© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 077/17 Nationales Abgeordnetenmandat bei doppelter Staatsbürgerschaft Vorgaben des Unionsrechts Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 2 Nationales Abgeordnetenmandat bei doppelter Staatsbürgerschaft Vorgaben des Unionsrechts Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 077/17 Abschluss der Arbeit: 12.12.2017 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Kontrolle am Unionsrecht trotz mitgliedstaatlicher Kompetenz 4 3. Vorgaben zur Unionsbürgerschaft 4 3.1. Das Wahlrecht gemäß Art. 22 AEUV 4 3.2. Das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV 5 3.2.1. Art. 18 AEUV bei doppelter Staatsangehörigkeit 5 3.2.2. Ausnahme von Art. 18 AEUV: Mit der Staatsangehörigkeit verknüpfte Rechtsposition 5 4. Fazit 7 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich ist um Auskunft ersucht worden, ob eine nationale Regelung, die bestimmt, dass zum Abgeordneten des Bundestages nur wählbar ist, wer allein die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Deutsche Staatsbürger mit einer weiteren Staatsangehörigkeit (doppelte Staatsbürgerschaft) könnten dann nicht in den Bundestag gewählt werden. 2. Kontrolle am Unionsrecht trotz mitgliedstaatlicher Kompetenz Bestimmungen zur Staatsangehörigkeit und zum Wahlrecht zu den nationalen Parlamenten fallen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Auch Materien, die in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen, können jedoch am Maßstab des unmittelbar anwendbaren primären Unionsrechts, insbesondere den Grundfreiheiten und den Unionsbürgerrechten, überprüft werden.1 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diesbezüglich entschieden, dass die Mitgliedstaaten „bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit gleichwohl das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEUV über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, beachten“ müssen.2 Im Folgenden wird daher geprüft, ob das Unionsrecht, insbesondere im Hinblick auf die Unionsbürgerrechte , Vorgaben enthält, an denen eine nationale Bestimmung, wonach nur Menschen mit allein der deutschen Staatsbürgerschaft das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen, zu messen wäre. 3. Vorgaben zur Unionsbürgerschaft Die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU sind nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zugleich Unionsbürger. Als Unionsbürger stehen ihnen besondere politische und allgemeine Rechte zu.3 3.1. Das Wahlrecht gemäß Art. 22 AEUV Art. 22 AEUV bestimmt, dass Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben , das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen besitzen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieselben Vorgaben finden auch in Art. 39 und 40 der Charta der Grundrechte der EU (GRC). Vorgaben zum Wahlrecht in Bezug auf die nationalen Parlamente enthält das Unionsrecht nicht. 1 Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 18 AEUV, Rn. 25; Sander, Die Unionsbürgerschaft als Türöffner zu mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssystemen, DVBl 2005, S. 1014 (1019). 2 EuGH, Urt. v. 8.6.2017, Rs. C-541/15, ECLI:EU:C:2017:432 – Freitag, Rn. 33. 3 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016, S. 344 f., Rn. 757. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 5 3.2. Das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV Gemäß Art. 18 AEUV ist unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. 3.2.1. Art. 18 AEUV bei doppelter Staatsangehörigkeit Art. 18 AEUV verbietet Diskriminierung aufgrund des Kriteriums der Staatsangehörigkeit, das den Inländer vom (EU-)Ausländer unterscheidet.4 In den Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV können nach der Rechtsprechung des EuGH auch Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit fallen , die Angehörige eines Mitgliedstaats sind, sich aber rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten.5 Dem steht nach Ansicht des EuGH nicht entgegen, dass die Betroffenen zugleich die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzen, in dem sie sich ggf. seit ihrer Geburt aufhalten . In der Rechtssache Garcia Avello konnten sich daher Kinder mit spanischer und belgischer Staatsangehörigkeit, die in Belgien geboren worden waren und lebten, gegenüber dem belgischen Staat aufgrund ihrer spanischen Staatsangehörigkeit auf ihre Unionsbürgerrechte und das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV berufen.6 In der Rechtssache Lounes vom 14. November 2017 entschied der EuGH hinsichtlich des aus der Unionsbürgerschaft resultierenden Freizügigkeitsrechts gemäß Art. 21 AEUV, „dass bei Personen, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen, ein Bezug zum Unionsrecht besteht."7 Deutsche Staatsbürger mit einer zweiten Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats der EU, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben bzw. durch nationale Maßnahmen in diesem Recht beschränkt werden, können dieser Rechtsprechung zufolge in den Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV fallen. Folglich wäre denkbar, dass in Bezug auf diese Personen eine nationale Regelung, die bestimmt, dass zum Abgeordneten des Bundestages nur wählbar ist, wer allein die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, am Maßstab des Art. 18 AEUV zu messen ist. 3.2.2. Ausnahme von Art. 18 AEUV: Mit der Staatsangehörigkeit verknüpfte Rechtsposition Es ist jedoch zu bedenken, dass gerade das Wahlrecht eine besondere Rechtsposition darstellt, die auf dem speziellen Verhältnis von Staat und Bürger beruht und daher nicht auf alle Unionsbürger , die sich im jeweiligen Mitgliedstaat aufhalten, übertragen werden kann. Rechtspositionen , die mit der Staatsangehörigkeit verknüpft sind, wie das Wahlrecht auf nationaler Ebene, fallen nach Ansicht der Literatur nicht in den Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV.8 4 Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV, Rn. 11. 5 EuGH, Urt. v. 2.10.2003, Rs. C-148/02, ECLI:EU:C:2003:539 – Garcia Avello, Rn. 27 f. 6 EuGH, Urt. v. 2.10.2003, Rs. C-148/02, ECLI:EU:C:2003:539 – Garcia Avello, Rn. 27 f. 7 EuGH, Urt. v. 14.11.2017, Rs. C-165/15, ECLI:EU:C:2017:862 – Lounes, Rn. 50. So schon zuvor: EuGH, Urt. v. 8.6.2017, Rs. C-541/15, ECLI:EU:C:2017:432 – Freitag, Rn. 33. 8 Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 18 AEUV, Rn. 26; Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV, Rn. 25; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 244 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 6 Diese Rechtsansicht vertrat auch der Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bickel und Franz. Dort führte er aus, es sei schwierig, zu bgründen, „warum das Gemeinschaftsrecht irgendeine Art von Ungleichbehandlung zulassen sollte, die ausschließlich auf der Staatsangehörigkeit beruht, soweit es sich nicht um grundlegende Fragen der Staatsangehörigkeit geht, wie etwa der Zugang von Stellen im öffentlichen Dienst oder die Ausübung bestimmter politischer Rechte.“9 Ähnlich sind auch die Ausführungen des Generalanwalts La Pergola, der in der Rechtssache Martínez Sala in seinen Schlussanträgen ausführte: „Der Anspruch des gebietsansässigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats gegenüber den Staatsangehörigen des Staates, der ihn aufnimmt, ist daher ungerechtfertigt, wenn es um Rechte geht, die so verstanden werden müssen, daß sie letzteren gerade aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft vorbehalten sind. Dies ist eine allgemeine Grenze, die außer Frage steht und sich aus den Bestimmungen ergibt, die der Festlegung des Anwendungsbereichs des Vertrages zugrunde liegen. Die besonderen Bestimmungen über das Diskriminierungsverbot, die der Vertrag in bezug auf das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei Kommunalwahlen aufgestellt hat, weichen nämlich ausdrücklich von den Rechtsvorschriften ab, die offenkundig in die Zuständigkeit der Rechtsordnung und vermutlich der Verfassung des einzelnen Mitgliedstaats fallen.“10 Gegen eine Anwendung des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV auf das passive Wahlrecht in Bezug auf die nationalen Parlamente spricht, wie von Generalanwalt La Pergola erwähnt, die Tatsache, dass Art. 22 AEUV explizit die Frage des passiven Wahlrechts in Bezug auf das Europäische Parlament und die kommunale Ebene regelt. Es widerspricht der Systematik der Unionsverträge ein passives Wahlrecht für Unionsbürger bei den Wahlen zum nationalen Parlaments des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz haben, in Art. 18 AEUV hineinzulesen, wenn ein solches Wahlrecht bezüglich anderer demokratisch gewählter Organe explizit in anderen Artikeln festgelegt worden ist. Die Regelung in Art. 22 AEUV wäre überflüssig, wenn das passive Wahlrecht von Unionsbürgern, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsmitgliedstaat leben, schon aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV folgt. Im Unterschied zum passiven Wahlrecht in Bezug auf das Europäische Parlament und die kommunale Ebene ist das passive Wahlrecht in Bezug auf die nationalen Parlamente nicht in Art. 18 ff. AEUV geregelt.11 Ein weiteres Argument für eine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot folgte aus Art. 45 Abs. 4 AEUV, der bestimmt, dass die unionsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung findet. Hintergrund dieser Regelung ist die Erwägung , dass die Ausübung bestimmter Tätigkeiten ein Verhältnis besonderer Verbundenheit zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzt, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen.12 Diese Argumentation bezüglich einer Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung lässt sich auf eine Tätigkeit im nationalen Parlament übertragen. 9 Schlussanträge des GA Jacobs vom 19.3.1998, Rs. C-274/96, ECLI:EU:C:1998:115 – Bickel und Franz, Rn. 27. 10 Schlussanträge des GA La Pergola vom 1.7.1997, Rs. C-85/96, ECLI:EU:C:1997:335 – Martínez Sala, Rn. 21. 11 Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV, Rn. 25. 12 EuGH, Urt. v. 17.12.1980, Rs. 149/79, ECLI:EU:C:1980:297 – Kommission/Belgien, Rn. 10. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 077/17 Seite 7 Es gibt zwar keine Rechtsprechung des EuGH zu dieser Frage, es ist aber herrschende Meinung in der Literatur und folgt aus der Systematik der Verträge, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV keine Anwendung auf das passive Wahlrecht zu nationalen Parlamenten findet. 4. Fazit Das Unionsrecht enthält mithin keine Vorgaben, an denen eine nationale Bestimmung, wonach nur Menschen mit allein der deutschen Staatsbürgerschaft das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen, zu messen wäre. – Fachbereich Europa –