© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 74/18 Die in Österreich geplante Indexierung der Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder Zur Möglichkeit einer Übertragung auf das deutsche Recht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Vorgeschlagene neue Auslegung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 7 2.2.2. Primärrechtskonforme Auslegung und teleologische Reduktion des Wortlauts von Art. 67 S. 1 VO 883/2004 9 2.2.2.1. Zur Verfehlung primärrechtlicher Regelungsgehalte 10 2.2.2.2. Zur Vereinbarkeit einer Indexierungsregelung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit 11 2.2.2.3. Zur teleologischen Reduktion des Wortlauts des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 12 2.3. Fazit 15 3. Zur Übertragbarkeit auf das deutsche Recht 15 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung In einem für das österreichische Bundesministerium für Finanzen erstellten Rechtsgutachten wird eine Indexierung der österreichischen Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder vorgeschlagen.1 Eine entsprechende Regelung soll unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Anspruchsberechtigten als auch der Kinder gelten2 und wird als mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar angesehen.3 Vor allem auf Grundlage dieses Rechtsgutachtens plant Österreich eine entsprechende Gesetzesänderung .4 Die hierfür notwendigen gesetzgeberischen Arbeiten sollen nach Angaben aus dem österreichischen Parlament bis Sommer abgeschlossen sein.5 Eine wohl auf die gleichen Argumente gestützte Bundesratsinitiative hinsichtlich des deutschen Kindergeldrechts wurde kürzlich durch den Freistaat Bayern eingebracht.6 Der Fachbereich wird vor diesem Hintergrund um die Beantwortung der Frage ersucht, ob die dem Rechtsgutachten zugrunde liegende Argumentation auf das deutsche Recht übertragen werden kann und eine vergleichbare Indexierung des Kindergelds in Deutschland möglich wäre. Im Folgenden wird zunächst die dem Rechtsgutachten zugrunde liegende Argumentation betrachtet (2.) und anschließend eine Übertragung auf das deutsche Recht erörtert (3.). 1 Rechtsgutachten zur Neugestaltung der Familienbeihilfe für Kinder, die im EU-Ausland leben, erstattet von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mazal für das BM für Finanzen, Wien 2017 (im Folgenden: Rechtsgutachten ), vgl. S. 4 (Fazit), sowie S. 39 ff. Vom Auftraggeber zur Verfügung gestellt. Online abrufbar unter http://www.oif.ac.at/fileadmin/OEIF/andere_Publikationen/Rechtsgutachten_Neugestaltung_Familienbeihilfe _Kinder_EU-Ausland.pdf (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 2 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 39. Daneben soll die Regelung nach dem Rechtsgutachten (Fn. 1) auch unabhängig vom Wohnort des Kindes sein. Siehe hierzu unten unter 2.2.1., S. 7 f. 3 Rechtsgutachten (Fn. 1), insb. S. 40 f. 4 Siehe hierzu die auf den Seiten des österreichischen Parlaments abrufbaren Dokumente zur entsprechenden Regierungsvorlage unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/I/I_00111/index .shtml (letztmaliger Abruf am 13.06.18). Zur Einbeziehung des Rechtsgutachtens in die Begründung vgl. die Erläuterungen der Regierungsvorlage, S. 1 f., online abrufbar unter https://www.parlament .gov.at/PAKT/VHG/XXVI/I/I_00111/fname_692212.pdf (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 5 Vgl. Parlamentskorrespondenz Nr. 255 vom 13.03.2018, online abrufbar unter https://www.parlament .gv.at/PAKT/PR/JAHR_2018/PK0255/ (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 6 Gesetzesantrag des Freistaates Bayern, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kindergeldrechts, BR- Drs. 171/18, vgl. Begründung Pkt. A. IV, online abrufbar unter https://www.bundesrat.de/Shared- Docs/drucksachen/2018/0101-0200/171-18.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (letztmaliger Abruf am 13.06.18). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 5 Dem Gutachten als Anlagen beigefügt sind drei weitere Ausarbeitungen des Fachbereichs, die ebenfalls Fragen zu etwaigen Änderungen der Kindergeldvorschriften behandeln und auf die an passenden Stellen verwiesen wird.7 2. Argumentationslinien des Rechtsgutachtens Das Rechtsgutachten beruht auf zwei Argumentationslinien, die einander bedingen. Die eine betrifft das österreichische Recht der Familienbeihilfe (2.1.), die andere das einschlägige Unionsrecht (2.2.). 2.1. In Bezug auf das österreichische Recht der Familienbeihilfe Ausgangspunkt für die Forderung des Rechtsgutachtens nach Indexierung der Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder ist die (funktionale) Qualifizierung dieser Leistung des österreichischen Rechts als „(teilweise) Beihilfe zu den Ausgaben für die Beschaffung jener Sachgüter und Dienstleistungen […], die im Regelbedarf betragsmäßig ausgedrückt und bewertet werden, der auf einem Warenkorb beruht.“8 Sie stehe – ungeachtet einer fehlenden direkten Verknüpfung – in einem engen Zusammenhang mit der gegenüber Kindern bestehenden Unterhaltsverpflichtung und soll als Unterhaltsentlastung sicherstellen, „dass in jenem Haushalt, in dem das Kind lebt ausreichend Geldmittel zur Verfügung stehen, um zumindest einen Teil der Ausgaben für die Sicherstellung des dem Regelbedarf zugrundeliegenden Warenkorbs zu tragen.“9 Es handele sich funktionsmäßig um „eine an den Warenkorb angelehnte Kostenerstattung“.10 Nach dem Rechtsgutachten ist Folge dieser Qualifizierung, dass das Wohlstandsniveau der EU-ausländischen Wohnländer bei der Leistungshöhe zu berücksichtigen sei, da es andernfalls zu „funktions- und systemwidrigen Verzerrungseffekten […]“ in Bezug auf die Familienbeihilfe komme.11 Je nach Wohlstandsniveau der Wohnländer könne das Ausmaß der Entlastung zu groß (bei niedrigerem Niveau als in Österreich) oder zu niedrig sein (bei höherem Niveau als in Österreich).12 7 Es handelt sich umdie Ausarbeitungen PE 6 – 3000 – 8/14 vom 25.6.2014 mit dem Titel „Kürzungen des Kindergeldes und EU-Recht“ (im Folgenden: Gutachten 8/14), PE 6 – 3000 – 71/16 vom 29.4.2016 mit dem Titel „Kürzungen des Kindergelds im Lichte des EU-Rechts“ (im Folgenden: Gutachten 71/16), und PE – 3000 – 40/18 vom 13.03.2018 mit dem Titel „Einschränkungen beim Kindergeld für im Ausland lebende Kinder von Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten im Lichte des Unionsrechts“(im Folgenden : Gutachten 40/18). 8 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 34. 9 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 32 f. 10 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 38. 11 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 34. 12 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 6 Ob diese Qualifizierung der Familienbeihilfe dem geltenden österreichischen Recht entspricht und ob die angenommenen Verzerrungseffekte bei ausbleibender Indexierung als nach nationalem Recht systemwidrig anzusehen sind, wird hier nicht weiter untersucht. Vielmehr soll diese Rechtsauffassung für die vorliegende Ausarbeitung zugrunde gelegt werden. 2.2. In Bezug auf das einschlägige Unionsrecht Zwar wird in den Ausführungen zum einschlägigen Unionsrecht des Rechtsgutachtens zunächst zutreffend darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung der Unionsgerichte zur Koordinierung von Familienleistungen sowohl auf Grundlage der geltenden Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung sozialer Sicherungssysteme13 (im Folgenden: Koordinierungsverordnung oder VO 883/2004) als auch der Vorgängerverordnung Nr. 1408/7114 bisher jede „direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsberechtigten Bezug nehmende Leistungsdifferenzierung“ als unionsrechtlich unzulässig angesehen hat.15 Der nach geltenden Recht einschlägige Art. 67 S. 1 VO 883/2004 mit der offiziellen Überschrift „Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen“ lautet: „Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“16 Mit Blick auf die in dem Rechtsgutachten vorgenommene Qualifizierung der österreichischen Familienbeihilfe und die Wortfolge „als ob“ in der oben zitierten Vorschrift wird in dem Rechtsgutachten dennoch eine neue Auslegung dieser Bestimmung vorgeschlagen, nach der eine Indexierung möglich sein soll (2.2.1.).17 Eine solche Auslegung sei im Lichte der primärrechtlichen Regelungsgehalte der Freizügigkeit sowie der personenbezogenen Grundfreiheiten geboten. Soweit sie als mit dem Wortlaut des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 13 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1, letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02004R0883- 20170411&qid=1520776816500&from=DE (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 14 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl.EG 1971 Nr. L 149/2 (letzte konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUri- Serv/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:1971R1408:20080707:DE:PDF – letztmalig am 25.03.14). 15 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 13 f., 31. 16 Der Wortlaut der Vorgängerregelung in Art. 73 der VO 1408/71 (Fn. 14) lautete „Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“ 17 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 31, 36 f., 39. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 7 nicht vereinbar angesehen werden könne, sei dieser im Sinne einer „primärrechts- und grundrechtskonformen Interpretation“ teleologisch zu reduzieren (2.2.2.).18 Im Folgenden werden die dem Rechtsgutachten zugrunde liegenden Annahmen nicht nur dargestellt, sondern auch einer kritischen Würdigungen unterzogen. 2.2.1. Vorgeschlagene neue Auslegung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 Ausgangspunkt für den neuen Auslegungsvorschlag zu Art. 67 S. 1 VO 883/2004 ist die dem Rechtsgutachten zugrunde liegende Qualifizierung der österreichischen Familienbeihilfe in funktionaler Hinsicht als „eine an den Warenkorb angelehnte Kostenerstattung“.19 Das Bestehen des Anspruchs im Sinne des Art. 67 S. 1 VO 883/2004, „als ob“ das betreffende Kind in Österreich wohnen würde, bedeute danach, dass diese Leistung immer entsprechend der an den jeweiligen Warenkorb angelehnten Kostenbelastung zu gewähren sei. Den Maßstab hierfür bilde der österreichische Warenkorb bzw. die an diesen angelehnte Höhe der Kostenerstattung.20 Im Rechtsgutachten heißt es hierzu u. a., dass nur „durch die Indexierung […] eine gleichmäßige Beteiligung an den Kosten der Bedarfsdeckung erreicht [wird] – eben so ‚als ob‘ das Kind in Österreich wohnen würde.“21 Lediglich dann werde dem „Wortlaut, Sinn und Zweck von Artikel 67 der VO 883/2004 […] Rechnung getragen.“22 Dies ist nach dem bisherigen Verständnis dieser Bestimmung bzw. der Koordinierungsregelungen zu Familienleistungen jedoch äußerst fraglich: Zum Sinn und Zweck der Vorgängerbestimmung in Art. 73 VO 1408/71, die hinsichtlich der „als-ob“-Wortfolge in gleicher Weise formuliert war,23 hat der EuGH ausgeführt, dass sie vor allem verhindern sollte, „dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen […] in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnen“.24 Erfasst wurde mit dieser Vorschrift somit nicht nur der Ausschluss einer Familienleistung aufgrund des Wohnsitzes, sondern auch Änderungen der Höhe. 18 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 41. 19 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 38. 20 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 36 f. 21 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 37. 22 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 36. 23 Siehe oben Fn. 16. 24 EuGH, Urt. v. 5.10.1995, Rs. C-321/93 (Imbernon Martínez), Rn. 21 (Hervorhebung durch Verfasser); EuGH, Urt. v. 10.10.1996, verb. Rs. C-245/94 u. C-312/94 (Hoever und Zachow), Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 8 Zwar hat der EuGH dies für Art. 67 S. 1 VO 883/2004 – soweit ersichtlich – in dieser Klarheit noch nicht bestätigt. Im Hinblick auf die Wohnsitz-Fiktion, die dem „als-ob“-Nebensatz zugrunde liegt, hat der Gerichtshof allerdings ausgeführt, dass sie „zur Folge hat, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen.“25 Es ist daher davon auszugehen, dass Art. 67 S. 1 VO 883/2004 in der gleichen Weise zu verstehen ist wie die Vorgängerbestimmung in Art. 73 VO 1408/71:26 Die im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen sind hinsichtlich der Leistungsgewährung und der Leistungshöhe so zu behandeln, als wenn sie in dem leistungsgewährenden (zuständigen) Mitgliedstaat wohnen würden.27 Dies wird auch deutlich an den im Schrifttum allgemein zu Indexierungsvorschlägen vertretenen Auffassungen, wonach diese (zumindest) mit dem derzeitigen Sekundärrecht nicht zu vereinbaren seien.28 Hierfür spricht schließlich auch Art. 7 VO 883/2004, die allgemeine Vorschrift zur Aufhebung von Wohnortklauseln. Danach dürfen – vorbehaltlich ausdrücklicher Ausnahmen in der Koordinierungsverordnung – Geldleistungen nicht „aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtet Träger seinen Sitz hat.“ Nicht nur enthält Art. 67 VO 883/2004 eine solche Ausnahme gerade nicht. Von dem eben beschriebenen Verständnis dieser Vorschrift bzw. seiner Wohnsitzfiktion ausgehend, wird im Schrifttum sogar die Ansicht vertreten, dass ihm kein eigenständiger Regelungsgehalt zukomme, da wohnsitzbedingte Leistungskürzungen bereits aufgrund von Art. 7 VO 883/2004 ausgeschlossen seien.29 Ungeachtet der eigenständigen Bedeutung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 folgt hieraus jedenfalls, dass eine Kürzung von Familienleistungen im Zusammenhang 25 EuGH, Urt. v. 22.10.2015, Rs. C-378/14 (Trapkowski), Rn. 35 (Hervorhebung durch Verfasser). 26 Vgl. aus dem Schrifttum etwa Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) 883/2004, 2012, Art. 67, Rn. 1; Igl, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Vorbem. zu Kap. 8 der VO 883/2004 – Familienleistungen, Rn. 7. 27 Anders hingegen die Begründung in dem Gesetzantrag des Freistaates Bayern (Fn. 6), wonach die Wohnsitzfiktion nur auf das Ob der Leistung, nicht hingegen zwingend auch auf die Höhe zu beziehen ist, vgl. Begründung Pkt. A. IV. 28 Siehe bspw. Hohnerlein, Kindergeld zwischen europäischem und deutschem Recht, ZESAR 2018, S. 157 (161 f.); Devetzi, Familienleistungen im Kontext der Freizügigkeit: Rechtsprechung und aktuelle Entwicklungen, NZS 2017, S. 881 (885 f.); Thüsing/Hütter, Kindergeld und Europarecht: Welcher Handlungsspielraum besteht?, NZS 2016, S. 411 f. Siehe auch Marhold, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl. 2018, Vorbem. zu Kap. 8 der VO 883/2004 – Familienleistungen, Rn. 3. 29 So etwa Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 26), Art. 67, Rn. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 9 mit dem Wohnsitz der Familienangehörigen auf Grundlage der VO 883/2004 nicht zulässig ist.30 Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, wie der neue Auslegungsvorschlag mit „Wortlaut, Sinn und Zweck“ des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 vereinbart werden kann. Selbst wenn man – dem Rechtsgutachten folgend – davon ausgeht, dass eine entsprechende österreichische Vorschrift zur Indexierung der Familienleistung so formuliert werden könnte, dass sie nicht nur auf eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit von Anspruchsinhaber und dem jeweiligen Familienangehörigen verzichtet, sondern formal auch nicht auf den Wohnsitz des Letztgenannten abstellt,31 wäre dies keine Lösung. Denn im Ergebnis soll eine solche Regelung nämlich doch dazu führen, dass die Familienleistung bei EU-ausländischem Wohnsitz infolge der Indexierung in der Höhe geändert wird und der Anspruch damit eben nicht so erhoben werden kann, als würden die betreffenden Kinder in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Letztlich führt jede Indexierung der Konsequenz dazu, dass die Wohnsitzfiktion des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 ins Leere läuft und ist daher mit dieser Vorschrift unvereinbar ist. 2.2.2. Primärrechtskonforme Auslegung und teleologische Reduktion des Wortlauts von Art. 67 S. 1 VO 883/2004 Zur Untermauerung des Auslegungsvorschlags wird in dem Rechtsgutachten unter verschiedenen Gesichtspunkten das Primärrecht bemüht. Zum einen wird die Auffassung vertreten, dass das einer Indexierung entgegenstehende Koordinationsrecht der Verordnung „die aus der Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit abzuleitenden Regelungsinhalte des Primärrechts [verfehlt]“32 (2.2.2.1.). Zum anderen wird davon ausgegangen, dass eine Indexierungsregelung bei entsprechender Ausgestaltung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit vereinbar und damit unionsrechtlich zulässig wäre (2.2.2.2.),33 so dass ein der Indexierung entgegenstehender Wortlaut des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 ggf. im Wege der primärrechtskonformen Auslegung entsprechend teleologisch zu reduzieren wäre (2.2.2.3.).34 30 Davon zu unterscheiden sind die in Art. 68 VO 883/2004 enthaltenen Prioritätsregeln, die im Fall des Zusammentreffens von Familienleistungen mehrerer Mitgliedstaaten eine Kürzung etc. vorsehen. So etwa wenn auch nach dem Recht des Wohnlandes Familienleistungen zu gewähren sind. Diese Konstellation spielt für die hier erörterten Fragen keine Rolle. 31 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 39. Die österreichische Regierungsvorlage knüpft indes ausdrücklich an den ständigen Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat an, vgl. Art. 1 Nr. 1 des vorgeschlagenen Bundesgesetzes , online abrufbar unter https://www.parlament .gv.at/PAKT/VHG/XXVI/I/I_00111/fname_692207.pdf (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 32 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 34. 33 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 39 ff. 34 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 41. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 10 2.2.2.1. Zur Verfehlung primärrechtlicher Regelungsgehalte Die im Rechtsgutachten vertretene Auffassung, wonach das derzeitige EU-Koordinierungsrecht für Familienleistungen die grundfreiheitlichen Regelungsgehalte verfehle, speist sich aus der Annahme, dass die fehlende Berücksichtigung von Preisniveauunterschieden entweder „zur Umverteilung [führe], die von den Grundfreiheiten nicht gefordert ist (wenn das Wohnland des Kindes ein Land mit niedrigerer Kaufkraft ist), oder zur Unterförderung (wenn das Wohnland des Kindes ein Land mit höherer Kaufkraft ist), die die Freizügigkeit verletzt.“35 Beide Annahmen sind im Lichte des geltenden Unionsrechts zweifelhaft. Hinsichtlich der Konstellation einer von den Grundfreiheiten nicht geforderten „Umverteilung“ kann bspw. auf die Rechtssache Habelt verwiesen werden.36 Dort stand die wohnortbedingte Kürzung bei Leistungen wegen Alters im Raum. Der EuGH führte auf Grundlage der Verordnung 1408/71 zum Verhältnis der sekundärrechtlichen Aufhebung von Wohnortklauseln und der grundfreiheitlichen Freizügigkeit Folgendes aus: „Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 über die Aufhebung der Wohnortklauseln um Maßnahmen zur Durchführung des Art. 42 EG [heute Art. 48 AEUV] handelt, die zur Herstellung der durch Art. 39 EG [heute: Art. 45 AEUV] garantierten Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Bereich der sozialen Sicherheit ergriffen wurden […].“37 Hieraus folgt, dass die Aufhebung von Wohnortklauseln als Maßnahme zur Herstellung der Freizügigkeit verstanden wird. Obgleich sich die Aussage auf die Verordnung 1408/71 bezieht dürfte sie auch für die aktuelle Koordinierungsverordnung und ihre Art. 7 VO 883/2004 und Art. 67 S. 1 VO 883/2004 gelten. Eine aus diesen Bestimmungen ggf. folgende „Umverteilung“ bei Familienleistungen ist danach – jedenfalls im Grundsatz und damit vorbehaltlich von Sonderregelungen – als notwendige grundfreiheitliche Konsequenz anzusehen. Kommt es hingegen mangels zulässiger Indexierung zu einer „Unterförderung“, so stellt dies im Lichte der Rechtsprechung – anders als im Rechtsgutachten angenommen – keine Verletzung der Freizügigkeit dar. Denn nach ständiger Rechtsprechung gewährleistet die Freizügigkeit nicht, dass ein Wechsel des Beschäftigungsstaates für den Erwerbstätigen sozialversicherungsrechtlich neutral ist. Hierzu führt der EuGH in ständiger Rechtsprechung aus: „Zwar kann das Primärrecht der Union einem Versicherten nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Herkunftsmitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit […] neutral ist, da ein solcher Umzug aufgrund der 35 Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 35 (Hervorhebung durch Verfasser). 36 EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u. C-450/05 (Habelt u. a.). 37 EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u. C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 78. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 11 Unterschiede, die in diesem Bereich zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für die betreffende Person je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in Bezug auf den sozialen Schutz haben kann, doch ist nach ständiger Rechtsprechung eine nationale Regelung für den Fall, dass ihre Anwendung weniger vorteilhaft ist, nur mit dem Unionsrecht vereinbar, soweit u. a. diese nationale Regelung den betreffenden Erwerbstätigen im Vergleich zu Personen, die ihre gesamten Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem diese Regelung gilt, nicht benachteiligt […].“38 Nachteile in Bezug auf den sozialen Schutz infolge eines (Erwerbs-)Umzugs sind danach nur insoweit als Verletzung der Freizügigkeit anzusehen, als der betreffenden Regelung im neuen Mitgliedstaat eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zugrunde liegt. Ein Nachteilsausgleich infolge des (Erwerbs-)Umzugs und damit ggf. eine Besserstellung gegenüber der sozialen Situation bei Inlandssachverhalten gebieten die personenbezogenen Grundfreiheiten dagegen gerade nicht. Somit stellt die „Unterförderung “ gerade keine Verletzung der Freizügigkeit dar, sondern ein allgemeines Freizügigkeitsrisiko , welches der Freizügigkeitsberechtigte zu tragen hat. Eine Verfehlung der grundfreiheitlichen Regelungsgehalte durch das derzeitige EU-Koordinierungsrecht für Familienleistungen liegt somit nicht vor. Argumente für eine neue Auslegung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 lassen sich hieraus folglich nicht herleiten. 2.2.2.2. Zur Vereinbarkeit einer Indexierungsregelung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit Ob und unter welchen Voraussetzungen eine mitgliedstaatliche Indexierungsregelung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach geltendem Recht vereinbar wäre, ist umstritten und in der Rechtsprechung bisher nicht eindeutig geklärt. Dies gilt sowohl hinsichtlich des sekundärrechtlich in Art. 4 VO 883/2004 geregelten bereichsspezifischen Diskriminierungsverbots als auch in Bezug auf seine primärrechtliche Verankerung. In der in diesem Zusammenhang oft bemühten Rechtssache Pinna hat der EuGH eine an den Wohnsitz anknüpfende Sonderregelung für Frankreich in der Verordnung 1408/71 zum Bezug für Familienleistungen zwar als Verstoß gegen das primärrechtliche Diskriminierungsverbot angesehen.39 Sie enthielt jedoch keine Indexierung in dem hier geplanten Sinne, die Regelung konnte aber in der Konsequenz zu einer Herabsetzung der Leistungshöhe führen, da sie hinsichtlich des Anspruchs auf Familienleistung für in anderen EU- Mitgliedstaaten wohnende Familienangehörige auf die Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaates verwies; die danach zu gewährenden Leistungen waren durch Frankreich 38 EuGH, Urt. v. 13.07.2016, Rs. C-187/15 (Pöpperl), Rn. 24; EuGH, Urt. v. 12.06.2012, verb. Rs. C-611/10 u. 612/10 (Hudzinski u. Wawrzyniak), Rn. 43; EuGH, Urt. v. 18.04.2013, Rs. C-548/11 (Mulders), Rn. 45. 39 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 22 ff. Siehe dazu auch Gutachten 71/16 (Fn. 7), S. 12 ff.; Devetzi (Fn. 28), NZS 2017, S. 881 (885). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 12 zu erstatten.40 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht weiter, dass unterschiedliche Schlussfolgerungen aus diesem Urteil für die Zulässigkeit von Indexierungsregelungen gezogen werden (können): Während die Rechtssachte Pinna nach den Erläuterungen zur österreichischen Regierungsvorlage so verstanden werden kann, „dass sie einer Indexierung nicht grundsätzlich entgegensteht“,41 finden sich im Schrifttum eher Stimmen, die hieraus Zweifel an der Vereinbarkeit ableiten42 und der Rechtsicherheit wegen eine Klarstellung im Primärrecht fordern.43 Ohne eine solche Klarstellung muss die Entscheidung über die Vereinbarkeit von Indexierungsregelungen im Bereich der Familienleistungen für im EU- Ausland wohnhafte Kinder mit dem Diskriminierungsverbot dem EuGH vorbehalten bleiben . Im Übrigen wird zu diesem Gesichtspunkt auf vorherige Ausarbeitungen des Fachbereichs 44 und einschlägige Literatur verwiesen.45 2.2.2.3. Zur teleologischen Reduktion des Wortlauts des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 Unterstellt man, dass eine Indexierungsregelung so ausgestaltet werden könnte, dass sie mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit vereinbar wäre, würde hieraus gleichwohl nicht das Gebot einer entsprechenden teleologischen Reduk- 40 Siehe zum Wortlaut dieser Regelung EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 4. Zur Bewertung vgl. Gutachten 71/16 (Fn. ), S. 12 f., mit weiteren Nachweisen. Ein eher auf Indexierung im vorliegen Sinne zielendes Verständnis vertritt hingegen Devetzi (Fn. 28), NZS 2017, S. 881 (885): „Somit war es Frankreich gestattet, die Höhe der Leistung nach dem am Wohnort des Kindes herrschenden Leistungsniveau zu bemessen.“ 41 Erläuterungen zur Regierungsvorlage, Besonderer Teil, S. 3, (im Folgenden: Regierungserläuterungen) online abrufbar unter https://www.parlament.gov.at/PAKT/VHG/XXVI/I/I_00111/fname_692212.pdf (letztmaliger Abruf am 13.06.18). 42 Hohnerlein (Fn. 28), ZESAR 2018, S. 157 (162), etwa bezweifelt die Vereinbarkeit von Indexierungsregeln mit dem Primärrecht, „nicht zuletzt wegen des EuGH-Urteils in der Rs. Pinna“. Ähnlich wohl Devetzi (Fn. 28), NZS 2017, S. 881 (885), die allerdings ausdrücklich nur den Schluss zieht, dass bei der Gewährung von Familienleistungen infolge dieses Urteils „auch eine Differenzierung nach dem Wohnsitz der Kinder untersagt [ist].“ 43 So etwa Thüsing/Hütter (Fn. 28), NZS 2016, S. 411 (413). 44 Siehe dazu Gutachten 8/14 (Fn. 7), S. 18 ff., Gutachten 71/16 (Fn. 7), S. 18 ff., sowie Gutachten 40/18 (Fn. 7), S. 8 ff. 45 Siehe die in Fn. 42 und 43 aufgeführten Nachweise sowie Eichenhofer, Kindergeld für EU-Ausländer – Umstrittene Kürzungsabsichten und ein fragwürdiges Urteil des EuGH, Soziale Sicherheit 4/2017, S. 163 (165 f.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 13 tion des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 folgen. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob dieses Auslegungsinstrument in methodischer Hinsicht vorliegend noch als unionsrechtlich zulässige Einwirkung auf Sekundärrecht angesehen werden kann.46 Zum einen gehört das in Art. 7 VO 883/2004 und Art. 67 S. 1 VO 883/2004 umgesetzte sog. Exportprinzip des Art. 48 Abs. 1 Buchst. b AEUV,47 wonach Leistungen der sozialen Sicherheit auch in andere als den für die Leistung zuständigen Mitgliedstaaten zu transferieren sind, zu den (primärrechtlichen) Grundprinzipien des Koordinierungsrechts im Bereich der sozialen Sicherheit.48 Und auch wenn dieses Prinzip nicht uneingeschränkt gilt und (rechtfertigungsbedürftige) Ausnahmen zulässig sind,49 tritt es mit seinem Normgehalt neben das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, welches ebenfalls als Grundprinzip des Koordinierungsrechts angesehen werden kann.50 Vor diesem Hintergrund ist zweifelhaft, ob das Exportprinzip gegenüber dem Diskriminierungsverbot – einen Konflikt beider vorausgesetzt – per se zurücktritt. Dessen ungeachtet ist zum anderen fraglich, ob und ggf. inwieweit ein solcher Konflikt überhaupt vorliegt. Denn die Regelung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 führt – isoliert betrachtet – gerade nicht zu einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Sie bewirkt aufgrund ihrer Wohnsitzfiktion vielmehr eine (formale) Gleichstellung für die Fälle, in denen Familienangehörige von Leistungsberechtigten im EU-Ausland wohnen.51 Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in diesen Konstellationen könnte sich allenfalls aus dem Zusammenspiel von Art. 67 S. 1 VO 883/2004 mit der mitgliedstaatlich ausgestalteten Familienleistung ergeben, soweit letztere eine Indexierung vorsieht. Eine aus diesem Zusammenspiel folgende Schlechterstellung von Personen mit im EU-Ausland wohnhaften Familienmitgliedern scheidet jedoch für die im Rechtsgutachten als „Umverteilung“ bezeichnete Situation aus. Denn hier wird eine höhere Leis- 46 Siehe zu den methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung des Sekundärrechts Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäisches Methodenrecht, § 8, Rn. 31 ff. Zwar wird auch das Instrument einer teleologischen Reduktion als zulässig angesehen, vgl. Leible/Domröse, aaO, Rn. 35. Es findet seine Grenze jedoch im sog. contra-legem-Verbot des Judizierens, wonach es dem Gerichtshof verboten ist, sich über den Wortsinn und den Zweck der jeweiligen sekundärrechtlichen Regelung hinwegzusetzen, vgl. Leible/Domröse, aaO, Rn. 36. Letzteres dürfte auch im Hinblick auf Art. 67 S. 1 VO 883/2004 relevant werden, wenn hierdurch die Wohnsitzfiktion ins Leere laufen soll. Wie sogleich zu zeigen sein wird, ist eine derart weitreichende teleologische Reduktion jedoch vorliegend nicht geboten. 47 Schuler, in: Fuchs (Fn. 28), Art. 7 VO 883/2004, Rn. 1, 13. 48 Langer, in: Fuchs (Fn. 26), Art. 48 AEUV, Rn. 19 ff.; Fuchs, in: Fuchs (Fn. 28), Art. 45-48 AEUV, Rn. 27. 49 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u. C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 80 ff. Siehe auch den Wortlaut des Art. 7 VO 883/2004 sowie das Gutachten 71/16 (Fn. 7), S. 25 f. 50 So etwa Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 1787. 51 Vgl. auch Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 40. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 14 tung gewährt, als sie nach dem Wohlstandsniveau des Wohnlandes geboten ist. Ein eventueller Verzerrungseffekt führt in diesen Fällen und für diese Personengruppe im Vergleich zu rein inländischen Konstellationen somit zu einem Vorteil. Eine für das Diskriminierungsverbot notwendige Schlechterstellung des „Auslandssachverhalts“ lässt sich lediglich in der anderen Konstellation ausmachen, dem Fall der – in der Begriffswahl des Rechtsgutachtens – „Unterförderung“. Hier wäre im Lichte des Sinn und Zwecks der betreffenden mitgliedstaatlichen Familienleistung nämlich ein höherer Betrag zu zahlen, als nach dem Recht des zuständigen Mitgliedstaates vorgesehen ist. Es ist aber sehr fraglich, ob Art. 67 S. 1 VO 883/2004 einer solchen Mehrzahlung entgegensteht . Mag auch der Wortlaut eine solche Rechtsfolge nahelegen. Vom Sinn und Zweck her dürfte sich diese Vorschrift, insbesondere im Lichte der allgemeinen Regelung zu Wohnortklauseln in Art. 7 VO 883/2004, nur gegen Kürzungen der Zahlungen richten ,52 nicht aber gegen eine Besserstellung durch Gewährung höherer Leistungen als sie nach dem Recht des zuständigen Mitgliedstaates für rein innerstaatliche Konstellationen vorgesehen sind. Ein solches Verständnis entspricht auch dem im Schrifttum als Günstigkeitsprinzip bezeichneten Rechtsgrundsatz,53 wonach es den Mitgliedstaaten unbenommen ist, freizügigkeitsberechtigten Personen und deren Familienmitgliedern ein Mehr an sozialer Sicherheit einzuräumen, als sich aus den Vorgaben des (koordinierenden) EU-Sozialrecht ergibt. In der Rs. Hudzinski und Wawrzyniak führte der EuGH insoweit aus: „In diesem Rahmen hat der Gerichtshof indessen festgestellt, dass man gleichzeitig über das Ziel der Verordnung Nr. 1408/71 hinausginge und die Zwecke und den Rahmen von Art. 48 AEUV außer Betracht ließe, legte man die Verordnung so aus, dass sie einem Mitgliedstaat verbietet, Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren , als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt […].“54 Diese Ausführungen zur Verordnung 1408/71 dürften auch für die aktuelle Koordinierungsverordnung gelten. Raum für eine teleologische Reduktion des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 im Zusammenhang mit einer Indexierung der betreffenden Leistung nach mitgliedstaatlichem Rechts besteht daher allenfalls insoweit, als diese Verordnungsvorschrift einer Gewährung höherer Leistungen für im EU-Ausland wohnhafte Familienmitglieder entgegenstehen würde als sie für rein innerstaatliche Konstellationen zu zahlen sind. 52 Schuler, in: Fuchs (Fn. 28), Art. 7 VO 883/2004, Rn. 4. 53 Siehe hierzu Devetzi (Fn. 28), NZS 2017, S. 881 (883 f.). 54 EuGH, Urt. v. 12.06.2012, verb. Rs. C-611/10 u. 612/10 (Hudzinski u. Wawrzyniak), Rn. 55 (Hervorhebung durch Verfasser). Siehe auch EuGH, Urt. v. 16.07.2009, Rs. C-208/07 (Von Chamier-Glisczinski), Rn. 56. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 74/18 Seite 15 2.3. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass, erstens, die im Rechtsgutachten vorgeschlagene neue Auslegung des Art. 67 S. 1 VO 883/2004, wonach diese Verordnungsvorschrift die Indexierung von Familienleistungen bei entsprechender Ausgestaltung der einschlägigen nationalen Vorschriften zulässt, mit dem Wortlaut, Sinn und Zweck des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 nicht vereinbar ist. Zweitens gebieten auch die primärrechtlichen Regelungsgehalte der personenbezogenen Grundfreiheiten und insbesondere das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit eine entsprechende (primärrechtskonforme) Auslegung jedenfalls insoweit nicht, als die Höhe der Familienleistungen zu kürzen ist. Raum für eine teleologische Reduktion der Wohnsitzfiktion des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 besteht lediglich dann, wenn dieser einer Zahlung höherer Beträge für im Ausland lebende Familienangehörige infolge der Indexierung entgegenstehen sollte. Darüber hinaus kann dahinstehen, ob eine Indexierungsregelung mit dem Primärrecht vereinbar wäre,55 mit dem geltenden Sekundärrecht, insbesondere Art. 67 S. 1 VO 882/2004, ist sie es jedenfalls nicht. 3. Zur Übertragbarkeit auf das deutsche Recht Da der dem Rechtsgutachten zugrunde liegende Indexierungsvorschlag mit dem geltenden EU-Sekundärrecht im Bereich der sozialrechtlichen Koordinierung nicht vereinbar ist, scheidet eine Übertragung auf das deutsche Kindergeldrecht bereits aus diesem Grund und unabhängig von seiner Ausgestaltung aus. Ob das deutsche Kindergeldrecht von seinem Sinn und Zweck her eine Indexierung der Leistung für im EU-Ausland lebende Kinder ebenso gebietet wie dies für die österreichische Familienbeihilfe in dem Rechtsgutachten angenommen wird und ob die Ausgestaltung des geltenden deutschen Kindergeldrechts den Anforderungen des Diskriminierungsverbots an eine Indexierung entsprechen würde, bedarf daher an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung. Auch insoweit wird auf Schrifttum zu dieser Frage verwiesen.56 – Fachbereich Europa – 55 Auf eine solche Vereinbarkeit mit dem Primärrecht wird im Rechtsgutachten (Fn. 1), S. 34, Fn. 68, zwar verwiesen. Hierbei beruft sich der Autor jedoch nur auf das von der Kommission und den Staatsund Regierungschefs unterbreitete Angebot zur Indexierung von Familienleistungen vom Februar 2016 an das Vereinte Königreich für den Fall des Verbleibs in der EU. Siehe zu seiner Vereinbarkeit mit dem Primärecht das Gutachten 71/16 (Fn. 7). 56 Siehe insbesondere Eichenhofer (Fn. 45), Soziale Sicherheit 4/2017, S. 163 (165 f.); Thüsing/Hütter (Fn. 28), NZS 2016, S: 411 (412).