© 2017 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 68/17 Aussetzung vom Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 2 Aussetzung vom Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 68/17 Abschluss der Arbeit: 20.10.2017 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Vereinbarkeit mit dem sekundären Unionsrecht 4 2.1. Vereinbarkeit mit der Familienzusammenführungsrichtlinie 4 2.2. Vereinbarkeit mit der Qualifikationsrichtlinie 5 3. Vereinbarkeit mit dem primären Unionsrecht 6 3.1. Anwendbarkeit 6 3.1.1. Anwendbarkeit der GRC 6 3.1.2. Anwendbarkeit der EMRK 8 3.1.3. Zwischenergebnis 9 3.2. Recht auf Familienleben 9 3.2.1. Vorgaben der GRC 9 3.2.2. Vorgaben der EMRK 10 3.3. Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot 13 3.3.1. Vorgaben der GRC 13 3.3.2. Vorgaben der EMRK 14 4. Fazit 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 4 1. Fragestellung Gemäß § 104 Abs. 13 AufenthG ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, bis zum 16. März 2018 ausgesetzt. Ausnahmen sind gemäß §§ 22 und 23 AufenthG möglich. Gemäß § 22 AufenthG kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. § 23 AufenthG eröffnet die Möglichkeit, bestimmten Gruppen von Ausländern ohne eine Individualprüfung einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen , der auf andere Weise nicht gestattet werden könnte.1 Die nachfolgende Ausarbeitung befasst sich mit der im Regelwerk zur Migration der CDU und CSU postulierten Maßnahme, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten weiterhin auszusetzen.2 Es wird geprüft, inwiefern dieses Vorhaben mit dem sekundären (2.) und primären Unionsrecht (3.) vereinbar ist. 2. Vereinbarkeit mit dem sekundären Unionsrecht Prüfungsmaßstab sind die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG3 (2.1.) und die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU4 (2.2.). 2.1. Vereinbarkeit mit der Familienzusammenführungsrichtlinie Nach Art. 3 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie findet diese Anwendung, wenn der Zusammenführende im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist, begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und seine Familienangehörigen Drittstaatsangehörige sind, wobei ihre Rechtsstellung unerheblich ist. Die Familienzusammenführungsrichtlinie beinhaltet nach Art. 3 Abs. 2 lit. c keine Rechte auf Familiennachzug , wenn dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde. Mithin gilt das Recht auf Nachzug aus der Familienzusammenführungsrichtlinie nur für 1 Göbel-Zimmermann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 23 AufenthG, Rn. 1. 2 https://www.cdu.de/artikel/regelwerk-zur-migration. 3 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. 2003, L 251/12, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003L0086&from=DE. 4 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2011, L 337/9, abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:337:0009:0026:de:PDF. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 5 anerkannte Flüchtlinge und Drittstaatsangehörige mit begründeter Aussicht auf den Erhalt des dauerhaften Aufenthaltsrechts,5 nicht aber für subsidiär Schutzberechtigte. 2.2. Vereinbarkeit mit der Qualifikationsrichtlinie In Art. 23 der Qualifikationsrichtlinie wird vorgegeben, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen , dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. Nach Art. 23 Abs. 2 tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. Art. 24 regelt den Anspruch auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels. Aus dem Verweis des Art. 23 Abs. 2 auf Art. 24 der Qualifikationsrichtlinie könnte sich ein Anspruch auf Familiennachzug (durch den Anspruch auf die Ausstellung eines Aufenthaltstitels) ableiten lassen. Allerdings sind als Familienangehörige nach Art. 2 lit. j der Qualifikationsrichtlinie nur die Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu qualifizieren, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Das bedeutet nach dem Wortlaut des Art. 2 lit. j Qualifikationsrichtlinie im Umkehrschluss, dass in Bezug auf Familienmitglieder, die sich nicht im Mitgliedstaat befinden, in welchem der subsidiär Schutzberechtigte sich aufhält, kein Anspruch nach Art. 23 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie besteht. Vor diesem Hintergrund wird differenziert, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie den Nachzug von Familienmitgliedern regele, die sich noch im Heimatstaat aufhalten, die Qualifikationsrichtlinie hingegen die Aufrechterhaltung des bereits in einem Mitgliedstaat bestehenden Familienverbundes .6 Aus der Qualifikationsrichtlinie folge mithin kein Anspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte.7 In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen der EU-Kommission in ihrem Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der EU lebenden Drittstaatsangehörigen von Interesse. Dort hielt die Kommission fest, dass sich das Recht auf Familiennachzug zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten unterscheide . Sie schreibt: „Deshalb soll eine stärkere Annäherung der Rechte von Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und den Rechten, die Flüchtlingen gewährt werden, angestrebt werden, wie in der Neufassung der Anerkennungsrichtlinie [in dieser Ausarbeitung als Qualifika- 5 Walter, Familienzusammenführung in Europa, 2009, S. 166. 6 VG Münster, Urt v. 30.7.2009, Rs. 8 K 169/09 (zitiert nach juris); Musekamp, Deutsche Migrationspolitik im Prozess der Europäisierung des Politikfeldes, 2004, S. 89. 7 Walter, Familienzusammenführung in Europa, 2009, S. 175.; Lübbe, Die Angst vor der syrischen Großfamilie: Familiennachzug für Syrer aussetzen?, VerfBlog, 2015/11/12, abrufbar unter http://www.verfassungsblog .de/die-angst-vor-der-syrischen-grossfamilie-familiennachzug-fuer-syrer-aussetzen; Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S. 735 (740). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 6 tionsrichtlinie bezeichnet] hervorgehoben wurde. Damit stellt sich die Frage, ob eine solche Annäherung nicht auch in Bezug auf die Familienzusammenführung stattfinden sollte, wozu der Anwendungsbereich der Richtlinie [gemeint ist die Familienzusammenführungsrichtlinie] auf bestimmte Personengruppen geändert werden müsste.“8 Bisher ist eine solche Änderung nicht erfolgt . Diese Trennung zwischen Familiennachzug und -aufrechterhaltung wird allerdings nicht überall so deutlich vorgenommen. Es existieren Kommentierungen zu § 29 AufenthG, die im Zusammenhang mit Art. 23, 24 Qualifikationsrichtlinie von einem Recht auf Familiennachzug sprechen.9 Die wohl h.M. kommt zu dem Ergebnis, dass subsidiär Schutzberechtigten nach Art. 23 in Verbindung mit Art. 24 Qualifikationsrichtlinie kein Recht auf Familiennachzug zusteht, sondern nur ein Recht auf die Aufrechterhaltung des Familienverbands der bereits in einem Mitgliedstaat befindlichen Familienmitglieder. Die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist daher mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar. 3. Vereinbarkeit mit dem primären Unionsrecht Das europäische Sekundärrecht normiert nach der wohl h.M. ein Recht auf Familiennachzug nur für Flüchtlinge, nicht aber für subsidiär Schutzberechtigte. Fraglich ist, ob ein Recht auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte unmittelbar aus dem europäischen Primärrecht hergeleitet werden kann. Als Grundlage für ein Recht auf Familiennachzug kommt vor allem die Charta der Grundrechte der EU (GRC) in Betracht, deren Auslegung gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC maßgeblich durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bestimmt wird.10 3.1. Anwendbarkeit 3.1.1. Anwendbarkeit der GRC Die Unionsgrundrechte gelten nach Art. 51 Abs. 1 GRC nicht nur für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, sondern auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts. Laut dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist die Vorgabe des Art. 51 Abs. 1 GRC so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten die GRC immer dann beachten müssen, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden.11 Das ist der Fall, wenn die Mitgliedstaaten europäisches Sekundärrecht umsetzen oder anwenden, und zwar nach Ansicht des EuGH auch 8 Kommission, Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG), KOM(2011) 735 endgültig, abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0735:FIN:DE:PDF. 9 S. bspw. Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 749. 10 Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC lautet: „So weit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“ 11 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn, 19 f.; EuGH, Urt. v. 27.3.2014, Rs. C-265/13 – Marcos, Rn. 29 ff; s. hierzu allgemein: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rn. 681 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 7 dann, wenn ihnen der betreffende Rechtsakt Spielräume gewährt.12 Allerdings hat der EuGH in derartigen Konstellationen, in denen das nationale Recht nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, eine Anwendung nationaler Grundrechte genügen lassen, soweit hierdurch weder das Schutzniveau der GRC noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt wurden.13 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) trennt die Sphären der GRC und des Grundgesetzes (GG) und erachtet in Fällen, in denen das europäische Sekundärrecht das nationale Recht nicht abschließend determiniert, sondern den Mitgliedstaaten Ermessensspielräume lässt, allein die nationalen Grundrechte für anwendbar.14 Eine Bindung Deutschlands an die Vorgaben der GRC und dadurch der EMRK kommt nur in Betracht , wenn die Bundesrepublik bei der Regelung des Familiennachzugs subsidiär Schutzberechtigter im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig wird. Es existieren vielseitige Vorgaben des Unionsrechts für den Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts , allerdings – wie oben gezeigt wurde – keine Normen, welche explizit den Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigten regeln oder den Mitgliedstaaten diesbezüglich ausdrücklich einen Spielraum einräumen. Das sekundäre Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten durch die Familienzusammenführungsrichtlinie, Flüchtlingen ein Recht auf Familiennachzug zu gewähren, nicht aber subsidiär Schutzberechtigten, auf die sie nach Art. 3 Abs. 2 lit. c keine Anwendung findet. Die Richtlinie berührt nach ihrem Art. 3 Abs. 5 allerdings nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten. Das Unionsrecht enthält in der Qualifikationsrichtlinie Vorgaben zum inhaltlichen Umfang des Schutzes von subsidiär Schutzberechtigten sowie Ausführungen zur anzustrebenden Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen. Nach Art. 20 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie gilt das Kapitel zum Inhalt des internationalen Schutzes sowohl für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte. Das Recht zum Familiennachzug wird somit nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt. Es gibt aber Anknüpfungspunkte für eine Einwirkung des Unionsrechts auf das nationale Recht. Angesichts der Tatsache, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten und seine Ausgestaltung auf EU-Recht gründen und Art. 3 Abs. 5 der Familienzusammenführungsrichtlinie als eine Norm angesehen werden könnte, welche den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich des Rechts subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug einräumt,15 gibt es Argumente für die Ansicht, wonach Maßnahmen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. 12 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 51 GRC, Rn. 20a mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-411/10 – N.S., Rn. 66 f. 13 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-399/11 – Melloni, Rn. 60; EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Rs. C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn. 29. 14 BVerfGE 133, 277 (315 f.); s. dazu auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rn. 685 ff. 15 Art. 3 Abs. 5 Familienzusammenführungsrichtlinie lautet: „Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten , günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 8 In Anbetracht der Tatsache, dass keine Vorgaben speziell zum Familiennachzug von subsidiär Schutzbedürftigen auf Unionsebene existieren und den Mitgliedstaaten ein diesbezügliches Ermessen ausdrücklich höchstens durch die sehr weite Klausel des Art. 3 Abs. 5 Familienzusammenführungsrichtlinie eingeräumt wird, sprechen jedoch die besseren Argumente dafür, diesbezügliche Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers als Maßnahmen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts anzusehen. Es ist daher zu bezweifeln, dass nationale Regelungen zum Recht subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.16 Selbst wenn eine Durchführung von Unionsrecht bejaht werden würde, wäre aufgrund des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten in diesem Bereich eine Bindung an die Unionsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH nur gegeben, wenn infolge einer Anwendung der nationalen Grundrechte das Schutzniveau der GRC, ihr Vorrang oder die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden.17 Nach Ansicht des BVerfG ist eine Kontrolle von nationalen Maßnahmen, die in den vom Unionsrecht eingeräumten Ermessensspielraum fallen, ohnehin nur am Maßstab des GG zulässig. 3.1.2. Anwendbarkeit der EMRK Für den Fall, dass die Unionsgrundrechte und die gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC zu ihrer Auslegung bedeutsame EMRK kein Maßstab für nationale Maßnahmen zum Recht subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug sind, soll kurz erörtert werden, welche Bedeutung allein der EMRK als Maßstab für das nationale Recht eines Vertragsstaats der Konvention zukommt. Die EMRK hat in Deutschland seit ihrer Ratifizierung den Rang eines innerstaatlichen Gesetzes.18 Ihr kommt innerhalb der deutschen Rechtsordnung nicht die gleiche Rang- und Bindungswirkung zu wie den mit unionsrechtlichem Anwendungsvorrang ausgestatteten Unionsgrundrechten .19 Das Recht der Bundesrepublik muss, soweit möglich, im Einklang mit der EMRK völkerrechtsfreundlich ausgelegt werden.20 Nach Ansicht des BVerfG geben Entscheidungen des EGMR in Verfahren gegen andere Vertragsparteien den nicht beteiligten Staaten „lediglich Anlass, ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren.“21 Die EMRK verfüge 16 Gegen eine Anwendung der Unionsgrundrechte auch: Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtliche-administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 (127); Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S. 735 (740). 17 Zum Schutzbereich des Grundgesetzes s. die Ausarbeitung von WD 3 zu dieser Fragestellung. 18 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Einleitung, Rn. 18. 19 Siehe zu Einzelheiten der Bindungswirkung der EMRK bzw. der EGMR-Urteile Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 46 EMRK, Rn. 16 ff. 20 Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 5. Aufl. 2015, Bindungswirkung von EGMR-Entscheidungen. 21 BVerfGE 111, 307 (320). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 9 nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Art. 46 Abs. 1 EMRK spreche nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus.22 Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gelten in Deutschland mithin nicht unmittelbar, sie sind allerdings von den staatlichen Hoheitsträgern zu berücksichtigen . 3.1.3. Zwischenergebnis Ein Recht subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug wird den Mitgliedstaaten nicht durch sekundäres Unionsrecht vorgegeben. Das hat zur Folge, dass die Mitgliedstaaten diesbezüglich auch nicht den Vorgaben der GRC unterliegen. Die Vorgaben der EMRK müssen in den Mitgliedstaaten daher nur (völkerrechtlich) Beachtung finden, sie entfalten nicht über die Auslegung der GRC unionsrechtliche Wirkung. Im Folgenden soll dennoch ein Überblick über den Inhalt der EMRK und der GRC im Hinblick auf das Recht auf Familiennachzug gegeben werden. 3.2. Recht auf Familienleben 3.2.1. Vorgaben der GRC Gemäß Art. 7 GRC hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Nach der wohl h.M. in der Literatur lässt sich aus Art. 7 GRC kein subjektives Recht auf Familiennachzug ableiten. Art. 7 GRC gewährt kein Recht auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung in einem bestimmten Land.23 Dieser Anspruch wird auch nach Ansicht des EuGH erst durch das europäische Sekundärrecht begründet.24 Art. 4 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie geht demnach über die Vorgaben der GRC zum Recht auf Familienleben hinaus, indem die Norm den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen aufgibt, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen.25 Der EuGH hat zu der Familienzusammenführungsrichtlinie ausgeführt, Art. 4 Abs. 1 schreibe den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vor, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei einen Ermessensspielraum ausüben könnten.26 Die GRC hingegen belässt den Hoheitsträgern einen Ermessensspielraum in Fragen des Familiennachzugs, wobei sie das Recht auf Familienleben angemessen würdigen müssen.27 22 BVerfGE 111, 307 (320). 23 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 7 GRC, Rn. 29. 24 EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Rn. 60. 25 EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Rn. 60. 26 EuGH, Urt. v. 27.6.2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Rn. 60. 27 S. dazu ausführlich unten unter 3.2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 10 Ähnlich wie das Recht auf Familienleben aus Art. 7 GRC ist das Recht von Kindern aus Art. 24 Abs. 3 GRC auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen ausgestaltet. In der Literatur wird Art. 24 Abs. 3 GRC nicht nur als Schranke für hoheitliches Handeln verstanden, der Norm werden darüber hinaus Verpflichtungen zu positiven Maßnahmen entnommen. Den Hoheitsträgern stehe diesbezüglich allerdings ein Ermessenspielraum zu.28 Der EuGH hat festgehalten, dass „sich die Art. 7 und 24 der Charta, die die Bedeutung des Familienlebens für Kinder unterstreichen, nicht dahin auslegen [lassen], dass den Mitgliedstaaten der Ermessensspielraum genommen würde, über den sie bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung verfügen.“29 Eine Beschränkung des Rechts auf Familiennachzug könnte mit der GRC vereinbar sein, wenn diese anwendbar wäre. Entscheidend wäre Art und Umfang der Beschränkung. Hierzu fehlt es an eindeutigen Vorgaben des EuGH. In Bezug auf eine Klage des Europäischen Parlaments, das Recht auf Familiennachzug würde durch die Familienzusammenführungsrichtlinie beschränkt, stützten sich die Erwägungen des Gerichtshofs im Wesentlichen auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .30 In früheren Urteilen hat der EuGH, entsprechend den Vorgaben der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR, für eine zulässige Beschränkung des Rechts auf Familiennachzug (im Fall des Nachzugs eines Drittstaatsangehörigen zu seinem Ehegatten, der britischer Staatsangehöriger war) als Voraussetzungen benannt, dass die Beschränkung gesetzlich vorgesehen, von berechtigten Zielen getragen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein muss, d.h. durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt und als Maßnahme verhältnismäßig ist.31 3.2.2. Vorgaben der EMRK Art. 8 EMRK gewährt nach der Rechtsprechung des EGMR ebenfalls kein subjektives Recht auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung in einem bestimmten Land.32 Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR enthält Art. 8 EMRK keine generelle Verpflichtung für Staaten, die Wahl des Aufenthaltsorts von Immigranten zu respektieren und Familiennachzug in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten.33 28 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 24 GRC, Rn. 21. 29 EuGH, Urt. v. 6.12.2012, Rs. C‑356/11 und C‑357/11 – O. und S., Rn. 79. 30 Beschorne/Petrowsky, Zulässigkeit gemeinschaftsrechtlicher Beschränkungen des Nachzugs Minderjähriger, ZAR 2007, S. 87 (93). 31 EuGH, Urt. v. 23.9.2003, Rs. C-109/01 – Akrich, Rn. 59; EuGH, Urt. v. 11.7.2002, Rs. C-60/00 – Carpenter, Rn. 42. 32 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 8 EMRK, Rn. 76; Groenendijk, Familienzusammenführung als Recht nach Gemeinschaftsrecht, ZAR 2006, S. 191 (193). 33 EGMR, Urt. v. 19.2.1996, Rs. 23218/94 – Gül, Rn. 38 m.w.N. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 11 Art. 8 EMRK enthält jedoch Wertungsvorgaben, welche bei einer hoheitlichen Regelung oder Entscheidung im Bereich des Familiennachzugs zu beachten sind (Abwägung zwischen den staatlichen Interessen an einer Migrationskontrolle und dem Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK). In Fällen, in denen Familienleben und Migration den Sachverhalt prägen, hängt das Ausmaß der staatlichen Pflicht, Familiennachzug in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten, von einer Vielzahl von Umständen ab, wie die mögliche Beeinträchtigung des Familienlebens durch die Verweigerung eines Nachzugsrechts, die Hindernisse für ein Familienleben im Herkunftsstaat und Fragen der Migrationskontrolle.34 Der Staat muss nach der Rechtsprechung des EGMR im Rahmen einer Ermessensentscheidung das Recht des Antragstellers auf Familienleben angemessen berücksichtigen. In bestimmten Fällen können sich diese Wertungsvorgaben zu einer positiven Verpflichtung des Staates verdichten .35 Wenn die Familieneinheit nur im Mitgliedstaat hergestellt werden kann, reduziert Art. 8 EMRK gemäß der Rechtsprechung des EGMR den Entscheidungsspielraum des Staats.36 Der EGMR stellte in einer Rechtssache zum Familiennachzug von Flüchtlingen fest: „À cet égard, la Cour observe que la vie familiale du requérant n’a été interrompue qu’en raison de sa fuite, par crainte sérieuse de persécution au sens de la Convention de Genève de 1951. Ainsi, la venue des deux enfants, eux-mêmes réfugiés dans un pays tiers, constituait le seul moyen pour reprendre la vie familiale.“37 Wenn ein Familienleben nur in dem Staat möglich ist, in welchem der Flüchtling internationalen Schutz erhalten hat, hat der EGMR eine Ermessensreduzierung angenommen . In der Literatur wird aufgrund derartiger Urteile von einigen Stimmen die Ansicht vertreten, dass bei Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten, die nicht sicher in ihrem Herkunftsstaat zusammen mit ihrer Familie leben können, nach Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Familiennachzug in den Staat besteht, in dem sie internationalen Schutz erhalten haben. Sie argumentieren, dass keine andere Möglichkeit zur Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft besteht und der 34 EGMR, Urt. v. 31.1.2006, Rs. 50435/99 – Rodrigues da Silva u. Hoogkamer, Rn. 39 m.w.N. 35 Lambert, The European Court of Human Rights and the right of refugees and other persons in need of protection to family reunion, International Journal of Refugee Law 1999, S. 427 (433 f.); Hofmann, in: Beck'scher Online- Kommentar Ausländerrecht, 11. Edition, Stand: 15.8.2016, Art. 8 EMRK, Rn. 28. 36 EGMR, Urt. v. 1.12.2005, Rs. Nr. 60665/00 – Tuquabo-Tekle, Rn. 47 ff.; EGMR, Urt. 21.12.2001, Rs. 31465/96 – Sen, Rn. 40. 37 EGMR, Urt. v. 10.7.2014, Rs. 52701/09 – Mugenzi, Rn. 53. („In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass das Familienleben des Antragstellers nur wegen seiner Flucht aufgrund schwerer Furcht vor Verfolgung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention unterbrochen war. Somit ist die Ankunft der zwei Kinder, die selbst Flüchtlinge in einem Drittland sind, die einzige Möglichkeit, das Familienleben wieder aufzunehmen.“ – Übersetzung der Bearbeiterin) Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 12 Schutzberechtigte die Situation, die zur Trennung geführt hat, nicht selbst verantworten muss.38 Die Vorgaben des Art. 8 EMRK verdichten sich nach dieser Ansicht bei Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten zu einem Recht auf Familiennachzug.39 Andere Stimmen in der Literatur wiederum betonen, dass der EGMR verschiedene Kriterien benannt habe, welche in die Ermessensentscheidungen der Hoheitsträger über den Familiennachzug einfließen sollen und die Tatsache, dass ein Familienleben nur im Aufenthaltsstaat des Flüchtlings möglich ist, dabei nicht alleinentscheidend sei.40 Für die Entscheidung über Familiennachzug seien zudem Kriterien wie das Kindeswohl oder Interessen der öffentlichen Ordnung zu berücksichtigen.41 Art. 8 EMRK beinhaltet kein subjektives Recht für Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte auf Familiennachzug. Er verpflichtet Hoheitsträger, das Recht der Betroffenen auf Familienleben im Rahmen einer Ermessensentscheidung angemessen zu würdigen und bei nationalen Beschränkungen des Rechts subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug zu bedenken.42 Ob eine weitere Aussetzung des Familiennachzugs subsidiär Schutzberechtigter das Recht auf Familienleben angemessen würdigt, kann vorliegend aufgrund des Planungscharakters des Regelwerks zur Migration nicht abschließend festgestellt werden. Es sind die näheren Details der Maßnahme unbekannt , die für eine Bewertung am Maßstab von Art. 8 EMRK von Bedeutung wären. Zu berücksichtigen wäre bei einer Bewertung beispielsweise die Frage, ob Ausnahmen von der Aussetzung gemäß §§ 22 und 23 AufenthG weiterhin möglich sind. Eine abschließende Bewertung ist daher vorliegend nicht möglich. 38 Lambert, The European Court of Human Rights and the right of refugees and other persons in need of protection to family reunion, International Journal of Refugee Law 1999, S. 427 (438); Rohan, Refugee Family Reunification Rights: a basis in the European Court of Human Rights‘ family reunification jurisprudence, Chicago Journal of International Law 2014, S. 347 (370 ff.); Göbel-Zimmermann/Eichhorn, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 29 AufenthG, Rn. 7; Lübbe, Die Angst vor der syrischen Großfamilie: Familiennachzug für Syrer aussetzen ?, VerfBlog, 2015/11/12, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/die-angst-vor-der-syrischen-grossfamilie -familiennachzug-fuer-syrer-aussetzen; Czech, A right to family reunification for persons granted international protection? The Strasbourg case-law, state sovereignty and EU harmonisation, EU migration law blog vom 17.6.2016, abrufbar unter http://eumigrationlawblog.eu/a-right-to-family-reunification-for-persons-under-international -protection-the-strasbourg-case-law-state-sovereignty-and-eu-harmonisation-2/. 39 Lübbe, Die Angst vor der syrischen Großfamilie: Familiennachzug für Syrer aussetzen?, VerfBlog, 2015/11/12, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/die-angst-vor-der-syrischen-grossfamilie-familiennachzug-fuersyrer -aussetzen. 40 Thym, Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, S. 409 (414); in diese Richtung wohl auch Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtliche-administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 (127). 41 Vgl. dazu EGMR, Urt. v. 3.10.2014, Rs. 12738/10 – Jeunesse, Rn. 107 f. 42 Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtliche -administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 (127); Thym, Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, S. 409 (414). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 13 3.3. Gleichheitsgrundsatz und Diskriminierungsverbot 3.3.1. Vorgaben der GRC Nach Art. 20 GRC sind alle Personen vor dem Gesetz gleich. Dieser Gleichheitssatz des Art. 20 GRC soll sicherstellen, dass Personen in vergleichbaren Sachverhalten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gleichbehandelt werden.43 Eine besondere Ausprägung erfährt der Gleichheitsgrundsatz in Art. 21 GRC.44 Gemäß Art. 21 Abs. 1 GRC sind Diskriminierungen insbesondere wegen einzeln in der Norm aufgeführter Merkmale, wie z. B. der Hautfarbe der ethischen oder sozialen Herkunft, verboten. Der Gleichheitsgrundsatz kommt nicht nur bei der Anwendung von Gesetzen durch die Exekutive oder Judikative zum Tragen, sondern bindet auch den Gesetzgeber.45 Im vorliegenden Kontext ist fraglich, inwiefern nach den Vorgaben der GRC verschiedene Gruppen hinsichtlich des Rechts auf Familiennachzug unterschiedlich behandelt werden dürfen. Der EuGH hat – soweit ersichtlich – den Gleichheitsgrundsatz noch nicht im Hinblick auf das Verhältnis von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten im Bereich des Familiennachzugs erörtert. Art. 20 GRC verbietet eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte. Fraglich ist, inwiefern Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte sich in vergleichbaren Positionen befinden . Die Merkmale der unterschiedlichen Sachverhalte und somit deren Vergleichbarkeit sind nach Ansicht des EuGH „u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Bereichs zu berücksichtigen, zu dem die in Rede stehende Maßnahme gehört .“46 Sofern nur Flüchtlingen ein Recht auf Familiennachzug zusteht, müsste somit nach Art. 20 GRC begründet werden, inwiefern sich ihre Situation von der Lage subsidiär Schutzberechtigter unterscheidet , um eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich des Rechts auf Familiennachzug zu begründen. Gemäß Erwägungsgrund 8 der Familienzusammenführungsrichtlinie sollen Flüchtlinge wegen „der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen“ günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung als andere Drittstaatsangehörige erhalten. Es ist fraglich, ob sich diese Erwägung bei Anwendbarkeit der GRC auch auf subsidiär Schutzberechtigte übertragen ließe.47 Mangels weiterer Angaben im Regelwerk zur Migration zur Begründung der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte und aufgrund des Fehlens einer Rechtsprechung 43 Hölscheidt, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2011, Art. 20 GRC, Rn. 11. 44 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 21 GRC, Rn. 6. 45 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 20 GRC, Rn. 3. 46 EuGH, Urt. v. 11.7.2013, Rs. C‑439/11 P – Ziegler, Rn. 167 47 S. zu dieser Fragestellung auch Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Art. 29 AufenthG, Rn. 18; Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S. 735 (740). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 14 des EuGH zu dieser Frage ist eine abschließende Beantwortung der Frage vorliegend nicht möglich . 3.3.2. Vorgaben der EMRK Im Rahmen von Art. 14 EMRK hat der EGMR über Fälle der Ungleichbehandlung hinsichtlich des Rechts von Migranten auf Familiennachzug geurteilt. Er hat in einem Fall entschieden, dass es eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK darstellt, wenn ein Staat das Recht auf Familiennachzug von Flüchtlingen, die nach dem Asylantrag geheiratet haben, im Vergleich mit dem Recht auf Familiennachzug von ausländischen Studierenden und Flüchtlingen, die vor dem Asylantrag geheiratet haben, ohne legitime Gründe für eine Differenzierung zwischen diesen Gruppen beschränkt.48 Aufgrund derartiger Urteile ist in der Literatur die Ansicht vertreten worden , dass sobald ein Staat einer bestimmten Gruppe, beispielsweise Flüchtlingen, Familiennachzug erlaube, Personen in einer vergleichbaren Lage, wie subsidiär Schutzberechtigten, dieselbe Behandlung zu teil werden müsse.49 Auch hier ist die Vergleichbarkeit der Gruppen von entscheidender Bedeutung für den Anspruch auf Gleichbehandlung. 4. Fazit Das europäische Sekundärrecht gibt nach hiesiger Ansicht den Mitgliedstaaten nicht vor, dass subsidiär Schutzberechtigten ein Recht auf Familiennachzug zusteht. Somit ist eine Aussetzung des Rechts von subsidiär Schutzberechtigten auf Familiennachzug durch den nationalen Gesetzgeber mit dem europäischen Sekundärrecht vereinbar. Mangels sekundärrechtlicher Regelungen für den Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter unterliegen die Mitgliedstaaten bei der Regelung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte nach h.M. in der Literatur nicht den Vorgaben der GRC. Die GRC und die EMRK stellen mithin keinen unionsrechtlichen Maßstab dar, an dem nationale Maßnahmen zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte zu prüfen sind. Sie wurden in dieser Ausarbeitung daher nur hilfsweise erörtert. Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK postulieren kein subjektives Recht von Flüchtlingen auf Familiennachzug. Die Rechtsprechung hat diesen Normen aber Vorgaben zu der Bedeutung des Rechts auf Familienleben entnommen, welche – im Falle der Anwendbarkeit der GRC – bei Maßnahmen (im Bereich des Familiennachzugs) zu beachten wären. Wenn die GRC zur Anwendung käme, wäre neben dem Recht auf Familie bei Entscheidungen über das Recht von subsidiär Schutzberechtigten auf Familiennachzug auch der Gleichheitsgrundsatz zu beachten. Sofern Flüchtlinge ein Recht auf Familiennachzug haben, könnte aus dem Gleichheitsgrundsatz ein entsprechender Anspruch der subsidiär Schutzberechtigten folgen, sofern es keinen legitimen Grund gibt, diesbezüglich zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten zu differenzieren. 48 EGMR, Urt. v. 6.11.2012, Rs. 22341/09 – Hode and Abdi, Rn. 43 ff. 49 Czech, A right to family reunification for persons granted international protection? The Strasbourg case-law, state sovereignty and EU harmonisation, EU migration law blog vom 17.6.2016, abrufbar unter http://eumigrationlawblog .eu/a-right-to-family-reunification-for-persons-under-international-protection-the-strasbourg-caselaw -state-sovereignty-and-eu-harmonisation-2/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 68/17 Seite 15 Mangels Anwendbarkeit der GRC muss allein der Maßstab der EMRK Beachtung finden. Die EMRK bindet die Mitgliedstaaten allerdings nur völkerrechtlich und stellt für sich genommen (ohne die Brücke der GRC) keinen unionsrechtlichen Maßstab dar. – Fachbereich Europa –