© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 062/20 20 Beihilfenrechtliche Bewertung der Eigenkapitalerhöhung des Bundes bei der Deutschen Bahn AG in der Covid-19-Pandemie Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Beihilfenrechtliche Bewertung der Erhöhung des Eigenkapitals bei der Deutschen Bahn AG in der Covid-19-Pandemie Aktenzeichen: PE 6 - 3000 – 062/20 Abschluss der Arbeit: 28.07.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung und Vorbemerkung 4 2. Überblick über das EU-Beihilfenrecht 4 2.1. Materielles EU-Beihilfenrecht 5 2.2. Formelles EU-Beihilfenrecht 5 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren 5 2.2.2. Freistellung von der Notifizierung und ex-post-Kontrolle 6 2.3. Besondere Situation der Covid-19-Pandemie 7 3. Beihilfenrechtliche Würdigung der Eigenkapitalerhöhung 8 3.1. Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV 8 3.1.1. Die Deutsche Bahn AG als Unternehmen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV 9 3.1.2. Eigenkapitalerhöhung als Begünstigung 9 3.1.3. Staatlichkeit der Mittel und Selektivität der Maßnahme 11 3.1.4. Verfälschung des Wettbewerbs und Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel 11 3.1.5. Zwischenergebnis 12 3.2. Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt 13 3.2.1. Sekundärrechtliche Ausnahmen 13 3.2.2. Art. 93 AEUV als Ausnahme vom Beihilfeverbot 13 3.2.3. Legalausnahmen des Art. 107 Abs. 2 AEUV 13 3.2.3.1. „Außergewöhnliches Ereignis“ im Sinne von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV 14 3.2.3.2. Kausalzusammenhang zwischen wirtschaftlichen Problemen und der Pandemie 16 3.2.3.3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 18 3.2.3.4. Zwischenergebnis 18 3.2.4. Ermessensausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV 18 3.2.5. Anwendbarkeit von Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV 19 3.2.6. Zwischenergebnis 20 3.3. Formelle Voraussetzungen der Eigenkapitalerhöhung 21 4. Ergebnis der Untersuchung 21 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 4 1. Fragestellung und Vorbemerkung Im Zuge der Covid-19-Pandemie hat der Personen- und Güterverkehr in Europa und Deutschland starke finanzielle Verluste erlitten: Laut Informationen der Bundesregierung rechnet die Deutsche Bahn AG über den Verlauf der Pandemie mit Umsatzausfällen von 5 Milliarden Euro in 2020 und weiteren 1,6 Milliarden Euro in 2021.1 Die Deutsche Bahn AG hat trotz der sehr niedrigen Fahrgast - und Güterverkehrszahlen ihr Angebot weiterhin in großen Teilen aufrechterhalten. Die dadurch entstandenen finanziellen Probleme sollen nach dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2 vom 2. Juli 2020 durch die Erhöhung des Eigenkapitals des Bundes um 5 Milliarden Euro teilweise entschärft werden. Die Eigenkapitalerhöhung wird unter anderem durch eine Anhebung der Verschuldungsobergrenze der Deutsche Bahn AG flankiert, welche durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages bereits am 27. Mai 2020 beschlossen wurde.3 Der Fachbereich Europa wurde beauftragt, die finanziellen Maßnahmen bezüglich der Deutschen Bahn AG aus unionsrechtlicher Perspektive zu untersuchen. Gefragt war, welche europarechtlichen Vorgaben, etwa im Wettbewerbsrecht, die Bundesregierung im Zusammenhang mit den finanziellen Hilfen für die Deutsche Bahn AG einhalten muss. Der vorliegende Sachverhalt fällt in den Anwendungsbereich des europäischen Beihilfenrechts der Art. 107 f. AEUV, welches ein Teilgebiet des Wettbewerbsrechts darstellt. Die Erhöhung des Eigenkapitals soll hier im Vordergrund stehen, bei den anderen Maßnahmen ist, soweit ersichtlich, keine beihilfenrechtliche Relevanz ersichtlich. Zunächst wird ein allgemeiner Überblick über die beihilfenrechtlichen Vorschriften des Unionsrechts gegeben. Im Anschluss wird die Rechtmäßigkeit der Eigenkapitalerhöhung am Maßstab dieser Regelungen überprüft. 2. Überblick über das EU-Beihilfenrecht Die Regelungen über staatliche Beihilfen sind in den Art. 107-109 AEUV sind Teil der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln. Das Primärrecht stellt sowohl materielle als auch formelle Voraussetzungen für die unionsrechtskonforme Durchführung von Beihilfen durch die Mitgliedstaaten auf. Neben den explizit primärrechtlich vorgesehenen Vorschriften sind für diese Fragestellung aber auch die besonderen Vorkehrungen der Kommission hinsichtlich der Covid-19 Pandemie zu beachten. 1 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Schienenpersonenverkehr, BT-Drs. 19/20523, S. 4. 2 Gesetz über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2020 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2020), BGBl. I, S. 1669; verabschiedeter Entwurf mit Haushaltsplan in BT- Drs. 19/20000, Haushaltstitel 1202 831 01-742. 3 Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion (BT-Drs. 19/20572, S. 3) ergibt sich, dass die Verschuldungsobergrenze vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 27. Mai 2020 auf 30 Milliarden Euro per 31. Dezember 2019 angehoben wurde, „um der DB AG mehr Spielraum zu geben, Schäden aus der Corona-Krise durch zusätzliche Kredite vom Kapitalmarkt auszugleichen.“ Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 5 2.1. Materielles EU-Beihilfenrecht Den Kern des EU-Beihilfenrechts bildet das an die Mitgliedstaaten gerichtete grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Fehlt eines dieser Merkmale, so liegt keine Beihilfe vor und die Vorgaben des Art. 107 ff. AEUV finden keine Anwendung.4 Sind die Merkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV hingegen erfüllt, so ist dies nicht gleichbedeutend mit einer Unionsrechtswidrigkeit der betreffenden nationalen Maßnahme. Denn das in dieser Vertragsvorschrift geregelte Beihilfeverbot gilt nicht absolut, sondern nur insoweit, als in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist. Zu diesen anderen Bestimmungen zählen zunächst Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV, unter deren Voraussetzungen Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten bzw. als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden können. Im hier relevanten Verkehrsbereich ist zudem die Sonderregelung in Art. 93 AEUV zu beachten. 2.2. Formelles EU-Beihilfenrecht Der Vollzug des EU-Beihilferechts obliegt auf Grundlage von Art. 108 AEUV vor allem der Europäischen Kommission.5 In verfahrenstechnischer Hinsicht sind dabei zwei Ansätze zu unterscheiden : eine primärrechtlich vorgesehene ex-ante-Prüfung (dazu 2.2.1.) und eine sekundärrechtlich geprägte ex-post-Kontrolle (dazu 2.2.2.). 2.2.1. Vorabnotifizierung und Beihilfeverfahren Nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV sowie der sekundärrechtlichen Konkretisierung dieser Bestimmungen in Gestalt der Beihilfenverfahrensordnung (Beihilfe-VerfO)6 sind mitgliedstaatliche Vorhaben zum einen vorab (präventiv) zu überprüfen. Verfahrensrechtlicher Ausgangspunkt ist hierbei die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beihilfen vor ihrer Einführung bei der Kommission anzumelden (Notifizierungspflicht, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV7). Diese prüft sodann, ob eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt und – wenn das der Fall ist – ob sie gerechtfertigt werden kann.8 Bis zum Abschluss des Verfahrens darf der betreffende Mitgliedstaat die Beihilfe 4 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 24.07.2003, Rs. C-280/00, Rn. 74. 5 Zu den wenigen, zum Teil auf Ausnahmesituationen beschränkten Kompetenzen des Rates im EU-Beihilfenrecht nach Art. 107 Abs. 3 lit. e, Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 sowie Art. 109 AEUV, vgl. allgemein, Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007, Rn. 1224 ff. 6 Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV (ABl. 2015 Nr. L 248/9). 7 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 Beihilfe-VerfO (Fn. 6). 8 Vgl. auch Art. 4, 6, 7 Beihilfe-VerfO (Fn.6). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 6 nicht durchführen (sog. Durchführungsverbot, vgl. Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV9). Verstöße hiergegen können zur Aussetzung oder zur vorläufigen Rückforderung bereits gewährter Beihilfen führen und zwar unabhängig von der (noch festzustellenden) materiellen Rechtmäßigkeit der betreffenden Maßnahme.10 Von hoher praktischer Bedeutung sind an dieser Stelle zahlreiche Rechtsakte, in denen die Kommission einerseits die beihilferechtliche Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV und andererseits ihre Ermessenspraxis insbesondere zur Auslegung des Art. 107 Abs. 3 AEUV oder Art. 93 AEUV verschriftlicht hat, um die Rechtssicherheit und Transparenz ihres Entscheidungsprozesses zu erhöhen.11 Zu diesen Rechtsakten, welche dem soft law zugerechnet werden können, gehören überwiegend nicht verbindliche Maßnahmen, die – ähnlich wie nationale Verwaltungsvorschriften – zumindest eine Selbstbindung der Kommission begründen.12 Diese nichtverbindlichen Maßnahmen werden in Form von (zum Teil bereichsspezifischen ) Leitlinien, Unionsrahmen und Mitteilungen13 erlassen. 2.2.2. Freistellung von der Notifizierung und ex-post-Kontrolle Neben der primärrechtlich vorgegebenen (präventiven) ex-ante Kontrolle eröffnet das Primärrecht die Möglichkeit, Beihilfen auch ohne vorherige Anmeldung und Kommissionsüberprüfung zu gewähren, soweit bestimmte vorab bekannte materielle und formale Anforderungen eingehalten werden.14 Diese Anforderungen ergeben sich v. a. aus sog. Freistellungsverordnungen, die die Kommission u. a. auf Grundlage von Art. 108 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit einer Ermächtigungsverordnung des Rates auf Grundlage des Art. 109 AEUV erlassen kann.15 Bei Einhaltung der jeweiligen Vorgaben werden die Mitgliedstaaten von der Pflicht zur (vorherigen) Notifizierung des Beihilfevorhabens und seiner Vorab-Kontrolle nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV freigestellt. Die Kommission kann die ihr gleichwohl anzuzeigende Gewährung solcher Beihilfen jedoch 9 Vgl. auch Art. 3 Beihilfe-VerfO (Fn. 6). 10 Vgl. Art. 13 Beihilfe-VerfO (Fn. 6). Ist eine Beihilfe materiell nicht rechtfertigungsfähig, ist sie endgültig zurückzufordern , vgl. Art. 16 Beihilfe-VerfO (Fn. 6). 11 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV, Rn. 4. 12 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-288/96 (Deutschland/Kommission), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 7.03.2002, Rs. C-310/99 (Italien/Kommission), Rn. 52. 13 Ein Gesamtüberblick über die verschiedenen Rechtsakte findet sich auf den Seiten der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission (unveränderter Stand vom 15.04.2014, letzter Abruf am 16.7.2020). 14 Dieser Bereich des Beihilferechts wurde im Zuge der 2014 durchgeführten Beihilferechtsreform („State Aid Modernisation “) ausgebaut, vgl. Soltész, Das neue europäische Beihilferecht, NJW 2014, S. 3128 (3130). 15 Bei der Verordnung des Rates auf Grundlage von Art. 109 AEUV handelt es sich um die Verordnung (EU) 2015/1588 des Rates vom 13. Juli 2015 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen, ABl. 2015 Nr. L 248/1. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 7 nachträglich kontrollieren. Die derzeit geltende Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) fasst verschiedene Freistellungstatbestände zusammen. 16 2.3. Besondere Situation der Covid-19-Pandemie Angesichts der sich zuspitzenden Lage in den EU-Mitgliedstaaten hat die Kommission am 13. März 2020 eine Mitteilung über die koordinierte wirtschaftliche Reaktion auf die Covid-19- Pandemie veröffentlicht.17 Darin wird neben den drohenden Gefahren für die Gesundheit auch auf die Folgen für die Wirtschaft hingewiesen, die durch alle relevanten Entscheidungsträger so gering wie möglich gehalten werden sollen. In Abschnitt 5 wird die Notwendigkeit staatlicher Beihilfen unterstützt, die jedoch mit dem Unionsrecht vereinbar sein müssen. Wenige Tage später hat die Kommission die Instrumentarien des Beihilfenrechts an die aktuelle Situation angepasst. Insbesondere der sog. Befristete Rahmen vom 19. März 202018 erläutert detailliert die Genehmigungspraxis der Kommission während der Pandemie. Eigentlich stabile Unternehmen würden auf unvorhersehbare und unverschuldete Weise schwer getroffen und erlitten erhebliche Schäden, die ihre Existenzfähigkeit bedrohten, weshalb dringend Maßnahmen ergriffen werden müssten.19 Die Kommission hält gezielte öffentliche Unterstützung für erforderlich, um sicherzustellen, dass auf den Märkten weiterhin genügend Liquidität zur Verfügung steht, der Schaden für gesunde Unternehmen bekämpft wird und die Kontinuität der Wirtschaftstätigkeit während und nach der Pandemie gewährleistet wird.20 Im Befristeten Rahmen wird vor allem auf die restriktive Anwendung der Erlaubnisregelungen des Art. 107 Abs. 2 lit. b, Abs. 3 lit. b AEUV hingewiesen.21 Im Bereich der Ermessensausnahme in Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV werden einige von der Kommission als genehmigungsfähig erachtete Beihilfenprogramme skizziert. Unter anderem finden sich Regelungen zu Darlehen, direkten Zuschüssen oder Rekapitalisierungsmaßnahmen. Diese Informationen der Kommission sind zwar 16 Siehe hierzu Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, (ABl. 2014 Nr. L 187/1), letzte konsolidierte Fassung vom 10.7.2017. Vgl. dort die Art. 52 ff. zu den Infrastrukturfreistellungstatbeständen. 17 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, die Europäische Zentralbank, die Europäische Investitionsbank und die Euro-Gruppe vom 13. März 2020, COM (2020) 112 final. 18 Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19 vom 19. März 2020 (ABl. 2020, C 91, I/1) mit seinen Änderungen C (2020) 2215 vom 3. April 2020 und C (2020) 3156 vom 8. Mai 2020 und C (2020) 4509 vom 29. Juni 2020, eine konsolidierte Fassung findet sich auf der Seite der Generaldirektion Wettbewerb; dazu Bartosch/Berghofer, Die Covid-19-Beihilfemaßnahmen in Deutschland, EuZW 2020, S. 453 ff.; Soltész/Hoffs, Staatliche Beihilfen im Rahmen der Coronakrise, NZKartR 2020, S. 189 ff.; Klafki, Der Befristete Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19 der EU-Kommission, seine Umsetzung in Deutschland und Schlussfolgerungen aus seiner Anwendung, EWS 2020, S. 121 ff. 19 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Rn. 8. 20 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Rn. 9. 21 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Rn. 15 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 8 lediglich dem soft law zuzuordnen, sorgen aber trotzdem für eine gewisse Selbstbindung der Kommission im Genehmigungsverfahren. In verfahrenstechnischer Hinsicht teilt die Kommission mit, dass die Mitgliedstaaten in enger Kooperation mit ihr die notwendigen Verfahrensschritte einleiten, sodass die Maßnahmen so schnell wie möglich geprüft und genehmigt werden können.22 In den letzten Monaten sind bereits zahlreiche Beihilfeprogramme durch die Europäische Kommission genehmigt worden.23 3. Beihilfenrechtliche Würdigung der Eigenkapitalerhöhung Um die Eigenkapitalerhöhung vor dem Hintergrund dieses unionsrechtlichen Rahmens zu würdigen ist zunächst zu überprüfen, ob überhaupt die Tatbestandsmerkmale einer Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegen (dazu 3.1.). Im Anschluss daran soll eine etwaige Rechtfertigungsmöglichkeit des Verstoßes gegen das grundsätzliche Verbot von Beihilfen geprüft werden (dazu 3.2.). Abschließend werden noch die formellen Voraussetzungen des Beihilfeverfahrens angesprochen (dazu 3.3.). 3.1. Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV Bei der Eigenkaptialerhöhung um 5 Milliarden Euro müsste es sich um eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV handeln. Dort wird der sachliche Anwendungsbereich der Art. 107 f. AEUV auf staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährleistete Beihilfen gleich welcher Art beschränkt , die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder ihn zu verfälschen drohen. Soweit diese den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen, sind sie mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Während des ständigen Modernisierungsprozesses des europäischen Beihilfenrechts wurden die Tatbestandsmerkmale immer differenzierter und ausführlicher durch die Unionsgerichte ausgeformt . Die Kommission hat diese Rechtsprechung, bzw. bei offenen Fragen ihre eigene Interpretation und Genehmigungspraxis in der sog. Beihilfemitteilung von 201624 zusammengefasst. Diese soll neben der europarechtlichen Fachliteratur als Anknüpfungspunkt für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale dienen. 22 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Rn. 42. 23 Die bisherigen Entscheidungen der Kommission sind in einem Überblick auf der Website der Generaldirektion Wettbewerb zusammengestellt. 24 Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Artikels 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, sog. Beihilfemitteilung (ABl. 2016, C 262/01). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 9 3.1.1. Die Deutsche Bahn AG als Unternehmen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs umfasst der Begriff des Unternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Die innerstaatliche rechtliche Anerkennung ist irrelevant, es kommt lediglich auf die wirtschaftliche Tätigkeit an. 25 Bei der Deutschen Bahn AG handelt es sich um einen Konzern, dem zahlreiche Tochterunternehmen angehören.26 Sie steht vollständig im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland, ist aber als privatwirtschaftliches Unternehmen in Form einer Aktiengesellschaft organisiert.27 Diese erbringt , insbesondere im Personen- und Güterverkehr, Dienstleistungen am Markt und übt somit eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der oben genannten Definition aus. Es handelt sich bei der Deutschen Bahn AG um ein Unternehmen nach Art. 107 Abs. 1 AEUV. 3.1.2. Eigenkapitalerhöhung als Begünstigung Im nächsten Schritt ist zu überprüfen, ob es sich bei der Eigenkapitalerhöhung durch das Nachtragshaushaltsgesetz um eine Begünstigung im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine Begünstigung jede wirtschaftliche Vergünstigung , die ein Unternehmen unter normalen Marktbedingungen, d.h. ohne Eingreifen des Staates, nicht erhalten könnte.28 Grund oder Ziel des staatlichen Handelns sind bei der Bewertung nicht heranzuziehen, es geht lediglich um die Vorteilhaftigkeit der Auswirkungen der Maßnahme auf das Unternehmen. 29 Tritt der Staat gegenüber einem begünstigten Unternehmen nicht als (subventionsgewährender) Hoheitsträger auf, sondern – wie hier – als Eigentümer des betreffenden Unternehmens und damit dem Grunde nach wie ein privater Investor, so unterliegt er gleichwohl dem Beihilferecht. 30 Ob eine in diesem Zusammenhang vorzunehmende wirtschaftliche Transaktion eine Begünstigung im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt, hängt auch hier davon ab, ob sie normalen Marktbedingungen entspricht oder ob dies nicht der Fall ist und so dem betreffenden Unternehmen ein (finanzieller) Vorteil verschafft wird.31 25 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 7, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 26 Siehe zur Konzernstruktur die Website der Deutschen Bahn AG. 27 „Integrierter Bericht 2019“, S. 59 (zuletzt abgerufen am 10.07.2020). 28 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 66, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 29 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 67, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 30 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 73, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 31 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 73, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 10 Um dies zu beurteilen greift die Europäische Kommission den Unionsgerichten folgend auf den Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers (oder auch private-investor-test) zurück.32 Mithilfe dieses Kriteriums soll aus ex-ante-Perspektive geprüft werden, ob der Staat einem Unternehmen einen Vorteil gewährt hat, indem er sich in Bezug auf eine bestimmte Maßnahme nicht wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter verhalten hat. Dabei ist es unerheblich, ob die Maßnahme für die öffentliche Stelle ein sinnvolles Mittel zur Verfolgung von Gemeinwohlzielen darstellt, es kommt nur darauf an, ob die öffentliche Stelle sich so verhalten hat, wie es ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsbeteiligter in ähnlicher Lage getan hätte. Ist dies nicht der Fall, so hat das Empfängerunternehmen einen Vorteil erlangt, den es unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte und befindet sich in einer günstigeren Lage als seine Wettbewerber.33 Die Frage ist somit, ob ein unter normalen Marktbedingungen handelnder privater Kapitalgeber von vergleichbarer Größe in ähnlicher Lage zu der fraglichen Investition hätte bewegt werden können.34 Dieses Kriterium erlaubt es allerdings auch, dass längerfristige strategische Überlegungen und Rentabilitätsrechnungen zur Grundlage einer Entscheidung gemacht werden („Long- Term-Investor-Maßstab“). Der Hoheitsträger soll nicht bloß dem Börsenkurs oder kurzfristigen Renditen verpflichtet sein.35 Nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte verfügt die Kommission bei der Beurteilung dieses Kriteriums über einen weiten Einschätzungsspielraum. Da der private-investor-test eine komplexe ökonomische Beurteilung erfordert, ersetzen die Gerichte die Entscheidung der Kommission nicht durch ihre eigene. Ihre Kontrolle beschränkt sich deshalb auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften , die zutreffende Ermittlung des Sachverhaltes und dessen korrekte Würdigung so wie das Vorliegen von Ermessensmissbrauch.36 Hier kann also keine abschließende Bewertung erfolgen, da einerseits ökonomisch relevante Informationen nicht vollständig vorliegen und selbst bei Kenntnis der genauen Umstände letztlich die Einschätzung der hierfür zuständigen Kommission maßgebend ist. Für vorliegende Ausarbeitung wird das Vorliegen einer Begünstigung unterstellt. 32 Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 107 AEUV Rn. 11. 33 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 76, 78, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 34 Bär-Bouyssière, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 107 Rn. 11. 35 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 21.03.1991, Rs. C-303/88 Rn. 21; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 107 Rn. 12. 36 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5 Auflage 2016, Rn. 13; Nowak, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017 Rn. 27; detaillierter zur Kontrolldichte der Unionsgerichte W. Schroeder/Sild, Kontrolldichte im EU-Beihilferecht, EuZW 2014, S. 12 ff., die ein leichte Tendenz hin zu einer stärker materiell ausgesprägten Überprüfung in einigen Urteilen des EuG erkennen. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 11 3.1.3. Staatlichkeit der Mittel und Selektivität der Maßnahme Die Staatlichkeit der Mittel ist immer dann gegeben, wenn sich die (unterstellte) Begünstigung aus Haushaltsmitteln speist und wenn deren Gewährung dem Staat unmittelbar zuzurechnen ist.37 Das ist hier der Fall, da es sich um Mittel aus dem Bundeshaushalt handelt und die daraus zu finanzierende Eigenkapitalerhöhung durch den Bund als gesellschaftsrechtlichen Eigentümer des Unternehmens Deutsche Bahn AG erfolgen soll. Selektiv ist eine Maßnahme, wenn sie nur bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen zugutekommt. Diese Voraussetzung bedarf vor allem dann einer gesonderten Prüfung, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die etwa in Form von Steuervergünstigungen abstrakt-genereller Natur sind und eine Vielzahl von Unternehmen begünstigen.38 Handelt es sich hingegen – wie hier – um eine individuelle Begünstigung eines einzigen Unternehmens, welches dazu jedenfalls zu großen Teilen mit anderen (Eisenbahn-)Unternehmen in Konkurrenz steht, so ist von der Selektivität der Maßnahme auszugehen.39 Hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale der Staatlichkeit der Mittel und der Selektivität der Maßnahme bestehen somit keine Zweifel. 3.1.4. Verfälschung des Wettbewerbs und Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel An das Vorliegen einer Wettbewerbsverfälschung und an die Feststellung von Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel werden in der Regel keine hohen Anforderungen gestellt, sofern die vorgenannten Beihilfemerkmale verwirklicht sind und es sich nicht um rein lokale oder kommunale Vorhaben handelt.40 37 Beihilfemitteilung (Fn. 24), Rn. 48 bzw. 39, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 38 Siehe hierzu die detaillierten Ausführungen in der Beihilfemitteilung (Fn. 24), Rn. 119 ff., jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 39 Bär-Bouyssière, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 107 AEUV Rn. 13; Nowak, in: Nowak/Pechstein /Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 107 AEUV Rn. 39. 40 Vgl. EuGH, Urt. v. 08.05.2013, Rs. C-197/11 und C-203/11 (Libert u. a), Rn. 76,77; EuGH, Urt. v. 17.09.1980 Rs. C-730/79 (Phillip Morris), Rn. 11. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 12 Ersteres liegt – zumindest aus Sicht der Praxis – dann vor, wenn der Staat einem Unternehmen in einem liberalisierten Wirtschaftszweig, in dem Wettbewerb herrscht oder herrschen könnte, einen finanziellen Vorteil gewährt.41 Es reicht schon aus, wenn eine Maßnahme zur Wettbewerbsverfälschung nur geeignet ist.42 Da auf dem Eisenbahnmarkt grundsätzlich Wettbewerb mit anderen Unternehmen als der Deutschen Bahn AG besteht43 aber nur dieser ein finanzieller Vorteil durch die Eigenkapitalerhöhung gewährt wird, kann in Anbetracht der geringen Anforderungen dieses Tatbestandsmerkmals von einer Verfälschung des Wettbewerbs ausgegangen werden. Damit eng verbunden ist die Frage, ob der Handel zwischen den Mitgliedstaaten durch die diese Wettbewerbsverfälschung beeinträchtigt wird. Tatsächliche Auswirkungen auf den Handel sind nicht notwendig, das Potenzial solcher Auswirkungen ist ausreichend.44 Allerdings dürfen diese Auswirkungen nicht nur bloß hypothetischer Natur sein oder vermutet werden, es muss belegbare Anhaltspunkte dafür geben.45 Die Unionsgerichte prüfen insbesondere, ob eine von einem Mitgliedstaat gewährte Finanzhilfe die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen Wettbewerbern im unionsinternen Handel stärkt.46 Verkehrsunternehmen stehen im gesamten Binnenmarkt zueinander im Wettbewerb. Die Begünstigung der Deutschen Bahn AG kann ihre Position als Verkehrsunternehmen, welches auch in anderen Mitgliedstaaten aktiv ist, durchaus stärken. Es ist mithin davon auszugehen, dass es zu Wettbewerbsverfälschungen und Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel kommt, sodass die beiden Tatbestandsmerkmale als erfüllt angesehen werden können. 3.1.5. Zwischenergebnis Bei der Eigenkapitalerhöhung handelt es sich um eine vom Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasste Maßnahme. 41 Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 187 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 42 Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2016, Art. 107 Abs. 1 AEUV, Rn. 299 ff.; Nowak, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 107 Rn. 42. 43 Siehe beispielsweise Bundesnetzagentur, Jahresbericht 2019, S. 118, der für das Jahr 2018 den Marktanteil der bundeseigenen Eisenbahnverkehrsunternehmen im Gütertransport auf 49 % und den der damit in Wettbewerb stehenden Eisenbahnverkehrsunternehmen auf 51 % beziffert. 44 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 190 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 45 Vgl. Beihilfemitteilung (Fn. 24) Rn. 194 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 46 Siehe nur EuGH, Urt. v. 14.1.2015, Rs. C-518/13 Rn. 66. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 13 3.2. Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt Das europäische Primärrecht sieht Ausnahmen von dem grundsätzlichen Beihilfenverbot nach Art. 107 Abs. 1 AEUV vor. Einerseits sind in Art. 107 Abs. 2 AEUV sog. Legalausnahmen vorgesehen , andererseits ermöglicht Art. 107 Abs. 3 AEUV Ausnahmen im Ermessen der Kommission. Vor diesen allgemeinen Rechtfertigungsmöglichkeiten sind sekundärrechtliche Ausnahmetatbestände sowie die für den Verkehrsbereich spezielle Regelung des Art. 93 AEUV zu prüfen. 3.2.1. Sekundärrechtliche Ausnahmen Gemäß Art. 108 Abs. 4 AEUV kann die Kommission Verordnungen zu den Arten von staatlichen Beihilfen erlassen, für die der Rat nach Art. 109 AEUV festgelegt hat, dass sie von dem Verfahren nach Art. 108 Abs. 3 AEUV ausgenommen werden sollen. Maßgebliche Verordnung in diesem Bereich ist die AGVO.47 In dieser ist aber kein einschlägiger Freistellungstatbestand für diese Situation vorgesehen. Andere Freistellungstatbestände sind nicht ersichtlich. Eine spezielle Regelung des Sachverhalts durch einschlägiges Sekundärrecht ist nicht erfolgt. Eine Rechtfertigung kommt nur über die primärrechtlichen Ausnahmetatbestände in Betracht. 3.2.2. Art. 93 AEUV als Ausnahme vom Beihilfeverbot Neben den allgemeinen Vorschriften in Art. 107 f. AEUV besteht in Art. 93 AEUV eine weitere Ausnahme vom grundsätzlichen Beihilfeverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV im Verkehrssektor. Gemäß Art. 93 AEUV sind Beihilfen mit den Verträgen vereinbar, „die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen entsprechen.“ Da sich diese Beihilfe nicht im Kontext der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen bewegt, ist der sachliche Anwendungsbereich von Art. 93 Alt. 2 AEUV nicht eröffnet. Koordinierungsbeihilfen nach Art. 93 Alt. 1 AEUV sind Beihilfen, die auf die Sicherstellung einer sinnvollen Aufgabenteilung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern abzielen und somit der Effizienzsteigerung des gesamten Verkehrssystems dienen.48 Gegenstand dieser Untersuchung sind Beihilfen, welche die Verluste eines Eisenbahnverkehrsunternehmens in den erheblich veränderten Transportbedingungen während einer Pandemie kompensieren sollen – die Stoßrichtung ist mithin eine ganz andere. Art. 93 AEUV ist deshalb nicht einschlägig. 3.2.3. Legalausnahmen des Art. 107 Abs. 2 AEUV Legalausnahmen vom Beihilfenverbot sind in drei Fällen vorgesehen: Für Beihilfen sozialer Art an einzelne Verbraucher, wenn sie ohne Diskriminierung nach der Herkunft der Ware gewährt 47 Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (Fn. 16). 48 Fehling, in: van der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 93 AEUV Rn. 20. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 14 werden (lit. a), für Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind (lit. b) und für Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland , soweit sie zum Ausgleich der der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind (lit. c). Die Kommission hat hinsichtlich dieser Ausnahmemöglichkeit keinen Ermessensspielraum, jedoch einen gewissen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale der Ausnahmen.49 Zunächst wird geprüft, ob es sich bei der Covid-19-Pandemie um ein „außergewöhnliches Ereignis “ im Sinne von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV handelt (dazu 3.2.3.1.), danach ist zu untersuchen, ob es einen ausreichenden Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und dem entstandenen Schaden bei der Deutschen Bahn AG gibt (dazu 3.2.3.2.). Zuletzt wird die Verhältnismäßigkeit der Beihilfenmaßnahme untersucht (dazu 3.2.3.3.). 3.2.3.1. „Außergewöhnliches Ereignis“ im Sinne von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV Nach Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV ist eine Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dient, „die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse“ verursacht wurden. Als Ausnahmetatbestand ist dieser restriktiv auszulegen.50 Für den Begriff der Naturkatastrophe gibt es keine allgemeingültige Definition, es muss jedes Mal erneut ermittelt werden, ob eine solche vorliegt.51 Gleichgestellt damit sind „sonstige außergewöhnliche Ereignisse“, welche ebenfalls nicht allgemein definiert werden können.52 Mangels klassischer Naturkatastrophe ist hier das Vorliegen von Letzterem zu überprüfen. Die Kommission nimmt eine Einzelfallprüfung vor. Dabei wendet sie folgende Kriterien kumulativ an: Das Ereignis muss unvorhersehbar oder zumindest schwer vorhersehbar sein, es muss erheblich sein, 49 EuG, Urt. v. 15.12.1999, verb. Rs. T-132/96 und T-143/96, Rn. 148; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 107 AEUV Rn. 42; Martenczuk, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrechts , 7. Auflage 2015. Art. 107 AEUV Rn. 197. 50 EuGH, Urt. v. 19.09.2000, Rs. C-156/98, Rn. 49; EuGH, Urt. 29.04.2004, Rs. C-277/00, Rn. 20; Nowak, in: Nowak /Pechstein/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/AEUV/GRC, 1. Auflage 2017, Art. 107 Rn. 51; gegen eine restriktive Auslegung, die allein auf dem Regel-Ausnahme-Verhältnis gründet Penner, in: Birnstiel/Bungenberg /Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, 2013, Kap. 1 Rn. 1000. 51 Erfasst sind auf jeden Fall schwere Unwetter, Wirbelstürme, Überschwemmungen, anhaltende Trockenheit, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Brandkatastrophen aber auch epidemieartige Krankheiten für Mensch und Tier oder witterungsbedingte Ernteverluste, vgl. Bär-Bouyssière, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 107 Rn. 36 mwN; für Beihilfen nach der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (Fn. 16) sind in Art. 50 AGVO einige Beispiele für Naturkatastrophen als Anhaltspunkte genannt. 52 Beispiele sind Krieg, schwere Terroranschläge, Terrorakte, spezifischer die durch sie verursachte Sperrung des Luftraums der USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001, vgl. Bär-Bouyssière, in: Schwarze, EU-Kommentar , 4. Auflage 2019, Art. 107 Rn. 36 mwN. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 15 insbesondere bezogen auf seine wirtschaftlichen Auswirkungen und schließlich außergewöhnlich sein, also deutlich von den Bedingungen abweichen, unter denen der Markt normalerweise funktioniert.53 Ob es sich bei der Covid-19-Pandemie um ein solches Ereignis handelt, ist im Folgenden zu untersuchen . Sowohl die Rechtsprechung der Unionsgerichte als auch die Genehmigungspraxis der Kommission werden grundsätzlich von der Literatur akzeptiert. Diskussionen betreffen zumeist Fälle großer Streiks oder Wirtschaftskrisen. Vor allem letztere werden als Ausdruck der Marktkräfte angesehen, denen sich jedes Unternehmen stellen müsse.54 Außergewöhnliche Konjunkturbelastungen wiederum sind in ihrer Anerkennungsfähigkeit als besonderes Ereignis teilweise umstritten, im Zusammenhang mit der Euro-Finanzkrise wurde aber vertreten, dass außergewöhnlicher Ereignisse von außen auf den Wirtschaftskreislauf einwirken müssen und interne Verzerrungen und Krisensituationen nicht ausreichen.55 Bei der Pandemie und der dadurch bedingten Wirtschaftskrise handelt es sich jedoch um genau so einen exogenen Einfluss auf die Wirtschaft: Durch äußere Umstände, weltweit steigende Infektionszahlen einer neuartigen Krankheit , wird eine wirtschaftliche Aktivität in erheblicher Weise beeinträchtigt. Die Kommission qualifiziert die Covid-19-Pandemie bereits seit Mitte März als ein „außergewöhnliches Ereignis“ im Sinne dieser Norm ein und gesteht den Mitgliedstaaten zu, auf Grundlage von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV staatliche Beihilfenprogramme aufzulegen, die vorbehaltlich ihrer Genehmigung Unternehmen für Verluste entschädigen, die ihnen durch dieses außergewöhnliche Ereignisse, entstanden sind.56 Dies spiegelt sich auch in ihrer Entscheidungspraxis wieder, wenn sie beispielsweise in einer Entscheidung vom 12. März 202057 erklärt, es handele sich bei der Pandemie um ein „sonstiges außergewöhnliches Ereignis“, welches unter die Legalausnahme nach Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV falle.58 Zwar ging es bei der dort gefällten Entscheidung um ein anders ausgestaltetes Beihilfeprogramm der dänischen Regierung für ausgefallene Großveranstaltungen, die Einordnung der Covid-19-Pandemie in diesem Kontext kann jedoch übernommen werden. 53 Mitteilung der Kommission vom 13. März 2020 (Fn. 17), S. 10 ff. sowie der dazu gehörige Anhang 3. 54 So grundsätzlich auch der EuGH, Urt. v. 23.2.2006, Rs. C-346/03 u. C-529/03, Rn. 80; Penner, in: Birnstil/Bungenberg /Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, 2013, Kap. 1 Rn. 1048. 55 Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2016, Art. 107 Abs. 2 AEUV Rn. 20, in Anbetracht des systematischen Zusammenhangs mit Naturkatastrophen; Fehling, EuR 2010, 598 (607). 56 Insbesondere geht es um Unternehmen in besonders betroffenen Sektoren, wie z.B. Verkehr, Tourismus und Gastgewerbe, Mitteilung der Kommission vom 13. März 2020 (Fn. 17), S. 10 ff. sowie der dazu gehörige Anhang 3; so auch der Befristete Rahmen (Fn. 17) Rn. 15. 57 State Aid SA.56685 (2020/N) – DK – Compensation scheme for cancellation of events related to COVID-19, COM (2020) 1698 final. 58 Siehe insbesondere Schumm/Klumb, in: Schmidt, COVID-19 – Rechtsfragen zur Corona-Krise, 1. Auflage 2020, § 15 Rn. 131. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 16 In ihrer oben genannten Kommissionsentscheidung zu einem dänischen Beihilfenprogramm stützt die Kommission ihre Einschätzung auf die rapide Ausbreitung des Virus in den EU-Mitgliedstaaten . Einige Wirtschaftsbereiche seien stärker von Infektionsschutzmaßnahmen betroffen als andere. Die gesamtwirtschaftlichen Effekte stellen eine erhebliche und weitreichende Störung verschiedener Branchen dar. Mangels vorhandener Impfstoffe oder anderen Heilungsmethoden lasse sich von einer außergewöhnlichen unvorhersehbaren Situation sprechen.59 Insgesamt qualifiziert die Kommission also die Covid-19-Pandemie als „außergewöhnliches Ereignis “ im Sinne von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV, welches bei Vorlage der weiteren Voraussetzungen zu einer Legalausnahme vom grundsätzlichen Beihilfeverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV führen kann. 3.2.3.2. Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Problemen und der Pandemie Zwischen „außergewöhnlichem Ereignis“ und auszugleichendem Schaden muss ein Kausalzusammenhang bestehen.60 Die auszugleichenden finanziellen Einbußen der Deutschen Bahn AG dürfen nur solche sein, die unmittelbar durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufen worden sind. Bedingt durch den Ausbruch des Virus in Deutschland wurden verschiedene Empfehlungen ausgesprochen und gesetzliche Anordnungen durch die Landesregierungen in Koordination mit der Bundesregierung getroffen um Infektionen innerhalb der Bevölkerung zu vermeiden. Eine grundlegende Maßnahme waren die Kontaktbeschränkungen, mit denen soziale Kontakte auf ein absolutes Minimum begrenzt wurden.61 Bekanntermaßen sollte und soll insbesondere ein Abstand zwischen Menschen, vor allem in geschlossenen Räumen, eingehalten werden.62 Da dies in Personenverkehrszügen nur bedingt möglich ist und sich dort potenziell viele Menschen an einem Ort aufhalten und generell das Reiseaufkommen sank, gingen die Passagierzahlen in erhebliche Weise zurück.63 59 State Aid SA.56685 (2020/N) – DK – Compensation scheme for cancellation of events related to COVID-19, COM (2020) 1698 final. 60 EuGH, Urt. v. 5.8.2004, Rs. C-278/00, Rn. 82; umfassend zum Kausalzusammenhang Tjepkema, Damages Granted by the State and their Relation to State Aid Law, EStAL 2013, 478 (480 ff.). 61 Siehe nur § 1 Abs. 1 SARS-CoV-2-Infektionsschutzsverordnung des Landes Berlin vom 23. Juni 2020 idF vom 26. Juni 2020 (GVBl. S. 562 ff.). 62 § 1 Abs. 2 SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung Berlin (Fn. 61). 63 Das ZDF sprach am 6. April 2020 von einem Rückgang um ca. 90 % des üblichen Fahrgastaufkommens, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-bahn-reiseverkehr-passagierzahlen-100.html (zuletzt abgerufen am 10.7.2020) Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 17 Die Deutsche Bahn AG hat trotz der Kontaktbeschränkungen ein grundlegendes Angebot an Verbindungen aufrechterhalten, damit Menschen in sog. systemrelevanten Berufen wie im Gesundheitsbereich trotz der Krise innerhalb Deutschlands reisen können.64 Die Bundesregierung begrüßte dieses Vorgehen, die Entscheidung darüber lag ihren Angaben nach allerdings in voller Verantwortung der Deutschen Bahn AG als Unternehmen.65 Wegen des Rückgangs der Passagiere sind die Einnahmen mangels hinreichenden Fahrkartenverkaufs erheblich zurückgegangen. 66 Zu klären ist nun, ob dies als hinreichender Kausalzusammenhang bewertet werden kann. Dabei werden folgende Aspekte berücksichtigt: Durch die Pandemie wurde der Schienenpersonenverkehr weder unmöglich gemacht noch verboten. Es gab lediglich Vorschriften, je nach Bundesland mit unterschiedlich intensiver Bindungswirkung, soziale Kontakte im privaten als auch dienstlichen Bereich zu unterlassen. Diese Gebote haben dazu geführt, dass kaum noch Bahnreisen angetreten wurden und Fahrkarten dafür erworben wurden. Die Deutsche Bahn hätte darauf zum Beispiel mit einer Beschränkung des Angebotes reagieren und so die Betriebskosten zu reduzieren können. Auf der anderen Seite bietet die Deutsche Bahn AG mit den dazugehörigen Unternehmen den größten Teil der Eisenbahninfrastruktur an und sorgt für eine flächendeckende Versorgung mit Verkehrsdienstleistungen. Diese können auch während der Covid-19-Pandemie als essentiell oder unabdingbar gelten. Die Europäische Kommission stellt zurzeit keine besonders hohen Anforderungen an den in Frage stehenden Kausalzusammenhang. Ein Informationsschreiben der Kommission67 für Notifizierungsverfahren bei Beihilfen nach Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV für Beihilfen im Verkehrsbereich gibt besondere Voraussetzungen vor, insbesondere muss der Grund für die Notwendigkeit einer Beihilfe mit umfassenden Informationen versehen werden. Aufgeführt ist dort als Grund für die finanziellen Einbußen von Verkehrsinformationen auch die fehlende Nachfrage. Es ist insgesamt möglich, einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der Covid-19- Pandemie und den finanziellen Einbußen der Deutschen Bahn AG herzustellen. Auch die Europäische Kommission schließt dies nicht von vornherein aus. 64 Nach Angaben der Deutschen Bahn wurde von Anfang März bis Mitte April 2020 ca. 75 % des regulären Fahrplanangebots im Schienenpersonenverkehr realisiert, vgl. Verkehrspolitik und Coronavirus – Entwicklung der verschiedenen Verkehrsträger, BT-Drs. 19/20699, S. 3. 65 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Schienenpersonenverkehr, BT-Drs. 19/20523, S. 4. 66 Laut Informationen der Bundesregierung rechnet die Bahn insbesondere über den weiteren Verlauf der Pandemie mit Umsatzausfällen von 5 Milliarden Euro in 2020 und weiteren 1,6 Milliarden Euro in 2021, vgl. Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Schienenpersonenverkehr, BT-Drs. 19/20523, S. 4. 67 Notification template for State aid measures notified under Article 107(2)(b) TFEU in the Covid-19 outbreak context (zuletzt abgerufen 13.7.2020). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 18 3.2.3.3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Eine nach Art. 107 Abs. 2 AEUV genehmigungsfähige Beihilfe muss in verhältnismäßiger Weise ausgestaltet sein. Sie darf nicht über das zur Behebung des Schadens erforderliche hinausgehen und nur nicht für andere Zwecke verwendet werden.68 Der Begründung des Nachtragshaushaltsgesetzes zufolge soll die Eigenkapitalerhöhung in Höhe von 5 Milliarden Euro dazu dienen, die Schäden der Covid-19-Pandemie auszugleichen.69 Um den Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 2 AEUV zu genügen, dürfen diese zusätzlichen finanziellen Mittel nur für diesen Zweck verwendet werden. Ob die Eigenkapitalerhöhung in Höhe von 5 Milliarden Euro ein verhältnismäßiger Schritt ist, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für die Deutsche Bahn AG zu kompensieren, erfordert eine detaillierte Untersuchung der wirtschaftlichen Situation der Begünstigten und den zu erwartenden Schäden der noch andauernden Krisensituation. Eine abschließende Bewertung kann daher an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. 3.2.3.4. Zwischenergebnis Nach diesen Ausführungen erscheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Eigenkapitalerhöhung des Bundes über Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar ist. Bei der Covid-19-Pandemie handelt es sich nach Einschätzung der Kommission um ein „außergewöhnliches Ereignis“, dessen Folgen durch staatliche Beihilfen abgemildert werden können, wenn sich mit diesem ein hinreichender Kausalzusammenhang begründen lässt und die Beihilfenmaßnahme in verhältnismäßiger Weise ausgestaltet ist. 3.2.4. Ermessensausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV Anders als bei den Legalausnahmen nach Art. 107 Abs. 2 AEUV hängt die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 Abs. 3 AEUV von einer Entscheidung durch die Kommission ab. Ein zweistufiges Prüfprogramm wird vorgegeben: Wenn die tatbestandlichen Ausnahmevoraussetzungen von lit. a – lit. d vorliegen, darf die Kommission ihren Ermessensspielraum nutzen.70 Dieser Ermessensspielraum wird sehr weit gefasst und soll nach Maßgabe von wirtschaftlichen und sozialen Wertungen ausgefüllt werden, welche auf die Europäische Union als Ganzes bezogen sind.71 68 Kühling, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 107 AEUV Rn. 118. 69 Nachtragshaushaltsgesetz-Entwurf (Fn. 2). 70 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Rn. 47. 71 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 17.9.1980, Rs. 730/79, Rn. 24. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 19 Der weite Ermessensspielraum unterliegt Beschränkungen: Die Kommission muss stets das Vorliegen zweier ungeschriebener Tatbestandsmerkmale überprüfen – die Notwendigkeit72 und Verhältnismäßigkeit 73 der Beihilfe. Oftmals erklärt die Kommission in Form insbesondere von Mitteilungen und Leitlinien, wie diese Tatbestandsmerkmale zur Anwendung gebracht werden.74 Bei ihrer Prüfung hat die Kommission ebenso die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zu beachten.75 Die unionsgerichtliche Kontrolldichte bei der Überprüfung von Kommissionsentscheidungen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV ist relativ gering: Die Gerichte überprüfen, ob die Vorschriften über die Begründung und das Verfahren eingehalten wurden, die entscheidungserheblichen Tatsachen korrekt ermittelt wurden und ob offensichtliche Beurteilungsfehler oder Ermessensmissbrauch vorliegt; die komplexen wirtschaftlichen Einschätzungen obliegen nicht den Gerichte, sondern der Kommission.76 In Betracht kommt hier Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV als Ausnahmebestimmung. Dafür müsste die Beihilfe zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse oder zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaates vorgesehen sein. Zu prüfen ist hier die zweite Alternative, also die beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaates. Eine solche Störung liegt dann vor, wenn es schwerwiegende soziale und wirtschaftliche Krisenerscheinungen gibt.77 Die beträchtliche Störung muss den gesamten Mitgliedstaat betreffen und nicht nur einzelne Regionen.78 3.2.5. Anwendbarkeit von Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV Fraglich ist nur, ob neben der Legalausnahme des Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV überhaupt noch Raum für die Anwendung der Ermessensausnahme bleibt. Da die Covid-19-Pandemie und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Wirtschaft quasi alle Mitgliedstaaten treffen, hat sich die Kommission mit dem Befristeten Rahmen hinsichtlich 72 EuGH, Urt. v. 15.04.2008, Rs. C-390/06 Rn. 68 f.; von Wallenberg/Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 59. EL 2016, Art. 107 Rn. 151. 73 Beispielsweise EuG, Urt. v. 7.6.2001, Rs. T-187/99 Rn. 74. 74 Schumm/Klumb, in: Schmidt, COVID-19 – Rechtsfragen zur Corona-Krise, 1. Auflage 2020, § 15 Rn. 132. 75 Rusche, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2016, Art. 107 Abs. 3 AEUV Rn. 25; detailliertere Aufzählung von zu beachtenden Kriterien bei Thiele, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts , 44. EL 2018, H. III. Rn. 190. 76 Thiele, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 44. EL 2018, H. III. Rn. 183; Mederer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 107 Rn. 214; von Wallenberg /Schütte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 59. EL 2016, Art. 107 Rn. 155 mwN. 77 Kühling/Rüchart, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 107 Rn. 136. 78 EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-301/96 Rn. 106. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 20 der Anwendung dieser Norm dazu geäußert, welche Maßstäbe sie bei der Ausfüllung ihres Ermessensspielraums anlegen wird.79 Im Befristeten Rahmen selbst ist kein genehmigungsfähiges Beihilfenprogramm ersichtlich, welches die hier zu lösende Problematik der Deutschen Bahn AG adressiert. Zwar bewirkt auch die Covid-19-Pandemie eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten, die gesundheitliche Krise und die daraus resultierenden Schäden für einzelne Branchen oder Unternehmen wird von bisher vereinzelten Stimmen in der Literatur jedoch zielgenauer im Legalausnahmetatbestand von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV abgebildet gesehen .80 Bei der Frage, welchen Ausnahmetatbestand zur Rechtfertigung von Beihilfen in Zeiten von Covid -19 heranzuziehen ist, ließe sich nach einer Ansicht in der Literatur wie folgt differenzieren: Die Legalausnahme nach Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV findet auf staatliche Beihilfen Anwendung, die selektiv einzelne Branchen bzw. Wirtschaftszweige unterstützen. Die Ermessensausnahme nach Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV ist hingegen dann einschlägig, wenn eine Beihilfenmaßnahme flächendeckend einer Vielzahl gleichzeitig betroffener Wirtschaftsbereiche in dem betroffenen Mitgliedstaat zugutekommt, und das wegen der bestehenden beträchtlichen Störung des Wirtschaftslebens auch soll.81 Zwar kann man in der aktuellen Situation durchaus von einer Wirtschaftskrise sprechen. Es geht hier bei der Eigenkapitalerhöhung aber nicht um eine gesamtwirtschaftliche Erholung durch eine Vielzahl von Maßnahmen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, vielmehr sollen gezielt bei der Deutschen Bahn AG die durch die Pandemie entstandenen Schäden kompensiert werden. Die Eigenkapitalerhöhung lässt sich nicht unter die Beihilfenprogramme des Befristeten Rahmen fassen , welche die Kommission als genehmigungsfähig ansieht. Diese Programmvorschläge, vor allem die Rekapitalisierungsmaßnahmen, sind für Unternehmen vorgesehen, in denen neben dem Staat als Anteilseigner eine erhebliche private Beteiligung besteht.82 Zwar lässt sich nicht ausschließen , dass eine Genehmigung abseits der im Befristeten Rahmen aufgestellten Voraussetzungen erfolgen könnte, passender erscheint jedoch die Rechtfertigungsmöglichkeit nach der Legalausnahme des Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV. Eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen das Beihilfenverbot über die Ermessensausnahme des Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV ist zwar nicht ausgeschlossen, wäre bei vorrangiger Anwendbarkeit von Art. 107 Ab. 2 lit. b AEUV aber fraglich. 3.2.6. Zwischenergebnis Bei der Eigenkapitalerhöhung durch den Bund handelt es sich um eine Beihilfe, welche nach Art. 107 Abs. 1 AEUV grundsätzlich verboten ist. Jedoch könnte einerseits die Legalausnahme 79 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Rn. 19; dargestellt in Schumm/Klumb, in: Schmidt, COVID-19– Rechtsfragen zur Corona-Krise, 1. Auflage 2020, § 15 Rn. 145 ff. 80 Klafki, EWS 2020, S. 121 (124). 81 Klafki, EWS 2020, S. 121 (125). 82 Befristeter Rahmen (Fn. 18) Abschnitt 3.11., insbesondere Rn. 78a. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 21 nach Art. 107 Abs. 2 lit b AEUV einschlägig sein, wenn man die Covid-19-Pandemie als außergewöhnliches Ereignis ansieht, welches unmittelbar die finanziellen Probleme der Deutschen Bahn AG verursacht hat. Andererseits käme auch über eine Rechtfertigung im Rahmen der Ermessenausübung der Kommission nach Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV in Betracht. Dafür müsste man die Eigenkapitalerhöhung als Beihilfe einordnen, die zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaates dient, wofür wenig sprechen dürfte. 3.3. Formelle Voraussetzungen der Eigenkapitalerhöhung Was die formellen Voraussetzungen des Beihilfegenehmigungsverfahrens angeht, kann in weiten Teilen auf obigen Ausführungen verwiesen werden.83 Insbesondere ist auf die Notifizierungspflicht und das bis zur Genehmigung durch die Kommission geltende Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV hinzuweisen. 4. Ergebnis der Untersuchung An die Rechtfertigung von Ausnahmen des primärrechtlich in Art. 107 Abs. 1 AEUV verankerten Beihilfeverbots sind hohe Anforderungen zu stellen. Nur in engen Ausnahmen soll es Mitgliedstaaten ermöglicht werden, Unternehmen zu begünstigen und damit erhebliche Eingriffe in den freien Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt vorzunehmen. Die Kommission zeigt sich allerdings im Angesicht der Covid-19-Pandemie durchaus entgegenkommend und hat bereits viele mitgliedstaatliche Beihilfenprogramme genehmigt. Grundlage der Rechtfertigung einer Ausnahme vom allgemeinen Beihilfenverbot war in fast allen Fällen entweder Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV oder Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV. Beide Möglichkeiten sind im Befristeten Rahmen vom 13. März 2020 vorgesehen, letztere sogar noch mit konkreten Hinweisen, wie die Kommission im Genehmigungsverfahren beabsichtigt, ihren Ermessensspielraum auszufüllen. Die Eigenkapitalerhöhung des Bundes bei der Deutschen Bahn AG zum Ausgleich der durch die Covid-19-Pandemie entstandenen Schäden kann als Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV eingeordnet werden. Eine abschließende Beurteilung unter Berücksichtigung verschiedenster wirtschaftlicher Erwägungen kann allerdings nur von der Europäischen Kommission vorgenommen werden. Eine Rechtfertigung dieser Beihilfe über die Legalausnahme des Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV scheint jedoch nicht ausgeschlossen zu sein. Die Covid-19-Pandemie wird von der Kommission als ein „außergewöhnliches Ereignis“ betrachtet, welches Maßnahmen zur Kompensation der dadurch entstandenen Schäden erlaubt. Die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung nach Art. 107 Abs. 3 AEUV dürften nicht vorliegen. Mit dem Befristeten Rahmen stellt die Kommission verschiedene Beihilfemodelle vor, welche sie als genehmigungsfähig ansieht. Dieser Bereich der Ermessensausnahmen ist maßgeblich durch solches soft law geprägt, welches zu einer Selbstbindung der Kommission in ihrer Genehmigungspraxis führt. Die Eigenkapitalerhöhung bei einzelnen, vollständig vom Staat getragenen Unternehmen ist im Befristeten Rahmen allerdings nicht vorgesehen. Der Befristete Rahmen trifft nur Regelungen für Unternehmen, in denen neben dem Staat als Anteilseigner eine erhebliche private Beteiligung besteht. 83 Siehe Abschnitt 2.2. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 062/20 Seite 22 - Fachbereich Europa -