© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 054/20 Zum Anwendungsbereich der Präferenzbestimmungen des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union mit Israel Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 2 Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Zum Anwendungsbereich der Präferenzbestimmungen des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union mit Israel Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 054/20 Abschluss der Arbeit: 4. August 2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung und Vorbemerkung 4 2. Grundlagen der Präferenzgewährung und räumlicher Geltungsbereich 5 2.1. Assoziierungsabkommen der EU mit Israel 5 2.2. Interimsassoziationsabkommen der EU mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation 5 3. Abgrenzung der jeweiligen räumlichen Geltungsbereiche beider Abkommen 5 4. Folgen einer völkerrechtswidrigen Annexion von Teilen des Westjordanlands für das Assoziationsabkommen EU- Israel 6 4.1. Maßstäbe des EuGH 7 4.1.1. Grundsatz der Selbstbestimmung 7 4.1.2. Art. 29 WVRK 7 4.1.3. Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen 7 4.2. Anwendung der Maßstäbe auf die unterstellte Annexion des Westjordanlands 8 4.2.1. Grundsatz der Selbstbestimmung 8 4.2.2. Art. 29 WVRK 8 4.2.3. Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen 9 4.3. Ergebnis 9 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 4 1. Fragestellung und Vorbemerkung Der Fachbereich Europa wurde um eine Einschätzung gebeten, ob sich die von Israel angekündigte teilweise Annexion der seit dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 unter israelischer Verwaltung stehenden Palästinensischen Gebiete auf die zollrechtlichen Präferenzbestimmungen aus dem Assoziierungsabkommen der Europäischen Union (EU) mit Israel auswirkt. Die im Wahlprogramm des LIKUD vom September 2019 enthaltenen Pläne für eine Eingliederung von Teilen des Westjordanlandes in das Staatsterritorium Israels fanden Eingang in die Koalitionsvereinbarung 1 der von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geführten Regierung Israels. Danach sollte ab dem 1. Juli 2020 die sog. Jordansenke2 mit Ausnahme der dann zur Enklave werdenden palästinensischen Stadt Jericho annektiert werden. Ein Großteil dieses Gebiets fällt in das sog. C-Gebiet, das rund 60 Prozent des Westjordanlands umfasst und nach den Osloer Friedensverträgen unter alleiniger israelischer Kontrolle steht. Städte wie Jericho, insgesamt ca. 18% des Gebiets, stehen unter semi-autonomer palästinensischer Verwaltung.3 Der ursprünglich für den 1. Juli 2020 angekündigte Beginn der Umsetzung der Annexionspläne wurde inzwischen vor dem Hintergrund der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verschoben.4 Die Pläne für eine Annexion des Westjordanlandes bzw. von Teilen hiervon wurde von den Vereinten Nationen5, vom Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik6, sowie von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs, Jordaniens und Ägyptens in einer gemeinsamen Erklärung 7 scharf kritisiert; ihre Umsetzung als Bruch des Völkerrechts bewertet und eine Anerkennung abgelehnt. Auch die Bundesregierung teilt diese Einschätzung.8 Der vorliegenden Betrachtung wird die im Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste „Annexionspläne Israels für das Westjordanland aus völkerrechtlicher Sicht“ (WD2-3000-048/20) festgestellte Völkerrechtswidrigkeit einer Annexion von Teilen des Westjordanlands zugrunde gelegt. 1 Süddeutsche Zeitung, Die Rivalen einigen sich - Israel bekommt eine nationale Notstandsregierung, 21. April 2020. 2 Der unmittelbar an das Königreich Jordanien angrenzende östliche Teil des Westjordanlands. 3 Deutsche Welle, Israel will Gebiete im besetzten Westjordanland annektieren, 6. Juni 2020. Zur Unterteilung des Westjordanlandes in A-, B- und C-Gebiete nach Osloer Friedensverträgen von 1995 vgl. Timm, Angelika (Hrsg.), Friedensinitiativen für Israel und Palästina, Berlin, 2017, S. 419 ff., Karte auf S. 430. 4 Tagesschau.de, Netanyahu schafft noch keine Fakten, 1. Juli 2020. 5 UN-News, UN Middle East peace envoy warns against unilateral action on all sides, as Israel threatens West Bank annexation , 20. Mai 2020; The Guardian, UN chief urges Israel to back away from West Bank annexation, 24. Juni 2020; UN- News, Israel’s illegal annexation plans for Palestine, ‘disastrous’ for wider Middle East – Bachelet, 29. Juni 2020. 6 zdf.de, EU und UN kritisieren Israels Annexionspläne, 24. April 2020; Die Presse, EU-Außenbeauftragter appelliert an neue Regierung in Israel, 19. Mai 2020; Europäischer Auswärtiger Dienst, Josep Borrell, West Bank: annexation is not a solution, 8. Juli 2020. 7 Auswärtiges Amt, Gemeinsame Erklärung der Außenminister Ägyptens, Deutschlands, Frankreichs und Jordaniens zum Stand des Nahostfriedensprozesses, 7. Juli 2020. 8 Rede des Bundesaußenministers Maas vor dem Plenum des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2020, Pl-Pr. 19/169, 21067 (A). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 5 2. Grundlagen der Präferenzgewährung und räumlicher Geltungsbereich 2.1. Assoziierungsabkommen der EU mit Israel Grundlage für die Präferenzbehandlung von Einfuhren aus Israel in die EU bildet das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel vom 20. November 1995,9 das am 1. Juni 2000 in Kraft trat. Das Assoziierungsabkommen verfolgt den Zweck des Ausbaus der Freihandelszone zwischen den Parteien (Art. 6 Abs. 1) mit dem Ziel der Abschaffung von Einfuhrzöllen, mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung im Handel zwischen ihnen (Art. 8). Die Ursprungsregeln sind in Protokoll Nr. 4 zu diesem Abkommen enthalten. Der Geltungsbereich des Assoziierungsabkommens erfasst einerseits die Gebiete, in denen die Grundlagenverträge der EU gelten, und andererseits das Gebiet des Staates Israel (Art. 83 Assoziierungsabkommen ). Bei der Bestimmung des Geltungsbereichs betrachtet die EU weder die nach israelischem Recht zum Staatsgebiet Israels gehörenden Golanhöhen und Ostjerusalem, noch die weiteren von Israel seit Juni 1967 besetzten Gebiete, namentlich den Gazastreifen und das Westjordanland , als Teil des israelischen Staatsgebiets.10 2.2. Interimsassoziationsabkommen der EU mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation Einfuhren aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen in die EU werden auf der Grundlage des Interimsassoziationsabkommens der EU mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO)11 vom 24. Februar 1997 frei von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung und frei von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung zugelassen (Art. 6). Das Protokoll Nr. 3 zu diesem Abkommen normiert die Ursprungsregeln. Gemäß Art. 73 des Interimsassoziationsabkommens gilt es einerseits für die Gebiete, in denen die Grundlagenverträge der EU angewandt werden sowie andererseits für das Gebiet des Westjordanlands und des Gaza-Streifens. 3. Abgrenzung der jeweiligen räumlichen Geltungsbereiche beider Abkommen In der Rechtssache C-386/0812 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Abgrenzung der jeweiligen räumlichen Geltungsbereiche des Assoziationsabkommens EU-Israel einerseits und des Interimsassoziationsabkommens EU-PLO andererseits, dass Erzeugnisse mit Ursprung im 9 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Staat Israel andererseits (ABl. L 147 vom 21. Juni 2000, S. 3; konsolidierte Fassung vom 24. Januar 2019). 10 Vgl. Europäische Kommission (KOM), Mitteilung zu Auslegungsfragen über die Ursprungsbezeichnung von Waren aus den von Israel seit Juni 1967 besetzten Gebieten, ABl. 2015, C 375, S. 4, Nr. 1 unter Verweis auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-386/08, Brita, ECLI:EU:C:2010:91. 11 Europa-Mittelmeer-Interimsassoziationsabkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft einerseits und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gaza-Streifen andererseits, Abl. L 187 vom 16. Juli 1997,S. 3; konsolidierte Fassung vom 23. Juni 2016). 12 EuGH, Rs. C-386/08, Brita, ECLI:EU:C:2010:91. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 6 räumlichen Geltungsbereich eines dieser Abkommen (hier: des Interimsassoziationsabkommens mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation) nicht unter die durch das andere Abkommen eingeführte Präferenzregelung (hier: des Assoziationsabkommens EU-Israel) fallen.13 Dabei schloss der EuGH ausdrücklich aus, dass bei der Präferenzbehandlung von Einfuhren aus dem Westjordanland offen bleiben könne, welches Präferenzregime zur Anwendung komme.14 4. Folgen einer völkerrechtswidrigen Annexion von Teilen des Westjordanlands für das Assoziationsabkommen EU-Israel Zu prüfen ist die Frage, ob in der Folge einer als völkerrechtswidrig bewerteten Eingliederung von Teilen des Westjordanlands in das Staatsterritorium Israels das Assoziationsabkommen EU- Israel auf diese annektierten Gebiete Anwendung findet, mit der Konsequenz, dass EU-Einfuhren unter die Präferenzbestimmungen dieses Abkommens fallen. Rechtsprechung des EuGH zu dieser Fragestellung liegt aufgrund ihres hypothetischen Charakters naturgemäß nicht vor. Jedoch hat der EuGH in seinem Urteil vom 21. Dezember 2016 in der Rechtssache C-104/16 Front Polisario Maßstäbe aufgestellt, die für die Frage der Anwendbarkeit des Assoziationsabkommens EU-Israel herangezogen werden können.15 In dieser Entscheidung zur Frage, ob das von Marokko annektierte Gebiet16 der Westsahara von dem Assoziations- und dem Liberalisierungsabkommen zwischen der EU und dem Königreich Marokko17 erfasst wird, führt er die, die EU bindenden, Völkerrechtssätze aus, die nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge18 (WVRK) anzuwenden sind: den Grundsatz der Selbstbestimmung, den in Art. 29 WVRK bestimmten Grundsatz des Gewohnheitsrechts sowie den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen.19 13 EuGH, Rs. C-386/08 (Fn. 12) Rn. 47 und 53. 14 EuGH, Rs. C-386/08 (Fn. 12) Rn. 58. 15 EuGH, Rs. C-104/16, Front Polisario, ECLI:EU:C:2016:973. 16 Das Königreich Marokko vertritt seit Beginn des Westsaharakonfliktes die Position, dass die Westsahara einen integralen Bestandteil des marokkanischen Staatsgebietes bildet. Die Souveränität Marokkos über die Westsahara wird allgemein formell nicht anerkannt. Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist umstritten. Die beiden Gebietserwerbe in der Westsahara durch Marokko in den Jahren 1976 und 1979 werden ganz überwiegend als Annexionen bewertet. Vgl. Schubert, Anja, Völkerrechtliche Aspekte des Westsaharakonflikts, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 vom 18. März 2019. 17 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits, ABl. L 70 vom 18.3.2000, S. 2, konsolidierte Fassung vom 19. Juli 2019 sowie Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen, ABl. L 241 vom 7. September 2012, S. 4. 18 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention - WVRK) vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926. 19 EuGH, Rs. C-104/16 (Fn. 15) Rn. 87. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 7 4.1. Maßstäbe des EuGH 4.1.1. Grundsatz der Selbstbestimmung Der EuGH stellt fest, dass sich aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der Selbstbestimmung ein gesonderter und unterschiedlicher Status der Westsahara gegenüber jedem Staat und damit auch gegenüber dem Königreich Marokko ergibt. Nach dem durch die Resolution 2625 (XXV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN)20 präzisierten Grundsatz der Selbstbestimmung, habe das Gebiet einer Kolonie oder eines anderen Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung nach der UN-Charta einen vom Hoheitsgebiet des Staates, von dem es verwaltet wird, gesonderten und unterschiedlichen Status. Die UN-Generalversammlung habe sich in einer Reihe von Resolutionen zur Westsahara für die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung der Westsahara ausgesprochen. Darüber hinaus sei die Westsahara seit 1963 in der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung21 i.S.d. Art. 73 UN-Charta aufgeführt. Folglich schließt der EuGH aus, dass der räumliche Geltungsbereich des Assoziations- und des Liberalisierungsabkommens zwischen der EU und dem Königreich Marokko, der als „das Gebiet des Königreichs Marokko“ definiert wird, das Gebiet der Westsahara umfasst.22 4.1.2. Art. 29 WVRK Weiterhin verweist der EuGH auf die Bestimmungen des Art. 29 WVRK, wonach ein Vertrag jede Vertragspartei hinsichtlich „ihres gesamten Hoheitsgebiets“ bindet, sofern keine abweichende Absicht aus diesem Vertrag hervorgeht oder anderweitig festgestellt ist. Hierzu stellt er fest, dass ein Vertrag einen Staat grundsätzlich hinsichtlich des räumlichen Bereichs bindet, in dem er sämtliche Befugnisse ausübt, die souveränen Einheiten nach dem Völkerrecht zustehen. Der EuGH verneint dies aber hinsichtlich eines jeglichen anderen Gebiets, wie etwa eines Gebiets, auf das sich lediglich dessen Hoheitsgewalt oder internationale Verantwortung erstreckt. Mangels ausdrücklicher Bestimmungen des Assoziations- und des Liberalisierungsabkommens zu seiner Geltung über das Gebiet des Königreichs Marokko hinaus, verwirft der EuGH die streitgegenständliche Annahme, die Westsahara falle in den räumlichen Geltungsbereich des Abkommens.23 4.1.3. Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen Schließlich prüft er den völkerrechtlichen Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen (Art. 34 WVRK), wonach Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen dürfen. Unter Verweis auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Westsahara von 197524 und auf die Resolution 34/37 der Generalversammlung der Vereinten Nationen25 stellt 20 Generalversammlung der UN, Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, 24. Oktober 1970, A/RES/2625 (XXV). 21 UN, Report of the Committee on Information from Non-self-governing Territories, Supp. 14(A/5514). 22 EuGH, Rs. C-104/16 (Fn. 15) Rn. 88 ff., 92. 23 EuGH, Rs. C-104/16 (Fn. 15) Rn. 94 ff., 97. 24 Internationaler Gerichtshof, Gutachten über die Westsahara, 16. Oktober 1975, I.C.J. Reports 1975, S. 12. 25 Generalversammlung der UN, Resolution 34/37 zur Frage der Westsahara, 21. November 1979. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 8 der EuGH fest, dass das Volk der Westsahara als Dritter anzusehen ist, der von der Durchführung des Assoziations- und Liberalisierungsabkommens betroffen sein kann. Ohne dessen ersichtliche Zustimmung wäre die Anwendung des Abkommens auf das Gebiet der Westsahara nicht mit dem Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen vereinbar. 26 Im Ergebnis kommt der EuGH zu dem Schluss, dass die Bestimmung des Assoziations- und Liberalisierungsabkommens EU-Marokko über den räumlichen Geltungsbereich nicht dahingehend auszulegen sei, dass sie das Gebiet der Westsahara umfasse.27 4.2. Anwendung der Maßstäbe auf die unterstellte Annexion des Westjordanlands 4.2.1. Grundsatz der Selbstbestimmung Unter Verweis auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9. Juli 2004 „Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory“28 stellt der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-363/18 vom 12. November 2019 fest, dass die Bevölkerung des Westjordanlandes, das palästinensische Volk, über das Recht auf Selbstbestimmung verfügt. Er befindet weiterhin, dass das Gebiet des Westjordanlandes über einen eigenen völkerrechtlichen Status verfüge, der sich von dem des Staates Israel unterscheidet.29 In Anwendung des vom EuGH in der Rechtssache C 104/16 herangezogenen Maßstabs zum Grundsatz der Selbstbestimmung dürfte viel dafür sprechen, eine Ausdehnung des räumlichen Geltungsbereichs des Assoziationsabkommens EU-Israel auf das Gebiet des Westjordanlands auszuschließen . 4.2.2. Art. 29 WVRK Zu prüfen sind weiterhin die vom EuGH in der Rechtssache C 104/16 herangezogenen Bestimmungen des Art. 29 WVRK, wonach ein Vertrag jede Vertragspartei hinsichtlich „ihres gesamten Hoheitsgebiets“ bindet, sofern keine abweichende Absicht aus diesem Vertrag hervorgeht oder anderweitig festgestellt ist. Zunächst ist festzuhalten, dass aus dem Assoziationsabkommen EU-Israel keine abweichende Absicht hervorgeht, dass sein räumlicher Geltungsbereich über das in Art. 83 benannte „Gebiet des Staates Israel“ hinausgeht. Auch die anderweitige Feststellung einer abweichenden Ansicht ist ausgeschlossen , da die EU ein das Gebiet des Westjordanlandes erfassendes Interimsassoziationsabkommen mit der PLO zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gazastreifen geschlossen hat. Auf die vom EuGH in der Rechtssache C-386/0830 vorgenommene Abgrenzung der jeweiligen räumlichen Geltungsbereiche des Assoziationsabkommens EU-Israel einerseits und des Interimsassoziationsabkommens EU-PLO andererseits ist zu verweisen (vgl. Tz. 3). 26 EuGH, Rs. C-104/16 (Fn. 15) Rn. 100 ff., 107. 27 EuGH, Rs. C-104/16 (Fn. 15) Rn. 108. 28 Internationaler Gerichtshof Gutachten zu den Rechtsfolgen des Baus einer Mauer auf besetztem palästinensischem Gebiet, I.C.J. Reports 2004, S. 136, Rn. 118 und 149. 29 EuGH, Rs. C-363/18 Organisation juive européenne, ECLI:EU:C:2019:954, Rn. 34, 35. 30 EuGH, Rs. C-386/08 (Fn. 12). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 054/20 Seite 9 Aufgrund seiner Feststellung, dass ein Vertrag einen Staat grundsätzlich hinsichtlich des räumlichen Bereichs bindet, in dem er sämtliche Befugnisse ausübt, die souveränen Einheiten nach dem Völkerrecht zustehen, verneint der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C 104/16 diese Bindung aber hinsichtlich eines jeglichen anderen Gebiets, wie etwa eines Gebiets, auf das sich lediglich seine Hoheitsgewalt oder internationale Verantwortung erstreckt. Folglich besteht im Falle des Assoziationsabkommens EU-Israel keine vertragliche Bindung für das Gebiet des Westjordanlandes und es wäre auszuschließen, dass in der Folge einer Annexion von Teilen des Westjordanlands der räumliche Geltungsbereich des Assoziationsabkommens EU- Israel auf diese Gebiete ausgedehnt wird. 4.2.3. Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen Schließlich ist der völkerrechtliche Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen (Art. 34 WVRK) zu prüfen, wonach Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen dürfen. In seinem Urteil in der Rechtssache C-386/08 ist der EuGH bei der Untersuchung dieses Grundsatzes zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei der PLO um einen Dritten handelt und eine Anwendung des Assoziationsabkommens EU-Israel auf das Westjordanland, für das die EU mit der PLO zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gazastreifen ein gesondertes Abkommen geschlossen hat, gegen diesen Grundsatz verstößt.31 Ohne die ausdrückliche Zustimmung der Palästinensischen Behörde sei eine Anwendung des Assoziationsabkommens EU-Israel auf das Gebiet des Westjordanlands nicht mit dem Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen vereinbar. 32 Hieraus wäre zu schlussfolgern, dass das Assoziationsabkommens EU-Israel infolge einer Annexion von Teilen des Westjordanlands nicht auf diese Gebiete angewendet werden kann. 4.3. Ergebnis Bei der Auslegung der Bestimmungen des Art. 83 Assoziationsabkommens EU-Israel über seinen räumlichen Geltungsbereich, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob womöglich annektierte Teile des Westjordanlands als „Gebiet des Staates Israel“ zu betrachten sind, sind der Rechtsprechung des EuGH zufolge alle einschlägigen Völkerrechtssätze zu prüfen. Wie oben dargelegt, kann diese Bestimmung weder nach dem Grundsatz der Selbstbestimmung, nach dem in Art. 29 WVRK noch nach dem Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen dahingehend ausgelegt werden, dass das Assoziationsabkommen EU-Israel infolge einer als völkerrechtswidrig bewerteten Eingliederung von Teilen des Westjordanlands in das Staatsterritorium Israels auf diese annektierten Gebiete Anwendung findet. Folglich können die in diesem Abkommen bestimmten Präferenzregeln nicht auf Erzeugnisse mit Ursprung im Westjordanland angewendet werden. Fachbereich Europa 31 EuGH, Rs. C-386/08 (Fn. 12) Rn. 45 ff. 32 EuGH, Rs. C-386/08 (Fn. 12) Rn. 52.