© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 49/19 Zu den unionsrechtlichen Vorgaben für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament und der parlamentarischen Unverletzlichkeit seiner Mitglieder Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Zeitliche Beschränkung der Unverletzlichkeit auf die „Dauer der Sitzungsperiode“ 6 2.1.2. Zeitliche Beschränkung der Unverletzlichkeit auf die Dauer der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament 6 2.1.2.1. Allgemeiner unionsrechtlicher Rahmen für den Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft 7 2.1.2.2. Spezielle unionsrechtliche Vorgaben für den Zeitpunkt des Erwerbs der Mitgliedschaft? 7 2.2. Die Grundprinzipien für die Durchführung von Wahlen in einem demokratischen System 8 2.2.1. Das passive Wahlrecht als Bestandteil der Grundprinzipien nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta 9 2.2.2. Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta 9 2.2.3. Mögliche Einschränkung des passiven Wahlrechts 10 2.2.4. Rechtfertigung einer möglichen Einschränkung im Einzelfall 11 2.2.4.1. Allgemeine Vorgaben der Rechtsprechung für die Rechtfertigung 11 2.2.4.2. Gebot zur Berücksichtigung des passiven Wahlrechts des Betroffenen im Rahmen der Interessenabwägung 12 3. Ergebnis 12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich wird um Auskunft zu den unionsrechtlichen Vorgaben für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament und der parlamentarischen Unverletzlichkeit seiner Mitglieder ersucht. Hintergrund des Ersuchens sind Medienberichte, wonach die spanischen Behörden beabsichtigen, den in den spanischen Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 gewählten Kandidaten Carles Puigdemont auf der Grundlage eines Haftbefehls festzunehmen, wenn dieser zur Ableistung des Amtseides nach Spanien einreist. Die spanische Regierung vertrete die Auffassung, dass die Immunität spanischer Mitglieder des Europäischen Parlaments erst im Zeitpunkt der Aushändigung der Urkunde entstehe. In der Sache zielt das Auskunftsersuchen auf zwei unionsrechtliche Fragestellungen. Zum einen geht es darum, ob eine mitgliedstaatliche Vorschrift, die als Voraussetzung für die Entstehung der parlamentarischen Unverletzlichkeit eines gewählten Bewerbers die Ableistung eines Amtseides im Inland vorsieht, als solche mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Zum anderen geht es darum, ob bzw. unter welchen Bedingungen es mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen ist, wenn eine solche Anforderung zur Ableistung eines Amtseides im Zusammenspiel mit der Anwendung von Vorschriften des Strafverfahrensrechts im Einzelfall dazu führt, dass der Betroffene durch Verhaftung faktisch daran gehindert wird, den Status als Mitglied des Europäischen Parlaments zu erwerben und ihm somit auch die parlamentarischen Unverletzlichkeit vorenthalten bleibt. Vorab ist klarzustellen, dass die vorliegende Ausarbeitung nicht die Vereinbarkeit der einschlägigen spanischen Vorschriften zum Gegenstand hat, da es hierfür u. a. auf vertiefte Kenntnisse des spanischen Strafverfahrensrechts ankäme. Es ist an dieser Stelle vielmehr lediglich allgemein der Frage nachzugehen, ob bzw. unter welchen Bedingungen derartige mitgliedstaatlichen Vorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar wären. 2. Zu den einschlägigen Vorgaben des Unionsrechts Zunächst ist zu prüfen (unter 2.1), ob eine mitgliedstaatliche Anforderung zur Ableistungen eines Amtseides als Voraussetzung für die Entstehung der parlamentarischen Unverletzlichkeit mit dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union1 (im Folgenden : Protokoll) vereinbar wäre. Wie zu zeigen sein wird, stellt sich hierbei maßgeblich die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung des Verfahrens für die Wahlen zum Europäischen Parlament nach dem Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments2 (im Folgenden: Direktwahlakt) zuständig sind. 1 Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. C 326, 26.10.2012, S. 266). 2 Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments (ABl. L 278 vom 8.10.1976, S. 5), konsolidierte Fassung abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/?qid=1558620148112&uri=CELEX:01976X1008(01)-20020923. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 5 Im Anschluss ist zu prüfen (unter 2.2), ob bzw. unter welchen Bedingungen es mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen wäre, wenn eine im innerstaatlichen Recht vorgesehene Anforderung zur Ableistung eines Amtseides im Zusammenspiel mit der Anwendung von Vorschriften des Strafverfahrensrechts dazu führt, dass der Betroffene durch Verhaftung faktisch am Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament gehindert wird. Als Prüfungsmaßstab dienen hierbei die Grundprinzipien für die Durchführung von Wahlen in einem demokratischen System nach Art. 39 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union3 (im Folgenden: Grundrechtecharta). Von zentraler Bedeutung erweist sich die Unterscheidung zwischen einer unionsrechtlichen Überprüfung der einschlägigen mitgliedstaatlichen Vorschriften als solchen und den unionsrechtlichen Vorgaben für die Anwendung dieser Vorschriften durch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte im Einzelfall. 2.1. Das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Die mitgliedstaatliche Anforderung eines im Inland abzuleistenden Amtseides als Voraussetzung für die Entstehung der parlamentarischen Unverletzlichkeit eines gewählten Bewerbers müsste mit dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union vereinbar sein. Das Protokoll ist nach Art. 51 EUV Bestandteil der europäischen Verträge und regelt in seinem Artikel 9 für die Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments die parlamentarische Unverletzlichkeit seiner Mitglieder: „Artikel 9 Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu, b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden. Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments. Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“ Die Unverletzlichkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments in einem anderen als ihrem Heimatstaat richtet sich nach Absatz 1 Buchstabe b dieser Vorschrift, deren Reichweite unionsautonom zu bestimmen ist4. Im Unterschied dazu steht den Mitgliedern des Europäischen Par- 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 202, 7.6.2016, S. 389). 4 Kreicker, Die strafrechtliche Indemnität und Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments, in: Goldammer `s Archiv für Strafrecht, 151 (2004), S. 643, 649. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 6 laments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates „die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit “ zu (Buchstabe a). Mit dieser Formulierung verweist das Protokoll auf den in den einzelnen Mitgliedstaaten gewährleisteten Schutz. Die parlamentarische Unverletzlichkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments richtet sich daher im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates grundsätzlich nach den innerstaatlichen Vorschriften. 2.1.1. Zeitliche Beschränkung der Unverletzlichkeit auf die „Dauer der Sitzungsperiode“ Hierbei ist jedoch eine wichtige Einschränkung zu beachten. So hat der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Wybot klargestellt, dass in Art. 9 des Protokolls lediglich eine Verweisung auf das nationale Recht für die Frage des „sachlichen Umfangs“ der parlamentarischen Unverletzlichkeit zu sehen ist.5 In zeitlicher Hinsicht ist die Unverletzlichkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments einheitlich auf die „Dauer der Sitzungsperiode“ festgelegt, welche vom Europäischen Parlament im Rahmen seiner internen Organisationsgewalt zu bestimmen ist.6 Aus Art. 146 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments7 (im Folgenden: Geschäftsordnung ) folgt somit, dass die Sitzungsperiode des neu gewählten Europäischen Parlaments mit Eröffnung seiner ersten Sitzung am 2. Juli 2019 beginnt. Es wäre daher in der Tat nicht mit Art. 9 des Protokolls vereinbar, einem Mitglied des Europäischen Parlaments nicht während der gesamten Dauer der Sitzungsperiode die parlamentarische Unverletzlichkeit zuzuerkennen. 2.1.2. Zeitliche Beschränkung der Unverletzlichkeit auf die Dauer der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament Allerdings ist ferner zu beachten, dass die Unverletzlichkeit nach Art. 9 des Protokolls nur den „Mitgliedern“ des Europäischen Parlamentes zusteht. Der Erwerb des Mitgliedsstatus stellt hiernach eine konstitutive Bedingung für die Entstehung der Unverletzlichkeit dar. Dies gilt nicht nur für neu gewählte Bewerber, sondern auch etwa für Listennachfolger im Falle des nachträglichen Ausscheidens eines Mitglieds des Europäischen Parlaments. Die parlamentarische Unverletzlichkeit ist daher auf die Dauer ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Parlament beschränkt und setzt daher in jedem Einzelfall zunächst den wirksamen Erwerb der Mitgliedschaft voraus. 5 EuGH, Rs. 149/85, Wybot, Rn. 11-13. 6 Vgl. EuGH, Rs. 149/85, Wybot, Rn. 16. 7 Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments für die 8. Wahlperiode, abrufbar unter: https://www.europarl .europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+RULES-EP+20190325+TOC+DOC+XML+V0//DE&language =DE. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 7 2.1.2.1. Allgemeiner unionsrechtlicher Rahmen für den Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft Die Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament sind jedoch nicht im Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union geregelt und auch das sonstige Unionsrecht enthält diesbezüglich nur punktuelle Vorgaben. Zwar regeln etwa die Vorschriften in Art. 13 Abs. 1 und 4 Direktwahlakt das Freiwerden eines Sitzes durch Rücktritt oder Tod. Der Verlust der Mitgliedschaft durch Entzug des Mandats fällt indes in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Art. 13 Abs. 3 Direktwahlakt). Der Erwerb der Mitgliedschaft ist zunächst eine Frage das Wahlverfahrens sowie des Verfahrens über die Besetzung freiwerdender Sitze. Nach Art. 8 des Direktwahlaktes bestimmt sich das Wahlverfahren vorbehaltlich der Vorschriften dieses Aktes in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften. Dies gilt nach Art. 13 Abs. 2 des Direktwahlaktes auch für die Besetzung freiwerdender Sitze. 2.1.2.2. Spezielle unionsrechtliche Vorgaben für den Zeitpunkt des Erwerbs der Mitgliedschaft ? Mit Blick auf die vorliegend zu klärende Frage nach dem genauen Zeitpunkt des Erwerbs der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament, lässt sich aus Art. 12 und 13 des Direktwahlaktes der Schluss ziehen, dass auch diese Angelegenheit grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. In Art. 12 des Direktwahlaktes ist lediglich vorgesehen, dass die Mitgliedstaten ihre Wahlergebnisse amtlich bekanntgeben und das Europäische Parlament hiervon Kenntnis nimmt. Hierzu fordert das Europäische Parlament die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten auf, die Namen der gewählten Mitglieder mitzuteilen (vgl. Art. 3 Abs. 1 der Geschäftsordnung). Zwar überprüft das Europäische Parlament nach Art. 12 des Direktwahlaktes sodann die Mandate seiner Mitglieder, dies jedoch ausschließlich aufgrund der Vorschriften des Direktwahlaktes, insbesondere mit Blick auf ein mit der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament unvereinbares Amt nach Art. 7 des Direktwahlaktes. Die unionsrechtliche Bedeutung der mitgliedstaatlichen Bekanntgabe und Mitteilung der Namen der gewählten Bewerber fasst der Gerichtshof folgendermaßen zusammen: „[…diese] Bekanntgabe ist das Ergebnis eines mit den nationalen Verfahren im Einklang stehenden Entscheidungsprozesses, durch den die mit dieser Bekanntgabe zusammenhängenden Rechtsfragen endgültig entschieden worden sind, und stellt daher eine bereits bestehende Rechtslage dar. […]“8 Daran wird deutlich, dass ein Kandidat seine Mitgliedschaft im Europäischen Parlament mit der amtlichen Bekanntgabe des Ergebnisses durch den Mitgliedstaat erwirbt. Die amtliche Be- 8 EuGH, verb. Rs. C-393/07 und C-9/08, Italien und Donnici / Parlament, Rn. 55. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 8 kanntgabe stellt gewissermaßen den Schlusspunkt des mitgliedstaatlich zu regelnden Wahlverfahrens dar. Wenn die Vorschriften eines Mitgliedstaates die Ableistung eines Eides als Voraussetzung für den Erwerb des Mandats vorsehen und der Namen eines gewählten Kandidaten auch nur unter dieser Voraussetzung dem Europäischen Parlament mitzuteilen ist, so handelt es sich dabei folglich um eine Frage des Wahlverfahrens, welche die Mitgliedstaaten in Wahrnehmung ihrer eigenen Zuständigkeiten grundsätzlich frei regeln können. Es ist somit festzuhalten, dass die mitgliedstaatliche Anforderung eines im Inland abzuleistenden Amtseides als Voraussetzung für die Entstehung der parlamentarischen Unverletzlichkeit eines gewählten Bewerbers mit dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union vereinbar wäre. 2.2. Die Grundprinzipien für die Durchführung von Wahlen in einem demokratischen System Ungeachtet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens und der sonstigen Voraussetzungen des Erwerbs der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ihre Zuständigkeiten unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben haben.9 Allgemein haben die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung und Durchführung des Wahlverfahrens die Grundprinzipien einer allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahl zu beachten (Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta, Art. 14 Abs. 3 EUV, Art. 1 Abs. 3 Direktwahlakt). Es ist somit zwar grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, ob sie als Voraussetzung für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament besondere Förmlichkeiten wie die Ableistung eines Amtseides im Inland vorsehen. Wie jedoch die aktuelle Diskussion um die Zulässigkeit der Festnahme eines gewählten Bewerbers unmittelbar vor Ableistung des Amtseides zeigt, könnte eine solche Förmlichkeit im Zusammenspiel mit der Anwendung von Vorschriften des Strafverfahrensrechts dazu führen, dass der Betroffene durch Verhaftung faktisch daran gehindert wird, den Status als Mitglied des Europäischen Parlaments zu erwerben. Dadurch bliebe ihm auch die an diesen Status geknüpfte parlamentarische Unverletzlichkeit nach Art. 9 des Protokolls vorenthalten. Wenngleich sich der Gerichtshof noch nicht zu dieser speziellen Fragestellung geäußert hat, scheint es allgemein nicht ausgeschlossen, dass eine faktische Vereitelung des Mandatserwerbs durch einen Mitgliedstaat nach Abgabe und Auszählung der Stimmen in Konflikt mit dem passiven Wahlrecht des betreffenden Bewerbers geraten kann. Typischerweise mag das passive Wahlrecht die Bedingungen betreffen, unter denen eine Person überhaupt als Bewerber um ein Mandat zugelassen wird. Allerdings wäre eine formale Berechtigung, in Wahlen zum Europäischen Parlament als Bewerber anzutreten, ersichtlich entwertet, wenn ein Mitgliedstaat den Mandatserwerb eines gewählten Bewerbers unter Rückgriff auf andere Eingriffsgrundlagen konterkarieren könnte. 9 EuGH, Rs. C-650/13, Delvigne; EuGH, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Rn. 31 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 9 2.2.1. Das passive Wahlrecht als Bestandteil der Grundprinzipien nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta Das aktive und passive Wahlrecht in Wahlen zum Europäischen Parlament ist in den europäischen Verträgen ausdrücklich nur vorgesehen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat , dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen (Art. 39 Abs. 1 Grundrechtecharta, Art. 20 Abs. 2 Buchst. b, Art. 22 Abs. 2 AEUV10).11 Gegenüber ihrem Heimatstaat können sich Unionsbürger hingegen auf Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta berufen.12 Nach dieser Vorschrift werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments „in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt“. Die Rechtsprechung betrachtet das aktive und passive Wahlrecht von diesen „Grundprinzipien für die Durchführung von Wahlen in einem demokratischen System“13 als umfasst,14 was auch in der einheitlichen Überschrift von Art. 39 Grundrechtecharta zum Ausdruck kommt. 2.2.2. Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten , wenn sie die persönlichen Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts festlegen, in Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 3 EUV und Art. 1 Abs. 3 des Direktwahlaktes handeln.15 Hierbei handelt sich somit um die „Durchführung“ von Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta, auf welche die Gewährleistungen der Grundrechtecharta Anwendung finden. Zwar geht es vorliegend nicht unmittelbar um die Voraussetzungen, die ein Bewerber erfüllen muss, um in Wahlen zum Europäischen Parlament antreten zu dürfen. In Rede stehen vielmehr die allgemeinen Rahmenbedingungen für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament eines bereits gewählten Bewerbers. Allerdings kann, wie dargelegt, die Anforderung zur Ableistung eines Amtseides im Zusammenspiel mit der Anwendung von Vorschriften des Strafverfahrensrechts dazu führen, dass der Betroffene durch Verhaftung faktisch daran gehindert 10 Das Nähere regelt die Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, konsolidierte Fassung abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1559306137179&uri=CELEX:01993L0109- 20130127. 11 Zu dieser Lesart der einschlägigen Gewährleistungen siehe EuGH, Rs. C-145/04, Spanien / Vereinigtes Königreich , Rn. 66. 12 Zum aktiven Wahlrecht siehe EuGH, Rs. C-650/13, Delvigne, Rn. 44. In diesem Sinne zum passiven Wahlrecht siehe EuGH, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Rn. 40 ff. 13 Erläuterungen zu Art. 39 Grundrechtecharta (ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17). 14 Ausdrücklich zum aktiven Wahlrecht siehe EuGH, Rs. C-650/13, Delvigne, Rn. 44. 15 Zur Anwendung von Art. 39 Grundrechtecharta siehe EuGH, Rs. C-650/13, Delvigne, Rn. 33; zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts siehe EuGH, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Rn. 57 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 10 wird, den Status als Mitglied des Europäischen Parlaments zu erwerben. Theoretisch wäre sogar vorstellbar, dass ein innerstaatlich formal gewährleistetes passives Wahlrecht auf diese Weise praktisch vollständig entleert werden könnte. Im Lichte der Bedeutung der Wahlen zum Europäischen Parlament für die demokratische Legitimation der Europäischen Union erschiene es daher fragwürdig, die Rahmenbedingungen des Mandatserwerbs eines gewählten Kandidaten von vornherein vom Anwendungsbereich der Grundrechtecharta ausnehmen zu wollen. Der Gerichtshof hat sich zu dieser speziellen Frage jedoch noch nicht geäußert hat, und so bleibt die vorliegende Einschätzung zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta mit Unsicherheiten behaftet. 2.2.3. Mögliche Einschränkung des passiven Wahlrechts Wie bereits dargelegt, kann eine Förmlichkeit wie die Ableistung eines Amtseides im Zusammenspiel mit der Anwendung von allgemeinen Vorschriften des Strafverfahrensrechts durchaus dazu führen, dass der Betroffene faktisch daran gehindert wird, den Status als Mitglied des Europäischen Parlaments zu erwerben. Für die weitere Prüfung ist es wichtig klarzustellen, aus welcher mitgliedstaatlichen Maßnahme sich die mögliche Einschränkung der Grundrechte des Betroffenen ergibt. So erschiene es vorliegend etwa fernliegend, eine Einschränkung des passiven Wahlrechts gemäß Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta an den fraglichen Vorschriften als solchen festmachen zu wollen. Denn es ist allgemein nicht davon auszugehen, dass Vorschriften über die Ableistung eines Amtseides oder das allgemeine Strafverfahrensrecht etwa eigens dafür geschaffen wurden, es dem Staat zu ermöglichen, den Einzug bestimmter Wahlbewerber ins Parlament zu verhindern und dadurch das Wahlergebnis nachträglich zu verfälschen. Die Behinderung eines gewählten Bewerbers an der Ableistungen des Amtseides erscheint vielmehr als Folgewirkung der grundsätzlich legitimen Vornahme konkreter Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung. Allerdings verlangt der Gerichtshof nicht nur, dass die mitgliedstaatlichen Vorschriften als solche mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Darüber hinaus müssen auch die „Einzelheiten der Umsetzung“16 der betreffenden mitgliedstaatlichen Vorschriften – gemeint ist ihre Anwendung im Einzelfall – den unionsrechtlichen Vorgaben genügen. Da es für die rechtliche Bewertung von Einzelmaßnahmen auf sämtliche Umstände des Einzelfalls in dem für die betreffende Maßnahme entscheidungserheblichen Zeitpunkt sowie auf die Zuständigkeit zur Ermittlung der betreffenden Tatsachen ankommt, beschränkt sich der Gerichtshof in diesen Fällen regelmäßig darauf , lediglich die unionsrechtlichen Maßstäbe zu formulieren. Die Prüfung im Einzelnen überlässt er den zuständigen mitgliedstaatlichen Gerichten. Hierauf ist im Rahmen der Rechtfertigung näher einzugehen (dazu sogleich unter 2.2.4). 16 Zur assoziationsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit siehe EuGH, Rs. C-123/17, Yön, Rn. 81; EuGH, Rs. C- 652/15, Tekdemir, Rn. 43. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 11 2.2.4. Rechtfertigung einer möglichen Einschränkung im Einzelfall Das aktive und passive Wahlrecht steht den Unionsbürgern nicht unbedingt zu.17 Eine nach den vorstehenden Ausführungen denkbare Einschränkung des passiven Wahlrechts im Einzelfall kann somit gerechtfertigt sein. 2.2.4.1. Allgemeine Vorgaben der Rechtsprechung für die Rechtfertigung Jede Einschränkung der Ausübung dieses Rechts muss nach Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta gesetzlich vorgesehen sein und seinen Wesensgehalt sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achten. Für die Prüfung, ob ein Mitgliedstaat bei der Vornahme einer grundsätzlich legitimen Gemeinwohlbelangen dienenden Maßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet hat, ist neben Fragen der Eignung und Erforderlichkeit insbesondere eine Abwägung zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen vorzunehmen. Dies betrifft vorliegend in erster Linie das Gemeinwohlinteresse einer effektiven Strafverfolgung einerseits und das nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta geschützte passive Wahlrecht des gewählten Bewerbers andererseits. Bei der Rechtfertigung ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zum aktiven und passiven Wahlrecht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK18 verweist, wonach die Vertragsstaaten bei der Festlegung von Bedingungen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht über ein weites Ermessen verfügen19 und für das passive Wahlrecht strengere Voraussetzungen aufgestellt werden können als für das aktive Wahlrecht.20 Wie bereits dargelegt, kommt es bei der Überprüfung von Einzelmaßnahmen auf sämtliche Umstände des Einzelfalls in dem für die betreffende Maßnahme entscheidungserheblichen Zeitpunkt an. Der Gerichtshof betont in derartigen Fällen regelmäßig, dass es Sache der zuständigen Gerichte ist, die im Einzelfall relevanten Tatsachen21 sowie die relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu ermitteln22 und für jeden Einzelfall eine Abwägung zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen vorzunehmen23. 17 EuGH, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Rn. 52. 18 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20.3.1952. 19 EuGH, Rs. C-145/04, Spanien / Vereinigtes Königreich, Rn. 94. 20 EuGH, Rs. C-300/04, Eman und Sevinger, Rn. 54. 21 Vgl. nur EuGH, Rs. C‑345/17, Buivids, Rn. 69. 22 Vgl. nur EuGH, Rs. C‑619/17, de Diego Porras, Rn. 100. 23 EuGH, Rs. C-358/16, UBS Europe, Rn. 69. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 12 2.2.4.2. Gebot zur Berücksichtigung des passiven Wahlrechts des Betroffenen im Rahmen der Interessenabwägung Auf der Grundlage dieser allgemeinen Vorgaben der Rechtsprechung ist somit wohl davon auszugehen , dass das Unionsrecht für Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu führen können, dass ein in Wahlen zum Europäischen Parlament gewählter Bewerber faktisch am Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament gehindert wird, lediglich eine Berücksichtigung des passiven Wahlrechts des Betroffenen nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta im Rahmen der Interessenabwägung verlangt. In Anbetracht des Ermessens der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Wahlrechts, wird man davon ausgehen müssen, dass die gebotene Berücksichtigung des passiven Wahlrechts nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta auf unterschiedliche Weise gewährleistet werden kann. Hierfür kommt nicht etwa nur eine Berücksichtigung im Rahmen der Entscheidung über die Anordnung von Untersuchungshaft gegen einen gewählten Bewerber in Frage. Auch eine Berücksichtigung im Rahmen einer späteren Entscheidung über die Haftfortdauer oder über den Antrag etwa auf Hafturlaub zum Zwecke der Ableistung des Amtseides erschiene durchaus geeignet , dem passiven Wahlrecht des Betroffenen nach Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta Rechnung zu tragen. Hierbei dürften verschiedene Kriterien eine Rolle spielen. So wäre etwa bei der Anordnung von Untersuchungshaft neben dem konkreten Haftgrund und der Schwere der vorgeworfenen Tat etwa auch die Dauer der zu erwartenden Haft und die daraus resultierende Verzögerung des Mandatserwerbs zu berücksichtigen. Soll der Betroffene etwa nur durch eine kurzzeitige Untersuchungshaft an der Beweismittelvernichtung gehindert werden und ist es ihm im Anschluss möglich, sein Mandat zu erwerben, so ließe sich darin wohl kaum eine unzulässige Einschränkung des passiven Wahlrechts erblicken. Ebenfalls wäre wohl zu berücksichtigen, ob auf der Grundlage der Praxis des Europäischen Parlaments bei der Aufhebung der Immunität eines seiner Mitglieder (Art. 6 der Geschäftsordnung) für den Fall des Mandatserwerbs ohnehin mit einer Aufhebung der parlamentarischen Unverletzlichkeit zu rechnen wäre, wenn zugleich die Gefahr besteht, dass der Betroffene seine vorübergehende Unverletzlichkeit dazu nutzen könnte, sich dauerhaft der Strafverfolgung zu entziehen. Wie die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, ist eine abschließende unionsrechtliche Beurteilung nur mit Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen in einem bestimmten Mitgliedstaat und unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls denkbar. Diese Frage ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Ausarbeitung (s.o. unter 1.). 3. Ergebnis Die parlamentarische Unverletzlichkeit nach Art. 9 des Protokolls steht gewählten Bewerbern frühestens ab dem Zeitpunkt des Erwerbs der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament zu. Die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament , wie die Anforderung über die Ableistung eines Amtseides, fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 49/19 Seite 13 Soweit eine derartige Anforderung im Zusammenspiel mit der Anwendung von Vorschriften des Strafverfahrensrechts im Einzelfall dazu führt, dass der Betroffene durch Verhaftung faktisch am Erwerb der Mitgliedschaft im Europäischen Parlament gehindert wird, kann darin eine Einschränkung des passiven Wahlrechts des Betroffenen gemäß Art. 39 Abs. 2 Grundrechtecharta gesehen werden. Der Gerichtshof hat sich zu dieser speziellen Frage jedoch noch nicht geäußert. Auf der Grundlage der allgemeinen Vorgaben der Rechtsprechung ist wohl davon auszugehen, dass das Unionsrecht in diesem Zusammenhang von den zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten lediglich verlangt, das passive Wahlrecht des Betroffenen im Rahmen der Interessenabwägung im Einzelfall zu berücksichtigen. – Fachbereich Europa –