© 2016 Deutscher Bundestag PE 6-3000-76/16 188 Zur Vereinbarkeit des Referentenentwurfs „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ mit dem Recht der Europäischen Union Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 2 Zur Vereinbarkeit des Referentenentwurfs „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ mit dem Recht der Europäischen Union Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 76/16 Abschluss der Arbeit: 25. Mai 2016 Fachbereich: Fachbereich PE 6: Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Die Regelungen des Referentenentwurfs 4 2. Leistungsausschluss von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts 4 3. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern ohne Aufenthaltsrecht und ihrer Familienangehörigen 8 4. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihrer Familienangehörigen 9 5. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, die ihr Aufenthaltsrecht neben dem Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitsuche auch oder allein aus Art. 10 VO 492/2011 ableiten, und ihrer Familienangehörigen 11 5.1. Der wesentliche Inhalt der Leistungsausschließungsgründe in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E und die davon betroffenen Personengruppen 11 5.2. Die sich aus Art. 10 VO 492/2011 ergebende Rechtsstellung 12 5.3. Vereinbarkeit der Leistungsausschließungsgründe in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E mit dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot 13 5.3.1. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 als Prüfungsmaßstab 13 5.3.2. Art. 4 VO 883/2004 als Prüfungsmaßstab 16 6. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen, wenn sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen 19 7. Leistungsrechtliche Gleichstellung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet 20 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 4 1. Die Regelungen des Referentenentwurfs Der auf Konformität mit dem Recht der Europäischen Union (EU) zu überprüfende Referentenentwurf „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ (Stand: 28.04.2016) (nachfolgend: RE) enthält Vorschläge zur Neufassung der Leistungsausschlüsse für (EU-)Ausländerinnen und Ausländer in § 7 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und § 23 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Ergänzend zu den geltenden Ausschlussregelungen in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2. SGB II und § 23 Abs. 3 SGB XII sollen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen leistungsrechtlich mit deutschen Staatsangehörigen nach dem SGB II und dem SGB XII gleichgestellt werden , wenn sie - beginnend mit wirksamer Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt - seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben (§ 7 Abs. 1 S. 4/5 SGB II-E, § 23 Abs. 3 S. 6/7 SGB XII-E). Für die von Leistungen nach dem SGB XII nach vorstehenden Regelungen ausgeschlossenen Ausländerinnen und Ausländer soll auf Grundlage der vorgeschlagenen Regelungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 - 5 SGB XII-E ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen und auf Grundlage eines neu in § 23 SGB XII einzuführenden Absatzes 3a ein Anspruch auf Übernahme der angemessenen Kosten der Rückreise eingeführt werden. Nachfolgend werden zunächst die im RE neugefassten Ausschlussregelungen in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II-E und § 23 Abs. 3 SGB XII-E auf ihre Vereinbarkeit mit EU-Recht untersucht. Diese Untersuchung erfolgt gesondert nach den einzelnen Ausschlusstatbeständen vorstehender Regelungen und nur insoweit, wie Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und ihre Familienangehörige hiervon betroffen sind. Dabei sind folgende Gruppen zu differenzieren: wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und ihre Familienangehörige (2), Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht und ihre Familienangehörige (3.), Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörige (4.), Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus Art. 10 VO 492/2011 (über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union) oder neben dem Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten, und ihre Familienangehörige (5.) und Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen (6.). Abschließend wird dazu Stellung bezogen, ob in Übereinstimmung mit europäischem Recht Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und ihren Familienangehörigen erst nach fünf Jahren ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet gleicher Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen nach dem SGB II und SGB XII wie deutschen Staatsangehörigen gewährt werden muss (7). 2. Leistungsausschluss von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts Sachlich übereinstimmend mit der geltenden Regelung in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1. SGB II sollen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1. SGB II-E „Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen , Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund § 2 Absatz 3 des Freizügig- Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 5 keitsgesetztes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts“ keine Leistungen nach dem SGB II erhalten. In gleicher Weise sollen für diese Personengruppe Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII und dem Vierten Kapitel des SGB XII nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1. SGB XII-E ausgeschlossen werden: „Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn 1. sie weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetztes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts “ Dieser Ausschlussgrund findet seine Grundlage in Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten1 (nachfolgend: RL 2004/38). Dort heißt es: „Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren.“ Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat das Arbeitslosengeld 2 (§§ 19, 20, 21, 22 SGB II) und das Sozialgeld (§ 23 SGB II) als Leistungen der Sozialhilfe iSd Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 qualifiziert,2 sodass die Konformität der Ausschlussregelung in §§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGBII-E, 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XII-E mit EU-Recht durch die europäische Rechtsprechung – soweit dies vorstehende Leistungen betrifft – als bestätigt anzusehen ist. Das gleiche dürfte für die gleichlautende Regelung in § 23 Abs. 3 Nr. 1. SGB XII-E zutreffen. Die Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 und damit die sich darauf stützende Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1. SGB II-E gilt aber nur für solche EU-Ausländer, die keinen Status als Arbeitnehmer oder als Selbständige haben. 1 Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl L 158/77, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32004L0038&qid=1462893770089&from=DE. 2 EuGH, Rs. C. 67/14, Urt. v. 15.09.2015, Rn. 63 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 6 Der Begriff des Arbeitnehmers ist ein autonomer, weit auszulegender Begriff des primären Unionsrechts , der durch die Rechtsprechung des EuGH ausgeformt wurde3 und nicht der Disposition der Mitgliedstaaten unterliegt.4 Danach ist „… Arbeitnehmer […] jede Person, die eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält…“ 5 Als Arbeitnehmer können EU-Ausländer in Deutschland mithin ihr Erwerbseinkommen aufstockende Grundsicherungsleistungen unter den gleichen Voraussetzungen beanspruchen wie inländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mit den Kriterien der „tatsächlichen und echten“ Tätigkeit geht es nach bisheriger Rechtsprechung zum einen um eine Begrenzung des Arbeitnehmerstatus auf Personen, die im Wirtschaftsleben tätig sind oder sein wollen.6 Dies gilt etwa nicht für Tätigkeiten, die ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung des Betroffenen in das Arbeitsleben darstellen.7 Zum anderen wird damit an die Faktizität der Beschäftigung angeknüpft, wenn der Gerichtshof betont, dass eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis „wirklich“ ausgeübt werden muss.8 Sind diese 3 EuGH, Rs. C-75/63 (Unger), Urt. v. 19.03.1964, S. 396 f.; EuGH. Rs. C-53/81 (Lenvin), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 11 ff.; EuGH, Rs. C-337/97 (Meeusen), Urt. v. 8.06.1999, Rn. 13; EuGH, Rs. C-22/08/C-23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 4.06.2009, Rn. 26; EuGH, Rs. C-46/12 (L., N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 39; vgl. dazu auch die Kommentierung von Schneider/Wunderlich, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 45 Rn. 9. 4 Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Anforderungen für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit stellen als sich aus dem Unionsrecht ergeben, vgl. EuGH, Rs. 39/86 (Lair), Urt. v. 21.06.1988, Rn. 41. 5 Vgl. bspw. EuGH, Rs. C-94/07 (Raccanelli), Urt. v. 17.07.2008, Rn 33; EuGH, Rs C-46/12 (N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 40, 42; EuGH, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 4.06.2009, Rn. 26. 6 EuGH, Rs. C-344/87 (Bettray), Urt. v. 31.05.1989, Rn. 13, 17 ff.; EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Urt. v. 7.09.2004, Rn. 18. 7 Vgl. EuGH, Rs. 344/87 (Bettray), Urt. v. 31.05.1989, Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Urt. v. 7.09.2004, Rn. 18. 8 EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 47. Dieser Aspekt wird auch im Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ BT-Drs. 18/2470 betont, vgl. S. 42. Darin wird ausgeführt, dass das Arbeitsverhältnis „gelebt“ werden muss. Beispielhaft wird darauf verwiesen, dass der bloße Abschluss eines Scheinarbeitsvertrages und dessen Vorlage bei den Behörden noch keine Arbeitnehmereigenschaft begründen . Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 7 Voraussetzungen erfüllt, kommt es auch nicht darauf an, welche Ziele der Unionsbürger im Übrigen mit seiner Arbeitnehmertätigkeit verfolgt.9 Im Hinblick auf die Beurteilung einer (tatsächlichen und echten) Tätigkeit als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein geringes Vergütungsniveau, der Ursprung der Mittel für diese, die stärker oder schwächere Produktivität eines Beschäftigten oder der Umstand, dass der zeitliche Umfang der Arbeit sich nur auf eine geringe Anzahl von Wochenstunden bemisst, es nicht ausschließen, dass Beschäftigte als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV gelten können.10 Insbesondere zur Höhe der Vergütung lässt sich der Rechtsprechung des EuGH entnehmen, dass diese ohne Hinzutreten weiterer Umstände im Grundsatz kein wesentliches Kriterium für die Beurteilung eines zum Arbeitnehmerstatus führenden Beschäftigungsverhältnisses sei.11 Keine engen Grenzen bestehen ferner im Hinblick auf Umfang und Dauer der Beschäftigung.12 So sollen auch Teilzeitbeschäftigungsverträge für die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinreichend sein.13 In zeitlicher Hinsicht ließ der EuGH eine Beschäftigung, die zweieinhalb Monate lang ausgeübt wurde, genügen.14 Allerdings verwies der EuGH darauf, dass die Unregelmäßigkeit und die begrenzte Dauer der im Rahmen eines Vertrags über Gelegenheitsarbeit tatsächlich erbrachten Leistungen zu berücksichtigen seien.15 So könne der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet wurden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten untergeordnet und unwesentlich sind.16 Insgesamt muss sich die Beurteilung, ob eine Arbeitnehmereigenschaft vorliegt oder nicht, nach der Rechtsprechung des EuGH auf objektive Kriterien stützen und in einer Gesamtbetrachtung alle die Ausübung einer Beschäftigung bzw. ein Beschäftigungsverhältnis kennzeichnenden Umstände des Sachverhalts würdigen. Insbesondere die Qualifizierung einer abhängigen Beschäfti- 9 Vgl. EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 47. 10 EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Urt. v. 7.09.2004, Rn. 16; EuGH, Rs. C-46/12 (L.N.), Urt. v. 21.02.2013, Rn. 41. 11 EuGH, Rs. C-53/81 (Levin / Staatssecretaris van Justitie), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 14; EuGH, Rs. C-10/05 (Mattern und Cikotic), Urt. v. 30.03.2006, Rn.22; EuGH, verb. Rs. C-22 u. 23/08 (Vatsouras/Koupatantze), Urt. v. 4.06.2009, Rn. 27 f. Siehe auch die Auswertung der Rechtsprechung in den Schlussanträgen des Generalanwalts Colomerin in den verb. Rs. , C-22 u. 23/08, (Vatsouras/Koupatantze), Rn. 23 ff. 12 Dazu der Überblick bei Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 150 f. 13 Vgl. EuGH, Rs. C-53/81 (Levin/Staatssecretaris van Justitie), Urt. v. 23.03.1982, Rn. 15 ff. 14 EuGH, Rs. C-413/01 (Ninni-Orasche), Urt. v. 6.11.2003, Rn. 10, 25. 15 EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Urt. v. 26.02.1992, Rn. 14. 16 EuGH, Rs. C-357/89 (Raulin), Urt. v. 26.02.1992, Rn. 14. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 8 gung als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ wird nur in Ausnahmefällen möglich sein.17 Damit kann ein aus der Arbeitnehmereigenschaft sich ableitender sozialrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch grundsätzlich auch dann bestehen, wenn die Entlohnung dem betreffenden Unionsbürger keinen ausreichenden Lebensunterhalt gewährleistet.18 Wenig geklärt sind die Anforderungen an den ebenfalls europarechtlich geprägten Begriff des Selbständigen. In der bisherigen Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit haben Fragen des Umfangs und der Dauer der selbständigen Tätigkeit sowie die Höhe des dabei erzielten Gewinns keine Bedeutung. Soweit ersichtlich, hat der EuGH insbesondere noch nicht entschieden, ob die Erzielung von existenzsicherndem Erwerbseinkommen für den europarechtlichen Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit prägend ist. Es spricht einiges dafür, dass insoweit der gleiche Maßstab anzulegen ist, wie für den Begriff des Arbeitnehmers und insb. die Höhe des Einkommens für den Status des Selbständigen allein nicht ausschlaggebend ist.19 Im Übrigen muss es sich auch bei der selbständigen Erwerbstätigkeit – wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – um eine „tatsächliche“ und „echte“ (wirtschaftliche) Tätigkeit handeln.20 3. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern ohne Aufenthaltsrecht und ihrer Familienangehörigen Der RE sieht in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) SGB II-E einen Leistungsausschluss vor für „Ausländerinnen und Ausländer, a) denen kein Aufenthaltsrecht zusteht… und ihre Familienangehörigen“. In gleicher Weise sollen Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII und dem Vierten Kapitel des SGB XII nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E ausgeschlossen werden: 17 Vgl. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer in den verb. Rs. C-22 u. C-23/08, (Vatsouras/Koupatantze), Rn. 23 f. 18 EuGH, Rs. C-138/85 (Kommission / Griechenland), Urt. v. 03.06.1986, S. 1742: „Der Umstand, daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats eine Tätigkeit ausübt, die für sich genommen eine tatsächliche und echte Erwerbstätigkeit ist, zur Ergänzung seiner Einkünfte aus dieser Tätigkeit eine finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln dieses Mitgliedstaats in Anspruch nimmt, führt nicht dazu, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer für ihn nicht gelten .“ (Rn. 16); dazu auch Frings, Das Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, S. 53; Raschka, EuR 2013, S. 116 (120). 19 Siehe allgemein zum grundsätzlichen Gleichlauf der Gewährleistungsgehalte beider Grundfreiheiten, EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Urt. v. 27.06.1996, Rn. 29. So auch Raschka, Freizügigkeit von Unionsbürgern und Zugang zu sozialen Leistungen, EuR 2013, S. 116 (120); Frings, Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, S. 54. 20 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger zu EuGH, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes), Anträge v. 2.05.2006, Rn. 42. Vgl. auch den Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses, S. 47 (s.o. Fn 8), in dem darauf verwiesen wird, dass die bloße Anmeldung eines Scheingewerbes und die Vorlage eines Gewerbescheines noch nicht den Status des Selbständigen begründeten. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 9 „Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn… 2. ihnen kein Aufenthaltsrecht zusteht…“ Dieser Leistungsausschlussgrund kann sich auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH zum Zugang von EU-Ausländern zu steuerfinanzierten Sozialleistungen stützen. Der EuGH entschied in der Rechtssache Dano21 für nicht erwerbstätige und nicht arbeitsuchende EU-Ausländer und ihre Familienangehörige, die nur zum Zwecke des Sozialleistungsbezugs einreisen und sich länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten,22 dass diese unionsrechtlich nur Anspruch auf Sozialleistungen haben sollen, soweit diese nach Maßgabe des Art. 7 I lit. b RL 2004/38/EG aufenthaltsberechtigt sind.23 Da deren Aufenthaltsberechtigung sich danach beurteilen soll, ob diese für den Zeitraum des Aufenthalts von mehr als drei Monaten über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen,24 mithin davon abhängig ist, dass diese nicht hilfebedürftig sind,25 können diese generell von als „Sozialhilfe“ iSd Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 geltenden (existenzsichernden) Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) SGB II und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E vorgeschlagenen Ausschlussregelungen können sich mithin auf die Dano-Entscheidung des EuGH stützen. Hiervon erfasst werden allerdings nur hilfebedürftige, nicht erwerbstätige und nicht arbeitsuchende EU- Ausländer und ihre Familienangehörige, die sich länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, da nur diese nicht aufenthaltsberechtigt sein sollen. 4. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihrer Familienangehörigen Der RE sieht in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) SGB II-E einen Leistungsausschluss vor für „Ausländerinnen und Ausländer,… 21 EuGH, C-333/13, Urt. v. 11.11.2014. 22 Nach Art. 16 RL 2004/38 entsteht das Recht auf Daueraufenthalt nach einem ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren im Aufnahmemitgliedstaat und ist sodann an keine Voraussetzungen gebunden, insbesondere nicht an die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel. 23 Für einen Zeitraum bis zu drei Monaten unterliegt das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38 keinen Voraussetzungen . Der Betroffene muss lediglich im Besitz eines gültigen Ausweises sein. 24 EuGH, C-333/13, Urt. v. 11.11.2014, Rn. 73 f. 25 In der Dano-Entscheidung (C-333/13 Rn. 69 ff.) führt das Fehlen von Existenzmitteln bereits zur Rechtswidrigkeit des Aufenthalts; damit entfiele nach dieser Entscheidung eine Bedingung für die Anwendung des Diskriminierungsverbotes , ohne dass es – wie von Art. 14 I RL 2004/38 vorausgesetzt – darauf ankommen soll, dass Unionsbürger Sozialleistungen „unangemessen in Anspruch nehmen.“ Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 10 b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt… und ihre Familienangehörigen“. In gleicher Weise sollen Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII und dem Vierten Kapitel des SGB XII nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E ausgeschlossen werden: „Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn 2. …. sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. Diese Leistungsausschlussvariante lässt sich nach Ansicht des EuGH auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 stützen. Durch die Bezugnahme dieser Vorschrift auf Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 sind vom Leistungsausschluss insb. Unionsbürger erfasst, die nach vorstehender Vorschrift aufenthaltsberechtigt sind. In der Rechtssache Alimanovic26 hatte der EuGH entschieden, dass arbeitsuchende EU-Ausländer unionsrechtlich nur dann einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu Sozialhilfeleistungen iSd Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 haben, wenn sie zuvor dort erwerbstätig waren, und dies auch nur dann, soweit nach Art. 7 III RL 2004/38 deren Status als Arbeitnehmer als fortbestehend gilt. In der Rechtssache Garcia-Nieto27 führt der EuGH diese Judikatur für Unionsbürger fort, die in Deutschland erstmals Arbeit suchen. Der Gerichtshof erachtet es als mit EU-Recht übereinstimmend , wenn arbeitsuchenden EU-Ausländern auch in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts 28 Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht gewährt wird, und bestätigt damit (erneut) die Konformität der sachlich mit RE § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) SGB II-E übereinstimmenden Ausschlussregelung in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II mit EU-Recht. Arbeitsuchende aus anderen Mitgliedstaaten, die unionsrechtlich keinen Arbeitnehmerstatus haben, und ihre Familienangehörigen können nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des EuGH nach Unionsrecht sofort und automatisch von dem Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 unterfallenden Sozialleistungen ausgeschlossen werden, obgleich ihnen – anders als wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger, die keine Arbeit suchen, bei einem längeren Aufenthalt als drei Monaten und bei Fehlen ausreichender Existenzmittel – generell im Aufnahmestaat nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 aufenthaltsberechtigt sein sollen.29 26 EuGH, Rs. C-67/14, Urt. v. 15.09.2015, Rn. 31. 27 EuGH, Rs. C-299/14, Urt. v. 25.02.2016. 28 Art. 6 Abs. 1 RL 2004/38. 29 Der EuGH interpretiert in der Rs. Alimanovic (C-67/14 Rn. 57) diese Regelung, die nur einen Ausweisungsschutz normiert, als Aufenthaltsrecht. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 11 5. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, die ihr Aufenthaltsrecht neben dem Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitsuche oder allein aus Art. 10 VO 492/2011 ableiten, und ihrer Familienangehörigen 5.1. Der wesentliche Inhalt der Leistungsausschließungsgründe in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E und die davon betroffenen Personengruppen Der RE sieht in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E einen Leistungsausschluss vor für „Ausländerinnen und Ausländer,… c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b) aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 ableiten,… und ihre Familienangehörigen “. In gleicher Weise sollen Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII und dem Vierten Kapitel des SGB XII nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E ausgeschlossen werden: „Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn… 3. sie ihr Aufenthaltsrecht allein neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b) aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nummer 492/2011 ableiten“ Dieser Ausschlussgrund ist für Fälle vorgesehen, in denen EU-Ausländer sich ausschließlich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union30 (VO 492/2011) oder neben dem Aufenthaltsrecht wegen Arbeitsuche berufen können. Demgemäß wären vom Leistungsbezug nach dem SGB II EU-Ausländer generell ausgeschlossen, die sich – wie wirtschaftlich nicht aktive, nicht arbeitsuchende EU-Ausländer – allein auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/10 berufen können, sowie ihre Familienangehörigen. Gleiches soll für EU-Ausländer gelten, die sich als Arbeitsuchende auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 und auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/10 berufen können, sowie ihre Familienangehörigen. Vorstehender Ausschlussgrund gilt hingegen nicht für EU-Ausländer mit Arbeitnehmerstatus, auch soweit diese zugleich arbeitsuchend sind, da diese sich neben einem Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/10 zusätzlich auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 14 Abs. 4 lit. a) RL 2004/38, Art. 45 Abs. 3 AEUV stützen können, sowie für solche EU-Ausländer, die nicht mehr 30 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl L 141/1, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32011R0492&qid=1462977863862&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 12 Arbeitnehmer sind, deren Erwerbstätigeneigenschaft aber nach Art. 7 Abs. 3 lit. c) RL 2004/38 fortbesteht. 5.2. Die sich aus Art. 10 VO 492/2011 ergebende Rechtsstellung Art. 10 der bezuggenommenen VO 492/2011 hat folgenden Wortlaut: „Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“ Nach ständiger Rechtsprechung31 sind die Kinder von EU-Ausländern, die im Aufenthaltsmitgliedstaat erwerbstätig sind oder dort eine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, dort aufenthaltsberechtigt . Dieses aus Art. 10 VO 492/2011 (und zuvor aus Art. 12 VO Nr. 1612/6832) originär folgende Aufenthaltsrecht soll nach Ansicht des Gerichtshofs eigenständige Geltung gegenüber unionsrechtlichen Regelungen beanspruchen, die den Aufenthalt von Unionsbürgern in einem anderen Mitgliedstaat regeln.33 Ein Aufenthaltsrecht steht auf Grundlage des Art. 10 VO 492/2011 auch einem Elternteil zu, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt.34 Dieses elterliche Aufenthaltsrecht besteht wie das ihrer Kinder unabhängig davon, ob dafür auch die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt sind, ist deshalb auch nicht davon abhängig, dass die Eltern über ausreichende Existenzmittel und einen hinreichenden Krankenversicherungsschutz im Aufenthaltsmitgliedstaat verfügen.35 31 EuGH, Rs. C-310/08 (Ibrahim und Secretary of State for the Home Department), Urt. v. 23.02.2010, Rn. 46; Rs. C-413/99 (Baumbast und R), Urt. v. 17.09.2002, Rn. 63; Rs. C-480/08 (Teixeira), Urt. v. 23.02.2010, Rn. 70 ff.; Rs. C-45/12, Urt. v. 13.06.2013, Rn. 46; Rs. C-147/11 u.a., Urt. v. 6.12.2012, Rn. 25. 32 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Abl L 257/2. 33 EuGH, Rs. C-310/08 (Ibrahim und Secretary of State for the Home Department), Urt. v. 23.02.2010, Rn. 42. 34 EuGH, Rs. C-413/99 (Baumbast), Urt. v. 17.09.2002, C-413/99. 35 EuGH, Rs. C-310/08 (Ibrahim und Secretary of State for the Home Department), Urt. v. 23.02.2010, Rn. 42 ff.; Rs. C-480/08 (Teixeira), Urt. v. 23.02.2010, Rn. 53 ff.; Schlussanträge des Generalanwalts in der Rs. C-67/14 (Alimanovic) v. 26.03.2015, Rn. 120, 126. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 13 5.3. Vereinbarkeit der Leistungsausschließungsgründe in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E mit dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot Das Primärrecht eröffnet dem Unionsgesetzgeber die Befugnis, Regelungen für das Verbot von Diskriminierungen nach Art. 18 I AEUV (sekundärrechtlich) zu treffen (Art. 18 Abs. 2 AEUV).36 Das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger besteht im Übrigen nur vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen (Art. 21 I AEUV), damit auch der Zugang zu Sozialleistungen von wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern im Aufenthaltsstaat. Als Prüfungsmaßstäbe, an der sich der Grund und die Grenzen des Anspruchs von EU-Ausländern und ihrer Familienangehörigen dafür bemessen, im Aufenthaltsmitgliedstaat mit deren Staatsangehörigen beim Bezug von Sozialleistungen gleich behandelt zu werden, kommen Art. 24 RL 2004/38 (FreizügigkeitsRL; 5.3.1.) und Art. 4 VO 883/200437 (Koordinierungs RL; 5.3.2.) in Betracht. 5.3.1. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 als Prüfungsmaßstab Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 FreizügigkeitsRL fordert strikte Gleichbehandlung von Unionsbürgern, die sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufhalten, mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Dieses Gleichbehandlungsrecht erstreckt Art. 24 Abs. 1 S. 2 RL 2004/38 auch auf aufenthaltsberechtigte Familienangehörige. Art. 24 Abs. 2 RL 2004 RL 2004/38 normiert allerdings Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38. Hiernach sind die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern, Selbständigen oder Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts u.a. einen Anspruch auf „Sozialhilfe“ zu gewähren. Gegebenenfalls „während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b“, also während des Zeitraums, „in dem Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen,“ soll dies ebenfalls zulässig sein. Das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 findet als gegenüber Art. 24 RL 2004/38 vorrangiger Prüfungsmaßstab für die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E vorgesehenen Ausschlussregelung keine Anwendung, da diese nur für Arbeitnehmer gilt. Die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E vorgesehene leistungsrechtliche Ungleichbehandlung von EU-Ausländern und ihrer Familienangehörigen wäre daher europarechtskonform, wenn diese sich auf die Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 stützen ließe. 36 Von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV (Stand August 2015), Rn. 62, was allerdings nicht von der Beachtung der Vorgaben des Art. 18 I AEUV befreit; vgl. dazu Epiney , in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 18 AEUV, Rn. 46. 37 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl.EU 2004 Nr. L 158/7, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1, konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004R0883-20140101&qid=1408954294938&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 14 Soweit der Leistungsausschluss für wirtschaftlich nicht aktive EU-Ausländer sich darauf stützt, dass diese ein Aufenthaltsrecht sowohl nach Art. 10 VO 492/2011 als auch nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38 geltend machen können, ließe sich als Rechtfertigungsgrund für diese Ungleichbehandlung Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 nur insoweit anführen, als hiernach für eine Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten bis zu fünf Jahren das Aufenthaltsrecht der Arbeitsuche (Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38) aus den zu 4.) dargelegten Gründen nach Ansicht des EuGH den Leistungsausschluss rechtfertigen soll. Ein Ausschluss vom Bezug von „Sozialhilfe“ iSd Art. 24 Abs. 2) RL 2004/38 ließe sich allerdings nicht auf die Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 stützen, soweit die von diesem Leistungsausschluss Betroffenen ein Aufenthaltsrecht (auch) auf Art. 10 VO 492/2011 begründen können. Hierfür spricht: (1) Die leistungsrechtliche Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 gilt nur insoweit, wie das Gleichbehandlungsgebot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 Anwendung findet38, was durch die Bezugnahme erster Vorschrift auf letztere „Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet…“ deutlich wird. Das Recht der Gleichbehandlung nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 „genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie39 im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält…“ Das in Art. 24 RL 2004/38 ausgestaltete Recht auf Gleichbehandlung steht im Übrigen unter dem Vorbehalt anderer Regelungen. Es gilt nur „(v)orbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen…“ (Art. 24 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38). (2) Art. 24 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38 erstreckt zwar den Gleichbehandlungsgrundsatz auch auf Familienangehörige von Unionsbürgern, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen. Aus dem Sachzusammenhang mit dem vorangehenden Satz 1 dieser Norm ist allerdings zu schließen, dass sich das für die Geltung des Rechts auf Gleichbehandlung nach dieser Vorschrift vorausgesetzte Bestehen eines Aufenthaltsrechts bzw. Daueraufenthaltsrechts nach der Richtlinie RL 2004/38 bestimmt, zumal – soweit ersichtlich – nur diese zwischen Aufenthaltsrecht und Daueraufenthaltsrecht differenziert, sodass auch für diese Personengruppe die Ausnahmeregelung in Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 nur Anwendung findet, soweit sich deren Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 bestimmt. Die Ausnahmeregelung vom Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 findet für die Leistungsausschließungsgründe in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E somit keine Anwendung. Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu den jüngeren Entscheidungen des EuGH zum Zugang von EU-Ausländern zu Sozialleistungen im Aufenthaltsmitgliedstaat. 38 Leopold, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Uschig, Beck’scher Online-Kommentar, Sozialrecht (Stand 1.12.2015), VO (EG) Nr. 883/2004, Rn. 19 b. 39 Hervorhebung v. Verf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 15 In der Rechtssache Alimanovic40 ging der EuGH zunächst davon aus, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 anwendbar ist. Dies stützte das Gericht darauf, dass im zu entscheidenden Fall die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II beanspruchenden Unionsbürger sich auf ein Aufenthaltsrecht nach der RL 2014/38 stützen konnten. Der EuGH stellt allerdings dann klar, dass die Ausnahmeregelung zum Gleichbehandlungsgebot nur für solche arbeitsuchenden Unionsbürger Anwendung findet, denen ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund des Art. 14 Abs. 4 lit. b RL 2004/38 zusteht. Dort heißt es: „Zwar können Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita dem vorlegenden Gericht zufolge aus dieser Vorschrift auch nach Ablauf des in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums für die Dauer des von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie abgedeckten Zeitraums ein Aufenthaltsrecht ableiten, das ihnen einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschafft; der Aufnahmemitgliedstaat kann sich in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen , um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren. Aus der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgenommenen Verweisung auf deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt sich nämlich ausdrücklich, dass der Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein41 aufgrund der letztgenannten Vorschrift zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf.“42 Auch in der Rechtssache Dano43 beurteilt der EuGH die Berechtigung von EU-Ausländern zum Zugang zu Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat im Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38. Hiervon ausgehend legte er sodann dar, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen eine Gleichbehandlung mit Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38 nur verlangen kann, wenn sein Aufenthaltsrecht dort die Voraussetzungen der RL 2004/38 erfüllt. „Nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats . Daraus folgt, dass ein Unionsbürger eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Ho- 40 EuGH, Rs. C-67/14, Urt. v. 15.09.2015. 41 Hervorhebung v. Verf. 42 EuGH, Rs. C-67/14, Urt. v. 15.09.2015, Rn. 57 f. 43 EuGH, C-333/13, Urt. v. 11.11.2014. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 16 heitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt .“44 5.3.2. Art. 4 VO 883/2004 als Prüfungsmaßstab Nach Art. 4 VO 883/2004 haben EU-Ausländer die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates, was für eine strikte Gleichbehandlung beim Leistungsbezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende sprechen könnte. 5.3.2.1. Anwendbarkeit der VO 883/2004 Damit Art. 4 VO 883/2004 als Prüfungsmaßstab für die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E vorgesehenen Leistungsausschlussregelungen herangezogen werden kann, müsste diese Verordnung auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende Anwendung finden. In zeitlicher Hinsicht findet die VO 883/2004 erst mit Inkrafttreten der Durchführungsverordnung Anwendung (Art. 91 VO 883/2004). Diese Durchführungsverordnung – die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit45 – ist am 1. Mai 2010 in Kraft getreten (Art. 97 VO 987/2009). Ab diesem Zeitpunkt ist also auch die VO 883/2004 anzuwenden. Das SGB II unterfällt dem sachlichen Geltungsbereich46 dieser Verordnung. Die VO 883/2004 findet nach Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 VO 883/2004 auf beitragsunabhängige Geldleistungen Anwendung , „die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Abs. 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.“47 Der EuGH qualifiziert die existenzsichernden Leistungen des SGB II, der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II), das Sozialgeld (§ 23 SGB II) und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne der VO 883/2004.48 44 EuGH, C-333/13, Urt. v. 11.11.2014, Rn. 68 f. 45 ABl. L 284/1, abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:284:0001:0042:DE:PDF. 46 So auch BSG, EuGH-Vorlage v. 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R; LSG Hessen, Beschl. v. 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004. Europäische Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Kommentar, 2012, Art. 70 Rn. 35; Frings, ZAR 2012, S. 317 (319). 47 Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004. 48 EuGH, Rs. C-333/13 (Dano), Urt. v. 11.11.2014, Rn. 63 ff.; Rs. C-67/14 (Alimanovic), Urt. v. 15.09.2015, Rn. 46; vgl. dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 (Dano). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 17 Dafür dürfte sprechen, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Anhang X, auf die Art. 70 Abs. 2 lit. c VO 883/2004 verweist, unter Deutschland lit. b) der Verordnung aufgeführt sind. Anhang X benennt zu Deutschland unter a) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, so dass Leistungen nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII nicht dem Anwendungsbereich der VO 883/2004 unterliegen. Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung umfasst nach Art. 2 Abs. 1 VO 883/200449 „Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“ Auch soweit – wie dargelegt50 – der EuGH Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 als gegenüber dem Diskriminierungsverbot nach Art. 4 VO 883/2004 vorrangig interpretiert, kann letztere nicht als nachrangige Regelung gegenüber ersterer zurücktreten, wenn diese keine Anwendung findet. Die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E vorgesehenen Leistungsausschlussregelungen sind mithin – soweit der persönliche Anwendungsbereich des VO 883/2004 nach Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004 reicht – an der VO 883/2004 zu messen. Damit steht allerdings noch nicht fest, ob das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 VO 883/2004 dafür Anwendung findet. 5.3.2.2. Zum Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO 883/2004 Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Diese Norm konkretisiert das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) für das koordinierende Sozialrecht. Ob das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 VO 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nach Art. 70 VO 883/2004 gilt, hängt maßgeblich davon ab, wie der in Art. 4 VO 883/2004 verwandte Begriff „Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ auszulegen ist. Nach dem Wortlaut des Art. 1 lit. l VO 883/2004 beziehen sich die besagten „Rechtsvorschriften“ nur auf die in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Zweige der sozialen Sicherheit, nicht aber auf die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen nach Art. 70 VO 883/2004 und damit auch nicht auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Gleichwohl wird vielfach die Meinung vertreten, dass auf die VO 883/2004 – wie bereits die Vorgängerregelung VO 1408/71/EWG – für sämtliche beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen der Gleichbehandlungsgrundsatz 49 Zum persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung im Vergleich zur Vorgängerregelung (VO 1408/71 EWG) vgl. Fischer, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa, 2008, S. 35 ff.; Bokeloh, ZESAR 2013, S. 398 f.; Frings, ZAR 2012, S. 317 (319). 50 s.o. 5.3.1. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 18 nach Art. 4 VO 883/2004 Anwendung findet.51 Dafür dürfte sprechen, dass nach Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004 lediglich Art. 7 VO 883/2004, nicht aber Art. 4 VO 883/2004 für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen keine Anwendung finden soll. Der Wortlaut des Art. 4 VO 883/2004 legt die Verpflichtung nahe, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten unter den gleichen Bedingungen wie deutschen Staatsangehörigen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu gewähren. Art. 4 VO 883/2004 verbietet jegliche Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit und fordert die Gleichbehandlung von Unionsbürgern mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit inländischen Staatsangehörigen (sog. Inländergleichbehandlung).52 Untersagt sind alle Formen der direkten bzw. offenen Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.53 Verboten sind aber auch mittelbare Diskriminierungen, insb. in der Form, dass Regelungen eines EU- Mitgliedstaates nicht an die Staatsangehörigkeit Rechtsfolgen knüpfen, im Wesentlichen sich aber ausschließlich oder ganz überwiegend für EU-Ausländer nachteilig auswirken.54 Vorstehende, für die Anwendung des Art. 4 VO 883/2004 wesentliche Unterscheidung wird nicht von allen, die zu den hier untersuchten Problemstellungen Position bezogen haben, nachvollzogen . Während in der deutschen sozialgerichtlichen Rechtsprechung55 und im Schrifttum56 vielfach die Ansicht vertreten wird, dass dieser Vorschrift ein striktes, keiner Differenzierung zugängliches Verbot, EU-Ausländer und EU-Inländer ungleich zu behandeln, zu entnehmen sei, soll die sachlich mit ihr übereinstimmende Vorgängerregelung zu Art. 4 VO 883/2004, Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, nach der Rechtsprechung des EuGH nicht jede Ungleichbehandlung ausschließen. Eine Ungleichbehandlung könne auch im koordinierenden Sozialrecht gerechtfertigt sein, wenn sie „auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht.“57 51 LSG Bayern, Urt. v. 19.06.2013 – L 16 AS 847/12; Frings, ZAR 2012, S. 317 (322); Hailbronner, JZ 2014, S. 869 (871); so auch die Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet vom 20. Mai 2014, Rs. C-333/13 (Dano), Rn. 84. 52 Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rn. 1, 7; Frings, ZAR 2012, S. 317 (319). 53 Bokeloh, ZESAR 2013, S. 398 (402). 54 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, 2012, Art. 4 Rn. 5 f.; Otting, in: Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrecht der Europäischen Union, Art. 4 Rn. 10; Bokeloh, ZESAR 2013, S. 398 (402). 55 So z.B. LSG Hessen, Beschl. v. 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; vgl. auch Hofmann/Kummer, ZESAR 2013, S. 199 (207); Sokolowski, ZESAR 2011, S. 373 (376). 56 Schreiber, NZS 2012, S. 647 (650); Husmann, ZESAR 2010, S. 97 (101 f.); Janda, KritV 2011, S. 275 (288); differenzierend Devetzi/Schreiber, ZESAR 2016, S. 15 (20); a.A. Thym, NZS 2014, S. 81 (84). 57 EuGH, Rs. C-346/05 (Chateignier), Urt. v. 9.11.2006, Rn. 32; Rs. C-124/99 (Borawitz), Urt. v. 21.09.2000, Rn. 23 ff.; dazu auch Thym, NZS 2014, S. 81 (84). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 19 Da Art. 4 VO 883/2004 Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot nur zulässt, soweit diese die VO 883/2004 vorsieht („Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist…“), müssten sich die Gründe für eine Ungleichbehandlung von Ausländerinnen und Ausländern gegenüber Staatsangehörigen im Aufenthaltsmitgliedstaat auf Regelungen dieser Verordnung stützen lassen .58 Dies braucht an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.59 Die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. SGB XII-E vorgesehenen Leistungsausschlüsse knüpfen an das Merkmal der Staatsangehörigkeit an und entsprechen damit nicht der Anforderung des EuGH an Ungleichbehandlungen im koordinierenden Sozialrecht, wonach diese auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen müssen. Die dargelegten Gründe dürften insgesamt dafür sprechen, dass die im RE vorgesehenen Leistungsausschlussregelungen in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII- E (soweit dies nicht Leistungen nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII betrifft60) mit dem Gleichheitsgebot des Art. 4 VO 883/2004 nicht vereinbar sind61 und damit unanwendbar blieben.62 6. Leistungsausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen , wenn sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen Der RE sieht in § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4. SGB XII-E einen Leistungsausschluss vor, wenn die Einreise nur dem Sozialhilfebezug dient. „Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn… 4. sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen.“ Diese Regelung ist bereits im geltenden § 23 Abs. 3 SGB XII vorgesehen, führte mithin zu keiner vom geltenden Recht abweichenden Rechtslage. 58 Darauf verweist auch Heilbronner, ZESAR 2016, S. 36 (39). 59 Zu den Möglichkeiten, Ungleichbehandlungen im Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 4 VO 883/2004 zu rechtfertigen, vgl. Thym, NZS 2014, S. 81 (84). 60 Bezüglich dieser Leistungen wäre allerdings fraglich, ob diese mit dem primärrechtlichen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV vereinbar wären, da auch insoweit EU-Ausländer aus Gründen der Staatsangehörigkeit gegenüber Staatsangehörigen im Aufenthaltsstaat ungleich behandelt würden. 61 i.E. so auch die Stellungnahme des DGB zum RE vom 4.05.2016 S. 5 auf Grundlage des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38. 62 Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten verpflichtet die innerstaatlichen Stellen dazu, zur Vermeidung von Normkollisionen das nationale Recht im Lichte des EU- Rechts auszulegen. Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, bleibt das nationale Recht in dem Umfang, in dem es dem Unionsrecht widerspricht, unanwendbar. Vgl. dazu die grundlegende Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Costa/ENEL, Rs. 6/64, S. 1269 und die zusammenfassende Darstellung bei Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Aufl. 2014, S. 86. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 –76/16 Seite 20 7. Leistungsrechtliche Gleichstellung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern und ihrer Familienangehörigen nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet Der RE will Unionsbürgerinnen und Unionsbürger und ihren Familienangehörigen erst nach fünf Jahren ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet gleichen Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen nach dem SGB II und SGB XII wie deutschen Staatsangehörigen gewähren. Der RE sieht dazu in § 7 Abs. 1 S. 4/5 SGB-E folgende Regelung vor: „Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der wirksamen Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt.“ Für das SGB XII sieht der RE in § 23 Abs. 3 S. 6/7 SGB-XII-E eine ähnliche Regelung vor: „Abweichend von Satz 1 Nummer 2 und 3 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach Absatz 1 Satz 1 und 2, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten. Die Frist nach Satz 6 beginnt mit der wirksamen Anmeldung beim zuständigen Einwohnermeldeamt .“ Diese Regelung kann sich, soweit dies die oben unter 4. behandelten Konstellation betrifft, auf Art. 16 RL 2004/38 stützen. Nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38 entsteht das Recht auf Daueraufenthalt für Unionsbürger und nach Abs. 2 dieser Vorschrift für deren Familienangehörige nach einem ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren im Aufnahmemitgliedstaat und ist sodann an keine Voraussetzungen gebunden, insbesondere nicht an die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 sieht keine zeitliche Grenze für Dauer des Leistungsausschlusses von Unionsbürgern vor, die sich (allein) zum Zwecke der Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Die in § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) SGB II-E und § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3. SGB XII-E geregelten Fälle unterliegen nicht dem Anwendungsbereich der RL 2004/38, so dass § 7 Abs. 1 S. 4/5 SGB-E und § 23 Abs. 3 S. 6/7 SGB-XII-E sich auch nicht in diesen Konstellationen auf Art. 16 RL 2004/38 und Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 stützen lassen. Wer ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 892/2011 hat, ist leistungsrechtlich nach Art. 4 VO 883/2004 mit deutschen Staatsangehörigen – vorbehaltlich der oben unter 5.3.2.2. dargestellten Beschränkungsmöglichkeiten – grundsätzlich, ohne die Option eines zeitlichen Aufschubs bis zur vollständigen Gleichbehandlung im Recht der Mitgliedstaaten vorsehen zu können, gleichzustellen. - Fachbereich Europa -