© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 058/19 Vereinbarkeit einer Pflicht zur Beschaffung von Dokumenten während des Asylverfahrens mit Art. 30 der Richtlinie 2013/32/EU Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 058/19 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Vereinbarkeit einer Pflicht zur Beschaffung von Dokumenten während des Asylverfahrens mit Art. 30 der Richtlinie 2013/32/EU Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 058/19 Abschluss der Arbeit: 27. Juni 2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 058/19 Seite 3 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist beauftragt worden zu prüfen, ob eine Forderung deutscher Behörden gegenüber einem Antragsteller, sich während des Asylverfahrens von Vertretungen seines Herkunftsstaats Dokumente zu beschaffen (z.B. Personaldokumente), mit Art. 30 der Richtlinie 2013/32/EU1 (AsylVerfRL) vereinbar ist. 2. Regelungen des Art. 30 AsylVerfRL Art. 30 AsylVerfRL trifft Regelungen zur Weitergabe oder Einholung von Informationen zu einzelnen Anträgen. So dürfen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Asyl keine Informationen über einzelne Anträge auf internationalen Schutz oder über die Tatsache, dass ein solcher Antrag gestellt wurde, an die Stelle(n) weitergeben, die den Antragsteller seinen Angaben zufolge verfolgt oder ihm einen ernsthaften Schaden zugefügt hat/haben, Art. 30 lit. a) AsylVerfRL. Ferner sieht Art. 30 lit. b) AsylVerfRL vor, dass von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Asyl bei der oder den Stellen, die den Antragsteller seinen Angaben zufolge verfolgt oder ihm einen ernsthaften Schaden zugefügt haben, keine Informationen in einer Weise eingeholt werden dürfen, die diesen Stellen unmittelbar die Tatsache zur Kenntnis bringen würde, dass der betreffende Antragsteller einen Antrag gestellt hat, und die die körperliche Unversehrtheit des Antragstellers oder der von ihm abhängigen Personen oder die Freiheit und Sicherheit seiner noch im Herkunftsstaat lebenden Familienangehörigen in Gefahr bringen würde. 3. Vereinbarkeit einer Pflicht zur Beschaffung von Dokumenten während des Asylverfahrens mit Art. 30 AsylVerfRL Rechtsprechung von Unions- oder nationalen Gerichten zu der Frage, ob die einleitend beschriebene Forderung mit Art. 30 AsylVerfRL vereinbar ist, liegt – soweit ersichtlich – bisher nicht vor. Daher ist Art. 30 AsylVerfRL auszulegen. Der Wortlaut von Art. 30 lit. a) AsylVerfRL sieht zunächst vor, dass von den Mitgliedstaaten selbst keine Informationen über einzelne Anträge auf internationalen Schutz oder über die Tatsache, dass ein solcher Antrag gestellt wurde, an die Stelle(n) weitergegeben dürfen, die den Antragsteller seinen Angaben zufolge verfolgt oder ihm einen ernsthaften Schaden zugefügt hat/haben. Gleiches gilt im Hinblick auf die Einholung von Informationen gemäß Art. 30 lit. b) AsylVerfRL. Auch diese Verpflichtung richtet sich dem Wortlaut nach allein an die Mitgliedstaaten selbst. Eine unmittelbare Aussage zur Zulässigkeit der Forderung von Mitwirkungshandlungen bei der Beschaffung von Dokumenten durch den Antragsteller trifft Art. 30 AsylVerfRL hingegen nicht. 1 RICHTLINIE 2013/32/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, Abl. EU L 180/60 vom 29.6.2013. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 058/19 Seite 4 Im Hinblick auf die Erreichung der Ziele der Asylverfahrensrichtlinie (u. a. die Einhaltung von gemeinsamen Verfahrensgarantien2 sowie die Berücksichtigung der Grundrechte i. S. d. Charta der Grundrechte der Europäischen Union3) sowie des Ziels von Art. 30 AsylVerfRL (Schutz der Vertraulichkeit des Antragstellers4) erscheint es nach Ansicht des Verfassers vertretbar, Art. 30 AsylVerfRL seinem Sinn und Zweck nach so auszulegen, dass dieser über seinen Wortlaut hinaus auch auf Fälle anwendbar ist, in denen die Mitgliedstaaten von Antragstellern während des Asylverfahrens fordern, sich zur Beschaffung von Dokumenten an Vertretungen ihrer Herkunftsstaaten wenden. Im Ergebnis kann es keinen Unterschied machen, ob sich Behörden eines Mitgliedstaats selbst an Behörden des Herkunftsstaats eines Antragstellers zur Beschaffung von Dokumenten wenden oder letzteren dazu verpflichten. In beiden Fällen ist eine unmittelbare Kenntniserlangung der betreffenden Stellen von einem entsprechenden Antrag nicht auszuschließen. Die Vergleichbarkeit der Fälle spricht daher für eine einheitliche Behandlung. Ferner wäre zu berücksichtigen, dass es einem von staatlicher Verfolgung Schutz begehrenden Ausländer regelmäßig unzumutbar sein dürfte, sich an seinen Herkunftsstaat – und damit seinen Verfolgerstaat – mit einem entsprechenden Anliegen zu wenden (insbesondere wenn insoweit eine Gefahr der Verletzung weiterer Rechtsgüter für den Antragsteller, von ihm abhängiger Personen oder dessen Familienangehörige besteht).5 Auch dieses Argument streitet für die o. g. Auslegung von Art. 30 AsylVerfRL. Zudem ist Schutzziel des Art. 30 lit. b AsylVerfRL, eine Gefährdung weiterer Rechtsgüter des Antragstellers, von ihm abhängiger Personen oder dessen Familienangehöriger auszuschließen. Eine abschließende Bewertung hierüber bliebe jedoch dem EuGH vorbehalten. – Fachbereich Europa – 2 Siehe Art. 1 sowie Erwägungsgründe 12, 25, 29 AsylVerfRL. Vgl. auch Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration an Asylum Law, Second Edition 2016, Part D IV, I. General Remarks, Rn. 2. 3 Siehe Erwägungsgrund 33 AsylVerfRL. 4 Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration an Asylum Law, Second Edition 2016, Part D IV, Art. 30, Rn. 2. 5 Vedsted-Hansen, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration an Asylum Law, Second Edition 2016, Part D IV, Art. 30, Rn. 3; siehe im Hinblick auf die Grenzen von Mitwirkungspflichten eines Antragstellers bei der Passbeschaffung gemäß § 15 AsylVfG: VGH München, Urteil vom 10.12.2001, Az. 24 B 01.2059, Rn. 16; vgl. hierzu aus der Literatur Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, 105. Aktualisierung Januar 2018, Abschnitt B 2, § 15 AsylG, Rn. 35; Koch, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 15 AsylVfG, Rn. 20; Möller, in: Hofmann , Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 48 AufenthG, Rn. 19 f.; Marx, in Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 6. Auflage 2017, § 7 Rn. 131; ferner dazu Siewke/Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht , 22. Edition, Stand: 1.11.2018, Art. 15 AsylG, Rn. 7.