Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 11 – 3000-65/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon Dokumentation WD 11 – 3000-65/08 Abschluss der Arbeit: 20.3.2008 Fachbereich WD 11: Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - 1. Einleitung Auf der Ebene der Europäischen Union wird seit Jahrzehnten ein Demokratiedefizit konstatiert, bei dem es sich wohl um ein juristisches, politisches und sozialphilosophisches Phänomen handelt. Stellvertretend für die verschiedenen Ansichten, die zu diesem Problem, seinen Gründen sowie zu möglichen Lösungen desselben geäußert werden, sei eine „Diagnose“ von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1996 wiedergegeben: „Unter verfassungspolitischen Gesichtspunkten ist der gegenwärtige Zustand der Europäischen Union durch einen Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits ist die EU eine durch völkerrechtliche Verträge begründete supranationale Organisation ohne eigene Verfassung – insofern ist sie kein Staat (…). Andererseits schaffen die Organe der Gemeinschaft europäisches Recht, das die Mitgliedstaaten bindet – insofern übt die EU Hoheitsrechte aus, die bisher dem Staat i. e. S. vorbehalten waren. Daraus ergibt sich das oft beklagte demokratische Defizit. Die Beschlüsse der Kommission und des Ministerrates , auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, greifen immer tiefer in die Verhältnisse der Mitgliedstaaten ein. Im Rahmen der Hoheitsrechte, die auf die Union übertragen worden sind, kann die Europäische Exekutive ihre Beschlüsse gegen das Widerstreben nationaler Regierungen durchsetzen. Gleichzeitig fehlt diesen Beschlüssen , solange das Europäische Parlament nur über schwache Kompetenzen verfügt, eine unmittelbare demokratische Legitimation. Die ausführenden Organe der Gemeinschaft leiten ihre Legitimation aus der der Mitgliedsregierungen ab. Sie sind nicht Organe eines Staates, der durch den Willensakt der vereinigten europäischen Staatsbürger konstituiert worden wäre.“1 2. Definition „Demokratiedefizit“ Um den Begriff „Demokratiedefizit“ zu bestimmen, ist es zunächst hilfreich, denjenigen der „Demokratie“ zu definieren. Aufgrund des hier zugrundeliegenden Kontextes ist dabei nicht von einer einzelnen nationalstaatlichen Perspektive auszugehen, sondern ein europäischer – „unionsspezifischer“2 – Demokratiebegriff zu finden.3 Dieser könnte sich direkt aus dem Primärrecht der Union, etwa Art. 6 Abs. 1 EU- Vertrag4, ableiten lassen. Dagegen spricht aber, dass sich der Begriff der „Demokratie“ nicht allein aus den für das jeweilige Rechtssystem ergebenden Normen ergeben kann – 1 Habermas, Jürgen, Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: J. Habermas : Die Einbeziehung des Anderen, 1. Aufl., Frankfurt a. Main 1996, Kapitel 6, S. 185. 2 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rz. 15. 3 So auch Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rz. 15 und Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133. 4 Dort heißt es: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ - 4 - denn dann wäre es nicht sinnvoll, in diesem Zusammenhang die Konstatierung eines „Defizits“ überhaupt nur zu erwägen.5 Die relevanten Kriterien für die Untersuchung der Begriffe folgen also weder allein aus der Verfassung einer der EU-Mitgliedstaaten noch unmittelbar aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht. Vielmehr ist eine Konkretisierung des unionsspezifischen Demokratiebegriffs anhand unterschiedlicher „Rechtsquellen“ (im weiteren Sinne) – d.h. sowohl der mitgliedstaatlichen Verfassungen6 als auch z.B. Art. 3 Zusatzprotokoll 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)7 oder der Präambel8 zum EU- Vertrag9 – vorzunehmen. Danach bedeutet „Demokratie“ im gemeineuropäischen Sinne nach der wörtlichen Übersetzung zunächst „Volksherrschaft“. Dementsprechend werden die zentralen Grundideen des Demokratieprinzips einerseits in der Identität von Herrschern und Beherrschten , andererseits in der Gleichheit aller Bürger gesehen. Daraus folgt – wie auch z.B. im europäischen „Wertekanon“ der EMRK verkörpert – die Forderung nach gleichberechtigter Beteiligung aller Regierten an der Ausübung der Hoheitsmacht.10 Nach einer verbreiteten Ansicht in der Literatur11 können der europäischen (nationalstaatlichen ) Verfassungstradition jedenfalls fünf gemeinsame Grundsätze entnommen werden, die zusammengenommen dasjenige auszeichnen, was auf europäischer Ebene unter „Demokratie“ zu verstehen sei. Diese fünf Prinzipien seien:12 1. Grundsatz der Volkssouveränität13 2. Mehrheitsprinzip14 5 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133. 6 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133. 7 Sieht vor, „dass die Mitgliedstaaten in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen abhalten , in deren Rahmen die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleistet sein muss“ (vgl. die Darstellung von Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rz. 14). 8 Dort heißt es: „[…] In Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, […]“ heben beschlossen, eine Europäische Union zu gründen […].“ 9 Calliess in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rz. 14. 10 Calliess, Christian, Optionen zur Demokratisierung der EU, in: Brauer/ Huber/ Sommermann, Verfassungsentwicklung in Europa, Tübingen 2005, S. 281 (283). 11 Vgl. die Darstellungen etwa von Calliess, Christian, Optionen zur Demokratisierung der EU, in: Brauer/ Huber/ Sommermann, Verfassungsentwicklung in Europa, Tübingen 2005, S. 281 (284) sowie von Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 f. 12 Soweit nicht anders angegeben folgt die Darstellung Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 f. 13 Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. D.h., dass jedes Staatsorgan, das Staatsgewalt ausübt, hierzu demokratisch legitimiert sein muss. 14 Die Mehrheit – nicht eine Diktatur – konstituiert das geltende Recht; auch „government of law“; Mehrheitsprinzip beruht auf Prinzip der Gleichheit aller Abstimmungsberechtigten (zum letzten - 5 - 3. Prinzip der Verantwortlichkeit15 4. Prinzip der Gewaltenteilung16 5. Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte17 Diese fünf Elemente des Demokratiebegriffs können selbstverständlich ausdifferenziert und ergänzt werden. Zusätzlich werden etwa häufig noch das „Prinzip des politischen Pluralismus“ und das „Bestehen gemeinsamer Werte, insbesondere Grund- und Menschenrechte “ als Bestandteil des „gemeinsamen demokratischen Besitzstands“ sämtlicher EU-Mitgliedstaaten genannt.18 Die folgenden Ausführungen gehen jedoch maßgeblich von den oben genannten fünf Prinzipien als Kernbestand eines europäischen Demokratiebegriffs aus. Worin nun ein „Demokratiedefizit“ bestehen könnte, bedarf keiner weitergehenden Erörterung mehr – ein solches kann sich ersichtlich insbesondere durch einen Mangel hinsichtlich der Verwirklichung eines der fünf Grundsätze auf europäischer Ebene ergeben. Häufig werden zwei wesentliche Gründe für das Demokratiedefizit der EU angeführt: 1. Die Unausgewogenheiten im institutionellen Gefüge der Union sowie 2. Die Nichtexistenz einer „europäischen Öffentlichkeit“ Nachfolgend sollen einige Ausführungen zu den fünf Prinzipien sowie im Anschluss daran zu den häufig genannten Kritikpunkten dargestellt werden. Die Literatur zu dem Thema ist so vielfältig, dass dieser Ausschnitt nur Anregungen geben kann, nicht aber das komplexe Thema umfassend abbilden kann. 2.1. Grundsatz der Volkssouveränität Das Legislativorgan ist maßgeblich der Ministerrat. Dessen Bezugspunkt sei aber nicht ein „europäisches Volk“, da dieses den Ministerrat nicht wählt. Vielmehr ist auf die derzeit 27 „europäischen Staatsvölker“ abzustellen. Die mittelbare demokratische Legi- Punkt: Calliess, Christian, Optionen zur Demokratisierung der EU, in: Brauer/ Huber/ Sommermann , Verfassungsentwicklung in Europa, Tübingen 2005, S. 281 (284)). 15 Jede Delegationen von Hoheitsmacht muss durch das Volk kontrollierbar sein. Sog. „responsible government“: Parlament und Regierung müssen dem Volk verantwortlich sein und auch zur Verantwortung gezogen werden können (Sanktionsmöglichkeit). 16 Ob dieser Grundsatz universal wesentlich zum Begriff der Demokratie gehört ist zwar strittig, jedenfalls ist dies aber in Europa der Fall. 17 Sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Gerichte. 18 Calliess, Christian, Optionen zur Demokratisierung der EU, in: Brauer/ Huber/ Sommermann, Verfassungsentwicklung in Europa, Tübingen 2005, S. 281 (284). - 6 - timation des Rats über die nationalen Regierungen sowie deren Verantwortung gegenüber den jeweiligen nationalen Parlamenten wird zwar als Argument zur Wahrung der Souveränität der Staatsvölker angeführt, doch handelt es sich hierbei um Legitimationsketten , deren „bedenkliche Länge“ durchaus bemängelt wird:19 die oft gering ausgeprägte Einflussnahme der nationalen Parlamente auf Angelegenheiten der EU und das bei zahlreichen Ratsentscheidungen geltende Prinzip der qualifizierten Mehrheit werden in diesem Kontext genannt. Ratsentscheidungen, so könnte man sagen, würden so nur von einem Teil der „europäischen Staatsvölker“ legitimiert. Zunehmend bedeutsam ist in diesem Zusammenhang das stetige Erstarken des Europäischen Parlamentes. Die demokratische Legitimation, die durch das Europäische Parlament vermittelt wird, greife, so ältere Stimmen aus der Literatur, zu kurz, da das EP noch nicht über den nationalen Parlamenten vergleichbare Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse verfüge.20 2.2. Mehrheitsprinzip Beim Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat, das zunehmend durch mehr Mehrheitsentscheidungen zurückgedrängt wird, ergeben sich Kritikpunkte hinsichtlich der Wahrung des Demokratieprinzips: Es widerspricht nämlich grundsätzlich dem Mehrheitsprinzip, wenn ein einzelner Mitgliedstaat durch sein Veto einen von den 26 übrigen Mitgliedstaaten getragenen Beschluss verhindern kann.21 Eine Ursache für den Mangel hinsichtlich der Verwirklichung des Mehrheitsprinzips auf europäischer Ebene sieht etwa Calliess darin, dass die EU bereits kein „Gemeinsam mit kollektiver Identität“ sei: „Nur wenn eine grundsätzliche Bereitschaft zur Solidarität gegeben ist, wird die überstimmte Mehrheit zur Hinnahme der Mehrheitsentscheidungen bereit sein.“22 2.3. Prinzip der Verantwortlichkeit Der Grundsatz der Verantwortlichkeit (oder auch “responsible government“) wird ebenfalls problematisiert. Gegen den Ministerrat gibt es kaum Sanktionsmöglichkeiten. Allenfalls kann das EP einen Rechtsakt verhindern. Anders als nationale Regierungen und Parlamente, die im Falle „unliebsamer Rechtssetzung“ vom Volk abgewählt werden könne, besteht diese Option beim Rat als solchem in dieser Form nicht.23 19 Grande, Edgar, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan, September 1996, 339 (343). 20 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1134). 21 Ähnlich: Grande, Edgar, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan, September 1996, 339 (343). 22 Calliess, Christian, Optionen zur Demokratisierung der EU, in: Brauer/ Huber/ Sommermann, Verfassungsentwicklung in Europa, Tübingen 2005, S. 281 (294). 23 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1134). - 7 - 2.4. Prinzip der Gewaltenteilung Zwar ist auch in den Mitgliedstaaten aufgrund der Verbindung von Parlamentsmehrheit mit Regierung die Trennung von Legislative und Exekutive nur eingeschränkt verwirklicht , doch wird dies grundsätzlich durch das Vorhandensein einer parlamentarischen Opposition – die insbesondere stets eine Chance hat, einmal die Regierung zu bilden – als Gegengewalt ausgeglichen. Auf die europäische Ebene lässt sich das kaum übertragen . Zwar können sich bzgl. einzelner Entscheidungen Oppositionen bilden, doch eine Chance auf Abwahl und Auswechslung des gesamten Rats besteht nicht.24 2.5. Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte Was die europäische Gerichtsbarkeit angeht, so wird in der Literatur angemerkt, dass, da der EuGH ähnliche Aufgaben wahrnimmt wie die Verfassungsgerichte der Nationalstaaten sich ein diesbezüglicher Vergleich anbiete und dabei auffällig sei, dass „die Ernennung von Verfassungsrichtern in allen Staaten, die über eine solche Institution verfügen […] durchgehend von einem Gremium vorgenommen wird, dem vielleicht die Exekutive auch angehört, aber doch nicht allein entscheiden kann“25, und die Ernennung der EuGH-Richter durch den Ministerrat erfolge. „Das muss ihre Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen, aber ist doch ein Phänomen, das in Europa sonst nicht anzutreffen ist.“ 26 Gelegentlich erfährt auch das Selbstverständnis des Gerichts, als „Motor der Europäischen Gemeinschaft“ sowie etwa die Judikatur des Gerichtshofs zum effet utile unter diesem Aspekt Kritik.27 3. Häufig geäußerte Kritikpunkte Neben der bereits angesprochenen Funktion des Rates, der lange Zeit nicht öffentlich tagte wird auch die Europäische Kommission, die das Initiativrecht ganz überwiegend hat, als wenig transparent und unverstanden wahrgenommen. Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung der Gemeinschaft konnte im Laufe der Vertragsreformen kontinuierlich ausgebaut werden, gleichwohl ist es nationalen Parlamenten noch nicht vergleichbar. Zum Vertrag von Lissabon s.u.. Häufig wird in diesem Kontext kritisiert, dass die Festlegung der Höchstzahl der aus einem Mitgliedstaat kommenden Abgeordneten und einer Mindestzahl für die kleinen Mitgliedstaaten einen unterschiedlichen Erfolgswert der abgegebenen Stimmen zur Folge habe. Anders gesprochen „vertritt“ ein aus Deutschland kommender Abgeordneter 24 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1135). 25 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1135). 26 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1135). 27 Doehring, Karl, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, DVBl 1997, 1133 (1135). - 8 - deutlich mehr Wählerinnen und Wähler als ein luxemburgischer oder maltesische Abgeordneter oder eine Abgeordnete. Ergänzend wird darauf verwiesen, dass es keine „europäische Öffentlichkeit“ gebe und die geringe Wahlbeteiligung zeige, wie weit das EP von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt sei und auch als solches wahrgenommen werde. Den nationalen Parlamenten in den Mitgliedstaaten kommt derzeit eine eher indirekte Rolle bei der Mitgestaltung der EU-Politik zu: Sie können auf das Abstimmungsverhalten ihrer Regierungen im Rat einzuwirken versuchen; direkte Kontroll- und Mitentscheidungsrechte der nationalen Parlamentskammern sehen EU- und EG-Vertrag in den Fassungen des Vertrag von Nizza aber nicht vor28 (s. aber u. zur Einführung der Subsidiaritätsrügemöglichkeit durch den Vertrag von Lissabon). (Die vielfach und auch von von Arnim im Jahr 2007 konstatierte „Durchwink-Mentalität“29 der Mitglieder des Deutschen Bundestags hinsichtlich der Europa-Vorlagen kann vielleicht als Konsequenz dieses Mangels an direkten Mitwirkungsbefugnissen der mitgliedstaatlichen Parlamente angesehen werden.). 4. Abbau des Demokratiedefizits durch den Vertrag von Lissabon Durch zahlreiche institutionelle Reformen soll das „Dauerthema“ Demokratiedefizit der EU mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zumindest teilweise behoben werden. Der Vertrag von Lissabon führt einen neuen Titel II ein, der überschrieben ist mit „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“. Artikel 8a legt fest, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht und die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten sind. Neu in den Vertrag aufgenommen wird auch, dass die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat von ihren jeweiligen Regierungen vertreten werden und diese ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber den nationalen Parlamenten oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Absatz 3 postuliert allgemein, dass alle Bürgerinnen und Bürger das Recht haben, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen und Entscheidungen so offen und bürgernah wie möglich getroffen werden sollen. Ein neuer Artikel 8a wird eingefügt, der erstmals auf primärrechtlicher Ebene sich zur Rolle und Funktion der nationalen Parlamente äußert, die aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen sollen, indem sie unter anderem dafür sorgen, dass der Grundsatz 28 Vgl. auch ANLAGE 1 (s.u). 29 von Arnim, Hans Herbert, Wohin treibt Europa?, NJW 2007, 2531 (2533). - 9 - der Subsidiarität nach dem im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vorgesehenes Verfahren beachtet wird und in bestimmte Verfahren auf unterschiedliche Weise eingebunden sind. Der maßgebliche Auszug aus dem Vertrag von Lissabon liegt in Anlage 2 bei. In der Denkschrift zum Vertrag von Lissabon würdigt die Bundesregierung dies als wesentliche Integrationsfortschritte und betont die Doppelnatur der Europäischen Union als Bürger- und Staatenunion, die durch den Vertrag von Lissabon bestätigt wird. Die Union stütze sich einerseits unmittelbar auf Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, denen sie gegenüber öffentliche Gewalt ausübt, und andererseits auf die Mitgliedstaaten, deren Regierungen – demokratisch legitimiert – über den Rat Entscheidungsbefugnisse wahrnehmen . Durch die Wahlen zum Europäischen Parlament übten die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger gegenüber der Union unmittelbar demokratische Kontrolle aus, gleichwohl werde die Union nicht zum Bundesstaat sondern verbleibe eine supranationale Integrationsgemeinschaft eigener Art. Ausgewählte Einzelaspekte So wird der Rat im Gesetzgebungsverfahren öffentlich tagen, wodurch Transparenz und Verständlichkeit des legislativen Werdegangs der Unions-Rechtsakte gesteigert werden soll.30 Was die Ausweitung der Materien, über die im Rat mit qualifizierter Mehrheit anstelle der Einstimmigkeit entschieden wird, angeht, wird dadurch einerseits das Mehrheitsprinzip gestärkt, andererseits aber können Regierungen im Rat auch überstimmt werden. Ebenso wie durch die vorangegangenen Reformen der Grundlagenverträge wird durch den Vertrag von Lissabon die Rolle des Europäischen Parlaments im institutionellen Gefüge der Europäischen Union erheblich aufgewertet: „Die im Vertrag über eine Verfassung für Europa vorgesehenen Rechte des EP haben weitestgehend Eingang in den Vertrag von Lissabon gefunden. Das EP könnte somit auch aus diesen Reformen als großer Gewinner hervorgehen. Das Mitentscheidungsverfahren wird zum Regelverfahren für die EU-Rechtsetzung, EP und Rat sind insoweit gleichberechtigt. Bei der Anwendung der Flexibilitätsklausel aus Art. 352 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) muss das EP zukünftig zustimmen, auch sind seine Haushaltsbefugnisse deutlich gestärkt worden. Weiterhin wird die Zustimmung des EP zum rechtsverbindlichen mehrjährigen Finanzrahmen der Union erforderlich . Der neue Vertrag verbessert auch die parlamentarische Kontrolle der Agenturen – insbesondere von Eurojust und Europol. Die Anzahl der Abgeordneten wurde neu festgelegt. Zuzüglich des EP-Präsidenten darf die Anzahl der Vertreter der ca. 490 30 Bundesrat, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 20. Dezember 2007, Drucksache 928/07, S. 140. - 10 - Millionen Unionsbürger künftig 750 nicht überschreiten. Aus Deutschland werden 96 Abgeordnete kommen, die kleinsten Mitgliedstaaten sind mit mindestens sechs Abgeordneten vertreten. Das EP wählt künftig den Präsidenten der Europäischen Kommission . Der Europäische Rat hat bei seinem Personalvorschlag bereits die Ergebnisse der EP-Wahlen zu berücksichtigen. Der künftige Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik , der auch gleichzeitig Vizepräsident der Kommission sein wird, muss sich wie die anderen Mitglieder der Kommission der „Investitur“ unterziehen. Das EP hat für die Personalentscheidungen, die noch 2008 vorbereitet werden, seine Mitsprache eingefordert.“31 Mithin wird das Europäische Parlament als demokratisches Element der Union durch den Vertrag von Lissabon durch zahlreiche Einzelregelungen gestärkt: Hervorzuheben ist dabei in erster Linie die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens, die in legislativer Hinsicht das institutionelle Gleichgewicht vergrößern wird. Durch den gesteigerten Einfluss des Parlaments auf die Wahl zentraler Entscheidungsträger – wie z.B. die Wahl des Kommissionspräsidenten – soll auch die demokratische Anbindung der Exekutive intensiviert werden. Auch seine Haushaltsbefugnisse sind deutlich erweitert. Der Vertrag von Lissabon sieht gegenüber der derzeitigen Rechtslage – insbesondere in Form der Einführung der Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge – eine Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente vor. Vgl. hierzu Anlage 1. Sonderregelungen gelten auch nach dem Vertrag von Lissabon für die parlamentarische Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – und zwar sowohl für die Kontrolle durch das EP als auch durch die nationalen Parlamente: „In einer dem Vertrag beigefügten Erklärung wird darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen zur GASP „die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern“: Während in den übrigen Politikfeldern der Union das Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall und das EP zum gleichberechtigten Legislativorgan neben dem Rat wird, bleibt dieses bei der GASP auch künftig darauf beschränkt, über wesentliche Aspekte vom Rat informiert und dazu angehört zu werden. Indirekt mittels des Budgetrechts sowie durch unverbindliche Stellungnahmen insbesondere des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten kann das EP gleichwohl auch in Zukunft auf die Entscheidungsfindung im Rat einwirken. In seiner Entschließung zum Vertrag von Lissabon betont das EP das Investiturverfahren, dem sich der Hohe Vertreter als Vizepräsident der Kommission zu unterwerfen habe. Der EAD [Europäische Auswärtige Dienst], angesiedelt bei der Kommission, solle vom Hohen Vertreter geleitet werden. Das EP ist zur Einrichtung 31 Das Europäische Parlament, Europa-Thema Nr. 12/08, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, 5. März 2008, http://www.bundestag.btg/ButagVerw/Abteilungen/W/Ausarbeitungen/Einzelpublikationen/Rubrik. php?Rubrik=8. - 11 - des EAD anzuhören. Den nationalen Parlamenten wird durch den Vertrag von Lissabon mit der vorgesehenen Subsidiaritätsprüfung zwar erstmals eine aktive und direkte Rolle im Rechtssetzungsprozess der Union zugewiesen. Im Rahmen der GASP aber, einem traditionell exekutiv geprägten Handlungsbereich, gilt dies nicht. Hier wird auf die Möglichkeit der Stellungnahmen auf der Ebene interparlamentarischer Konferenzen verwiesen. Ohnehin ist die parlamentarische Kontrolle auf mitgliedstaatlicher Ebene unterschiedlich ausgestaltet. Insoweit ist die Ausgangssituation der nationalen Parlamente uneinheitlich. In Deutschland etwa werden auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags Auslandseinsätze der Bundeswehr der Zustimmung des Bundestags bedürfen . Daran wird auch die Möglichkeit der Begründung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit nichts ändern.“32 - Fachbereich Europa - 32 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach dem Vertrag von Lissabon, Europa-Thema der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, Nr. 11/08, 29. Februar 2008, S. 2.