WD 11 - 3000 - 051/12 Deutscher Bundestag Mehrheitserfordernis in Bundestag und Bundesrat beim Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion und erforderliche Rechtsakte zur Revision der völkervertraglich eingegangen Verpflichtungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Mehrheitserfordernis in Bundestag und Bundesrat beim Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion und erforderliche Rechtsakte zur Revision der völkervertraglich eingegangen Verpflichtungen Aktenzeichen: WD 11 - 3000 - 051/12 Datum: 31. März 2012 Fachbereich: WD 11 Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 6 2. Rechtliche Einordnung des Fiskalvertrages als Vorfrage 6 3. Meinungstand zur Wahl des Ratifizierungsverfahrens im Hinblick auf den Fiskalvertrag 7 3.1. Auffassung der Bundesregierung 7 3.2. Stellungnahme des Bundesrates 8 3.3. In der Rechtswissenschaft vertretene Auffassung 8 4. Grundsätzliches zu den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GG 9 4.1. Struktur der Norm 9 4.2. Abgrenzung von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG 10 4.2.1. Eine Auffassung: Satz 3 als Qualifikation von Satz 2 10 4.2.2. Andere Auffassung: Eigenständige Bedeutung von Satz 3 11 5. Stellungnahme 12 5.1. Anwendbarkeit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG trotz völkerrechtlicher Qualität des Fiskalvertrages? 12 5.2. Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG? 13 5.2.1. Übertragung von Hoheitsrechten auf den EuGH? 14 5.2.2. Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Kommission und den Rat der EU? 14 5.2.3. Übertragung von Hoheitsrechten durch Etablierung eines Verfahrens der umgekehrten Abstimmung? 16 5.2.4. Übertragung von Hoheitsrechten durch die völkervertragliche Verpflichtung zur Einführung von Schuldenbremsen? 16 5.2.5. Zwischenfazit 17 5.3. Isolierte Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG 17 5.3.1. Unmittelbare Anwendung 17 5.3.1.1. Änderung der vertraglichen Grundlagen 17 5.3.1.2. Vergleichbare Regelungen, wie die Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU 18 5.3.2. Analoge Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG 18 5.3.2.1. Herstellung der Analogie – faktische Vertragsänderung? 18 5.3.2.2. Verfassungsänderndes Gewicht? 19 5.3.2.3. Vergleich mit einer Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG 22 5.3.2.4. Andere Einschätzung aufgrund des komplementärrechtlichen Charakters? 22 6. Möglichkeiten der Revision der eingegangen völkerrechtlichen Verpflichtung im Fiskalvertrag 23 Wissenschaftliche Dienste Seite 4 6.1. Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages nach der Wiener Vertragsrechtskonvention 23 6.2. Verfassungsrechtliche Voraussetzungen 24 Wissenschaftliche Dienste Seite 5 Zusammenfassung 1. Der Fiskalvertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Er weist aber einen engen Bezug zur EU auf und ist damit Komplementärrecht. 2. Völkerrechtliche Verträge sind gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG mit einfacher Mehrheit im Bundestag zu ratifizieren. 3. Stellt man den Charakter des Fiskalvertrages als Komplementärrecht heraus, ist Art. 23 Abs. 1 GG anwendbar. 4. Durch das Zustimmungsgesetz werden keine Hoheitsrechte gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG übertragen. Der Fiskalvertrag begründet „nur“ eine völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands ohne Konstituierung neuer Durchgriffsrechte. 5. Daraus ist zu folgern: Eine einfache Mehrheit für das Zustimmungsgesetz zum Fiskalvertrag reicht aus, wenn man der Auffassung folgt, dass auch die Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eine Hoheitsrechtsübertragung gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG voraussetzt. In diesem Fall kommt eine weitere Prüfung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht in Betracht. 6. Hält man Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG hingegen auch für einschlägig, wenn keine Hoheitsrechtsübertragung vorliegt, gilt Folgendes: Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist unmittelbar nicht anwendbar. Es wird aber vertreten, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG auf faktische Vertragsänderungen entsprechend anzuwenden. Folgt man dem, müsste die Ratifikation des Fiskalvertrages „verfassungsänderndes Gewicht “ haben. Nach der bisherigen Linie in Rechtsprechung und Literatur dürfte dies jedoch eher zu verneinen sein. Das Vertragsgesetz zum Fiskalvertrag steht in Deutschland im Rang eines einfachen Gesetzes. Trotz der völkerrechtlichen Verpflichtung wäre es Deutschland unbenommen, die sog. Schuldenbremse des GG zu verändern oder sogar abzuschaffen . Dies entspräche zwar nicht dem Völkerrecht in Gestalt des Fiskalvertrages, es hätte jedoch innerstaatlich Bestand. Wissenschaftliche Dienste Seite 6 1. Einleitung Der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (im Folgenden: Fiskalvertrag, FiskalV) ist von den Staats- und Regierungschefs der 17 Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und 8 weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) am Rande der Tagung des Europäischen Rates am 2. März 2012 unterzeichnet worden. Nicht beteiligt am Fiskalvertrag sind das Vereinigte Königreich und Tschechien. Der Vertrag soll nun parallel mit dem Vertrag über die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM- Vertrag) und der Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Die Gesetze zur Umsetzung des ESM-Pakets und des Fiskalvertrages sollen am 20. März 2012 in den Koalitionsfraktionen beraten und in den Bundestag eingebracht werden. Die erste Lesung findet voraussichtlich am 29. März 2012 statt, und die zweite und dritte Lesung am 15. Mai 2012. Am 15. Juni 2012 soll der Bundesrat zustimmen.1 Der Fiskalvertrag tritt in Kraft, sofern 12 Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets die Ratifikationsurkunde hinterlegt haben, frühestens am 1. Januar 2013 (Art. 14 Abs. 2 FiskalV). Anwendung findet er nur auf diejenigen Mitgliedstaaten der Euro-Zone, die den Vertrag ratifiziert haben (Art. 14 Abs. 3 FiskalV). Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages sollen Schritte unternommen werden , um den Fiskalvertrag in den Rechtsrahmen der EU zu überführen (Art. 16 FiskalV). Nachfolgend ist zu prüfen, ob das deutsche Ratifikationsgesetz zu dem Fiskalvertrag vom 2. März 2012 unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zwingend mit einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden müsste. 2. Rechtliche Einordnung des Fiskalvertrages als Vorfrage Beim Fiskalvertrag handelt es sich – wie dessen Titel schon zeigt – um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen mehreren Staaten als Völkerrechtssubjekten, also um ein multilaterales Abkommen . Im Gegensatz zu den üblichen Formen völkerrechtlicher Verträge, die Mitgliedstaaten unabhängig von der EU und dem Unionsrecht isoliert abschließen, ist der Vertrag dadurch gekennzeichnet , dass er eine sachliche Nähe zum Recht der EU aufweist. Es handelt sich damit um eine Erscheinung, die in der Rechtswissenschaft als „Komplementärrecht“/„komplementäres Unionsrecht“ bezeichnet wird. Hierunter werden völkerrechtliche oder sonstige Akte der Mitgliedstaaten der EU verstanden, die in Bezug auf das Unionsrecht oder die Ziele der EU getroffen werden2 und – positiv betrachtet – das Funktionieren der EU ermöglichen.3 Thym beschreibt den 1 Drucksache des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union 17(21)0976. 2 Von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, 20. EL 2002, Art. 10 EGV, Rdnr. 19; Würmeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 178. 3 Von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, 20. EL 2002, Art. 10 EGV, Rdnr. 19; s. die Einordnung des Entwurfs des Fiskalpaktes bei Thym, Ein Bypass, kein Herzinfarkt, in: Verfassungsblog.de, online abrufbar unter: http://verfassungsblog.de/ein-bypass-kein-herzinfarkt/ (letzter Abruf: 7. März 2012). Wissenschaftliche Dienste Seite 7 Fiskalvertrag daher als Komplementärvertrag, der bildlich „wie ein Satellit die supranationale EU-Integration als Gravitationszentrum überstaatlicher Zusammenarbeit umkreist“.4 Aus der Qualifizierung als „Komplementärrecht“ folgt jedoch noch keine grundsätzlich über das Völkerrecht hinausgehende, andere Rechtsnatur des Vertrages. Schon bei komplementärrechtlichen Akten, die im Gegensatz zum Fiskalvertrag von allen Mitgliedstaaten der EU abgeschlossen werden, wird in der Rechtswissenschaft diskutiert, ob diese rein völkerrechtlich einzuordnen seien,5 oder ob man sie zum „erweiterten Gemeinschaftsrecht“ zählen oder als „Mischform zwischen Unions- und Völkerrecht“ einordnen könne.6 Letzteres soll aber vor allem dazu dienen, eine Prüfungskompetenz des Gerichtshofs der EU (EuGH) zu begründen.7 Ferner soll die inhaltliche Verknüpfung dieser Akte mit der Rechtsordnung der Union rechtfertigen, einen Verstoß gegen einen komplementärrechtlichen Akt im Einzelfall als Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Unionstreue zu werten.8 Es bleibt damit bei der grundsätzlichen Einordnung des Fiskalvertrages als völkerrechtlicher Vertrag. 3. Meinungstand zur Wahl des Ratifizierungsverfahrens im Hinblick auf den Fiskalvertrag Aus der grundsätzlichen Einordnung des Fiskalvertrages als völkerrechtlicher Vertrag wäre im Prinzip die Konsequenz zu ziehen, dass die Ratifizierung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, 42 Abs. 2 Satz 1 GG mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen erfolgen könnte. Fraglich ist, ob zusätzlich die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eingehalten werden müssen – mit der Folge, dass das Vertragsgesetz zum Fiskalvertrag der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedürfte. 3.1. Auffassung der Bundesregierung Im Referentenentwurf des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zum Vertrag heißt es in der Eingangsformel: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen ; Artikel 79 Absatz 2 des Grundgesetzes ist eingehalten: (…).“ In der Begründung zum Vertragsgesetz heißt es zu Art. 1: „Der Vertrag bedarf nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes der Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen 4 Thym, Ein Bypass, kein Herzinfarkt, in: Verfassungsblog.de, online abrufbar unter: http://verfassungsblog.de/einbypass -kein-herzinfarkt/ (letzter Abruf: 7. März 2012). 5 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 242; Thym, Euro-Rettungsschirm: zwischenstaatliche Rechtskonstruktion und verfassungsgerichtliche Kontrolle, EuZW 2011, S. 167 (168); Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2008, Rdnr. 317. 6 In diese Richtung Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Auflage 2011, § 9, Rdnr. 147; s. m.w.N. von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 62 (2002), S. 77 (125). 7 Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 62 (2002), S. 77 (125). 8 Von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, 20. EL 2002, Art. 10 EGV, Rdnr. 19. Wissenschaftliche Dienste Seite 8 Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes, da er sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht. Das Vertragsgesetz bedarf entsprechend Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 29 des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates, da der Vertrag eine der Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union vergleichbare Regelung darstellt, durch die sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich bindet, keine Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes, insbesondere der Artikel 109, 115 und 143d des Grundgesetzes, die diesem Vertrag entgegenstehen würden, vorzunehmen.“ Der Gesetzentwurf ist auf eine doppelte verfassungsrechtliche Grundlage gestellt: auf die Vorschrift über die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Vorschrift über die Zustimmung zu verfassungsändernden Hoheitsrechtsübertragungen auf bzw. Weiterentwicklungen der EU (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) in analoger Anwendung. Diese Bewertung eines nicht nur politisch gewünschten, sondern auch rechtlich zwingenden qualifizierten Mehrheitserfordernisses hat die Bundesregierung in der Regierungsbefragung am 7. März 2012 nochmals bekräftigt.10 3.2. Stellungnahme des Bundesrates In der Stellungnahme des Bundesrates – Empfehlungen der Ausschüsse vom 13. Januar 2012 – heißt es:11 „Der Bundesrat stellt fest, dass es sich bei dem Fiskalpakt um eine Angelegenheit der EU12 handelt. Dies zeigt sich allein schon daran, dass die geplante zwischenstaatliche Übereinkunft zur Zielsetzung hat, später vollinhaltlich in die EU-Verträge übernommen zu werden. In Deutschland folgt hieraus eine Anwendbarkeit von Artikel 23 Grundgesetz und seinen Ausführungsgesetzen . Der Bundesrat hält den neuen fiskalpolitischen Pakt zudem nach Artikel 23 Absatz 1 Grundgesetz für zustimmungsbedürftig. Es besteht andernfalls die Gefahr, dass verfassungsrechtliche Voraussetzungen für Vertragsänderungen unterlaufen und vollendete Tatsachen geschaffen werden. Dieser Gefahr sollte dadurch begegnet werden, dass die innerstaatliche Beteiligung des Bundesrates entsprechend dem Verfahren von Artikel 23 Grundgesetz erfolgt.“ 3.3. In der Rechtswissenschaft vertretene Auffassung Die Frage des qualifizierten Mehrheitserfordernisses in Bezug auf den Fiskalvertrag wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion bislang nicht ausführlich erörtert. Kritisch zum Zweidrittel- Erfordernis spricht sich Christoph Möllers13 in einer kurzen Stellungnahme aus: Grundsätzlich sollten völkerrechtliche Verpflichtungen einer bestimmten Wertigkeit durch ein parlamentarisches Zustimmungsgesetz verbindlich gemacht werden, so schreibe es Art. 59 Abs. 2 GG vor. 9 Hervorhebung durch Verfasserinnen. 10 So Bundesaußenminister Guido Westerwelle, BT -PlPr 17/164, S. 19449A, 19459A. 11 Bundesrat, Empfehlungen der Ausschüsse, Entwurf eine völkerrechtlichen Vertrages über eine verstärkte Wirtschaftsunion vom 13. Januar 2012, Drucksache 864/1/11, S. 2. 12 Alle Hervorhebungen im Zitat durch Verfasserinnen. 13 Möllers, Braucht der Fiskalpakt wirklich eine Zweidrittelmehrheit, online abrufbar unter: www.verfassungsblog .de (letzter Abruf: 8. März 2012). Wissenschaftliche Dienste Seite 9 Wenn die internationale Verpflichtung die Verfassung änderte, so könnte man meinen, müsste auch ein verfassungsänderndes Parlamentsgesetz mit qualifizierter Mehrheit entsprechend Art. 79 Abs. 2 GG beschlossen werden. Dieser Schluss sei aber keineswegs zwingend. Schließlich würden in diesem Fall auch andere Regelungen der Verfassungsänderung nicht beachtet, so die Pflicht des Art. 79 Abs. 1 GG, den Text des Grundgesetzes zu ändern. Zudem habe es der alte Art. 24 GG vorgesehen , dass hoheitsrechtliche Befugnisse durch einfaches Gesetz auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden könnten. So seien die längste Zeit Gründungs- und Vertiefungsakte im Prozess der europäischen Integration mit einfacher Mehrheit vom Bundestag umgesetzt worden. Dies scheine sich erst mit der Zustimmung des Vertrags von Maastricht verändert zu haben, der zugleich den heute geltenden Art. 23 Abs.1 Satz 2 und 3 GG eingeführt habe. Freilich sei die Regelung unklar, weil jede Übertragung von Hoheitsakten (Satz 2) materiell den Inhalt des Grundgesetzes (Satz 3) ändere. Die vom Grundgesetz gezogene Unterscheidung trage nicht. Es bleibe damit bei einer Art Daumensteuerung, in der man „im Zweifel“ oder bei „Wichtigem“ besser eine Zweidrittelmehrheit verlange, zumal man sie meistens einfach zusammen bekomme. 4. Grundsätzliches zu den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GG 4.1. Struktur der Norm Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG betrifft das Verfahren, das einzuhalten ist, wenn Deutschland in Erfüllung des Integrationsgebotes aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Hoheitsrechte auf die EU überträgt.14 Dies erfordert stets ein Zustimmungsgesetz von Bundestag und Bundesrat. Der Begriff Hoheitsrechte erfasst die öffentliche Gewalt insgesamt.15 Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts liegt eine Übertragung von Hoheitsrechten vor, wenn „der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird“.16 Es kommt also für die Hoheitsrechtsübertragung darauf an, dass die übertragenen Hoheitsrechte direkt auf den innerstaatlichen Bereich durchgreifen können; es geht also um Übertragung zur supranationalen Wahrnehmung .17 Art. 23 Abs. 1 (und Art. 24 Abs. 1) GG sollen gerade eine überstaatliche Zusammenarbeit jenseits der klassischen völkerrechtlichen Vertragskooperation ermöglichen.18 14 Zur nachfolgenden Darstellung: Denkinger, Miriam, Bedarf das Zustimmungsgesetz zur Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV einer Zweidrittelmehrheit?, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 003/11 vom 26. Januar 2011. 15 Pernice, in: Dreier, (Hrsg.), GG, 2. Auflage, 2008, Art. 23, Rdnr. 81; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 58. Lieferung 2010, Art. 23, Rdnr. 65; Hölscheidt/Schotten, Die Erweiterung der Europäischen Union als Anwendungsfall des neuen Europaartikels 23 GG, DÖV 1995, S. 187 (190); Geiger, Die Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers an der Entwicklung der Europäischen Union, JZ 1996, S. 1093 (1094). 16 BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I. Hervorhebung durch Verfasserinnen. 17 Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 23, Rdnr. 26; Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 65, Stand: August 2011; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 23, Rdnr. 67; Calliess , Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3). 18 Schorkopf, in: in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 65. Wissenschaftliche Dienste Seite 10 Für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz „seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“, ist gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG für das Verfahren Art. 79 Abs. 2 GG zu beachten. Das Zustimmungsgesetz bedarf also einer Zweidrittelmehrheit. Der Relativsatz, der die inhaltliche Änderung des Grundgesetzes zur Bedingung für das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit macht, bezieht sich nicht nur auf die „vergleichbaren Regelungen“, sondern auf alle genannten Tatbestände, also auch auf die Änderungen der vertraglichen Grundlagen.19 Die zusätzliche Anforderung einer Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit muss demnach erst dann eingehalten werden, wenn die primärrechtliche Änderung entweder unmittelbar zu einer Änderung des Grundgesetzes führt oder – mittelbar – eine solche ermöglicht (sog. Evolutivklauseln).20 4.2. Abgrenzung von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG Schwierig ist die Abgrenzung, wann ein Gesetz mit einfacher Abstimmungsmehrheit nicht mehr genügt und stattdessen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eingreift. Das Verhältnis zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 2 und S. 3 GG ist umstritten. 4.2.1. Eine Auffassung: Satz 3 als Qualifikation von Satz 2 Zum Teil wird die Ansicht vertreten, dass Satz 2 der Grundtatbestand und Satz 3 die Qualifikation darstelle, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten also immer vorliegen müsse, damit Satz 3 überhaupt Anwendung finde.21 Der Relativsatz sei nur eine Umschreibung für die Übertragung von Hoheitsrechten.22 Da durch jede Übertragung von Hoheitsrechten auch das Grundgesetz, zumindest in seiner Kompetenzordnung, berührt werde, habe Satz 3 keine eigenständige Bedeutung.23 Die Bundesregierung hielt Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten, die durch eine Änderung der EU-Verträge veranlasst wird, für anwendbar, wenn die Vertragsänderung von ihrem Gewicht her der Gründung der EU nicht vergleichbar sei und insoweit nicht die Geschäftsgrundlage der europäischen Integration betreffe.24 Teilweise wird jeder Hoheitsrechtsübertragung , die zusätzlich die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG erfüllt, die Erforderlichkeit einer Zweidrittelmehrheit zugesprochen.25 So hat bereits die Gemeinsame Verfassungskommission die Ansicht vertreten, dass alle Hoheitsrechtsübertragungen, soweit sie von verfassungsrechtli- 19 Pernice, in: Dreier, (Hrsg.), GG, Art. 23, Rdnr. 87; Hölscheidt/Schotten, Die Erweiterung der Europäischen Union als Anwendungsfall des neuen Europaartikels 23 GG, DÖV 1995, S. 187 (189). 20 Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.) GG, Art. 23, Rdnr. 113. 21 So die Bundesregierung in einer Gegenäußerung zu einer Stellungnahme des Bundesrates zum Beitritt der skandinavischen Staaten, BT-Drs. 12/7977, S. 330. Ähnlich auch die Gemeinsame Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 21. 22 BT-Drs. 12/7977, S. 330. 23 Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBl. 1993, S. 936 (943 f.). 24 Amtliche Begründung der Bundesregierung, BR-Drs. 501/92, S. 15. Dieser Auffassung widersprach der Bundesrat (BR-Drs. 501/1/92, S. 1 f.). 25 Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 (423). Wissenschaftliche Dienste Seite 11 cher Relevanz sind, den besonderen Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG unterliegen . Dies gelte ohne Rücksicht darauf, ob wesentliche Strukturen des Grundgesetzes betroffen seien.26 Eine leicht abweichende Meinung wendet Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ebenfalls nur bei der Übertragung von Hoheitsrechten an, sieht eine solche aber schon dann als gegeben an, wenn es zu strukturellen, wesentlichen Verschiebungen zulasten Deutschlands und zugunsten der EU komme, die eine direkte und messbare Einbuße an Einwirkungsmöglichkeiten auf Entscheidungen auf EU-Ebene mit sich bringen, beispielsweise durch den Übergang von der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zur einfachen Mehrheit. Solche Verschiebungen seien dann auch verfassungsrelevant.27 4.2.2. Andere Auffassung: Eigenständige Bedeutung von Satz 3 Die Gegenmeinung erkennt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eine eigenständige Bedeutung zu. Zum einen müsse nicht jede Vertragsänderung mit einer Übertragung von Hoheitsrechten oder einer Änderung des Grundgesetzes einhergehen,28 zum anderen sei nicht jede Hoheitsrechtsübertragung verfassungsrelevant . Vielmehr sei auf ihren materiellen Gehalt abzustellen.29 Wäre jede Hoheitsrechtsübertragung verfassungsrelevant, wäre Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG überflüssig.30 Art. 23 Abs. 1 GG müsse von seinem Anwendungsbereich weit ausgelegt werden. Er sei daher nicht nur bei der Übertragung von Hoheitsrechten einschlägig, sondern auch dann, wenn es sich um materiellrechtliche Änderungen handele.31 Dieser Gedanke lässt sich in dem Sinne weiterführen, dass bei jeder Änderung der Verträge eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein soll, wenn vom Inhalt des Grundgesetzes abgewichen wird.32 Die hier wiedergegebene Auffassung, nach der Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eine eigenständige Bedeutung zukommt, hat im Zusammenhang mit der Ergänzung des Art. 136 AEUV um einen Absatz 3, der die Etablierung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) auf völkerrechtlicher Ebene ermöglicht, erneut Unterstützung erfahren: So sprechen sich Kube/Reimer, Hufeld, Rathke und Calliess dafür aus, dass auch diejenigen Vertragsänderungen, die nicht die Vorausset- 26 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 21. 27 Hölscheidt/Schotten, Die Erweiterung der Europäischen Union als Anwendungsfall des neuen Europaartikels 23 GG, DÖV 1995, S. 187 (191 f.); Geiger, Rudolf, Die Mitwirkung des deutschen Gesetzgebers an der Entwicklung der Europäischen Union, JZ 1996, S. 1093 (1097). 28 Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 23, Rdnr. 36. 29 Scholz, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 1993, S. 817 (822). 30 Scholz, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 1993, S. 817 (821 f.); Jarass/Pieroth, GG, Art. 23, Rdnr. 36. 31 Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Auflage 2010, Art. 23, Rdnr. 12. 32 Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, S. 589 (591). Wissenschaftliche Dienste Seite 12 zungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erfüllen, d. h. keine Hoheitsrechtsübertragung mit sich bringen , den Bindungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG unterliegen.33 5. Stellungnahme 5.1. Anwendbarkeit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG trotz völkerrechtlicher Qualität des Fiskalvertrages ? Die Bundesregierung greift für das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in entsprechender Anwendung zurück. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist im Kontext des gesamten Absatzes 1 zu sehen. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“ „bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mit. „Hierzu“ kann der Bund Hoheitsrechte übertragen (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG). Schaut man auf den genauen Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, könnten die Vorschriften so ausgelegt werden , dass der Bund demnach nicht nur auf die EU im engen Sinne, sondern auch im Hinblick auf die „Entwicklung der EU“ Hoheitsrechte übertragen tragen kann. Es finden sich in der Literatur deswegen Stimmen, die auf das offene Verständnis des Zuordnungssubjektes hinweisen.34 Ohne die Frage abschließend zu beantworten, weist Calliess bei der Frage nach der zutreffenden Norm für die Ratifizierung des ESM-Vertrages darauf hin, dass dieser aufgrund seiner ambivalenten Konstruktion – einerseits zwar formell außerhalb des Primärrechts stehend, andererseits einen unverkennbaren normativen und institutionellen Bezug zur WWU aufweisend – wegen des offenen Wortlauts von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ggf. durchaus auch dem Zustimmungsverfahren nach Art. 23 Abs. 1 GG unterliegen könnte.35 Obwohl die Frage aufgeworfen war, hat das BVerfG in seinem Urteil vom 7. September 2011 zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm36 dahinstehen lassen, ob eine außerstaatlich 33 Kube/Reimer, Die Sicherung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: Rückkehr in die Bahnen des Rechts, ZG 2011, S. 332 (340); Hufeld, Zwischen Notrettung und Rütlischwur: der Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion in der Krise, integration 2011, S. 117 (127); Rathke, Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion: Der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV, DÖV 2011, S. 753 (757 f.); Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen , europäischen und nationalen Rechtsetzung, in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 72, S. 1 (42); ders., Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3); Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Auflage 2011, Art. 23, Rdnr. 80 f. 34 So Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3); Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Auflage 2011, Art. 23 Rdnr. 89; König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, S. 321 f. 35 Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3). 36 BVerfG, Urteil vom 7. September 2011, 2 BvR 987/10 u.a. = NVwZ 2011, S. 1515; s. hierzu Schröder/Rohleder, Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm, Aktueller Begriff Nr. 26/11, in: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, online abrufbar unter: http://www.bundestag.de/ dokumente/analysen/2011/urteil_bverfg_euro-rettungsschirm.pdf (letzter Abruf: 8. März 2012). Wissenschaftliche Dienste Seite 13 wirksame Gewährleistungsübernahme im Rahmen der Griechenland-Fazilität und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), also außerhalb des Rechtsrahmens der EU, „tatsächlich der Ausgestaltung der Umformung übertragener Hoheitsrechte im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG entspreche[n] und jedenfalls auf eine solche angelegt sei[en]“.37 Stattdessen greift das BVerfG als verfassungsrechtlichen Bezugspunkt seiner Entscheidung auf das Demokratieprinzip zurück.38 In der Literatur wird die Zurückhaltung unterschiedlich interpretiert: Calliess meint, dass aufgrund der Tatsache, dass das BVerfG nicht auf die Kompetenzverteilung nach Art. 23, 24, 59 Abs. 2 GG eingehe,39 unklar bleibe, ob der völkerrechtliche ESM-Vertrag nach der Rechtsprechung gemäß Art. 23 Abs. 1 GG ratifiziert werden müsste.40 Kube und Reimer gehen davon aus, dass für punktuelle Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Wege einer intergouvernementalen Koordination die Anwendbarkeit von Art. 23 Abs. 1 GG zwar noch offen geblieben sein möge; bei der Einrichtung eines dauerhaften Stabilitätsmechanismus sei Art. 23 Abs. 1 GG jedoch anwendbar.41 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es Argumente dafür gibt, Art. 23 Abs. 1 GG auch auf außerhalb des unmittelbaren Rechtsrahmens der EU stattfindende Koordinierungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten der EU anzuwenden, wenn diese einen unmittelbaren Bezug zur EU haben und z. B. zur Fortentwicklung der WWU beitragen. Nimmt man aufgrund der komplementärrechtlichen Natur des Fiskalvertrages (s. Ziffer 2), seiner Anlage auf Dauer und des Ziels der Überführung in das Unionsrecht (Art. 16 FiskalV) an, dass auch dieser grundsätzlich in einen weit ausgelegten Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 GG fallen könnte, müssten dennoch die übrigen Voraussetzungen für die Anwendung der Bestimmungen erfüllt oder zumindest analog anwendbar sein. 5.2. Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG? Nach den Ausführungen unter Ziffer 4.2. ist es streitig, ob die Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt. Diese Frage könnte dahinstehen, wenn eine Übertragung von Hoheitsrechten vorläge. Eine Übertragung von Hoheitsrechten könnte bezogen auf den Fiskalvertrag im Wesentlichen unter vier Aspekten vorliegen: 37 BVerfG, a.a.O., Rdnr. 107. 38 BVerfG, a.a.O., Rdnr. 120 ff. Hierauf verweisen Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (4); hierauf hat auch Kaufmann beim Expertengespräch im Ausschuss für die Angelegenheiten der EU am 20. Januar 2012 hingewiesen. 39 Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3). 40 Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (5). 41 Kube/Reimer, Die Sicherung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: Rückkehr in die Bahnen des Rechts, ZG 2011, S. 332 (342). Wissenschaftliche Dienste Seite 14 5.2.1. Übertragung von Hoheitsrechten auf den EuGH? Der EuGH wird nach Art. 8 Abs. 1 FiskalV für Klagen der Mitgliedstaaten des Vertrages für zuständig erklärt, die diese wegen Nicht-Umsetzung der Schuldenbremsen in Form von Bestimmungen verbindlicher und dauerhafter Art, vorzugsweise mit Verfassungsrang, nach Art. 3 Abs. 2 FiskalV vor dem EuGH anhängig machen. Der EuGH ist nach Art. 8 Abs. 2 FiskalV ferner zuständig für Klagen eines Vertragsstaates wegen Nicht-Umsetzung des aufgrund Art. 8 Abs. 1 FiskalV ergehenden Urteils des EuGH und kann in diesem zweiten Verfahren monetäre Sanktionen verhängen . Die Einbindung des EuGH in die Verfahren des Fiskalvertrages erfolgt in unionsrechtlich zulässiger Weise auf der Grundlage von Art. 273 AEUV, der eine Zuständigkeit des EuGH für Schiedsverträge der Mitgliedstaaten konstituiert.42 Fraglich ist, ob in der Einbindung des EuGH in die Verfahren des Fiskalvertrages eine Übertragung von Hoheitsrechten auf ein Organ der EU zu sehen ist. Hiergegen spricht, dass die grundsätzliche Prorogationsmöglichkeit für Streitigkeiten, die von Mitgliedstaaten der EU aufgrund eines Schiedsvertrages anhängig gemacht werden, im Primärrecht in Art. 273 AEUV schon vorgesehen ist. Eine abstrakte Hoheitsrechtsübertragung hat also schon stattgefunden. Es erscheint deswegen überflüssig, in jeder Zuständigkeitserklärung des EuGH in Schiedsverträgen der Mitgliedstaaten im konkreten Fall eine weitere Kompetenzübertragung zu sehen. So müsste man andernfalls konsequenterweise eine Hoheitsrechtsübertragung auch bzgl. der Einbindung des EuGH als Schiedsgericht für Streitigkeiten, die sich im Rahmen der EFSF (Erklärung der Zuständigkeit des EuGH in Art. 16 Abs. 2 EFSF-Rahmenvertrag) und des ESM (Erklärung der Zuständigkeit des EuGH in Art. 32 Abs. 3 ESM-V) ergeben, eine Hoheitsrechtsübertragung sehen. Nach hiesiger Einschätzung sprechen deswegen gute Gründe dafür , eine Hoheitsrechtsübertragung bezogen auf den EuGH abzulehnen. 5.2.2. Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Kommission und den Rat der EU? Die Europäische Kommission (Kommission) und der Rat der EU sind an verschiedenen Stellen mit Überwachungs- und Berichtsfunktionen in die Umsetzung des Fiskalvertrages eingebunden. Aus unionsrechtlicher Perspektive kann man darüber diskutieren, ob es sich hierbei um eine Organleihe im technischen Sinne handelt, also ein Ausleihen eines Organs an eine andere Organisation ,43 oder ein Tätigwerden im Rahmen bestehender Überwachungsverfahren der EU.44 Wie in 42 Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit der Etablierung des Klageverfahrens vor dem EuGH auf der Grundlage des Art. 273 AEUV vgl. ausführlich: Rohleder, Klagerecht der Vertragsstaaten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Bezug auf die Umsetzung der sog. Schuldenbremsen in nationales Verfassungs- bzw. gleichwertiges Recht nach dem Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 11 – 3000 – 024/12; Rohleder, Voraussetzungen für die Einbeziehung von Organen/Einrichtungen der Europäischen Union in die Arbeit einer auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages zu gründenden „Fiskalunion“, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 207/11; , Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 217/11, WD 3 – 3000 – 010/12. 43 Fröhling, Die Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, 2000, S. 117. 44 S. zu dieser Frage ausführlich: Rohleder, Voraussetzungen für die Einbeziehung von Organen/Einrichtungen der Europäischen Union in die Arbeit einer auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages zu gründenden „Fiskalunion “, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 207/11, S. 8 ff.; , Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 217/11, WD 3 – 3000 – 010/12, S. 12 ff.; Entwurf eines finanzpolitischen Paktes – Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- Wissenschaftliche Dienste Seite 15 Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste gezeigt wurde, kann in beide Richtungen argumentiert werden. Soweit der Kommission nach Art. 8 Abs. 1 und 2 FiskalV eine Berichtspflicht bzgl. der Umsetzung der Schuldenbremsen in nationales Recht zukommt, kann man diese als sich im Rahmen der generellen Aufgabenbeschreibung der Kommission in Art. 17 Abs. 1 EUV haltend ansehen45 und auf die vergleichbaren Berichtspflichten im Rahmen der multilateralen Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik nach Art. 121 AEUV und des Defizitverfahrens nach Art. 126 AEUV hinweisen.46 Mit einer Analyse der bisherigen Kompetenzen der Kommission im Einzelfall ließe sich auch in die entgegengesetzte Richtung argumentieren.47 Ein vergleichbarer Argumentationsspielraum besteht bzgl. der Einbindung der Kommission und des Rates bei der Überprüfung der Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme der Vertragsstaaten gemäß Art. 5 FiskalV.48 Diese Einbindung der Unionsorgane soll nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 FiskalV zwar ausdrücklich im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts erfolgen. Andererseits ließe sich argumentieren, dass in der Überwachung der Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme ein qualitativer Unterschied im Vergleich zur bislang zumindest eher vordergründig auf den Schuldenabbau und weniger auf die Mittel zur Erreichung dieses Ziels gerichteten fokussierten Defizitverfahrens zu erkennen ist. Fraglich ist jedoch, ob in diesen beschriebenen Akzentverschiebungen in den Berichtsund Überwachungsverfahren eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu sehen ist. Hiergegen spricht, dass es sich eher um eine Ausfüllung bereits bestehender Kompetenzen handelt, als um eine Ausdehnung oder tiefgehende Umformung dieser Kompetenzen.49 und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 018/12, WD 3 – 3000 – 029/12; Rohleder, Klagerecht der Vertragsstaaten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Bezug auf die Umsetzung der sog. Schuldenbremsen in nationales Verfassungs- bzw. gleichwertiges Recht nach dem Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 11 – 3000 – 024/12. 45 Mayer beim Expertengespräch im Rahmen des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU am 20. Januar 2012, Schorkopf, Interview mit Spiegel Online vom 10. Dezember 2011, „Zeugen einer großen politischen Wende“. 46 S. die Nachweise bei Fn. 44. 47 S. die Nachweise bei Fn. 44. 48 S. die Nachweise bei Fn. 44, insb. , Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 217/11, WD 3 – 3000 – 010/12, S. 14 ff.; Klagerecht der Vertragsstaaten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Bezug auf die Umsetzung der sog. Schuldenbremsen in nationales Verfassungs- bzw. gleichwertiges Recht nach dem Entwurf eines Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Wissenschaftliche Dienste, Sachstand WD 11 – 3000 – 024/12, S. 7 f. 49 S. zur Abgrenzung von „vertragsausfüllenden“ zu „vertragsverlängernden“ Hoheitsrechtsübertragungen König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, S. 329. Wissenschaftliche Dienste Seite 16 5.2.3. Übertragung von Hoheitsrechten durch Etablierung eines Verfahrens der umgekehrten Abstimmung? Art. 7 FiskalV führt zusätzlich zu den bereits sekundärrechtlich vorgesehenen Abstimmungen im Verfahren der umgekehrten Abstimmung50 im Defizitverfahren die grundsätzliche Feststellung im Rat der EU, dass überhaupt ein Defizit in einem Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebiets besteht, und die Verschärfung von bereits verhängten Sanktionen einem Verfahren der umgekehrten Abstimmung zu: Mit dem Fiskalvertrag verpflichten sich die Vertragsstaaten völkerrechtlich, die Vorschläge und Empfehlungen der Kommission im Defizitverfahren zu unterstützen. Diese Binnenverpflichtung besteht nicht, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Vertragsstaaten die von der Kommission vorgeschlagene oder empfohlene Entscheidung ablehnt. Es handelt sich also um eine völkervertragliche Vorabfestlegung des Entscheidungsverhaltens, die im Vergleich zum Unionsrecht keine vorrangige Rechtswirkung entfaltet.51 Dies folgt daraus, dass der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch für das Verhältnis des Unionsrechts zum Fiskalvertrag gilt.52 Selbst wenn man, wie eine unter Ziffer 4.2.1. dargestellte Ansicht in der Literatur der Auffassung ist, dass bereits Änderungen des Abstimmungsverfahrens strukturell zu Gunsten der EU und zu Lasten Deutschlands eine verfassungsrechtlich relevante Übertragung von Hoheitsrechten darstellen können, läge diese Voraussetzung nicht vor: Es handelt sich schließlich nur um eine völkerrechtliche Verpflichtung, die die Verfahrensvorschriften des Unionsrechts nicht außer Kraft setzen kann. 5.2.4. Übertragung von Hoheitsrechten durch die völkervertragliche Verpflichtung zur Einführung von Schuldenbremsen? Fordert man eine Hoheitsrechtsübertragung, bliebe ggf. noch zu argumentieren, dass sich Deutschland durch die völkervertragliche Verpflichtung zur Einführung von Schuldenbremsen „in Form von Bestimmungen, die verbindlicher und dauerhafter Art sind, vorzugsweise mit Verfassungsrang “ (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 FiskalV) dauerhaft des Rechts begibt, die Schuldenbremse im deutschen Recht abzuschaffen. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten kommt es – wie unter 50 Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit , ABl. 1997 L 209/6, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 1177/2011 des Rates vom 8. November 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. 2011 L 306/33; Verordnung (EU) Nr. 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro- Währungsgebiet, ABl. 2011 L 306/1. 51 S. hierzu die Nachweise bei Fn. 48. 52 Vgl. von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 62 (2002), S. 77 (126); Ziegenhorn, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 45. EL 2011, Art. 16 EUV, Rdnr. 36; Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2008, Rdnr. 317; Würmeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 205 f. Wissenschaftliche Dienste Seite 17 Ziffer 4.1. herausgearbeitet – darauf an, dass die übertragenen Hoheitsrechte direkt auf den innerstaatlichen Bereich, auf Bürger oder Behörden,53 durchgreifen können; es geht also um Übertragung zur supranationalen Wahrnehmung.54 Mit dem Fiskalvertrag werden jedoch lediglich völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland geschaffen (s. Ziffer 2), auch wenn diese sich auf die Verfahren in der supranationalen EU mittelbar auswirken mögen. Eine Hoheitsrechtsübertragung ist damit bezogen auf die Verpflichtung zur Einführung von Schuldenbremsen mangels Durchgriffswirkung zu verneinen. 5.2.5. Zwischenfazit Folgt man der Ansicht, die im Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eine Hoheitsrechtsübertagung gemäß Satz 2 für zwingend erforderlich hält (s. Ziffer 4.2.1.), so wäre diese Bestimmung für den Fiskalvertrag nicht einschlägig. Die Ratifizierung mit einfacher Mehrheit wäre ausreichend. Der Auffassung folgend, die Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht als bloßen Unterfall des Satzes 2 ansieht und dementsprechend eine eigenständige Bedeutung zubilligt (s. Ziffer 4.2.2.), könnte der Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 3 Satz 3 GG auch ohne Hoheitsrechtsübertragung eröffnet sein, sofern die weiteren Voraussetzung der Bestimmung vorliegen würden. 5.3. Isolierte Anwendung von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG 5.3.1. Unmittelbare Anwendung Eine unmittelbare, isolierte Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG würde eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU oder eine vergleichbare Regelung erfordern, die jeweils das GG seinem Inhalt nach ändert oder ergänzt oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht. 5.3.1.1. Änderung der vertraglichen Grundlagen Eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU, d. h. des EUV, AEUV, ihrer Protokolle oder des Primärrechts der Europäischen Atomgemeinschaft,55 liegt nicht vor. Diese soll gemäß Art. 16 FiskalV erst fünf Jahre nach Inkrafttreten des Fiskalvertrages in Erwägung gezogen werden. 53 S. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000, S. 318. 54 Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 23, Rdnr. 26; Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 65, Stand: August 2011; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 23, Rdnr. 67; Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, S. 1 (3). 55 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 78, Stand: August 2011. Wissenschaftliche Dienste Seite 18 5.3.1.2. Vergleichbare Regelungen, wie die Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU Fraglich ist, ob der Fiskalvertrag als „vergleichbare Regelung“ aufzufassen ist. Die Vergleichbarkeit bezieht sich dabei auf die Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU.56 In der Literatur werden als „vergleichbare Regelungen“ die „Evolutivklauseln“ im EUV und AEUV genannt, die eine Ergänzung des Unionsrechts durch einstimmigen Ratsbeschluss mit anschließender Annahme nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten zulassen (z. B. Art. 223 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV).57 Teilweise wird auch vertreten, dass die mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Brückenklauseln und autonomen Vertragsänderungsverfahren in den Anwendungsbereich der „vergleichbaren Regelungen“ fallen.58 Der Fiskalvertrag ist nicht in Ausübung einer evolutiven Regelung in den grundlegenden Verträgen der EU entstanden. Der Sachverhalt unterfällt daher nicht den bekannten Fallgruppen der „vergleichbaren Regelungen“. Art. 16 FiskalV sieht zwar die Überführung des Inhalts des Fiskalvertrages in den Rechtsrahmen der Union vor. Dieses Verfahren erfolgt jedoch nicht automatisch nach Abschluss des Vertrages, so dass auch insoweit keine Vergleichbarkeit gegeben ist. Zudem ist zu erwarten, dass bei Überführung des Fiskalvertrages in das Primärrecht der Inhalt des Vertrages – beispielsweise zur Anpassung des Klageverfahrens bei Nicht-Umsetzung der Schuldenbremse vor dem EuGH an das bestehende Vertragsverletzungsverfahren – verändert würde. Die Umsetzung würde voraussichtlich also nicht eins zu eins erfolgen. Eine unmittelbare Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG scheidet demnach aus. 5.3.2. Analoge Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG Die Bundesregierung greift in ihrem Referentenentwurf des Vertragsgesetzes auf eine entsprechende Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG zurück, „da der Vertrag eine der Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union vergleichbare Regelung darstellt, durch die sich die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich bindet, keine Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes, insbesondere der Artikel 109, 115 und 143d des Grundgesetzes, die diesem Vertrag entgegenstehen würden, vorzunehmen.“59 5.3.2.1. Herstellung der Analogie – faktische Vertragsänderung? Über die förmlichen Primärrechtsänderungen und die Evolutivklauseln hinaus wird in der Rechtswissenschaft explizit im Hinblick auf die neuere Praxis im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise diskutiert, ob es nicht ratifikationsanaloge Sachverhalte gebe, die im 56 Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 23, Rdnr. 37. 57 Scholz, in: Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 2, 2. Auflage 2006, Art. 23, Rdnr. 88; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Auflage 2011, Art. 23 Rdnr. 84. 58 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 78, Stand: August 2011. 59 Hervorhebung durch Verfasserinnen. Wissenschaftliche Dienste Seite 19 Ergebnis eine faktische Vertragsänderung bedeuten würden.60 So geht Herdegen davon aus, dass die Vereinbarungen der Mitgliedstaaten über freiwillige Finanzhilfen im Rahmen der Griechenland -Fazilität und der EFSF normativ für die Auslegung des AEUV Bedeutung hätten.61 Die Vereinbarungen dokumentierten den Konsens der Mitgliedstaaten über eine offengehaltene Option für Unterstützungsmaßnahmen außerhalb des Vertrages. Diese im Vergleich zum Vertragstext spätere Vertragspraxis habe Auswirkungen auf die Auslegung des AEUV im Sinne völkerrechtlicher Kriterien (Art. 31 Abs. 3 lit. b Wiener Vertragsrechtskonvention62).63 Schorkopf geht davon aus, dass in einem solchen Fall der Vertragsergänzung prozedurale Kehrseite der geringeren Formstrenge bei der Entwicklung des Primärrechts die innerstaatliche Willensbildung auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG sei.64 Der Autor weist jedoch ebenso darauf hin, dass seiner Auffassung nach faktische Vertragsänderungen, d. h. Handlungen der Organe und Mitgliedstaaten auf Unionsebene oder Mitgliedstaaten auf intergouvernementaler Ebene, die im Ergebnis das geschriebene Vertragsrecht auf Dauer ändern würden, bei einer strengen Betrachtung der Grundlagen der EU, insbesondere wegen eines andernfalls erfolgenden Unterlaufens des Vertragsänderungsverfahren , per se nicht möglich seien.65 Damit sind ein grundsätzliches Argument und ein Gegenargument für die analoge Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ins Spiel gebracht. Im Hinblick auf den Fiskalvertrag könnte argumentiert werden, dass Art. 16 FiskalV schon die Überführung ins Unionsrecht vorsieht und damit eine spätere Vertragsänderung zumindest teilweise vorwegnimmt. Ferner wird das Defizitverfahren durch die im komplementärrechtlichen Vertrag enthaltenen völkerrechtlichen Verpflichtungen leicht abgewandelt, was man als faktische Vertragsänderung in diesem Sinne interpretieren könnte. Auch leicht abgewandelte Berichts- und Überwachungspflichten der Kommission könnten in diesem Sinne als faktische Vertragsänderung interpretiert werden. Letztlich müsste man an den oben herausgearbeiteten, unverkennbaren normativen und institutionellen Bezug des Fiskalvertrages zur WWU anknüpfen (s. Ziffer 5.1.). 5.3.2.2. Verfassungsänderndes Gewicht? Entscheidendes Kriterium ist jedoch, dass eine solche „faktische Vertragsänderung“ ein verfassungsänderndes Gewicht aufweist: Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verlangt, dass durch die Vertragsänderung (oder in analoger Anwendung durch die faktische Vertragsänderung) das GG seinem In- 60 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 79, Stand: August 2011. 61 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 88, Rdnr. 24, 63. Ergänzungslieferung 2011. 62 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK lautet: „Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen [..] b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht.“ 63 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 88, Rdnr. 24, 63. Ergänzungslieferung 2011. 64 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 79, Stand: August 2011. 65 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 79, Stand: August 2011. Wissenschaftliche Dienste Seite 20 halt nach geändert oder ergänzt wird. Die Bundesregierung sieht dieses Tatbestandsmerkmal deswegen als erfüllt an, weil sich die Bundesrepublik verpflichte, keine Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes, insbesondere der Art. 109, 115 und 143d GG, die diesem Vertrag entgegenstehen würden, vorzunehmen. Die Verpflichtung zur dauerhaften Einführung einer Schuldenbremse in nationalen verbindlichen Bestimmungen, vorzugsweise mit Verfassungsrang, soll also in einem Kausalzusammenhang mit dem GG66 stehen. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die völkervertragliche Verpflichtung zur Einführung von Schuldenbremsen streng genommen nur „vorzugsweise“ auf Bestimmungen mit Verfassungsrang bezieht – eine „verbindliche und dauerhafte“ Niederlegung in gesetzlichen Bestimmungen erfüllt die Verpflichtung aus dem Fiskalvertrag ebenfalls. Eine Änderung des GG, die die Schuldenbremse aus der Verfassung streicht, um sie danach anderweitig dauerhaft und verbindlich zu verankert , würde also nicht zwangsläufig zu einem Verstoß gegen das Völkerrecht führen. Man könnte das verfassungsändernde Gewicht daher schon vor diesem Hintergrund in Frage stellen. Insbesondere ist jedoch auf die Rechtsnatur des Fiskalvertrages hinzuweisen: Beim Fiskalvertrag handelt es sich trotz seines komplementärrechtlichen Charakters um eine völkerrechtlichen Vertrag (s. oben). Das Vertragsgesetz hat in der deutschen Normenhierarchie den Rang eines einfachen Gesetzes.67 Eine einfachgesetzliche Verpflichtung zur Einführung einer Schuldenbremse auf dauerhafter, verbindlicher Ebene – vorzugsweise mit Verfassungsrang – kann dem deutschen Gesetzgeber grundsätzlich nicht die Dispositionsbefugnis über die Abschaffung der Schuldenbremse im GG mit Zweidrittelmehrheit entziehen. Der Verfassunggeber ist nicht daran gehindert, die Verfassung im erforderlichen Verfahren zu ändern. Ausgeschlossen ist lediglich eine Änderung derjenigen Bestimmungen, die der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen. Zu fragen ist aber, ob aufgrund der völkerrechtlich-komplementärrechtlichen Natur des Fiskalvertrags eine Selbstbindung des Verfassunggebers entsteht, die ihm eine nachträgliche Änderungsbefugnis bzgl. der Schuldenbremse entziehen würde. In diesem Kontext ist der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG zu beachten, der sich aus der Gesamtschau verschiedener Regelungen des GG (Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis 26 sowie Art. 32 und 59 GG) sowie der Präambel ergibt.68 Es ist anerkannt, dass dieser als Auslegungskriterium von materiellen Verfassungsbestimmungen und einfachem Recht dienen kann.69 Stellt man auf die komplementärrechtliche Natur des Fiskalvertrages ab, könnte man zusätzlich auch auf den im Lissabon-Urteil des BVerfG entwickelten Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit der Verfassung verweisen.70 Führen jedoch die Auslegungsgrundsätze der Völkerrechtsfreundlichkeit bzw. der Europarechtsfreundlichkeit des GG dazu, dass die Verfassung entgegen einer völkerrechtlichen Verpflichtung 66 Schorkopf, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 23, Rdnr. 80, Stand: August 2011. 67 Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 59, Rdnr. 19. 68 S. Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009, S. 180 m.w.N. 69 Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des GG, AöR 114 (1989), S. 391 (414 f.). 70 BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08 u.a. = NJW 2009, S. 2267 (2285), Rdnr. 340; BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, 2 BvR 2661/06, Rdnr. 58 ff. = NJW 2010, S. 3422. Wissenschaftliche Dienste Seite 21 nicht mehr geändert werden dürfte? Zweifelsohne sind Verstöße gegen völkerrechtliche Verpflichtungen aus unterschiedlichsten politischen und rechtlichen Gründen zu vermeiden (keine Unterminierung des Vertragsregimes, Verhinderung der Verhängung von Sanktionen etc.). In einer älteren Entscheidung hat das BVerfG jedoch festgestellt, dass das GG „in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit nicht soweit gehe, die Einhaltung bestehender völkerrechtlicher Verträge durch eine Bindung des Gesetzgebers an das ihnen entsprechende Gesetz zu sichern“.71 Wenn der deutsche Verfassunggeber mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat eine Änderung der Verfassung entgegen einer ausdrücklichen völkerrechtlichen Verpflichtung beschließt, übt er also letztlich seine trotz völkerrechtlicher Verpflichtungen bestehende Souveränität aus, die das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil betont.72 Es kann in diesem Kontext ein Vergleich zur Wirkung des Rechts der EU selbst im deutschen Recht gezogen werden: Rein dogmatisch wäre der Verfassunggeber selbst nicht daran gehindert, die Verfassung entgegen dem Recht der EU zu ändern. Der EuGH hat zwar richterrechtlich seit den Urteilen Costa/ENEL (1964), Internationale Handelsgesellschaft (1970) und Simmenthal II (1978) das Unionsrecht als autonome Rechtsordnung qualifiziert und den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem gesamten nationalen Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, eingefordert .73 Ein Geltungsvorrang des Unionsrechts, der zur Nichtigkeit unionsrechtswidrigen nationalen Rechts führen würde, existiert jedoch auch nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache IN.CO.GE (1998) nicht.74 Die geänderte, unionsrechtswidrige Verfassung dürfte lediglich nicht angewandt werden. Darauf weist auch das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil noch einmal ausdrücklich hin.75 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass mit jedem Eingehen einer völkerrechtlichen Bindung letztlich völkerrechtlich verbindlich zugesagt wird, sich an den Vertrag zu halten. Diese Verpflichtung beinhaltet immer implizit auch die Absage an den Erlass völkerrechtswidrigen Rechts, insbesondere – aufgrund der höheren Bindungskraft – völkerrechtswidrigen Verfassungsrechts . Mit dieser Argumentation ließe sich daher eine Zweidrittelmehrheit für jede Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages rechtfertigen. Eine solche Argumentation wurde bislang 71 BVerfGE 6, 309 (362 f.). S. hierzu Schweitzer, Staatsrecht III, 10. Auflage 2010, Rdnr. 449. 72 S. auch hierzu das Lissabon-Urteil des BVerfG: BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08 u.a. = NJW 2009, S. 2267 (2285), Rdnr. 340: „Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten. Es verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität als Recht eines Volkes, über die grundlegenden Fragen der Identität konstitutiv zu entscheiden.“ 73 S. z. B. Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009, S. 399; Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 181 f. 74 EuGH, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, S. I-6307, Rdnr. 18 ff. – IN.CO.GE; insb. Rdnr. 21: „Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann deshalb aus dem Urteil Simmenthal nicht hergeleitet werden, dass die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht dazu führt, dass diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr dazu verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen [….].“; Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, Rdnr. 181. 75 BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, 2 BvE 2/08 u.a. = NJW 2009, S. 2267 (2285), Rdnr. 335: „Eine solche rechtsvernichtende , derogierende Wirkung entfaltet das supranational begründete Recht nicht. Der europarechtliche Anwendungsvorrang lässt entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht in seinem Geltungsanspruch unberührt und drängt es nur in der Anwendung soweit zurück, wie es die Verträge erfordern […].“ Wissenschaftliche Dienste Seite 22 im Kontext völkerrechtlicher Verträge jedoch von Literatur und Rechtsprechung abgelehnt, wie der nachfolgende Vergleich mit Hoheitsrechtsübertragungen nach Art. 24 Abs. 1 GG zeigt. 5.3.2.3. Vergleich mit einer Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG Art. 24 Abs. 1 GG regelt die Übertragung von Hoheitsrechten auf andere zwischenstaatliche Einrichtungen als die EU, wie z. B. auf die NATO, Eurocontrol oder den Internationalen Seegerichtshof . Im Gegensatz zur Hoheitsrechtsübertragung auf die EU nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG erfolgt die Übertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG stets durch ein einfaches Bundesgesetz. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 24 GG ergibt sich, dass der Parlamentarische Rat die Anwendung von Art. 79 Abs. 1 und 2 GG auf das Gesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG ausdrücklich ablehnte.76 Der Parlamentarische Rat wollte mit der Verhinderung der Zweidrittelmehrheit die Eingliederung der Bundesrepublik in internationale Kooperationssysteme erleichtern.77 Dies ist vom BVerfG in seiner Eurocontrol-Entscheidung nicht in Frage gestellt worden.78 Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur ist eine (analoge) Anwendung des Art. 79 Abs. 2 GG im Kontext des Art. 24 Abs.1 GG nicht umstritten.79 Eine Zweidrittelmehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG ist damit für eine Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG nicht erforderlich. Als Beispiel kann auf das Vertragsgesetz zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 verwiesen werden (IStGH-Statutgesetz).80 Dies ist mit einfacher Mehrheit gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 24 Abs. 1 GG erlassen worden, obwohl zur Umsetzung der völkerrechtlichen Überstellungsverpflichtung an den IStGH gleichzeitig Art. 16 GG geändert wurde.81 Eine nachträgliche Rückänderung des Art. 16 GG hätte also ebenfalls einen Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen dargestellt. 5.3.2.4. Andere Einschätzung aufgrund des komplementärrechtlichen Charakters? Eine andere Beurteilung könnte sich wiederum aufgrund des komplementärrechtlichen Charakters des Fiskalvertrages ergeben, der eine analoge Anwendung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG rechtfertigen könnte und so auch ein anderes Verständnis bzgl. des verfassungsänderndes Gewichts . Dieser Argumentation kann jedoch entgegengehalten werden, dass mit der Integration des Fiskalvertrages in den rechtlichen Rahmen der EU, wie sie in Art. 16 FiskalV vorgesehen ist, ein Vertragsänderungsverfahren eingeleitet würde. Deutschland müsste dieser Vertragsänderung also erneut zustimmen und in diesem Verfahren würde sich auf die Frage nach den erforderlichen Mehrheiten erneut stellen. Eine vorweggenommene Annahme einer Zweidrittelmehrheit erscheint also nicht zwingend. 76 Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2002, Art. 24, Rdnr. 71 mwN. 77 Tomuschat, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 24, Rdnr. 33. 78 BVerfGE 58, 1 (36): „[…], wenn schon eine förmliche Verfassungsänderung nach Art. 79 GG nicht gefordert ist.“ 79 Deiseroth, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2002, Art. 24, Rdnr. 71; Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2011, Art. 24, Rdnr. 8; Tomuschat, in: Dolzer/Graßhof/Kahl u.a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, Art. 24, Rdnr. 33. 80 BGBl. 2000 II S. 1394. 81 Vgl. die Begründung des Vertragsgesetzes, BT-Drs. 14/2682, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Seite 23 6. Möglichkeiten der Revision der eingegangen völkerrechtlichen Verpflichtung im Fiskalvertrag 6.1. Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages nach der Wiener Vertragsrechtskonvention Die Wiener Vertragsrechtskonvention82 (WVK), deren Inhalt überwiegend als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist,83 enthält verschiedene Bestimmungen zur Beendigung völkerrechtlicher Verträge , zu denen auch der Fiskalvertrag zu zählen ist. Nach Art. 54 lit. a WVK kann ein völkerrechtlicher Vertrag nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen gekündigt werden. Der Fiskalvertrag enthält jedoch keine Bestimmungen über Beendigungsmöglichkeiten , so dass diese Möglichkeit entfällt. Nach Art. 54 lit. b WVK könnte der Fiskalvertrag allerdings jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien beendet oder die Bundesrepublik Deutschland durch eine Aufhebungsvereinbarung aus dem Vertrag entlassen werden. Art. 56 Abs.1 WVK bestimmt, dass ein völkerrechtlicher Vertrag, der keine Bestimmung über seine Beendigung enthält und eine Kündigung oder einen Rücktritt nicht vorsieht – so wie der Fiskalvertrag – grundsätzlich nicht einseitig kündbar ist. Ausnahmen bestehen lediglich, sofern feststeht, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit einer Kündigung oder eines Rücktritts zuzulassen berücksichtigten (Art. 56 Abs. 1 lit. a WVK) [Umstände des Vertragsschlusses] oder sofern sich ein Kündigungs- oder Rücktrittsrecht aus der Natur des Vertrages herleiten lässt (Art. 56 Abs. 1 lit. b WVK). Aus der Entstehungsgeschichte des Fiskalvertrages sind - soweit aus hiesiger Perspektive beurteilbar - keine Umstände bekannt, die auf eine einseitige Kündigungsmöglichkeit hindeuten würden. Die Frage, wann sich eine Rücktrittsmöglichkeit aus der „Natur des Vertrages “ herleiten lässt, ist umstritten.84 In den Beratungen zur Wiener Vertragsrechtskonvention hatte man dabei vor allem Handels- und Bündnisverträge vor Augen, die nach Sinn und Zweck nur für eine gewisse Zeit gelten sollten.85 Diese Vergleichsgruppen sprechen eher dagegen, den Fiskalvertrag als „aus der Natur der Sache“ kündbar anzusehen. Über die beiden beschriebenen Fallgruppen hinaus enthalten Art. 60 bis 62 WVK einseitige Rücktrittsmöglichkeiten in speziellen Fällen. Art. 60 WVK regelt die Beendigung eines Vertrages wegen erheblicher Vertragsverletzung durch eine andere Vertragspartei.86 Gemäß Art. 62 WVK kann darüber hinaus ein tiefgreifender Wandel der Umstände nach Vertragsschluss ein Rücktrittsrecht begründen (Wegfall der Geschäftsgrundlage, sog. clausula rebus sic stantibus). Voraussetzung ist, dass die mittlerweile geänderten Umstände eine wesentliche Grundlage für die 82 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. II S. 926. 83 Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 50 EUV, Rdnr. 12, 45. EL 2011. 84 Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 12. Auflage 2009, S. 31. 85 Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 12. Auflage 2009, S. 32; Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, 2001, S. 199; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auflage 1984, S. 513. 86 Die Frage, wann eine Kündigung eines multilateralen Vertrages bei erheblicher Vertragsverletzung durch eine oder einzelne andere Vertragspartei(en) zulässig ist, ist in der Völkerrechtslehre stark umstritten. S. hierzu Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, 2001, S. 139 ff. Wissenschaftliche Dienste Seite 24 Zustimmung zum Vertrag bildeten und sich das Ausmaß der zu erbringenden Leistungen durch die Änderung der Umstände tiefgreifend umgestaltet hat. Eine Berufung auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage ist ausgeschlossen, wenn die Partei, die sich hierauf beruft, die Änderung der Umstände unter Verletzung völkerrechtlicher Normen selbst hervorgerufen hat (Art. 60 Abs. 2 WVK). Art. 56 Abs. 1 WVK stellt nach herrschender Auffassung in der Rechtswissenschaft klar, dass eine einseitige Kündigung ohne explizite Kündigungsklausel und nach freiem Ermessen grundsätzlich nicht möglich ist, sondern der völkerrechtliche Grundsatz „pacta sunt servanda“ gilt.87 Daneben gibt es aber auch Stimmen in der Literatur, die vertreten, dass auf unbestimmte Zeit geschlossene Verträge einseitig zu kündigen sein müssen, da sich kein Staat für immer binden und seine Souveränität in dieser Beziehung nicht aufgeben wolle.88 Im Kontext des komplementärrechtlichen Fiskalvertrages kann noch auf die theoretische Möglichkeit des einseitigen, ggf. auch nicht einvernehmlichen Austritts aus der EU gemäß Art. 50 EUV hingewiesen werden.89 Ein solcher Austritt aus der EU würde wiederum die Grundlage für den Fiskalvertrag entfallen lassen.90 Hierzu müssten aus prozeduraler verfassungsrechtlicher Perspektive die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG erfüllt sein.91 Umstritten aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist, ob weitere materielle Voraussetzungen vorliegen müssten.92 6.2. Verfassungsrechtliche Voraussetzungen Nach der Darstellung der völkerrechtlichen Voraussetzungen für eine Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach den innerstaatlichen, verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Ausübung einer Kündigungsmöglichkeit. Auf den ersten Blick könnte man erwägen, dass im Sinne der actus contrarius-Theorie die Legislative bei einem von ihr gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG mitverantworteten Vertrag entsprechend Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auch in die Beendigung einbezogen werden müsste. 87 Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, 2001, S. 199 m.w.N.; Brownlie, Principles of Public International Law, 7. ed, 2008, S. 620; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auflage 1984, S. 514. 88 Z. B. Haraszti, Some Fundamental Problems of the Law of the Treaties, 1973, S. 264; Feist, Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen, 2001, S. 199 m.w.N. 89 Vgl. hierzu , Zur rechtlichen Zulässigkeit des Austritts von Mitgliedstaaten aus der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung WD 11 – 3000 – 188/11. 90 Auf das Austrittsrecht weist das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil hin, Urteil vom 30.6.2009, 2 BvE 2/08 u.a. = NJW 2009, S. 2267 (2285), Rdnr. 330. In der Literatur ist umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bundesrepublik Deutschland aus der EU austreten könnte, s. hierzu Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 4. 91 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 4. 92 S. hierzu Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 4. Wissenschaftliche Dienste Seite 25 Das BVerfG ist in einem Urteil aus dem Jahr 1984 unter Verweis auf die deutsche Staatspraxis und der überwiegenden Ansicht im Schrifttum jedoch anderer Auffassung und verneint ein Zustimmungserfordernis der gesetzgebenden Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. 93 Die Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrages wäre danach ausschließlich eine Sache von Bundespräsident und Bundesregierung.94 Nettesheim wirft jedoch zu Recht die Frage auf, wie diese ältere Rechtsprechung mit der neueren Rechtsprechung95 in Einklang zu bringen ist, die die dauerhafte Verantwortung der Legislative für den Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrages betont.96 Eine zunehmende Anzahl von Stimmen in der Literatur spricht sich für eine Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften an der Beendigung völkerrechtlicher Verträge aussprechen, insbesondere wenn sie für das außenpolitische Wirken und Auftreten der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung sind.97 - Fachbereich Europa - 93 BVerfGE 68, 1 (83 ff.). S. zu den Argumenten, die für die Auffassung des BVerfG sprechen: Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 59, Rdnr. 139, 54. EL 2009. 94 Bayer, Die Aufhebung völkerrechtlicher Verträge im deutschen parlamentarischen Regierungssystem, 1969, S. 202. 95 BVerfG, Urteil vom 3.7.2007, 2 BvE 2/07 = NVwZ 2007, S. 1039 (1040): „Die Zustimmung des Deutschen Bundestages zu einem völkerrechtlichen Vertrag erschöpft sich nicht in einem einmaligen Mitwirkungsakt anlässlich des Vertragsschlusses, sie bedeutet vielmehr die dauerhafte Übernahme von Verantwortung für das im Vertrag und im Zustimmungsgesetz festgelegte politische Programm.“ 96 Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 59, Rdnr. 139, Fn. 2, 54. EL 2009. 97 Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 59, Rdnr. 140 m.w.N., 54. EL 2009; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band 2, 2006, Art. 59, Rdnr. 40 m.w.N.; ausführliche Diskussion bei Bayer, Die Aufhebung völkerrechtlicher Verträge im deutschen parlamentarischen Regierungssystem, 1969, S. 202 ff.