden, dass Defizitstaaten Finanzhilfen von anderen Staaten erhalten.16 13 Zitiert nach Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (71). 14 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). 15 Vgl. den Bericht „Details zur Insolvenzordnung für Staaten noch offen“ vom 12. Juli 2010 auf der Homepage Finanzen.net, online abrufbar unter: http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/UDPATE-Details-von-Insolvenzordnung -fuer-Staaten-noch-offen-824557 (Stand: 18. April 2012). 16 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 9 Im Bericht des Magazins Der Spiegel wird davon ausgegangen, dass die Einführung eines solchen Insolvenzverfahrens auf EU-Ebene eine Anpassung der europäischen Verträge erforderlich machen würde.17 2.5. Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und Politik für ein Insolvenzrecht für Staaten Als Teil eines insgesamt drei Komponenten umfassenden Mechanismus für den Umgang mit überschuldeten Staaten im Euro-Währungsgebiet schlägt die Stiftung Wissenschaft und Politik die Einführung eines Insolvenzrechts für Euro-Staaten vor, das ein geordnetes Verfahren für die Restrukturierung des Staatsschuld vorsieht und Vorreiter für ein System globaler Insolvenzregeln sein könnte.18 Der entworfene Mechanismus umfasst neben der Einführung eines Staateninsolvenzrechts einen ständigen Liquiditätsfonds der Euro-Staaten zur streng konditionalisierten Gewährung von Überbrückungskrediten sowie die Emission gemeinsamer Bonds (Anleihen) für maximal 60 Prozent der Staatsschulden der Euro-Staaten. Dieser Mechanismus solle als ständiges Instrumentarium für ein Krisenmanagement zur Lösung von Liquiditäts- und Solvenzproblemen die Reform des Governance-Rahmens der Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen. Dem Vorschlag für die Etablierung eines Insolvenzrechts für Euro-Staaten liegt die These zugrunde , dass einem insolventen Staat durch Hilfskredite bei vernünftigen Annahmen zu Wachstums - und Politikentwicklung keine erfolgreiche Sanierungsunterstützung geleistet werden könne. Vielmehr türmten die neuen Kredite den Schuldenberg dieses Staates weiter auf mit der Konsequenz, dass weder die Rückzahlung dieser Kredite noch ein Ende der Zahlungsschwierigkeiten insgesamt wahrscheinlich würden. Der richtige Weg sei dann der des Staatsbankrottes mit der zumindest teilweisen Einstellung des Schuldendienstes. In Ermangelung eines internationalen Verfahrens für einen geordneten Staatsbankrott sei sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene ein dauerhafter Mechanismus wünschenswert, um die Schulden zahlungsunfähiger Staaten geordnet und regelgebunden zu restrukturieren.19 Als Idealfall beschreiben die Autoren die Schaffung eines globalen Insolvenzverfahrens für Staaten, da die Gläubiger im Falle eines Staatsbankrotts bei der Risikobewertung auf internationale Vergleichbarkeit vertrauen könnten. Für ein solches Verfahren, das die damalige stellvertretende IWF-Direktorin, Anne O. Krueger im Jahre 2001 entworfen hatte,20 spreche der Anreiz für 17 Reiermann, „Regeln für die Pleite“, Spiegel vom 12. Juli 2010, S. 70 (72). 18 Vgl. Schwarzer/Dullien, Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone - Stabilisierungsfonds, Insolvenzrecht für Staaten und Eurobonds, Studie S 19 der Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2010, online abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=7293 (Stand: 18. April 2012). 19 Vgl. Schwarzer/Dullien, S. 9. Die Autoren verweisen auf die bereits seit 2001 geführte Debatte über einen solchen Mechanismus und nennen als Vertreter: Krueger, A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, International Monetary Fund, Washington D.C., 2002, online abrufbar unter: http://www.imf.org/external/pubs/ft/exrp/sdrm/eng/sdrm.pdf (Stand: 18. April 2012), Roubini/Setser, Bailouts or Bail-ins? Responding to Financial Crises in Emerging Economies, Institute for International Economics, Washington, D.C., 2004 sowie Gros/Mayer, How to Deal with Sovereign Default in Europe: Create the European Monetary Fund Now!, s. Fn. 11 sowie Tz. 2.3. 20 Krueger, A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, International Monetary Fund, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 10 Gläubiger und Schuldner, proaktiv eine Einigung für den Fall der Zahlungsunfähigkeit zu suchen , sowie der prozedurale Effekt, dass sich eine Schuldenrestrukturierung nicht jahrelang verzögere . Wegen der fehlenden internationalen Bereitschaft und der Widerstände insbesondere der USA seien solche Vorstöße bislang gescheitert. Daher läge es nahe, eine entsprechende Diskussion im Rahmen der EU weiter voranzutreiben und dabei den Dialog mit den G-20-Staaten, dem IWF sowie den USA fortzuentwickeln. Eine europäische Lösung könne nach Auffassung der Autoren die meisten Forderungen gegen die Euro-Staaten erfassen, da diese ihre Anleihen in erster Linie an europäischen Finanzplätzen emittiert hätten und auch dort handelten. Grundsätzlich müsse es daher möglich sein, ein Insolvenzverfahren über die Regulierung dieser Finanzmärkte zu institutionalisieren. Ein eigens eingerichtetes Gremium würde auf Antrag eines bestimmten Teils der Gläubiger oder der Regierung des betroffenen Staates ein Insolvenzverfahren eröffnen und abwickeln. Die national emittierten Staatsanleihen und ausstehende Forderungen aus Lieferungen und Leistungen würden so weit gekürzt, dass der überschuldete Staat am Ende des Restrukturierungsprozesses einen Schuldenstand erreicht, den er bewältigen kann. Forderungen aus eventuell ausgegebenen gemeinsamen Eurobonds sowie an die EU-Liquiditätsfazilität wären vorrangig und deshalb von der Umstrukturierung ausgenommen. Zur Sicherung der Praktikabilität eines solchen Insolvenzverfahrens dürften die Euro-Staaten allerdings künftig keine Staatspapiere an Finanzplätzen emittieren, die anderen Jurisdiktionen unterliegen, wie etwa in den USA. Dies, so die Empfehlung, sollten die Euro-Staaten verbindlich vereinbaren, bevor sie die anderen Mechanismen einführen. Eine solche Übereinkunft würde auch verhindern, dass das Emissionsgeschäft von Staatsanleihen infolge eines EU-Insolvenzrechts für Staaten von Finanzplätzen innerhalb der EU verdrängt und auf andere Finanzplätze verlagert wird.21 Alternativ wird angeregt, in einem Insolvenzverfahren nationale Staatsanleihen in Eurobonds und neue, nationale Anleihen umzutauschen,22 wobei die Anleger eine Klausel zu akzeptieren hätten, nach der ein solches Verfahren anerkannt wird. Aus Gläubigersicht bestehe der Anreiz darin, dass sie durch den Erwerb von Eurobonds Anleihen mit größerer Sicherheit erhielten, weil alle Euro-Staaten als gemeinsame Emittenten kollektiv dafür hafteten. In der Summe würde die Anlage durch die Kollektivhaftung für einen Teil der Papiere tendenziell sicherer, keinesfalls jedoch unsicherer. Würde der Weg eines in dieser Weise ausgestalteten Insolvenzverfahrens beschritten , müssten sich die Euro-Staaten verpflichten, auch für die künftige Emission der Staatsanleihen solche Klauseln in ihre Anleiheverträge aufzunehmen. 3. Rechtliche Umsetzungsmöglichkeiten Die Frage, wie ein etwaiges Insolvenzrecht für Staaten, in den Verträgen der Europäischen Union verankert werden müsste und ob dies überhaupt erforderlich wäre, stellt sich in Abhängigkeit von der Dimension der angestrebten Lösung: Wird es sich um eine globale, EU-weite oder lediglich die Staaten der Euro-Zone erfassende Lösung handeln? 21 Vgl. Schwarzer/Dullien, S. 31. 22 Ausführlich dazu: Schwarzer/Dullien, S. 32 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 79/12 Seite 11 Würde eine globale Insolvenzordnung für Staaten angestrebt, wäre ein Staateninsolvenzrecht auf Ebene des Völkerrechts zu verankern. Eine Lösung, die alle EU-Staaten umfasst, würde voraussichtlich eine Änderung der grundlegenden Verträge der EU erforderlich machen. Sie wäre thematisch sinnvollerweise in Kapitel VIII des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Wirtschafts- und Währungspolitik ) zu verankern. Wie dies genau zu erfolgen hätte, hängt von der zur Zeit nicht absehbaren konkreten Ausgestaltung ab, etwa davon, ob neue Institutionen geschaffen würden, wie ein Europäischer Währungsfonds. Ggf wäre auch eine Änderung des Vertrags über die Europäische Union (EUV) erforderlich. Eine Lösung, die nur die Staaten mit Zugehörigkeit zum Euro-Währungsgebiet umfasst, könnte auf primärrechtlicher Ebene in Titel VIII, Kapitel 4 AEUV (Besondere Bestimmungen für die Mitgliedstaaten , deren Währung der Euro ist) verankert werden. Wie dies aussehen würde, hängt auch hier von der nicht absehbaren konkreten Ausgestaltung eines Insolvenzrechts ab. 4. Ausblick Innerhalb der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiet gibt es offenbar Widerstände gegen die Einführung eines Staateninsolvenzrechts. Nach Angaben von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble von Juli 2010 sei der Vorschlag für ein Staateninsolvenzrecht bis auf weiteres nicht durchzusetzen.23 Schäuble äußerte gleichwohl die Hoffnung, dass er andere Staaten von der Idee eines Staateninsolvenzrechts noch überzeugen könne. Vorstellbar sei, alle strittigen Reformen nur für die Euro-Staaten einzuführen. - Fachbereich Europa - 23 Mussler, „EU schiebt Insolvenzordnung auf die lange Bank“, FAZ vom 13. Juli 2010, online abrufbar unter: http://www.faz.net/s/Rub3ADB8A210E754E748F42960CC7349BDF/Doc~E82FE4AC66A474C9FA7591A891AA 73DB7~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand: 18. April 2012).