Mitwirkungsrechte des Bundestages bei der Beratung und Umsetzung von Richtlinien 1) Hintergründe und Kontext Gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 2 EUV sorgt die Kommission „für die Anwendung der Verträge sowie der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen“. Diese Funktion bezieht sich sowohl auf das Primärrecht als auch auf die von den Organen erlassenen Rechtsakte, also das Sekundärecht der Europäischen Union (EU). Aufgrund des in der EU bestehenden Systems des Exekutivföderalismus, wonach der Vollzug des Unionsrechts weitgehend den Behörden der Mitgliedstaaten obliegt, bedient sich die Kommission vor dem Hintergrund des Art. 17 EUV geeigneter Maßnahmen, um in ihrer Rolle als „Hüterin des Unionsrechts“ die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in der EU zu gewährleisten. Dabei unterstützt sie sozusagen präventiv die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung und Anwendung neuer EU-Gesetzgebung. Vor diesem Hintergrund haben die einzelnen Generaldirektionen in einigen Bereichen Expertengruppen mit Vertretern der Mitgliedstaaten eingerichtet, um fachspezifische Probleme der Umsetzung zu bestimmten EU-Rechtsakten zu erörtern. Diese Treffen von Expertengruppen werden üblicherweise nach Abschluss von Rechtsetzungsvorhaben und vor Ablauf einer Umsetzungsfrist abgehalten. Dabei lädt die zuständige Generaldirektion die Vertreter der Mitgliedstaaten ein, um über Fragen der Umsetzung zu diskutieren. An diesen Treffen nehmen insbesondere Mitarbeiter der Behörden der Mitgliedstaaten teil, die gemäß den nationalen rechtlichen Vorgaben im jeweiligen Mitgliedstaat mit der Umsetzung der in Frage stehenden Richtlinie befasst sind. Teilweise werden bei diesen Treffen auch ex- Vermerk Berlin, 11. Juni 2015 Geschäftszeichen: PE 6-3000-60/15 Fachbereich PE 6 – Europa Platz der Republik 1 11011 Berlin Seite 2 terne Experten (Hochschullehrer, Praktiker, etc.) eingeladen, um allgemeine oder spezielle Fragen der Umsetzung konkreter beleuchten zu können. Nach Informationen der Kommission gibt es für die Zusammensetzung und Organisation dieser Expertentreffen keine spezifischen Vorgaben beispielsweise vonseiten des Generalsekretariats der Kommission oder für ein Format für den Austausch von Informationen, wie sie beispielsweise für die Durchsetzung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (sog. Chemikalien- bzw. REACH-Verordnung) bestehen. Vielmehr liegt die Entscheidung über die Zusammensetzung und Organisation im Ermessen der jeweiligen Generaldirektion. Es besteht lediglich die Vorgabe, dass alle Mitgliedstaaten bei den Expertentreffen vertreten sein sollen. Wie aus dem Europäischen Parlament (EP) zu erfahren ist, handhaben die Generaldirektionen die Einladungspraxis gegenüber dem EP unterschiedlich . Einige laden zu den Expertentreffen auch Mitarbeiter der zuständigen Sekretariate bzw. an-derer Organisationseinheiten des EP ein. Wie aus der Kommission zu erfahren ist, werden von der Kommission meist informelle, nicht-öffentliche Kurzprotokolle von den Expertentreffen angefertigt. Jedoch ist auch dazu aufgrund der Uneinheitlichkeit keine allgemeingültige Aussage möglich. Teilweise werden im Rahmen dieser Expertengruppen von der Kommission vorbereitete Leitfäden zur Umsetzung diskutiert [vgl. dazu die umfangreichen Unterstützungsmaßnahmen zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG)]. Die Kommission betont in diesem Zusammenhang jedoch, dass diese Expertentreffen lediglich zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei Umsetzungsfragen durchgeführt und die Mitgliedstaaten rechtlich nicht binden würden. Bei der Richtlinienumsetzung gelte der Grundsatz des Art. 288 Abs. 3 AEUV, wonach den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung überlassen ist. Solange den Handlungen der Kommission im Rahmen der Expertentreffen – entsprechend ihren eigenen Aussagen – keine rechtliche Bindungswirkung zukommt und sich die Kommission entsprechend ihren Befugnissen im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 S. 2 EUV auf unterstützende Handlungen beschränkt und hierdurch nicht in die mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielräume eingreift, begegnen die Expertentreffen keinen zwingenden unionsrechtlichen Bedenken. Seite 3 2) Folgerungen im Hinblick auf die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages Die Expertentreffen stehen im Kontext europäischer Rechtsetzungsverfahren als Angelegenheit der EU im Sinne des Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG. Im Hinblick auf die Beteiligungsrechte des Bundestages ist bei diesen Expertentreffen die Besonderheit zu berücksichtigen, dass sie regelmäßig erst im Anschluss an die europäischen Rechtsetzungsverfahren stattfinden. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob sich das in Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG verankerte, durch Art. 23 Abs. 2 S. 2 (Unterrichtungspflicht ) und Abs. 3 GG (Stellungnahmen) konkretisierte Recht des Deutschen Bundestages auf Mitwirkung in Angelegenheiten der EU auch auf Handlungen der Kommission und der Bundesregierung in der Phase zwischen Abschluss eines europäischen Rechtsetzungsverfahrens und seiner Umsetzung in nationales Recht beziehen. Informationsrechte des Bundestages Im Hinblick auf die Informationsrechte des Bundestages folgt aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG, dass die Bundesregierung den Bundestag (und den Bundesrat) umfassend, zum frühestmöglichen Zeitpunkt und fortlaufend zu unterrichten hat. Gegenstand, Grenzen sowie Art und Weise der Unterrichtung des Bundestages sind mit Blick auf den Normzweck, diesem eine effektive Wahrnehmung seiner Mitwirkungsrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union unter Wahrung der Eigenverantwortung der Exekutive zu ermöglichen, zu bestimmen [BVerfGE 131, 152 (202)]. Die Informationsrechte des Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG, die durch die §§ 3 ff. EUZBBG konkretisiert werden, beziehen sich dabei nicht nur auf den Beginn europäischer Rechtsetzungsverfahren, sondern auch auf Dokumente und sonstige Informationen, die den weiteren Fortgang der Beratungen und des Verfahrens betreffen. Die Informationspflicht erstreckt sich dabei nicht nur auf die Weiterleitung amtlicher Unterlagen und Dokumente der Unionsorgane. Sobald und soweit die Bundesregierung selbst mit einer Angelegenheit befasst ist, können auch ihr vorliegende Informationen über informelle und (noch) nicht schriftlich dokumentierte Vorgänge erfasst sein; die Unterrichtungspflicht kann, unabhängig von einer förmlichen Dokumentation, auch Gegenstand, Verlauf und Ergebnis der Sitzungen und Beratungen von Organen und Gremien der EU betreffen, in denen die Bundesregierung vertreten ist [BVerfGE 131, 152 (207 f.)]. Seite 4 Vor diesem Hintergrund erscheint bereits aufgrund der Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung bzw. den zuständigen Fachressorts an den Expertentreffen eine Unterrichtung des Bundestages über diese Treffen angezeigt. Dies entspräche auch einer funktionsgerechten Auslegung des Erfordernisses einer umfassenden Unterrichtung im Sinne des Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG, da sich die unterstützenden Tätigkeiten der Kommission letztlich auf eine unionsrechtskonforme Umsetzung und Anwendung neuer EU-Gesetzgebung beziehen und somit (auch) den Bundestag als Gesetzgeber betreffen. Ergänzend stellt sich die Frage, ob die von der Kommission im Rahmen eines Expertentreffens erstellten Protokolle oder sonstige Dokumente unter den Begriff des Vorhabens der EU im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 7 EUZBBG fallen und damit besondere Unterrichtungspflichten nach § 6 EUZBBG unterliegen. Dies könnte der Fall sein, wenn sie selbständige Mitteilungen, Stellungnahmen oder Empfehlungen der Kommission wären. Hiergegen spricht jedoch, dass die Expertentreffen regelmäßig nach Abschluss des Rechtsetzungsverfahrens erfolgen, die konkrete Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten betreffen und somit einen primär ergänzenden Charakter haben. Stellungnahmerechte des Bundestages Im Hinblick auf die Mitwirkungsrechte des Bundestages könnten insofern Zweifel bestehen, dass die Bundesregierung dem Bundestag nach Art. 23 Abs. 3 S. 1 GG i.V.m. § 8 EUZBBG vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der EU Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Die Expertentreffen erfolgen jedoch am Ende oder nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, um Umsetzungsfragen in Bezug auf den bereits verhandelten und verabschiedeten Gesetzestext zu besprechen. Insoweit ist anzumerken, dass es im Ermessen des Bundestages liegt, ob, wann und in welchem Umfang er Stellung nimmt. Dementsprechend kann der Bundestag gem. § 8 Abs. 3 EUZBBG seine Stellungnahmen auch im Verlauf der Beratung des Vorhabens anpassen und ergänzen. Das Stellungnahmerecht und die damit verbundenen Einwirkungsmöglichkeit auf die Bundesregierung unterliegen insoweit lediglich in tatsächlicher Hinsicht, d.h. im Hinblick auf die europäischen Verfahrensabläufe, Grenzen. Seite 5 Vor diesem Hintergrund bleibt es dem Bundestag auch in der Phase, in der regelmäßig die Expertentreffen stattfinden, unbenommen , sich mit Stellungnahmen an der nationalen Willensbildung im Hinblick auf das jeweilige Rechtsetzungsvorhaben zu beteiligen und hierdurch seine Kontroll- und Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. Zudem bleibt das Rechts des Bundestages unberührt, sich mit der Angelegenheit zu befassen und sein Frage-, Debatten- und Entschließungsrecht auszuüben. Jedoch bleibt hierbei zu bedenken, dass die Expertentreffen einerseits in der Regel zu einem Zeitpunkt stattfinden, in dem der Gesetzestext bereits verhandelt und verabschiedet worden ist, somit auch das Gesetzgebungsverfahren bereits weitgehend abgeschlossen ist und dementsprechend keine Verhandlungen im Sinne des Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG mehr stattfinden. Andererseits zielen die Expertentreffen auf eine Diskussion über die – der Auffassung der Kommission entsprechende – unionsrechtskonforme Umsetzung einer Richtlinie ab, so dass der deutsche Vertreter bei dem Expertentreffen zwar die Stellungnahme des Bundestages entsprechend Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG, § 8 Abs. 2 EUZBBG bei der Diskussion zugrunde legen könnte; jedoch ist diesbezüglich ergänzend anzumerken, dass jedenfalls für die in § 8 Abs. 4 EUZBBG konkretisierten Wirkungen einer Stellungnahme angesichts der Natur einer Expertendiskussion kein Raum verbleiben dürfte. Eine solche faktische Wirkungsbegrenzung lässt jedoch die verfassungsrechtlich garantierten Informations - und Beteiligungsrechte des Bundestages unberührt. - Fachbereich Europa -