© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 076/17 Unionsrechtliche Zulässigkeit eines Zuschlags auf die Umsatzsteuer bei einer Übertragung von Gewinnen an verbundene Unternehmen mit Ansässigkeit in Staaten mit niedriger Gewinnbesteuerung Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 076/17 Seite 2 Unionsrechtliche Zulässigkeit eines Zuschlags auf die Umsatzsteuer bei einer Übertragung von Gewinnen an verbundene Unternehmen mit Ansässigkeit in Staaten mit niedriger Gewinnbesteuerung Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 076/17 Abschluss der Arbeit: 30. November 2017 Fachbereich: PE 6 – Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 076/17 Seite 3 1. Fragestellung Die Ausarbeitung setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Einführung eines Zuschlags auf die Umsatzsteuer für den Vertrieb von Produkten oder Dienstleistungen von Unternehmen in Deutschland, die einen Großteil ihrer Gewinne an verbundene Unternehmen übertragen, die in EU-Mitgliedstaaten mit einer im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Gewinnbesteuerung ansässig sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 2. Primärrechtliche Anforderungen Die Einführung eines Zuschlags auf die Umsatzsteuer für den Vertrieb von Produkten oder Dienstleistungen von in Deutschland ansässigen Unternehmen, die einen Großteil ihrer Gewinne an verbundene Unternehmen übertragen, die in EU-Mitgliedstaaten mit einer im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Gewinnbesteuerung ansässig sind, muss mit dem Unionsrecht insgesamt und insbesondere den Grundfreiheiten vereinbar sein. Dies gilt unbeschadet der steuerrechtlichen Prämissen1 und der Notwendigkeit eines dementsprechenden sekundärrechtlichen Handlungsspielraums.2 Mit Blick auf die projektierte Regelung und deren Ziel, Steuergestaltungen durch einen Zuschlag auf die Umsatzsteuer weniger attraktiv zu machen, kommen vorliegend insbesondere die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 65 AEUV) in Betracht. Aufgrund des abstrakten Sachverhalts und mit Blick auf die grundsätzliche Konvergenz der Grundfreiheiten wird im Folgenden einerseits von einer parallelen Anwendbarkeit beider Grundfreiheiten ausgegangen.3 Andererseits beschränkt sich die Darstellung auf einen Überblick über die steuerrechtsbezogenen Rechtfertigungsgründe für einen unterstellten Eingriff in den Schutzbereich der vorgenannten Grundfreiheiten. Vor diesem Hintergrund ergibt sich aus dem Primärrecht und seiner Auslegung durch den EuGH, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten jedenfalls durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann. Dies betrifft im Grundsatz sowohl die Rechtsangleichung im Bereich der direkten Steuern (Art. 115 AEUV) als auch die Harmonisierung im Bereich der indirekten Steuern (Art. 113 AEUV), sofern die Mitgliedstaaten in diesen Bereichen einen Handlungsspielraum besitzen. Dabei müssen die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses grundsätzlich nicht wirtschaftlicher Art sein. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann die Rechtfertigung einer Beschränkung daher weder auf allgemeine finanzielle Interessen eines Mitgliedstaats noch auf das Ziel gestützt werden, Steuermindereinnahmen zu vermeiden.4 Als zwingende Gründe des Allgemeininteresses mit Bezug zu steuerrechtlichen Regelungen, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen und die für die vorliegende Fragestellung von Bedeutung 1 Siehe oben unter 2. 2 Siehe unter 3. 3 Zur Abgrenzung vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 43. EL März 2011, Art. 49 AEUV, Rn. 128 ff. 4 Vgl. EuGH, Rs. C-386/04 (Stauffer), Rn. 59; EuGH, Rs. C-319/02 (Manninen), Rn. 49. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 076/17 Seite 4 sein können, hat der EuGH u.a. die Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten, die Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken und Steuerumgehungen sowie die Kohärenz der mitgliedstaatlichen Steuersysteme anerkannt. Die Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten kann als zwingender Grund des Allgemeinwohls insbesondere dann anerkannt werden, wenn mit der betreffenden Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollen , die geeignet sind, das Recht eines Mitgliedstaates auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden. Dies betrifft beispielsweise die Zulässigkeit der Berücksichtigung der Verluste von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten bei der Ermittlung der inländischen Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft.5 Als weiterer Rechtfertigungsgrund kommt die Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken und Steuerumgehungen in Betracht.6 Im Zusammenhang mit der Körperschaftsteuerpflichtigkeit von Mutter - und Tochterunternehmen hat der EuGH wiederholt bekräftigt, dass die Anwendung der Grundfreiheiten nicht bereits deswegen ausgeschlossen ist, weil eine unionsangehörige natürliche oder juristische Person beabsichtigt, von der in einem anderen Mitgliedstaat als dem seiner Ansässigkeit geltenden vorteilhaften Steuerrechtslage zu profitieren.7 Der Umstand, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat mit dem Ziel gegründet worden ist, in den Genuss vorteilhafterer Rechtsvorschriften zu kommen, reicht für sich allein nicht aus, um auf eine missbräuchliche Ausnutzung der Grundfreiheiten zu schließen.8 Dementsprechend hat der EuGH festgestellt, dass ein Vorteil, der aus der relativ geringen steuerlichen Belastung einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Muttergesellschaft gegründet worden ist, resultiert , als solcher dem letztgenannten Mitgliedstaat nicht das Recht gibt, diesen Vorteil durch eine weniger günstige steuerliche Behandlung der Muttergesellschaft auszugleichen.9 Hierbei bekräftigte der EuGH zudem, dass die Notwendigkeit, einen Steuerausfall zu vermeiden, nicht zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zählt, die eine Beschränkung einer Grundfreiheit rechtfertigen können. In enger Auslegung des Rechtfertigungskriteriums der Vermeidung von missbräuchlicher Steuerumgehung und Steuerflucht ist vielmehr die Feststellung von subjekti- 5 Vgl. EuGH, Rs. C-347/04 (Rewe Zentralfinanz), Rn. 54; EuGH, Rs. C-231/05 (Oy AA), Rn. 54; EuGH, Rs. C-379/05 (Amurta), Rn. 58 f.; EuGH, Rs. C-303/07 (Fininvest Alpha), Rn. 82; EuGH, Rs. C-337/08 (X Holding), Rn. 24 ff. 6 Vgl. hierzu die Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. L 193 vom 19. Juli 2016, S. 1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016L1164&from=DE. 7 EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 36. 8 EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 36; EuGH, Rs. C-212/97 (Centros), Rn. 27. 9 EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 49 m.w.N. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 076/17 Seite 5 ven und objektiven Elementen erforderlich, aus denen sich ergibt, dass sich die fragliche Handlung speziell auf rein künstliche Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen.10 Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz zielt im Grundsatz auf die Bewahrung von Lastengleichheit und Systemgerechtigkeit in den nationalen Regelungssystemen ab.11 Dies umfasst den Rechtfertigungsgedanken des Lastenausgleichs im Sinne einer finanziellen Privilegierung von Personen zum Ausgleich von korrespondierenden steuerlichen Belastungen, um die Kohärenz des Steuersystems aufrechterhalten zu können.12 Dementsprechend rechtfertigt die Kohärenz des Steuersystems die Versagung von bestimmten Steuervorteilen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten , wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Belastung und der lastenausgleichenden Bevorteilung besteht.13 Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang liegt insbesondere dann vor, wenn zwischen der be- und entlastenden Regelung eine strenge Wechselbeziehung besteht und die Wirkungen ein und denselben Steuerpflichtigen treffen.14 Der aus der Sicht eines Steuerpflichtigen bestehende Vor- und Nachteil sowie die Kompensation des Nachteils müssen innerhalb derselben Steuerart erfolgen.15 Darüber hinaus muss die Beschränkung in nicht diskriminierender Weise angewandt und zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Demnach muss die mitgliedstaatliche Maßnahme dazu geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.16 Von einer Ge- 10 EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Rn. 51 ff.; EuGH, Rs. C-14/16 (Euro Park Service), Rn. 55. 11 EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Rn. 21; EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 24; Rn. 56; EuGH, Rs. C-35/98 (Verkooijen), Rn. 57; EuGH, Rs. C-157/07 (Krankenheim Ruhesitz am Wannsee), Rn. 42, vgl. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 980. 12 EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Rn. 58; EuGH, Rs. C-264/96 (ICI), Rn. 29; EuGH, Rs. C-55/98 (Vestergaard), Rn. 24; EuGH, Rs. C-388/01 (Kommission/Italien), Rn. 23 ff. 13 EuGH, Rs. C-204/90 (Bachmann), Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. C-300/90 (Kommission/Belgien), Rn. 10 ff.; EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Rn. 56; EuGH, Rs. C-251/98 (Baars), Rn. 37; EuGH, Rs. C-315/02 (Lenz), Rn. 36; EuGH, Rs. C-157/07 (Krankenheim Ruhesitz am Wannsee), Rn. 42; EuGH, Rs. C-418/07 (Papillon), Rn. 51; Vgl. Sedemund , Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, 190 (192); vgl. auch Kokott/Ost, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, EuZW 2011, S. 496 (500 ff.). 14 EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 24; EuGH, Rs. C-35/98 (Verkooijen), Rn. 57. 15 EuGH, Rs. C-315/02 (Lenz), Rn. 36; EuGH, Rs. C-80/94 (Wielockx), Rn. 25; EuGH, Rs. C-242/03 (Weidert/Paulus ), Rn. 25; Schlussanträge GA Kokott zu EuGH, Rs. C-319/02 (Manninen), Rn. 49 ff.; vgl. Englisch, Fiscal Cohesion in the Taxation of Cross-Border Dividends, ET 2004, 355 (356 ff.). 16 Vgl. EuGH, Rs. C-181/12 (Welte), Rn. 44; EuGH, Rs. C-211/13 (Kommission/Deutschland), Rn. 47. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 076/17 Seite 6 eignetheit einer nationalen Maßnahme ist dabei im Sinne eines unionsrechtlichen Kohärenzkriteriums nur dann auszugehen, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter17 und systematischer Weise zu erreichen.18 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund des abstrakten Sachverhalts vorliegend keine Bewertung vorgenommen werden kann, ob bzw. in welchem Umfang die Einführung eines Zuschlags auf die Umsatzsteuer mit den primärrechtlichen Anforderungen des Unionsrechts unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch den EuGH vereinbar ist. – Fachbereich Europa – 17 Vgl. EuGH, Rs. C-386/14 (Groupe Steria), Rn. 31; EuGH, Rs. C-375/12 (Bouanich), Rn. 69; vgl. auch Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 62. EL Juli 2017, Art. 63 AEUV, Rn. 243. 18 EuGH, verb. Rs. C-184/13 u.a. (API u. a.), Rn. 53; EuGH, Rs. C-169/07 (Hartlauer), Rn. 55; EuGH, Rs. C-475/11 (Konstantinides), Rn. 52; EuGH, Rs. C-390/12 (Pfleger), Rn. 43.