© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 071/19 Zur exterritorialen Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 2 Zur exterritorialen Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 071/19 Abschluss der Arbeit: 27. September 2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Prüfung der Vereinbarkeit mit dem unionsrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung 5 2.1. Eingrenzung des Prüfungsgegenstandes 5 2.2. Bestimmung des anzuwendenden Prüfungsmaßstabes 6 2.2.1. Primärrecht 6 2.2.1.1. Art. 78 AEUV 6 2.2.1.2. Art. 18, 19 Abs. 2 GRC 8 2.2.1.2.1. Gewährleistungsgehalt 8 2.2.1.2.2. Anwendungsbereich gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC 9 2.2.2. Sekundärrecht 10 2.2.2.1. Asylverfahrensrichtlinie 11 2.2.2.2. Dublin-III-Verordnung 11 2.2.2.3. Rückführungsrichtlinie 12 2.2.2.4. Seeaußengrenzenverordnung 12 2.2.2.5. EUROSUR-Verordnung 12 2.2.2.6. EBCG-Verordnung 13 2.2.2.7. Schengener Grenzkodex 14 2.2.2.8. Anerkennungsrichtlinie 16 2.2.2.9. Rahmenbeschluss 2002/946/JI 16 2.2.3. Zwischenergebnis zum anzuwendenden Prüfungsmaßstab 21 2.3. Prüfung der Vereinbarkeit 21 2.3.1. Schutzbereich der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC 21 2.3.1.1. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung im Völkerrecht 22 2.3.1.2. Folgerungen für die weitere Prüfung 24 2.3.2. Einschränkung des Art. 19 Abs. 2 GRC 25 2.3.2.1. Voraussetzung des Vorliegens einer tatsächlichen Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung 25 2.3.2.2. Voraussetzung der Ausübung effektiver Kontrolle 25 2.3.2.2.1. Physische Kontrolle 25 2.3.2.2.2. Sonstige Formen der effektiven Kontrolle 25 3. Zusammenfassung und Ergebnis 28 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich ist um Auskunft gebeten worden, ob es mit EU-Asylrecht und insbesondere dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und den Vorschriften über den Zugang zum Asylverfahren vereinbar ist, wenn die Behörden eines Mitgliedstaates es dem Kapitän eines Schiffes untersagen, in die mitgliedstaatlichen Hoheitsgewässer bzw. Häfen einzufahren, um dort aus Seenot gerettete Schutzsuchende auszuschiffen, und im Falle der Zuwiderhandlung gegen den Kapitän Strafverfolgungsmaßnahmen etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise ergreifen. In der rechtlichen Diskussion zur Ausschiffung aus Seenot geretteter Schutzsuchender stand bislang das Völkerrecht im Fokus. Zum einen wurde die exterritoriale Anwendbarkeit des völkerrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung (sog. Refoulement-Verbot) u. a. auf Fälle diskutiert , in denen die Boote von Schutzsuchenden auf Hoher See von militärischen Schiffen abgefangen und an der Weiterfahrt gehindert werden.1 Zum anderen wurden die Voraussetzungen und Grenzen des seevölkerrechtlichen Nothafenrechts untersucht. Hiernach kann sich der Kapitän eines Rettungsschiffs auf ein Nothafenrecht nur berufen, wenn sich die Situation an Bord des Rettungsschiffs als Seenotlage darstellt, d.h. wenn eine unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren des Schiffes droht (Wasserknappheit, Gefahr eines Kenterns etc.), was jedenfalls bei größeren Schiffen, die für derartige Rettungseinsätze besonders ausgestattet sind, wohl nicht ohne Weiteres anzunehmen ist.2 Aus diesem Grund besteht im Einzelfall oftmals Unsicherheit, ob die Voraussetzungen des Nothafenrechts zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen und ob es dem betreffenden Küstenstaat insoweit möglicherweise zusteht, dem Kapitän des Rettungsschiffs die Einfahrt in die Hoheitsgewässer zu untersagen. Vor diesem Hintergrund stellt sich vorliegend die Frage, ob die Abweisung von Schiffen mit außerhalb der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewässer aus Seenot geretteten Schutzsuchenden mit Blick auf eine nach nationalem Recht bestehende Strafbarkeit etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise möglicherweise gegen Unionsrecht verstößt, so dass die Einfahrt in die Hoheitsgewässer der Mitgliedstaaten ungeachtet der seevölkerrechtlichen Vorgaben,3 also insbesondere auch dann zu gewähren wäre, wenn im Einzelfall keine Seenotlage vorliegt. Da das Recht auf Zugang zum Asylverfahren nach den einschlägigen Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie4 grundsätzlich erst ab Einfahrt in die Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaates anwendbar ist (näher dazu siehe unter 2.2.2.1.), kommt vorliegend in erster Linie eine Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung in seiner unionsrechtlichen Ausprägung in Betracht. 1 Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Sachstand WD 2 - 3000 - 013/18 (13. Februar 2018), S. 9 ff. 2 Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Kurzinformation WD 2 - 3000 - 082/18 (11. Juni 2018), Sachstand WD 2 - 3000 - 013/18 (13. Februar 2018), S. 11 f. 3 Näher hierzu Talmon, Private Seenotrettung und das Völkerrecht, JZ 2019, 802. 4 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Näher insbesondere zu den Rechten von Schutzsuchenden, die bereits die Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaates erreicht haben, Westphal, Das Recht von Flüchtlingen an den Küsten Europas, NVwZ 2019, S. 1329. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 5 Im Folgenden ist zunächst der Prüfungsgegenstand einzugrenzen (2.1.) und der einschlägige unionsrechtliche Prüfungsmaßstab zu bestimmen (2.2.). In Anschluss erfolgt die Prüfung, ob die in Rede stehenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen mit den einschlägigen Unionsbestimmungen zum Grundsatz der Nichtzurückweisung vereinbar sind (2.3.). 2. Prüfung der Vereinbarkeit mit dem unionsrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung 2.1. Eingrenzung des Prüfungsgegenstandes Eine verbotene Zurückweisung könnte vorliegend insbesondere darin gesehen werden, dass sich der Kapitän des Rettungsschiffs aus Sorge vor Bestrafung gegen die Einfahrt in die Hoheitsgewässer des betreffenden Mitgliedstaats entscheidet, und es dort folglich auch nicht zur Ausschiffung der Schutzsuchenden kommt. Die Schutzsuchenden könnten sich infolgedessen zur Rückkehr gezwungen sehen und dadurch Gefahr laufen, einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu werden. Der entscheidende Anknüpfungspunkt für einen möglichen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung ist somit in dem von einer nationalen Vorschrift über die Strafbarkeit , etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise, ausgehende präventive Befolgungsdruck zum Zeitpunkt vor der Einfahrt in die Hoheitsgewässer zu sehen. Entscheidet sich der Kapitän des Rettungsschiffs im Einzelfall hingegen ungeachtet einer möglichen Strafbarkeit zur Einfahrt in die Hoheitsgewässer und zur Ausschiffung der Schutzsuchenden in einem Hafen des betreffenden Mitgliedstaats, lässt sich allein an den in der Folge gegen den Kapitän ergriffenen Strafverfolgungsmaßnahmen keine verbotene Zurückweisung der Schutzsuchenden festmachen. Denn den Schutzsuchenden darf die Einreise an der Grenze nicht verwehrt werden.5 Sie erhalten dadurch Gelegenheit zur Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz, zu deren Prüfung der betreffende Mitgliedstaat insbesondere aufgrund der Asylverfahrensrichtlinie verpflichtet ist (näher zum räumlichen Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie unter 2.2.2.1.). In dem sich anschließenden Verfahren ist der zuständige Mitgliedstaat aufgrund diverser sekundärrechtlicher Vorschriften im Verhältnis zu den Schutzsuchenden an den Grundsatz der Nichtzurückweisung gebunden (hierzu unter 2.2.2.). Insoweit wirft die räumliche Anwendbarkeit des einschlägigen EU-Asylrechts keine Schwierigkeiten auf. Ein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung kommt somit vorliegend lediglich mit Blick auf den von einer entsprechenden Strafvorschrift entfalteten präventiven Befolgungsdruck im Zeitpunkt vor ihrer potenziellen Verwirklichung im Einzelfall und damit vor Einfahrt in die Hoheitsgewässer in Betracht. In dieser Hinsicht stellt sich dann allerdings die Frage einer exterritorialen Anwendbarkeit der einschlägigen Unionsbestimmungen zur Gewährleistung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, weil es darum geht, diesen Grundsatz als Prüfungsmaßstab für die Wirkungen einer Maßnahme eines Mitgliedstaates auf Vorgänge außerhalb seines Hoheitsgebiets bzw. -gewässer heranzuziehen. 5 Nach Art. 6 Abs. 5 Buchst. c, Art. 3 und 4 Schengener Grenzkodex sind die Grenzkontrollen unter Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durchzuführen, vgl. EuGH, Rs. C‑606/10, ANAFE, Rn. 39 f. Vgl. auch die Empfehlung der Kommission vom 6.11.2006 über einen gemeinsamen „Leitfaden für Grenzschutzbeamte (Schengen-Handbuch)“, der von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Grenzkontrollen bei Personen heranzuziehen ist, K (2006) 5186 endg. (nicht konsolidierte Fassung), S. 42. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 6 In der nachfolgenden Ausarbeitung geht es somit um die Prüfung, ob die Abweisung von Schiffen mit aus Seenot geretteten Schutzsuchenden mit Blick auf eine nach nationalem Recht bestehende Strafbarkeit, etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise, und insbesondere der von ihr ausgehende präventive Befolgungsdruck zum Zeitpunkt vor der Einfahrt in die Hoheitsgewässer des betreffenden Mitgliedstaates gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt. Mit Blick auf diese spezielle Fragestellung haben im Rahmen der nachfolgenden Ausarbeitung solche Maßnahmen außer Betracht zu bleiben, welche die im Grenzbereich tätigen Behörden in Wahrnehmung anderer Aufgaben ergreifen, wie etwa auf dem Gebiet der Sicherheit und Gefahrenabwehr im Seeverkehr, der Fischereiaufsicht, der Zollkontrolle, des Umweltschutzes und der allgemeinen Strafverfolgung wegen anderer als mit der Einreise zusammenhängender Delikte. Auch ist darauf hinzuweisen, dass für die vorliegende Ausarbeitung nicht geprüft wurde, wie die entsprechenden Strafvorschriften im Recht einzelner Mitgliedstaaten ausgestaltet sind und wie diese von den zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten ausgelegt und angewandt werden. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob möglicherweise das einzelstaatliche Recht bereits hinreichende Spielräume vorsieht, um den besonderen Umständen des Einzelfalls etwa im Rahmen der Rechtfertigung oder auf der Ebene der Schuld Rechnung zu tragen. Die vorliegende Ausarbeitung trifft somit keine Aussage darüber, ob in derartigen Fällen tatsächlich eine begründete Sorge vor Bestrafung des Kapitäns besteht. 2.2. Bestimmung des anzuwendenden Prüfungsmaßstabes Der Grundsatz der Nichtzurückweisung hat im Unionsrecht auf primär- wie sekundärrechtlicher Ebene Ausdruck gefunden. Das Primärrecht greift den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art. 78 AEUV sowie insbesondere in Art. 18 und 19 Abs. 2 Grundrechtecharta auf. Darüber hinaus wird er durch zahlreiche Vorschriften des Sekundärrechts bereichsspezifisch bekräftigt. Die verschiedenen Vorschriften zum Grundsatz der Nichtzurückweisung sind durch Besonderheiten ihrer jeweiligen Normebene und ihres Regelungsgehalts gekennzeichnet. Insoweit ist mit Blick auf den speziellen Prüfungsgegenstand zunächst zu klären, welche dieser Unionsvorschriften für eine Anwendung vorliegend überhaupt in Betracht kommen. Dies betrifft insbesondere Fragen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Vertragsbestimmungen, des allgemeinen Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta (GRC) sowie Fragen der exterritorialen Ausrichtung der einschlägigen Vorschriften des Sekundärrechts. Anhand des hierbei ermittelten einschlägigen Prüfungsmaßstabs ist im Anschluss zu prüfen, ob die vorliegend zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen in der Sache als verbotene Zurückweisung zu werten sind (unter 2.3.). 2.2.1. Primärrecht 2.2.1.1. Art. 78 AEUV Im Primärrecht ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art. 78 Abs. 1 AEUV erwähnt. Satz 1 dieser Vorschrift formuliert zunächst einen Regelungsauftrag an die Union, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, mit der u.a. die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 7 gewährleistet werden soll. Nach Satz 2 muss das hierzu erlassene Sekundärrecht insbesondere mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vereinbar sein: „Artikel 78 (1) Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen. […]“ Der hierüber in Bezug genommene Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention regelt den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung (sog. Refoulement-Verbot): „Artikel 33 Verbot der Ausweisung und Zurückweisung 1. Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. 2. Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Die Gemeinsame Europäische Asylpolitik muss mit diesen Vorgaben vereinbar sein und ist gegebenenfalls völkerrechtskonform auszulegen.6 Dies hindert die Union indes weder daran, ihren Mitgliedstaaten die Gewährleistung eines höheren Schutzniveaus vorzuschreiben, noch in bestimmten Punkten ein abweichendes Schutzkonzept zu verfolgen, sofern die Mitgliedstaaten dadurch nicht daran gehindert werden, ihren u.U. weitergehenden Verpflichtungen aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention durch entsprechende nationale Vorschriften nachzukommen.7 Dies 6 EuGH, verb. Rs. C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, Salahadin Abdulla u.a., Rn. 53. 7 Vgl. EuGH, Rs. C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, M u.a., Rn. 106; hierzu auch Thym, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, 67. EL Juni 2019, Art. 78, Rn. 30. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 8 wird in dem einschlägigen Sekundärrecht durch Vorschriften sichergestellt, wonach die Mitgliedstaaten „günstigere Normen […] erlassen oder beibehalten“8 können. Der im Wortlaut der Vorschrift in Art. 78 Abs. 1 S. 1 AEUV zum Ausdruck kommende Programmcharakter spricht dagegen, sie über das Vereinbarkeitserfordernis in Satz 2 hinaus als eine zugunsten des Einzelnen unmittelbar anwendbare Bestimmung anzusehen. Dementsprechend wurde die Frage einer unmittelbaren Anwendbarkeit im Schrifttum bislang nur von Einzelstimmen überhaupt aufgeworfen und im Ergebnis verneint.9 Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich, nicht vor. Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass sich der Einzelne auf den unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung nur in dem Umfang berufen kann, wie er vom Unionsgesetzgeber im Sekundärrecht verwirklicht wurde. 2.2.1.2. Art. 18, 19 Abs. 2 GRC 2.2.1.2.1. Gewährleistungsgehalt Die Grundrechtecharta regelt in ihrem Art. 18 das Recht auf Asyl und in ihrem Art. 19 den Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung. Nach der Rechtsprechung wird der Grundsatz der Nichtzurückweisung durch beide Vorschriften gewährleistet, wobei der EuGH insbesondere auf Art. 18 und 19 Abs. 2 GRC abstellt.10 „Artikel 18 Asylrecht Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden „die Verträge“) gewährleistet. Artikel 19 Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (1) Kollektivausweisungen sind nicht zulässig. (2) Niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter 8 Vgl. nur Art. 3 Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, Art. 5 Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, Art. 4 Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU; in der Sache auch Art. 17 Dublin-III-VO Nr. 604/2013. 9 Gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit Müller-Graff in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, 1. Auflage 2017, Art. 78 AEUV, Rn. 2; weniger deutlich, aber in der Sache wohl auch gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit Fischer-Lescano/Horst, Das Pönalisierungsverbot aus Art. 31 I GFK, ZAR 2011, 81 (82 f.). 10 EuGH, Rs. C‑373/13, H.T., Rn. 65; EuGH, Rs. C-181/16, Gnandi, Rn. 53 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 9 oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht .“ Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist in diesen Vorschriften in unterschiedlichem Umfang gewährleistet. Der Zurückweisungsschutz nach Art. 18 GRC ergibt sich aus der Verweisung auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Dementsprechend bringt der EuGH Art. 18 GRC in Verbindung mit dem völkerrechtlichen Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK zur Anwendung.11 Dagegen wird mit Art. 19 Abs. 2 GRC die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK übernommen , wie sich aus den Erläuterung zur Grundrechtecharta ergibt.12 Nach der Rechtsprechung des EuGH folgt dies zudem aus Art. 52 Abs. 3 GRC.13 Unterschiede ergeben sich etwa mit Blick auf die in Art. 33 Abs. 2 GFK enthaltene besondere Einschränkung des Refoulement-Verbots aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, welche in Art. 19 Abs. 2 GRC nicht vorgesehen ist.14 2.2.1.2.2. Anwendungsbereich gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC Allerdings gilt die Grundrechtecharta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Ferner stellt Art. 51 Abs. 2 klar, dass die Grundrechtecharta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt und weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet , noch die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben ändert. Der EuGH hat zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta verschiedene Fallgruppen entwickelt, von denen vorliegend – wenn man von der Anwendung der Unionsgrundrechte im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen und der umstrittenen Mangold -Rechtsprechung zur Altersdiskriminierung absieht15 – ausschließlich die sog. Wachauf- Rechtsprechung in Betracht kommt. Hiernach haben die Mitgliedstaaten bei der (administrativen) Durchführung unionsrechtlicher Vorgaben ein ihnen eingeräumtes Ermessen im Einklang mit den Unionsgrundrechten auszuüben.16 In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der EuGH wiederholt festgestellt, dass die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte auch für die legislative Durchführung von Unionsrecht gilt. Dies betrifft nationale Rechtsvorschriften, welche dazu dienen, einer im Unionsrecht vorgesehenen allgemeinen Verpflichtung (etwa zur Festlegung geeigneter Maßnahmen zur Ahndung von gegen die Interessen der Union gerichteter Verhaltensweisen ) nachzukommen.17 Sind diese Voraussetzungen dagegen nicht erfüllt und ist die 11 EuGH, Rs. C-180/17, X und Y, Rn. 28; EuGH, Rs. C-175/17, X, Rn. 32; EuGH, Rs. C-181/16, Gnandi, Rn. 54. 12 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17, Erläuterungen zu Art. 19: „[…] Mit Absatz 2 wird die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 3 EMRK (siehe Ahmed gegen Österreich, Urteil vom 17. Dezember 1996, Slg. EGMR 1996, VI-2206 und Soering, Urteil vom 7. Juli 1989) übernommen.“ 13 EuGH, Rs. C-239/14, Tall, Rn. 53 f. 14 EuGH, verb. Rs. C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, M u.a., Rn. 93 f. 15 Allgemein hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein, 11. Aufl. 2018, Rn. 694 f. 16 EuGH, Wachauf, Rs. 5/88, Rn. 19-22; vgl. aus jüngerer Rechtsprechung, EuGH, verb. Rs. C‑411/10 und C‑493/10, N.S. u.a., Rn. 64 ff. 17 Vgl. EuGH, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, Rn. 17 ff., 26 ff.; EuGH, Rs. C‑418/11, Texdata Software, Rn. 70-75. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 10 in Rede stehende Situation somit nicht vom Unionsrecht geregelt, so ist die Grundrechtecharta nach der Rechtsprechung nicht anwendbar.18 Daraus folgt mit Blick auf die Frage nach einer Anwendung der Grundrechtecharta auf Vorgänge außerhalb des mitgliedstaatlichen Territoriums bzw. der Hoheitsgewässer der Mitgliedstaaten, dass die entscheidende Frage nicht den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta, sondern den des Unionsrechts betrifft.19 Dies bedeutet zum einen, dass eine eigenständige Anwendung von Art. 18 und 19 Abs. 2 GRC außerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs des einschlägigen Unionsrechts ausscheiden muss. Zum anderen ist davon auszugehen, dass sich ein räumlich beschränkter Anwendungsbereich der einschlägigen Unionsbestimmungen nicht unter Verweis auf die Grundrechtecharta erweitern lässt. Denn außerhalb ihres Anwendungsbereichs entfaltet die Grundrechtecharta keine Wirkungen. Eine Anwendung des in der Grundrechtecharta gewährleisteten Grundsatzes der Nichtzurückweisung könnte sich vorliegend daraus ergeben, dass das Sekundärrecht etwa allgemeine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Grenzsicherung vorsieht und die Mitgliedstaaten somit bei der Durchführung dieser Verpflichtungen an die Grundrechtecharta gebunden wären. Hierfür müssten sich die vorliegend zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen insbesondere auch in Hinblick auf ihre exterritoriale Ausrichtung als Durchführung einer sekundärrechtlichen Verpflichtung darstellen. Die exterritoriale Anwendbarkeit des einschlägigen Sekundärrechts ist im Folgenden (unter 2.2.2.) näher zu untersuchen. 2.2.2. Sekundärrecht Nach den vorstehenden Ausführungen ist davon auszugehen, dass das einschlägige Sekundärrecht in zweifacher Weise für die Überprüfung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften am Maßstab des Grundsatzes der Nichtzurückweisung von Bedeutung sein kann. Zum einen könnte das Sekundärrecht als eigenständiger Prüfungsmaßstab zur Anwendung gelangen , sofern es die Verpflichtung zur Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung selbst festschreibt. Zum anderen könnte das Sekundärrecht, etwa indem es allgemeine Handlungspflichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Grenzsicherung formuliert, den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC eröffnen. Bei der Durchführung der betreffenden Handlungspflichten hätten die Mitgliedstaaten die einschlägigen Gewährleistungen der Grundrechtecharta zum Grundsatz der Nichtzurückweisung zu beachten. Nach der Recht- 18 Vgl. nur EuGH, Rs. C-638/16, X und X, Rn. 45, 49; EuGH, Rs. C-87/12, Ymeraga, Rn. 42 f.; EuGH, Rs. C‑40/11, Iida, Rn. 80 f. 19 Vgl. Moreno-Lax, Accessing Asylum in Europe, Extraterritorial Border Controls and Refugee Rights under EU Law, S. 292, 296-298, 325: “the real issue is therefore not the scope of the Charter, but the scope of EU law”, a.a.O. m.w.N. für das Zitat. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 11 sprechung des EuGH können eine sekundärrechtliche Verpflichtung zur Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und die einschlägigen Gewährleistungen der Grundrechtecharta im Einzelfall auch parallel zur Anwendung gelangen.20 Unter diesen zwei Gesichtspunkten ist der Anwendungsbereich der betreffenden Vorschrift des Sekundärrechts insbesondere daraufhin zu untersuchen, inwieweit hiervon auch die Rede stehenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen erfasst werden, die sich auf Vorgänge außerhalb der Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaates beziehen und in diesem Sinne exterritorial anwendbar sind. 2.2.2.1. Asylverfahrensrichtlinie21 Die Asylverfahrensrichtlinie bekräftigt in diversen Vorschriften ausdrücklich den Grundsatz der Nichtzurückweisung.22 Allerdings scheidet eine Anwendung dieser Vorschriften außerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs wohl bereits aufgrund ihres eindeutigen Wortlauts aus.23 Nach Art. 3 ist ihr Anwendungsbereich beschränkt auf „Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet — einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen — der Mitgliedstaaten gestellt werden, […]“. Dementsprechend regeln auch die erwähnten Einzelvorschriften der Asylverfahrensrichtlinie zum Grundsatz der Nichtzurückweisung jeweils bestimmte Aspekte des Verfahrens der Antragsprüfung und setzen somit stets das Vorliegen eines (territorial gestellten) Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 3 Asylverfahrensrichtlinie voraus. 2.2.2.2. Dublin-III-Verordnung24 Auch die Dublin-III-Verordnung verweist in ihrem Art. 3 Abs. 3 auf die Schutzgarantien der Asylverfahrensrichtlinie. Allerdings ist auch die Dublin-III-Verordnung mittelbar von einem territorialen Bezug geprägt, da sich ihr Gegenstand nach Art. 1, 2 Buchst. d ebenfalls auf die „Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“ im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie bezieht.25 20 EuGH, Rs. C-562/13, Abdida, Rn. 48. 21 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. 22 Art. 9 Abs. 3, Art. 28 Abs. 2, Art. 35 Abs. 1 Buchst. b, Art. 38 Abs. 1 Buchst. c, Art. 39 Abs. 4, Art. 41 Abs. 1 S. 2 Asylverfahrensrichtlinie. 23 Vgl. auch EuGH, Rs. C‑638/16 PPU, X und X, Rn. 48 f. 24 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung). 25 Die Definition des Begriffs „Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“ in Art. 2 Buchst. d Dublin-III- Verordnung bezieht sich zwar auch auf Prüfungsvorgänge in Bezug auf die Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, welche jedoch gerade nicht das formelle Verfahren regelt, sondern die Normen für die Anerkennung, einen einheitlichen Flüchtlingsstatus sowie den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festlegt. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 12 Dies bestätigt auch Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung, welcher sich ausschließlich auf die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz bezieht, die „im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen“ gestellt werden. 2.2.2.3. Rückführungsrichtlinie26 Die Rückführungsrichtlinie enthält in ihrem Art. 5 eine allgemeine Vorschrift zur Gewährleistung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung. Allerdings ist die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich nur auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten (Art. 2 Abs. 1 und Art. 1). Auch die Sondervorschrift in Art. 4 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. a Rückführungsrichtlinie führt unter den dort genannten Voraussetzungen wohl lediglich zu einer Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung im unmittelbaren Grenzbereich. 2.2.2.4. Seeaußengrenzenverordnung27 Im Unterschied dazu findet der u.a. in Art. 4 der Seeaußengrenzenverordnung geregelte Grundsatz der Nichtzurückweisung28 auch außerhalb der Hoheitsgewässer der Mitgliedstaaten Anwendung , namentlich in der Anschlusszone und auf Hoher See. Allerdings führt dies mit Blick auf die vorliegend zu beurteilenden, von einzelnen Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen nicht weiter, weil der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung auf Grenzüberwachungseinsätze beschränkt ist, die die Mitgliedstaaten im Rahmen der von Frontex koordinierten operativen Zusammenarbeit durchführen. 2.2.2.5. EUROSUR-Verordnung29 Auch die EUROSUR-Verordnung enthält insbesondere in ihrem Art. 2 Abs. 4 eine Verpflichtung zur Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung bei der Anwendung der Verordnung30. Mit Blick auf die durch die EUROSUR-Verordnung angestrebte Einrichtung eines gemeinsamen 26 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, und insbesondere deren 8. Begründungserwägung, Art. 4 Abs. 4, Art. 5, Art. 9 Abs. 1. 27 Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit. 28 Vgl. auch Art. 2 Nr. 12 Seeaußengrenzenverordnung und deren 10., 12., 13., 19. Begründungserwägungen. 29 Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR). Diese Verordnung soll nach dem Trilogkompromiss vom 1. April 2019 in der zukünftigen Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache aufgehen , siehe Rats-Dok. 2018/0330(COD) mit dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Gemeinsamen Aktion 98/700/JHA des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates. 30 Vgl. auch Art. 20 Abs. 3, Art. 22 Abs. 1 EUROSUR-Verordnung. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 13 Rahmens für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit werden den Mitgliedstaaten sowie Frontex nach Art. 16 EUROSUR-Verordnung auch Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Durchführung von „Überwachungstätigkeiten“ bzw. „Überwachungsmaßnahmen“ an der Land- oder Seeaußengrenze der Mitgliedstaaten (sog. „Außengrenzabschnitt“) sowie im geografischen Gebiet jenseits der Außengrenzen (der sog. „Grenzvorbereich“) auferlegt. Allerdings stellen die hier zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Strafvorschriften, etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise, wohl keine „Überwachungstätigkeit“ bzw. „Überwachungsmaßnahme “ im Sinne dieser Vorschrift dar. Denn ungeachtet des Fehlens einer Legaldefinition ist aufgrund des Regelungsgegenstandes der Vorschrift („Reaktion entsprechend der Einstufung“) und ihres systematischen Zusammenhangs davon auszugehen, dass es sich hierbei um tatsächliche Überwachungsaktivitäten im Sinne eines „Beobachten[s], Aufspüren[s], Identifizieren[s], Verfolgen[s] und Verhindern[s] unbefugter Grenzübertritte“ gemäß Art. 2 Abs. 1 EUROSUR-Verordnung handelt. Rein rechtliche Maßnahmen wie der Erlass strafrechtlicher Vorschriften dürften allein unter dem Gesichtspunkt des durch sie entfalteten präventiven Befolgungsdrucks nicht darunter zu fassen sein. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich, nicht vor. 2.2.2.6. EBCG-Verordnung31 Zwar enthält die EBCG-Verordnung eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Schutz ihrer Außengrenzen und dies nach ihrem Art. 5 Abs. 2 explizit nicht nur als Aufgabe im eigenen Interesse des jeweiligen Mitgliedstaats, sondern darüber hinaus „im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten“. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe sind die für die Grenzverwaltung zuständigen nationalen Behörden einschließlich der nationalen Küstenwache somit als Teil der Europäischen Grenz- und Küstenwache im Sinne des Art. 3 Abs. 1 EBCG-Verordnung an den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art. 34 Abs. 1 und 2 EBCG-Verordnung gebunden. Allerdings dürfte dies nach Art. 5 Abs. 1 EBCG-Verordnung nur insoweit gelten, als die Mitgliedstaaten im Rahmen der durch die Verordnung geschaffenen „integrierten europäischen Grenzverwaltung “ und somit in gemeinsamer Verantwortung zusammen mit Frontex tätig werden (vgl. Art. 4 und Art. 5 Abs. 2 EBCG-Verordnung). Im Lichte dessen erscheint es eher zweifelhaft, die vorliegend zu beurteilenden mitgliedstaatlichen Strafvorschriften als Durchführung der Verpflichtung in Art. 5 Abs. 2 EBCG-Verordnung anzusehen. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich , nicht vor. 31 Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates und der Entscheidung des Rates 2005/267/EG (European Border and Coast Guard, EBCG). Diese Verordnung soll nach dem Trilogkompromiss vom 1. April 2019 neugefasst werden, siehe Rats-Dok. 2018/0330(COD) mit dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Gemeinsamen Aktion 98/700/JHA des Rates, der Verordnung (EU) Nr. 1052/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EU) 2016/1624 des Europäischen Parlaments und des Rates. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 14 2.2.2.7. Schengener Grenzkodex32 Auf den ersten Blick scheint auch eine exterritoriale Anwendung des in Art. 3 und 4 Schengener Grenzkodex gewährleisteten Grundsatzes der Nichtzurückweisung weitgehend auszuscheiden, weil der Schengener Grenzkodex nach seinem Art. 3 ausschließlich auf Personen Anwendung findet, „die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten“. Allerdings enthält der Schengener Grenzkodex in Art. 13 auch eine Vorschrift mit allgemeinen Vorgaben für die „Grenzüberwachung“. Die nach der dieser Vorschrift von den Mitgliedstaaten u.a. durchzuführende Überwachung von Seegrenzen kann sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaates erfolgen, so dass dieser Vorschrift eine exterritoriale Ausrichtung jedenfalls partiell inhärent ist. Das bedeutet, dass Grenzüberwachungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten auch außerhalb ihres Hoheitsgebietes bzw. ihrer Hoheitsgewässer grundsätzlich als Durchführung von Art. 13 Schengener Grenzkodex angesehen werden könnten mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten hierbei den Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 4 Schengener Grenzkodex sowie die Grundrechtecharta zu beachten hätten. Allerdings erfasst der Begriff der „Grenzüberwachung“ nach Art. 2 Nr. 12 Schengener Grenzkodex lediglich „die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden , dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen“. Bereits die geografische Begrenzung der Überwachung auf den Bereich der Grenzübergangsstellen sowie der Grenze zwischen den Grenzübergangsstellen dürfte einer Anwendung der Vorschrift auf Situationen auf Hoher See in größerer Entfernung zur Seegrenze eines Mitgliedstaates entgegenstehen. Ferner bezieht sich die Definition lediglich auf Maßnahmen, die darauf abzielen, eine Umgehung der Grenzübertrittskontrollen zu vermeiden. Es ist zweifelhaft, ob dies bei mitgliedstaatlichen Maßnahmen angenommen werden kann, mit denen die Ausschiffung aus Seenot geretteter Schutzsuchender verhindert werden soll, da die betreffenden Personen in der Regel kein Interesse an einer Umgehung der Grenzübertrittskontrollen haben (vgl. Art. 31 GFK) und ihnen dazu im Falle der Kooperation des Kapitäns des Rettungsschiffs mit den zuständigen Grenzbehörden auch kaum eine Möglichkeit besteht. Im Unterschied zu dieser engen Definition des Begriffs der Grenzüberwachung in Art. 2 Nr. 12 Schengener Grenzkodex, liegt der insoweit spezielleren Vorschrift in Art. 13 Schengener Grenzkodex jedoch ein erweitertes Begriffsverständnis zugrunde. Hiernach dient eine Grenzüberwachung im Sinne der Vorschrift neben der „Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts “ auch anderen Zwecken wie „der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschreiten“. Diese Aufzählung ist nicht abschließend („insbesondere“), so dass auch anderen Zwecken dienende Grenzüberwachungstätigkeiten der Mitgliedstaaten grundsätzlich darunter zu fassen sein dürften. Insoweit könnte Art. 13 Schengener Grenzkodex als grundlegende Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Grenzüberwachung angesehen werden. Ungeachtet dessen erscheint es jedoch naheliegend, unter den Begriff der Grenzüberwachung in Art. 13, 2 Nr. 12 Schengener Grenzkodex – in Parallele zu Art. 16 EUROSUR-Verordnung (s.o.) – 32 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), und insbesondere deren Art. 3 und 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 15 lediglich tatsächliche Überwachungsaktivitäten wie ein Beobachten, Aufspüren etc. zu fassen. Rein rechtliche Maßnahmen wie der Erlass strafrechtlicher Vorschriften dürften demzufolge nicht darunterfallen. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu, soweit ersichtlich, nicht vor, so dass diesbezüglich Unsicherheiten verbleiben. Denkbar wäre daneben möglicherweise eine Eröffnung des Anwendungsbereichs des Schengener Grenzkodex mit Blick auf eine im Einzelfall behördlich verfügte Abweisung eines Schiffes, wenn dies als Ablehnung eines Antrags auf ausnahmsweise Gestattung der Einreise gemäß Art. 6 Abs. 5 Buchst. c des Schengener Grenzkodex anzusehen wäre. Die Vorschrift regelt: „Artikel 6 Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige (1) Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen: […] (5) Abweichend von Absatz 1 gilt Folgendes: […] c) Ein Mitgliedstaat kann Drittstaatsangehörigen, die eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestatten .“ Grundsätzlich dürfte die Ausübung des den Mitgliedstaaten mit dieser Vorschrift eingeräumten Ermessens im Lichte der Rechtsprechung des EuGH33 als Durchführung des Unionsrechts anzusehen sein mit der Folge, dass hierbei auch die Grundrechtecharta zu beachten ist. Allerdings führt dies mit Blick auf eine Ablehnung der begehrten Gestattung der Einreise nicht weiter, solange sich das fragliche Schiff noch nicht an der Grenzübergangsstelle befindet, weil sich die Vorschrift in Art. 6 Abs. 5 Buchst. c des Schengener Grenzkodex auf die im Rahmen von Grenzübertrittskontrollen nach Art. 5 zu überprüfenden Einreisevoraussetzungen bezieht, welche an den Grenzübergangsstellen stattfinden. Den Anwendungsbereich der Vorschrift auf exterritorial gestellte Anträge über die ausnahmsweise Vorabgenehmigung der geplanten Einreise zum Zwecke der Beantragung internationalen Schutzes auszudehnen, schiene jedenfalls dann nicht überzeugend, wenn dadurch in der Sache ein Anspruch auf ein humanitäres Visum zu diesem Zweck begründet würde, das nach der Rechtsprechung des EuGH34 gerade nicht besteht. Dies dürfte letztlich 33 Vgl. EuGH, verb. Rs. C‑411/10 und C‑493/10, N.S. u.a., Rn. 68. 34 Vgl. EuGH, Rs. C‑638/16 PPU, X und X, Rn. 48 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 16 daraus folgen, dass sich die Ausnahme in Art. 6 Abs. 5 Buchst. c des Schengener Grenzkodex lediglich auf die in Abs. 1 geregelten Voraussetzungen der Einreise für einen Kurzzeitaufenthalt bezieht. Im Ergebnis ist somit wohl nicht davon auszugehen, dass die vorliegend zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen in den Anwendungsbereich des Schengener Grenzkodex fallen. 2.2.2.8. Anerkennungsrichtlinie35 Die Vorschriften der Anerkennungsrichtlinie beziehen sich auf die Rechtsstellung der betreffenden Personen in einem bestimmten Verfahrensstadium nach Antragstellung (vgl. insbesondere Kapitel II-VI hinsichtlich der Prüfung von Anträgen sowie der Zuerkennung, Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzes), worunter in systematischer Hinsicht wohl nur ein im räumlichen Anwendungsbereich der einschlägigen Unionsbestimmung des Art. 3 Asylverfahrensrichtlinie gestellter Antrag gemeint sein kann. Auch die Vorschriften des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie zum „Inhalt des internationalen Schutzes“ (Art. 20-35) fügen sich in diese Systematik ein, soweit sie die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Zeitpunkt nach Zuerkennung bzw. Gewährung des internationalen Schutzes festlegen. Zwar ist Art. 21 Anerkennungsrichtlinie, der im Wesentlichen auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 33 GFK Bezug nimmt, in seinem Abs. 1 offener gefasst , so dass möglicherweise eine exterritoriale Anwendung der Vorschrift in Betracht zu ziehen wäre. Allerdings verdeutlicht sein Abs. 3, der im Falle einer Ausnahme vom Zurückweisungsschutz die möglichen Folgen für den Aufenthaltstitel der betreffenden Person regelt (Widerruf, Beendigung, Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung), dass die Vorschrift wohl auch nur auf das Verfahrensstadium nach Antragstellung bzw. -erteilung anwendbar ist. Es sind keine Gründe ersichtlich, aus denen die Vorschrift in Art. 21 Anerkennungsrichtlinie von diesem grundlegenden , in der Anerkennungsrichtlinie angelegten Bezug, loszulösen wäre. Eine pauschale exterritoriale Anwendung des Art. 21 Anerkennungsrichtlinie dürfte damit ausscheiden. Allerdings liegt zu dieser speziellen Frage, soweit ersichtlich, keine Rechtsprechung des EuGH vor. 2.2.2.9. Rahmenbeschluss 2002/946/JI36 Der Rahmenbeschlusses 2002/946/JI, welcher auf Vorschriften der Richtlinie 2002/90/EG37 Bezug nimmt, zielt im Wesentlichen auf die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt und tritt 35 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), und insbesondere deren 3. und 48. Begründungserwägung , Art. 21. 36 Rahmenbeschluss des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (2002/946/JI). 37 Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 17 damit an die Stelle des bis dahin geltenden Art. 27 Schengener Durchführungsübereinkommen.38 Die Richtlinie 2002/90/EG definiert in ihrem Art. 1 einen allgemeinen Tatbestand der von den Mitgliedstaaten sicherzustellenden Sanktionen, wobei den Mitgliedstaaten ausdrücklich der Spielraum eröffnet wird, von einer Sanktion abzusehen, wenn „das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist“: „(1) Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die a) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen; b) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten. (2) Jeder Mitgliedstaat kann beschließen, wegen der in Absatz 1 Buchstabe a) beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhängen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist.“ Nach Art. 3 Richtlinie 2002/90/EG müssen die vorgesehenen Sanktionen wirksam, angemessen und abschreckend sein. Dies erfordert nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI auch die Festlegung eines strafrechtlichen Sanktionsrahmens: „Artikel 1 Strafen (1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie 2002/90/EG beschriebenen Handlungen mit wirksamen , angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können. (2) Gegebenenfalls können neben den in Absatz 1 genannten Strafen noch folgende Maßnahmen ergriffen werden: - Einziehung des Verkehrsmittels, das zur Begehung der strafbaren Handlung benutzt wurde; 38 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239, 22.9.2000, S. 19. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 18 - Verbot, unmittelbar oder über Dritte die berufliche Tätigkeit auszuüben, in deren Rahmen die strafbare Handlung begangen wurde; - Abschiebung. (3) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die Handlungen nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a) der Richtlinie 2002/90/EG und, soweit relevant, die Handlungen nach Artikel 2 Buchstabe a) jener Richtlinie, sofern sie zu Gewinnzwecken begangen werden, mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens acht Jahren bedroht sind, wenn sie unter einem der folgenden Umstände begangen wurden: - Die strafbare Handlung wurde als Handlung einer kriminellen Vereinigung begangen, wie sie in der Gemeinsamen Maßnahme 98/733/JI(8) definiert ist. - Bei der Begehung der strafbaren Handlung wurde das Leben der Personen gefährdet, auf die sich die strafbare Handlung bezog. (4) Wenn es zur Wahrung der Kohärenz des nationalen Sanktionensystems unerlässlich ist, werden die Handlungen nach Absatz 3 mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens sechs Jahren bedroht, sofern es sich hierbei um eine der Höchststrafen handelt, die für vergleichbare strafbare Handlungen vorgesehen sind.“ Der Rahmenbeschluss 2002/946/JI stellt in seinem Art. 6 klar, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Festlegung strafrechtlicher Sanktionen nicht zu einer Beeinträchtigung des internationalen Flüchtlingsrechts führen darf. Hierdurch wird insbesondere der Gewährleistungsgehalt des in Art. 33 der GFK enthaltenen Refoulement-Verbots in den Rahmenbeschluss inkorporiert und bindet auf diese Weise die Mitgliedstaaten bei der Festlegung entsprechender Sanktionen auch unionsrechtlich. Es ist wohl davon auszugehen, dass das in Bezug genommene internationale Flüchtlingsrecht auch den Grundsatz der Nichtzurückweisung einschließt, wie er auf der Grundlage von Art. 3 EMRK geschützt wird. Art. 6 des Rahmenbeschluss 2002/946/JI hat folgenden Wortlaut: „Artikel 6 Internationales Flüchtlingsrecht Dieser Rahmenbeschluss gilt unbeschadet des Schutzes, der Flüchtlingen und Asylbewerbern nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und anderen internationalen Menschenrechtsübereinkünften zu gewähren ist, insbesondere unbeschadet der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach den Artikeln 31 und 33 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das New Yorker Protokoll von 1967 geänderten Fassung eingegangen sind.“ Das über Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI in das Unionsrecht einbezogene internationale Flüchtlingsrecht stellt somit einen eigenständigen Prüfungsmaßstab für die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung ihrer aus Art. 1 Rahmenbeschluss 2002/946/JI folgenden Verpflichtungen dar. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 19 Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei den vorliegend maßgeblichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten um solche eines Rahmenbeschlusses handelt, der auf der Grundlage von Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EUV in der Fassung vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurde (EUV a.F.39). Rahmenbeschlüsse behalten nach Art. 9 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen (Protokoll Nr. 36)40 auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ihre Rechtswirkungen, die sich von denen einer Richtlinie insoweit unterscheiden, als Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EUV a.F. ausdrücklich ihre unmittelbare Wirksamkeit ausschließt: „Artikel 34 […] (2) Der Rat ergreift Maßnahmen und fördert in der geeigneten Form und nach den geeigneten Verfahren, die in diesem Titel festgelegt sind, eine Zusammenarbeit, die den Zielen der Union dient. Hierzu kann er auf Initiative eines Mitgliedstaats oder der Kommission einstimmig […] b) Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten annehmen. Rahmenbeschlüsse sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Sie sind nicht unmittelbar wirksam;“ Rahmenbeschlüsse begründen somit zwar für die Mitgliedstaaten verbindliche Zielverpflichtungen , was auch eine Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts einschließt.41 Allerdings soll durch diese Formulierung jede Direktwirkung, also die Berechtigung Einzelner unmittelbar durch einen Rahmenbeschluss, ausgeschlossen werden.42 Demzufolge besteht nach bisheriger Rechtsprechung auch keine Verpflichtung, rahmenbeschlusswidrige nationale Rechtsvorschriften im Einzelfall unangewendet zu lassen.43 Diese Beschränkungen hinsichtlich der Rechtswirkungen fortgeltender Rahmenbeschlüsse unterliegen nach Art. 9 des Protokolls Nr. 36 keiner Befristung, anders als etwa hinsichtlich der Befugnis der Kommission 39 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. C 321E, 29.12.2006, S. 1. 40 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen zum Vertrag über die Europäische Union, ABl. C 202, 7.6.2016, S. 321. 41 EuGH, Rs. C‑105/03, Pupino, Rn. 33 ff., 43 ff. 42 Röben, in: Grabitz/Hilf, 40. Auflage 2009, Art. 34 EUV (Nizza-Fassung), Rn. 18. 43 Grundlegend zur fehlenden unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen unter Betonung der Pflicht mitgliedstaatlicher Gerichte zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung, EuGH, Rs. C‑579/15, Popławski, Rn. 25-43. Ausweichend zur Frage nach der Unanwendbarkeit rahmenbeschlusswidriger nationaler Rechtsvorschriften, EuGH, C-492/18 PPU, TC, Rn. 36, 38, 67 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 20 zur Durchführung von Vertragsverletzungsverfahren in Bezug auf Rechtsakte der ehemaligen PJZS, die nach Art. 10 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 lediglich für einen Übergangszeitraum von fünf Jahren ausgeschlossen war. Die bei Rahmenbeschlüssen zu beachtenden Wirkungsbeschränkungen gelten zwar nicht mit Blick auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 3 Richtlinie 2002/90/EG, dessen Anwendungsbereich für sich gesehen jedoch nicht die hier in Rede stehenden nationalen Strafvorschriften erfasst. Folglich kommt der vorliegend maßgeblich anzuwendenden Vorschrift in Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI in erster Linie Bedeutung als Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Union zu. Daneben könnten aber auch die Gewährleistungen der Grundrechtecharta zur Anwendung gelangen . Der EuGH hat in der Rechtssache Paoletti u.a.44 klargestellt, dass der Zweck von nationalen Strafverfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung – im konkreten Fall solchen des italienischen Rechts – darin bestehen, die Durchführung der Richtlinie 2002/90/EG und des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI sicherzustellen, und somit als Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRC anzusehen sind.45 Auch wenn es in dem Ausgangsverfahren dieser Rechtssache um konkrete Maßnahmen der Strafverfolgung ging, liegt es gleichwohl nahe, auch die zugrundeliegenden nationalen Strafvorschriften als solche und den von ihnen ausgehenden präventiven Befolgungsdruck, der den maßgeblichen Gegenstand der vorliegenden Prüfung darstellt (s.o.), als Durchführung der betreffenden Unionsbestimmungen zu begreifen , mit der Folge, dass auch diese am Maßstab der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC zu messen ist. Der Rahmenbeschluss enthält keine Hinweise darauf, dass die exterritoriale Abschreckungswirkung einer wenn auch erst durch den Grenzübertritt verwirklichten Strafvorschrift von dem Rahmenbeschluss ausgenommen sein soll. Im Gegenteil stellt Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sogar ausdrücklich auf die Strafdrohung ab, wenn er den Mitgliedstaaten auferlegt sicherzustellen, dass die betreffenden Handlungen mit „abschreckenden Strafen bedroht sind“. Allerdings stellt sich bei der Anwendung der Grundrechtecharta auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI die grundlegende Frage, wie sich die für Rahmenbeschlüsse ausgeschlossene unmittelbare Wirkung auf die Möglichkeit Einzelner auswirkt, sich auf etwaige Verstöße gegen die Grundrechtecharta zu berufen, sofern ein etwaiger Verstoß im Einzelfall nicht im Wege einer unionsgrundrechtskonformen Auslegung vermieden werden kann. Soweit ersichtlich, hat sich der EuGH mit dieser Frage noch nicht ausdrücklich befasst, so dass an dieser Stelle keine gesicherte Antwort möglich ist. Es erschiene jedoch höchst fragwürdig, wenn eine uneingeschränkte Anwendung der Grundrechtecharta in einem solchen Fall zu einer Umgehung der für die Rechtswirkungen von Rahmenbeschlüssen nach Protokoll Nr. 36 in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EUV a.F. vorgesehenen Beschränkungen führen würde. Es ist daher wohl eher davon auszugehen, dass diese Beschränkungen auch mit Blick auf die über Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI eröffnete Anwendung der Grundrechtecharta zu beachten sind. Es ist somit festzuhalten, dass jedenfalls insoweit, als es vorliegend um eine mögliche Zurückweisung von Schutzsuchenden durch eine (grundsätzlich auch gegen den Kapitän eines Rettungsschiffs gerichtete) nationale Strafdrohung wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise geht, der 44 EuGH, Rs. C‑218/15, Paoletti u.a. 45 EuGH, Rs. C‑218/15, Paoletti u.a., Rn. 14, 18. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 21 über Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI in das Unionsrecht inkorporierte völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung sowie die einschlägigen Gewährleistungen der Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstab heranzuziehen sind. Hierbei ist jedoch der Ausschluss der unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen gemäß Protokoll Nr. 36 in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EUV a.F. auch bei der Anwendung der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC zu beachten. Demzufolge kommt dem aufgrund dieser Bestimmungen gewährleiteten Grundsatz der Nichtzurückweisung in erster Linie Bedeutung als Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Union und im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Durchführungsvorschriften zu. Dagegen besteht wohl keine Verpflichtung, entgegenstehende mitgliedstaatliche Vorschriften unangewendet zu lassen. 2.2.3. Zwischenergebnis zum anzuwendenden Prüfungsmaßstab Für die Prüfung, ob der von einer nationalen Strafvorschrift auf den Kapitän eines Schiffes mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen ausgehende präventive Befolgungsdruck zum Zeitpunkt vor der Einfahrt in die mitgliedstaatlichen Hoheitsgewässer als verbotene Zurückweisung anzusehen ist, kommt in erster Linie folgender unionsrechtlicher Prüfungsmaßstab in Betracht: Zunächst könnte eine solche Vorschrift gegen den über Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI inkorporierten Grundsatz der Nichtzurückweisung gemäß Art. 33 GFK sowie Art. 3 EMRK verstoßen. Daneben kommt auch eine Anwendung von Art. 18, 19 Abs. 2 GRC in Betracht, soweit eine derartige Vorschrift zugleich als Durchführung der Verpflichtung zur Festlegung von Sanktionen gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/946/JI anzusehen ist. Da sich der in Art. 18, 19 Abs. 2 GRC gewährleistete Zurückweisungsschutz ebenfalls aus der Verweisung auf Art. 33 GFK bzw. die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ergibt (siehe unter 2.2.1.2.1.), dürfte insoweit von einem Gleichlauf zu den Anforderungen nach Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI auszugehen sein. Hierbei gilt der Ausschluss der unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen gemäß Protokoll Nr. 36 in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EUV a.F., der wohl auch im Zusammenhang mit der Anwendung der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC zu beachten ist (näher hierzu unter 2.2.2.9.). 2.3. Prüfung der Vereinbarkeit Da die vorliegend einschlägigen Vorschriften in Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI ebenso wie die in Art. 18, 19 Abs. 2 GRC im Wesentlichen auf Art. 33 GFK sowie Art. 3 EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR verweisen, soll aus Gründen der Übersichtlichkeit im Folgenden lediglich eine Bezugnahme auf die Regelungen der Grundrechtecharta erfolgen. Somit ist zu prüfen, ob der von einer nationalen Strafvorschrift auf den Kapitän eines Schiffes mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen ausgehende präventive Befolgungsdruck zum Zeitpunkt vor der Einfahrt in die mitgliedstaatlichen Hoheitsgewässer eine verbotene Zurückweisung gemäß Art. 18, 19 Abs. 2 GRC bewirkt. 2.3.1. Schutzbereich der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC Mit Blick auf die Frage einer exterritorialen Anwendung des aufgrund von Art. 18, 19 Abs. 2 GRC gewährleisteten Grundsatzes der Nichtzurückweisung ist die bisherige Rechtsprechung des EuGH unergiebig, weil es in den betreffenden Fällen stets um aufenthaltsbeendende Maßnahmen eines Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 22 Mitgliedstaates ging, nicht jedoch um solche mit potenziell einreiseverhindernder Wirkung.46 Dementsprechend liegt auch der Fokus der einschlägigen Kommentarliteratur zu Art. 19 Abs. 2 GRC auf den in der Regelung ausdrücklich genannten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung.47 Bei der Anwendung der Art. 18, 19 Abs. 2 GRC sind nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch auch die einschlägigen völkerrechtlichen Vorgaben zu beachten. So ist Art. 18 GRC in Verbindung mit dem Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK anzuwenden48 und Art. 19 Abs. 2 GRC ist im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK auszulegen, was sich im Übrigen auch aus den Erläuterungen zur Grundrechtecharta ergibt.49 Somit ist nachfolgend auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Voraussetzungen seiner exterritorialen Anwendbarkeit näher einzugehen. 2.3.1.1. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung im Völkerrecht Der völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung (sog. Refoulement-Verbot) war bereits Gegenstand diverser Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, auf die sich die nachfolgenden Ausführungen im Wesentlichen stützen.50 Im allgemeinen Völkerrecht ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art. 33 GFK normiert, demzufolge kein Vertragsstaat „einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 46 Vgl. nur EuGH, Rs. C‑373/13, H.T.; EuGH, Rs. C-181/16, Gnandi; EuGH, Rs. C-180/17, X und Y; EuGH, Rs. C- 175/17, X; EuGH, Rs. C-239/14, Tall. 47 Vgl. Thiele, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, 1. Aufl. 2017, Art. 19 GRC, Rn. 13; Klatt, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 19 GRC, Rn. 6; Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 19, Rn. 17, 20; Jarass, in: Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 19 GRC, Rn. 7. 48 EuGH, Rs. C-180/17, X und Y, Rn. 28; EuGH, Rs. C-175/17, X, Rn. 32; EuGH, Rs. C-181/16, Gnandi, Rn. 54. 49 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17, Erläuterungen zu Art. 19: „[…] Mit Absatz 2 wird die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 3 EMRK (siehe Ahmed gegen Österreich, Urteil vom 17. Dezember 1996, Slg. EGMR 1996, VI-2206 und Soering, Urteil vom 7. Juli 1989) übernommen.“ 50 Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Sachstand WD 2 - 3000 - 013/18 (13. Februar 2018), S. 7 ff., Sachstand WD 2 – 3000 – 053/17 (19. Juni 2017), S. 10 f., Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 (15. März 2016), S. 5 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 23 oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“. Daneben ergibt sich der Grundsatz insbesondere aus Art. 3 der VN-Antifolterkonvention sowie Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.51 Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist auch in regionalen Menschenrechtsabkommen verankert .52 Aus europäischer Sicht ist insbesondere Art. 3 EMRK von Bedeutung, welcher den Vertragsstaaten nach gefestigter Rechtsprechung die Ausweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat verbietet, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Ausländer dort – oder durch die weitere (Ketten-)Abschiebung in einen anderen Staat – tatsächlich Gefahr liefe, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden .53 In diesem Zusammenhang kommt auch das Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zum Tragen, aus dem die Pflicht der Vertragsstaaten zur Einzelfallprüfung folgt.54 Eine exterritoriale Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung wurde bislang insbesondere mit Blick auf Fälle diskutiert, in denen die Küstenwache eines Staates Schutzsuchende in ihren Booten auf Hoher See abfängt und zurückschiebt (sog. push-backs). Im allgemeinen Völkerrecht ist die exterritoriale Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht abschließend geklärt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf eine Entscheidung des US Supreme Court aus dem Jahr 1993 verwiesen, in der dieser die exterritoriale Anwendung von Art. 33 GFK u.a. unter Verweis auf die Formulierung der Ausnahmebestimmung in Absatz 2 ablehnt.55 Gegen eine geografische Einschränkung des Nichtzurückweisungsgrundsatzes sprach sich in der Folge die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte aus.56 51 EGMR, BeschwerdeNr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Rn. 342: “ […] In its decision, the Court considered that indirect removal to an intermediary country, which was also a Contracting Party, left the responsibility of the transferring State intact, and that that State was required, in accordance with the well-established case-law, not to deport a person where substantial grounds had been shown for believing that the person in question, if expelled, would face a real risk of being subjected to treatment contrary to Article 3 in the receiving country. […]” 52 Näher hierzu UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2007. 53 Mit Nachweisen Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Sachstand WD 2 - 3000 - 013/18 (13. Februar 2018), S. 8. 54 EGMR, BeschwerdeNr. 27765/09, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien, Rn. 83 ff.: “[…] When examining that case, in order to assess whether or not there had been a collective expulsion, it examined the circumstances of the case and ascertained whether the deportation decisions had taken account of the particular circumstances of the individuals concerned. […]”. 55 U.S. Supreme Court, Sale v. Haitian Centers Council, 509 U.S. 155 (21. Juni 1993). 56 Inter-American Commission on Human Rights, Report No. 51/96, Case 10.675 (13. März 1997), Rn. 157. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 24 Auch der UNHCR gelangt 2007 in einem ausführlichen Gutachten zu dem Ergebnis einer exterritorialen Anwendung von Art. 33 GFK, sofern die Schutzsuchenden der effektiven Kontrolle des betreffenden Staates unterliegen.57 Für die Vertragsstaaten der EMRK ist seit dem Urteil des EGMR in der Rechtssache Hirsi Jamaa gegen Italien aus dem Jahr 2012 geklärt, dass Art. 3 EMRK unabhängig davon gilt, wo staatliche Hoheitsgewalt ausgeübt wird.58 Dies ergibt sich aus Art. 1 EMRK, wonach die Vertragsstaaten „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ die betreffenden Rechte und Freiheiten zusichern . Zwar sei die Hoheitsgewalt eines Staates im Sinne dieser Vorschrift grundsätzlich territorial zu verstehen. Ebenfalls erfasst werde jedoch die Situation, wenn ein Vertragsstaat außerhalb seines Territoriums effektive Kontrolle über eine Person ausübt, etwa weil sie der Gewalt der Streitkräfte des betreffenden Staats an Bord eines Schiffes unterstehen.59 Soweit ersichtlich, wird auf dieser Grundlage eine effektive Kontrolle in diesem Sinne ausschließlich für Situationen angenommen, in denen die Schutzsuchenden in ihren Booten von militärischen Schiffen durch physische Intervention abgefangen wurden: etwa durch Aufnahme der Personen auf ein Kriegsschiff, durch Festnahme bzw. Festhalten der Personen an Bord eines Kriegsschiffs, durch Übergabe der Personen an einen anderen Staat, durch Zurückschieben der Schutzsuchenden in ihren Booten oder durch Hinderung an der Weiterfahrt.60 2.3.1.2. Folgerungen für die weitere Prüfung Aufgrund der aufgezeigten Unklarheiten hinsichtlich der exterritorialen Anwendbarkeit des Refoulement -Verbots gemäß Art. 33 GFK ist für die weitere Prüfung im Wesentlichen auf Art. 19 Abs. 2 GRC abzustellen, für den im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK eine exterritoriale Wirkung in Fällen effektiver Kontrolle als geklärt gelten dürfte. 57 UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2007, Rn. 4: “[…] It is UNHCR’s position, therefore, that a State is bound by its obligation under Article 33(1) of the 1951 Convention not to return refugees to a risk of persecution wherever it exercises effective jurisdiction. As with non-refoulement obligations under international human rights law, the decisive criterion is not whether such persons are on the State’s territory , but rather, whether they come within the effective control and authority of that State.” 58 Hierzu Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Sachstand WD 2 - 3000 - 013/18 (13. Februar 2018), S. 9. 59 EGMR, BeschwerdeNr. 27765/09, Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien, Rn. 76-82. 60 Vgl. Moreno-Lax, Accessing Asylum in Europe, Extraterritorial Border Controls and Refugee Rights under EU Law, S. 296-298, 325; Kim, Non-Refoulement and Extraterritorial Jurisdiction: State Sovereignty and Migration Controls at Sea in the European Context, Leiden Journal of International Law 2017, S. 49 (61): “[…] ECtHR case law has developed the concept of jurisdiction to apply to cases where state agencies exert extraterritorial physical control over a person”. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 25 2.3.2. Einschränkung des Art. 19 Abs. 2 GRC 2.3.2.1. Voraussetzung des Vorliegens einer tatsächlichen Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung Eine Einschränkung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung durch die in Rede stehenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen kommt überhaupt nur in Betracht, wenn im Einzelfall stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die Personen hierdurch tatsächlich Gefahr liefen, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden (siehe unter 2.3.1.1.). Hierfür dürfte es maßgeblich auf die individuelle Lage der Betroffenen und die Umstände des Einzelfalls ankommen, insbesondere welche Ausweichoptionen dem Kapitän zur Ausschiffung in der konkreten Situation offenstehen und in welche Lage die Schutzsuchenden in Folge der Entscheidung für eine bestimmte Option gerieten. Darüber hinaus sind an dieser Stelle keine Aussagen möglich, da eine Beurteilung von Einzelfällen nicht Gegenstand der vorliegend Ausarbeitung ist. 2.3.2.2. Voraussetzung der Ausübung effektiver Kontrolle 2.3.2.2.1. Physische Kontrolle Ferner setzt eine exterritoriale Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nach der dargestellten Rechtsprechung des EGMR voraus, dass die betreffenden Personen der effektiven Kontrolle des Staates unterliegen (siehe unter 2.3.1.1.). Bislang ist nur geklärt, dass darunter jedenfalls die Ausübung physischer Kontrolle durch vor Ort anwesende staatliche Organe zu fassen ist, etwa durch Aufnahme der Personen auf ein Kriegsschiff, durch Festnahme bzw. Festhalten der Personen an Bord eines Kriegsschiffs, durch Übergabe der Personen an einen anderen Staat, durch Zurückschieben der Schutzsuchenden in ihren Booten oder durch Hinderung an der Weiterfahrt. Der vorliegend zu beurteilende, von einer mitgliedstaatlichen Strafvorschrift als solcher auf den Kapitän ausgehende präventive Befolgungsdruck stellt wohl keine physische Kontrolle des Staates über die Schutzsuchenden im Sinne dieser Rechtsprechung dar. Er wird nicht durch vor Ort anwesendes staatliches oder im Dienste von Staaten stehendes Personal ausgeübt. Soweit der Kapitän durch seine Fähigkeit, den Kurs des Schiffes und damit den Aufenthaltsort der geretteten Personen zu bestimmen, physische Kontrolle über sie ausübt, wäre allenfalls daran zu denken, dem Staat diese Kontrolle zuzurechnen. Eine solche mittelbare Kontrolle wäre allerdings wohl nur als physische Form der Kontrolle zu qualifizieren, wenn der Kapitän seinerseits unter der physischen Kontrolle des betreffenden Staates stünde. Um eine solche Konstellation geht es vorliegend jedoch nicht. 2.3.2.2.2. Sonstige Formen der effektiven Kontrolle Ob auch andere Formen der effektiven Kontrolle in diesem Zusammenhang als ausreichend angesehen werden können, ist mangels einschlägiger Rechtsprechung nicht eindeutig zu beantworten. Im Schrifttum werden zwar verschiedene Aspekte der exterritorialen Anwendbarkeit des Grundsatzes der Nichtzurückweisung diskutiert. Allerdings bezieht sich diese Diskussion nicht mit hinreichender Deutlichkeit auf die entscheidende Frage nach den an die Ausübung effektiver Kontrolle zu stellenden Voraussetzungen. Rah kommt etwa zu dem Ergebnis, dass das „Zurückdrängen von (seetüchtigen) Booten vom Küstenmeer auf die hohe See bzw. die Verweigerung der Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 26 Einfahrt in das Küstenmeer, aber eben auch in den Hafen“ unter gewissen Voraussetzungen eine verbotene Zurückweisung darstellen kann.61 Allerdings wird nicht deutlich, ob hiermit jede Form der Verweigerung der Einfahrt erfasst werden soll oder ob sich dies implizit nur auf den Einsatz bestimmter Mittel der staatlichen Kontrolle bezieht. An anderer Stelle formuliert Rah: „Erst wenn ein Element des Zwangs oder der unmittelbaren Gewaltanwendung hinzutritt, wird man von ‘effektiver Kontrolle‘ gegenüber den Bootspassagieren sprechen können.“62 Ungeachtet dieser Unsicherheiten könnten für die Frage, ob auch andere, nicht physische Formen der Kontrolle eine Anwendung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung begründen können , folgende Gesichtspunkt möglicherweise eine Rolle spielen: In teleologischer Hinsicht ließe sich fragen, ob die Wirksamkeit des Grundsatzes der Nichtzurückweisung beeinträchtigt werden könnte, wenn ein Mitgliedstaat zwar nicht mittels physischer Intervention, aber stattdessen durch die Ausübung von Druck auf Private Schutzsuchende faktisch an der Weiterfahrt und somit am Erreichen eines Zufluchtsortes hindert. Soweit eine konkrete Strafdrohung in den in Rede stehenden Fällen tatsächlich dazu geeignet ist, eine solche Wirkung zu entfalten, könnte dies letztlich als Umgehung nicht nur des Zurückweisungsverbots, sondern möglichweise auch als Vereitelung der Ziele der Asylverfahrensrichtlinie zu werten sein, nach deren Vorgaben einem Schutzsuchenden mit Erreichen des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie gemäß ihrem Art. 3 die Gelegenheit zur Antragstellung gegeben werden muss. Aus dieser Perspektive könnte es möglicherweise auch als fragwürdig erscheinen , wenn durch die räumliche Beschränkung des Anwendungsbereichs des einschlägigen Unionsrechts die Entstehung von Situationen eines refugee in orbit63 begünstigt wird, bei der Schutzsuchende von einem Staat an den nächsten weitergeschoben werden und ihnen dadurch der Zugang zum Asylverfahren faktisch verwehrt wird. In diesem Zusammenhang wäre allerdings zu berücksichtigen, dass ein zu weitgehendes Verständnis von den Vorwirkungen des EU-Asylrechts, diverse sekundärrechtliche Vorgaben über die Sanktionierung Dritter für die Ermöglichung einer unerlaubten Einreise ganz grundsätzlich in Frage stellen könnte. So besteht neben der unionsrechtlichen Verpflichtung, die Beihilfe zur unerlaubten Einreise, Durchreise oder Aufenthalt etwa zu Gewinnzwecken unter Strafe zu stellen,64 61 Rah, Kein Flüchtlingsschutz auf Hoher See? Flüchtlings- und seerechtliche Probleme am Beispiel der „Cap Anamur“, Humanitäres Völkerrecht, Informationsschriften, 2005, S. 276 (284). 62 Rah, Asylsuchende und Migranten auf See, 2009, S. 172. 63 Vgl. hierzu allgemein und nicht mit Blick auf die Frage einer exterritorialen Vorwirkung des EU-Asylrechts: Filzwieser/Sprung, Dublin-III-Verordnung, Das Europäische Asylzuständigkeitssystem, 2014, S. 22, 197, 229; Zimmermann, Asylum Law in the Federal Republic of Germany in the Context of International Law, ZaöRV 1993, S. 73, 75, im Kontext gewaltsamer Rückführungen („forcible return to third countries“). 64 Rahmenbeschluss des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (2002/946/JI). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 27 nach der Richtlinie 2001/51/EG65 in Verbindung mit Art. 26 Schengener Durchführungsübereinkommen 66 eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Sanktionsmöglichkeiten gegen Beförderungsunternehmen vorzusehen, u.a. wenn diese Drittstaatsangehörige in das Hoheitsgebiet verbringen, ohne sich vergewissert zu haben, dass diese über die erforderlichen Reisedokumente verfügen. Derartige Maßnahmen sind ferner Gegenstand des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, Luft- und Seeweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. November 2000, das auch die Union bindet.67 Bei diesen Vorschriften geht es stets darum, dass ein Privater davon abgehalten werden soll, Personen zur Einreise zu verhelfen, die (noch) über kein Recht zur Einreise verfügen. Derartige Vorschriften dienen dazu, illegale Einwanderung zu bekämpfen und stehen damit jedenfalls nicht per se im Widerspruch zum Grundsatz der Nichtzurückweisung.68 Insoweit wäre zu fragen, ob und inwieweit es hinzunehmen ist, dass eine grundsätzlich legitime Sanktionsdrohung zu einer faktischen Behinderung Schutzsuchender beim Fortkommen in Richtung eines Zufluchtsortes führt. Daran zeigt sich, dass eine Unvereinbarkeit derartiger nationaler Vorschriften mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung wohl nicht pauschal anzunehmen, sondern nur im Lichte ihrer konkreten Ausgestaltung und Anwendung zu bewerten wäre. Von besonderem Interesse wäre in diesem Zusammenhang, ob das einzelstaatliche Recht hinreichende Spielräume vorsieht, um den besonderen Umständen des Einzelfalls etwa im Rahmen der Rechtfertigung oder auf der Ebene der Schuld Rechnung zu tragen, was zu ermitteln jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung ist. Schließlich wäre zu berücksichtigen, dass die Rechtsprechung des EuGH wohl von Zurückhaltung geprägt ist, den beschränkten Anwendungsbereich des Sekundärrechts durch Rückgriff auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung zu erweitern. So wurde von den Beteiligten eines Vorabentscheidungsverfahrens , in dem es um das Bestehen eines Anspruchs auf ein humanitäres Visum zum Zwecke der Beantragung internationalen Schutzes ging, die Frage nach der Bedeutung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung aufgeworfen.69 Der EuGH ging indes bei der Beantwortung der Vorlagefrage nicht ausdrücklich auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein. In der 65 Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985. 66 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239, 22.9.2000, S. 19. 67 Beschluss des Rates vom 24. Juli 2006 über den Abschluss - im Namen der Europäischen Gemeinschaft - des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in Bezug auf diejenigen Bestimmungen des Zusatzprotokolls, die in den Anwendungsbereich der Artikel 179 und 181a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen (2006/616/EG). 68 Allgemein zur Ansicht der Vereinbarkeit von § 63 AufenthG mit dem Zurückweisungsverbot, vgl. Bauer/Dollinger, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 63 AufenthG, Rn. 2, unter Verweis auf BVerwG, B.v. 14.4.1992, 1 C 48.89. 69 EuGH, Rs. C‑638/16 PPU, X und X, Rn. 24 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 28 Sache machte er jedoch deutlich, dass dem sekundärrechtlich definierten Geltungsbereich des einschlägigen Sekundärrechts, insbesondere dem räumlich klar beschränkten Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie, entscheidende Bedeutung beizumessen sei: „49 Außerdem würde das umgekehrte Ergebnis bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nach dem Visakodex verpflichtet wären, es Drittstaatsangehörigen de facto zu ermöglichen , einen Antrag auf internationalen Schutz bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu stellen. Auch wenn der Visakodex nicht dazu dient, die Regelungen der Mitgliedstaaten über den internationalen Schutz zu harmonisieren, ist aber festzustellen, dass die auf der Grundlage von Art. 78 AEUV erlassenen Rechtsakte der Union, die die Verfahren für Anträge auf internationalen Schutz regeln, keine solche Verpflichtung vorsehen; sie schließen im Gegenteil Anträge, die bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten gestellt werden, von ihrem Anwendungsbereich aus. So geht aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/32 hervor, dass sie für Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, gilt, nicht aber für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten. Ebenso ergibt sich aus Art. 1 und Art. 3 der Verordnung Nr. 604/2013, dass sie die Mitgliedstaaten nur dazu verpflichtet, jeden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, und dass die in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren nur für solche Anträge auf internationalen Schutz gelten.“70 (Hervorhebung durch Verfasser) Aus unionsrechtliche Sicht ist ein zurückhaltender Ansatz bei der Auslegung des Sekundärrechts sowie der bei seiner Durchführung zu beachtenden Unionsgrundrechte im Kontext des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 4, 5 EUV und Art. 51 Abs. 2 GRC zu sehen. Denn auch im Falle der Nichtanwendbarkeit des unionsrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung stünde es den Mitgliedstaaten gemäß Art. 53 GRC grundsätzlich frei, auf der Grundlage der nationalen Grundrechte einen weitergehenden Schutz zu gewährleisten.71 Im Ergebnis ist somit nicht eindeutig zu beantworten, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung gemäß Art. 19 Abs. 2 GRC auch auf nicht physische Formen der Kontrolle der Mitgliedstaaten außerhalb ihres Hoheitsgebiets bzw. ihrer Hoheitsgewässer anwendbar ist. 3. Zusammenfassung und Ergebnis In der vorstehenden Ausarbeitung wird die Frage behandelt, ob es mit EU-Asylrecht vereinbar ist, wenn die Behörden eines Mitgliedstaates es dem Kapitän eines Schiffes untersagen, in die mitgliedstaatlichen Hoheitsgewässer bzw. Häfen einzufahren, um dort aus Seenot gerettete Schutzsuchende auszuschiffen, und im Falle der Zuwiderhandlung gegen den Kapitän Strafverfolgungsmaßnahmen etwa wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise ergreifen. 70 EuGH, Rs. C‑638/16 PPU, X und X, Rn. 49. 71 Allgemein zu Art. 53 Grundrechtecharta EuGH, Rs. C‑399/11, Melloni, Rn. 60. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 071/19 Seite 29 Die Prüfung eines Verstoßes gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung kommt vorliegend lediglich mit Blick auf den von einer entsprechenden Strafvorschrift entfalteten präventiven Befolgungsdruck im Zeitpunkt vor ihrer potenziellen Verwirklichung im Einzelfall und damit vor Einfahrt in die Hoheitsgewässer in Betracht. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung hat in diversen Vorschriften des primären und sekundären Unionsrechts Ausdruck gefunden. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage der exterritorialen Anwendbarkeit der einschlägigen Vorschriften, weil diese hierbei als Prüfungsmaßstab für die Wirkungen einer Maßnahme eines Mitgliedstaates auf Vorgänge außerhalb seines Hoheitsgebiets bzw. seiner Hoheitsgewässer herangezogen werden. Eine nähere Analyse des Anwendungsbereichs der verschiedenen Vorschriften zum Grundsatz der Nichtzurückweisung ergibt, dass vorliegend in erster Linie das über Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI ins Unionsrecht inkorporierte „internationale Flüchtlingsrecht“ und insbesondere das Refoulement-Verbot gemäß Art. 33 GFK als Prüfungsmaßstab in Betracht kommen. Darüber hinaus ist bei der Durchführung der im Rahmenbeschluss 2002/946/JI vorgesehenen Verpflichtung zur Festlegung von Sanktionen auch der in Art. 18, 19 Abs. 2 GRC gewährleistete Grundsatz der Nichtzurückweisung zu beachten. Es ist wohl davon auszugehen, dass der Ausschluss der unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen auch im Zusammenhang mit der Anwendung der über den Rahmenbeschluss zur Anwendung gebrachten Grundrechtecharta zu beachten ist. Demzufolge käme diesen Bestimmungen in erster Linie Bedeutung als Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Union zu, die etwa im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV durchgesetzt werden könnte. Dagegen bestünde keine Verpflichtung, entgegenstehende mitgliedstaatliche Vorschriften unangewendet zu lassen. Rechtsprechung des EuGH liegt hierzu jedoch, soweit ersichtlich, nicht vor. Der Schutzbereich des in Art. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI sowie in Art. 18, 19 Abs. 2 GRC gewährleisteten Grundsatzes der Nichtzurückweisung ergibt sich aus der Bezugnahme auf das Refoulement-Verbot in Art. 33 GFK sowie auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK. Während eine exterritoriale Anwendbarkeit des Art. 33 GFK nicht abschließend geklärt ist, erfasst Art. 3 EMRK auch solche Situationen, in denen ein Vertragsstaat außerhalb seines Territoriums effektive Kontrolle über eine Person ausübt. Bislang ist nur geklärt, dass darunter jedenfalls die Ausübung physischer Kontrolle durch vor Ort anwesende staatliche Organe zu fassen ist, etwa durch Aufnahme der Personen auf ein Kriegsschiff, durch Festnahme bzw. Festhalten der Personen an Bord eines Kriegsschiffs, durch Übergabe der Personen an einen anderen Staat, durch Zurückschieben der Schutzsuchenden in ihren Booten oder durch Hinderung an der Weiterfahrt . Der vorliegend zu beurteilende, von einer mitgliedstaatlichen Strafvorschrift als solcher auf den Kapitän eines Schiffes ausgehende präventive Befolgungsdruck stellt keine physische Kontrolle des Staates über die Schutzsuchenden dar. Ob auch andere Formen der Kontrolle in diesem Zusammenhang als ausreichend angesehen werden können, ist mangels einschlägiger Rechtsprechung nicht eindeutig zu beantworten. – Fachbereich Europa –