© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 047/19 Nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut im Lichte des unionsrechtlichen Exportgebots von Leistungen der sozialen Sicherheit Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 2 Nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersarmut im Lichte des unionsrechtlichen Exportgebots von Leistungen der sozialen Sicherheit Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 047/19 Abschluss der Arbeit: 13. September 2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 5 2. Unionsrechtlicher Rahmen 5 2.1. Besondere beitragsabhängige Geldleistungen im Sinne von Art. 70 VO 883/2004 7 2.1.1. Hybridcharakter (Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004) 9 2.1.2. Zusätzlicher, ersatzweiser oder ergänzender Schutz gegen Risiken im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 (Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i Hs. 1 VO 883/2004) 11 2.1.3. Garantie eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts (Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i Hs. 2 VO 883/2004) 12 2.1.4. Beitragsunabhängigkeit (Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004) 13 2.1.4.1. Finanzierung der Leistung 14 2.1.4.2. Gewährung und Berechnung der Leistung 14 2.1.5. Verhältnis zu zeitgleich gewährten beitragsabhängigen Leistungen (Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004) 16 2.1.6. Eintragung in Anhang X (Art. 70 Abs. 2 Buchst. c VO 883/2004) 16 2.1.7. (Rang-)Verhältnis zu Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 18 2.1.8. Fazit 20 2.2. Leistungsmerkmale, die Ausnahmen vom Leistungsexport rechtfertigen 20 2.2.1. Enge Bindung an das soziale Umfeld 20 2.2.2. Beitragsunabhängigkeit 21 2.2.3. Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit 22 2.2.4. Weitere Merkmale oder Rechtfertigungsgründe 22 2.2.5. Fazit 23 3. Zu den einzelnen Fragen 23 3.1. EU-rechtliche Einordnung der sog. Ausgleichszulage nach österreichischem Recht 23 3.2. Fragen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 25 3.2.1. Exportpflicht 25 3.2.2. Freibeträge für Betriebs- und sog. Riesterrenten 26 3.2.2.1. Beitragsunabhängigkeit 27 3.2.2.2. Garantie eines Mindesteinkommens 28 3.2.3. Freibeträge für gesetzliche Renten 29 3.2.4. Fazit 29 3.3. Fragen in Bezug auf die einzelnen Rentenmodelle 30 3.3.1. Grundrente 30 3.3.1.1. Zum Modell 30 3.3.1.2. Zur Exportpflicht 31 3.3.1.3. Fazit 32 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 4 3.3.2. Solidarische Mindestrente 32 3.3.2.1. Zum Modell 32 3.3.2.2. Zur Exportpflicht 33 3.3.2.3. Fazit 34 3.3.3. Garantierente 34 3.3.3.1. Zum Modell 34 3.3.3.2. Zur Exportpflicht 35 3.3.3.3. Fazit 35 3.3.4. Zur Eintragung in Anhang X 35 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 5 1. Einleitung und Fragestellung Am 6. Mai 2019 fand im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung statt, die dem Thema der Altersarmut und ihrer Bekämpfung gewidmet war.1 Gegenstand dieser Anhörung waren Anträge einiger der im Bundestag vertretenen Fraktionen, in denen verschiedene Modelle zur Lösung dieser Problematik präsentiert wurden. Im Zuge der Ausschusssitzung wurde u. a. die Frage nach der Exportplicht der in den Modellen vorgesehenen bzw. von ihnen betroffenen Leistungen ins EU-Ausland aufgeworfen. Vor diesem Hintergrund wurde der Fachbereich um die Beantwortung mehrerer Einzelfragen zu diesem Themenkomplex ersucht. Im Folgenden wird zunächst der hierfür einschlägige unionsrechtliche Rahmen dargestellt (2.). Anschließend werden die einzelnen Fragen erörtert (3.). 2. Unionsrechtlicher Rahmen Hinter dem Exportgebot von Leistungen der sozialen Sicherheit verbirgt sich deren Zahlung an anspruchsberechtigte Personen, die in einem anderen als dem zur Leistung verpflichteten Mitgliedstaat ihren Wohnsitz haben. Der Leistungsexport ist primärrechtlich durch Art. 48 Abs. 1 Buchst. b AEUV gewährleistet und stellt eines der Grundprinzipien des koordinierenden EU-Sozialrechts dar.2 Dieses Grundprinzip steht in einem engen Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV. Die auf Grundlage des Art. 48 AEUV zu erlassenden Unionsvorschriften dienen nämlich „der Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer“.3 Das Ziel einer ungehinderten Aufnahme und Ausübung abhängiger Erwerbstätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten „würde [jedoch u. a.] verfehlt, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern, insbesondere wenn diese Vergünstigungen die Gegenleistung der von ihnen gezahlten Beiträge darstellen.“4 Aus diesem Grund gebietet Art. 48 AEUV u. a., den Erlass von Maßnahmen, die im Fall des Wohnsitzes in einem anderen als dem für die Leistung zuständigen Mitgliedstaat die Mitnahme bzw. Zahlung von Leistungen der sozialen Sicherheit sicherstellen. 1 Siehe hierzu auf den Internetseiten des Bundestages zum Ausschuss für Arbeit und Soziales. 2 Vgl. etwa Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl. 2018, Art. 45-48 AEUV, Rn. 4; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 48 AEUV, Rn. 27; Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2004, 2012, Art. 7, Rn. 2. 3 EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 20. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 5.3.1998, Rs. C-160/96 (Molenaar), Rn. 14. 4 EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 20. Vgl. ferner EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 6 Das Gebot des Leistungsexports gilt jedoch nicht ausnahmslos. Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, dass es dem Unionsgesetzgeber frei steht, hiervon Ausnahmen vorzusehen , insbesondere bei Leistungen, die „eng an das soziale Umfeld gebunden sind“.5 Die Gewährung solcher Leistungen darf „legitimerweise von der Voraussetzung eines Wohnsitzes im Staat des zuständigen Trägers abhängig gemacht werden“.6 Grundsatz und Ausnahmen des Leistungsexports sind durch den Unionsgesetzgeber derzeit in der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit7 (im Folgenden : VO 883/2004) geregelt. Während der Grundsatz des Leistungsexports in Art. 7 VO 883/20048 normiert ist, enthält Art. 70 Abs. 3 VO 883/2004 die praktisch bedeutendste generelle Ausnahme hiervon, und zwar in Bezug auf die sog. besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen .9 Weitere Ausnahmen vom bzw. Einschränkungen des Leistungsexports betreffen etwa Leistungen bei Arbeitslosigkeit (vgl. Art. 63 - 65a VO 883/2004). Bei den von der VO 883/2004 ebenfalls koordinierten Leistungen bei Alter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d VO 883/2004 sind Einschränkungen des Leistungsexports hingegen nicht vorgesehen (vgl. Art. 50-60 VO 883/2004).10 Die hier gestellten Fragen zielen auf die Prüfung, ob die den Modellen zur Bekämpfung der Altersarmut zugrunde liegenden neuen Maßnahmen bzw. die von diesen Maßnahmen betroffenen bestehenden Leistungen bei Alter unter den geplanten neuen Voraussetzungen als Leistungen anzusehen wären, die dem Grundsatz der Exportierbarkeit unterliegen oder von ihm ausgenommen werden können. Letzteres wäre jedenfalls dann der Fall, wenn sie in materieller Hinsicht als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne des Art. 70 VO 883/2004 anzusehen wären . Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst diese Leistungskategorie und ihre Merkmale in allgemeiner Hinsicht dargestellt (2.1.). Andere derzeit geregelte Ausnahmen oder Einschränkungen vom Grundsatz des Leistungsexports dürften zwar vorliegend nicht in Betracht kommen. Dessen ungeachtet ist es nicht ausgeschlossen , dass die den Modellen zugrunde liegenden Maßnahmen Merkmale aufweisen, die zwar einer Qualifizierung als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen entgegenstehen, in primärrechtlicher Hinsicht aber gleichwohl Ausnahmen von dem Exportgebot zuließen, so dass – bei 5 EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38. 6 EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38; EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 41 f. Siehe ferner EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 21. 7 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, ABl. EU 2004 Nr. L 166/1, letzte konsolidierte Fassung vom 11. April 2017. 8 Art. 7 VO 883/2004 lautet: „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen , in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“ 9 Siehe hierzu ausführlich unten unter 2.1., S. 7 ff. 10 Vgl. dazu Schuler, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht (Fn. 2), Art. 7 VO 883/2004, Rn. 7. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 7 entsprechender Änderung der VO 883/2004 – etwaige Regelungen de lege ferenda denkbar wären .11 Hiervon ausgehend ist zu untersuchen, welche Leistungsmerkmale nach der bisherigen Rechtsprechung Ausnahmen vom Leistungsexport rechtfertigen (2.2.). 2.1. Besondere beitragsabhängige Geldleistungen im Sinne von Art. 70 VO 883/2004 Die VO 883/2004 unterscheidet im Wesentlichen drei verschiedene Leistungskategorien: Leistungen der sozialen Sicherheit (vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis j VO 883/2004), Fürsorgeleistungen (vgl. Art. 3 Abs. 5 Buchst. a VO 883/200412) sowie besondere beitragsabhängige Geldleistungen (vgl. 3 Abs. 3 VO 883/2004).13 Die erstgenannten, grundsätzlich an eine Erwerbstätigkeit anknüpfenden Leistungen bilden den (ursprünglichen) Hauptgegenstand der sozialrechtlichen Koordinierung. Fürsorgeleistungen bzw. Sozialhilfe14 setzen eine Bedürftigkeit voraus und sind seit Anbeginn der Koordinierungsrechtssetzung aus kompetenzrechtlichen Gründen von dieser ausgeschlossen. Besondere beitragsabhängige Geldleistungen stellen hingegen Misch- bzw. Hybridleistungen dar, die Elemente beider vorgenannten Leistungskategorien aufweisen.15 Für diese Leistungskategorie wurde erst 1992 eine eigenständige Regelung in der damals geltenden Koordinierungsverordnung 1408/7116 (im Folgenden auch: VO 1408/71) geschaffen17, die dann anschließend auch in die VO 883/2004 übernommen wurde. 11 Zur Notwendigkeit einer sekundärrechtlichen Verankerung entsprechender Ausnahmen von dem Grundsatz des Exportgebots, vgl. EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 41; EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 21. 12 Die Vorschrift erfasst soziale und medizinische Fürsorgeleistungen, relevant sind vorliegend nur erstgenannte. 13 Siehe hierzu auch Bokeloh, Die Sozialleistungen im europäischen Kontext – Soziale Sicherheit, Sozialhilfe, besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, WzS 2017, S. 105 ff. 14 Beide Termini haben die gleiche Bedeutung bzw. werden gleich verstanden, vgl. Schreiber, in: Schreiber/ Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 8 aE; Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 108. 15 Siehe zu diesen drei Leistungskategorien und zu der dahinter stehenden Entwicklung der mitgliedsstaatlichen sozialen Sicherungssysteme aus Sicht der Kommission, die Begründung des Vorschlags der Kommission für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1247/92 des Rates vom 30. April 1992 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern , KOM(85) 396 endg., Papierfassung, S. 5 ff. Vgl. ferner Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 109 f.; zum dogmatischen Hintergrund des Ausschlusses von Sozialhilfe auch Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht (Fn. 2), Art. 3 VO 883/2004, Rn. 33 ff. 16 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl.EG 1971 Nr. L 149/2, letzte inhaltlich konsolidierte Fassung vom 7.07.2008. 17 Siehe Art. 1 Nr. 2 sowie Nr. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1247/92 des Rates vom 30. April 1992 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl.EG 1992 Nr. L 136/1, mit denen der VO 1408/71 die Art. 4 Abs. 2a sowie Art. 10a eingefügt wurden. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 8 Hintergrund der Einführung dieser neuen Kategorie war die bisweilen schwierige und in der Sache umstrittene Qualifizierung insbesondere beitragsfreier mitgliedstaatlicher Sozialleistungen.18 Ausgehend von einem engen Verständnis der von der Koordinierung ausgenommenen Sozialhilfe ordnete der Gerichtshof die streitigen Maßnahmen oftmals den von der Koordinierung umfassten Leistungen der sozialen Sicherheit zu und unterwarf sie hierdurch – da in der Regel keine im Sekundärrecht geregelten Ausnahmen anwendbar waren – zugleich dem Exportgebot.19 Um insbesondere letzteres zu vermeiden, entschied sich der damalige Gemeinschaftsgesetzgeber zwar für die Einbeziehung solcher Mischleistungen in die Koordinierung, unterwarf diese aber zugleich einem besonderen Koordinierungsregime, welches sich v. a. durch einen Ausschluss der Exportierbarkeit kennzeichnete.20 Hierdurch wurde zwar der in der Rechtsanwendung problematische Antagonismus von koordinierten und exportierbaren Leistungen der sozialen Sicherheit einerseits und nicht koordinierten, an den Wohnsitz knüpfenden Sozialhilfe andererseits weitgehend aufgehoben.21 Die im Einzelfall problematische Abgrenzung zwischen exportierbaren und nicht exportierbaren Leistungen wurde hierdurch im Ergebnis aber nur verlagert. Vorzunehmen ist sie nun zwischen den grundsätzlich exportierpflichtigen Leistungen der sozialen Sicherheit auf der einen Seite und den vom Exportgebot ausgenommenen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen auf der anderen Seite. Die Kriterien für die genannten Abgrenzungen wurden maßgeblich durch den Gerichtshof entwickelt . Im Hinblick auf die bis heute in der VO 883/2004 nicht weiter legaldefinierten Begriffe der Leistungen der sozialen Sicherheit einerseits sowie der Sozialhilfe andererseits gehen sie vor allem auf die Rechtsprechung zur Abgrenzung dieser beiden Leistungskategorien zurück. Auch die Merkmale besonderer beitragsabhängiger Geldleistungen finden ihren Ursprung in diesen Entscheidungen des EuGH. Nach der Aufnahme besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen in die VO 1408/71 orientierte sich der Gerichtshof an dem dort verwandten Terminus der „beitragsunabhängigen Sonderleistungen “ und konkretisierte in seinen Urteilen jeweils einzelfallabhängig die beiden Begriffs- 18 Siehe hierzu Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 2; Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht (Fn. 2), Art. 3 VO 883/2004, Rn. 35 ff. Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 22.6.1972, Rs. 1/72 (Frilli), Rn. 11/13 ff.; EuGH, Urt. v. 5.5.1983, Rs. 139/82 (Piscitello), Rn. 8 ff., 14 ff. 19 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 5.5.1983, Rs. 139/82 (Piscitello), Rn. 16. 20 Vgl. Art. 10a VO 1408/71 sowie den heute geltenden Art. 70 Abs. 3 und 4 VO 883/2004. Siehe hierzu auch Erwägungsgrund Nr. 7 der Verordnung 1247/92 (Fn. 17) sowie die Begründung zum Kommissionsvorschlag hierzu (Fn. 15), S. 9 f. Siehe ferner Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 109. 21 Siehe hierzu aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 40. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 9 teile. Diese Konkretisierungen bildeten dann die Grundlage für die spätere Präzisierung des Terminus im Jahre 2005.22 Obwohl der EuGH in den wenigen nach diesem Zeitpunkt erlassenen Entscheidungen zu dieser Thematik im Ausgangspunkt an der ursprünglichen Begriffsverwendung von Sonderleistungen und Beitragsunabhängigkeit festgehalten hat,23 soll der Terminus und seine Konkretisierung durch die Rechtsprechung im Folgenden vor allem anhand des Wortlauts des heute geltenden Art. 70 VO 883/2004 erörtert werden. Dieser entspricht zumindest inhaltlich weitgehend der jeweils letzten Fassung des Art. 4 Abs. 2a und des Art. 10a VO 1408/71.24 Gewisse Unterschiede bestehen jedoch zur ursprünglichen Formulierung des Art. 4a VO 1408/71, worauf bei der Darstellung der einschlägigen Urteile hingewiesen werden wird. Mit Blick auf dem Gutachten zugrundeliegenden Fragestellungen werden die hierfür nicht relevanten besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen zum besonderen Schutz der Behinderten im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii VO 883/2004 nicht weiter behandelt. 2.1.1. Hybridcharakter (Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004) Der Hybridcharakter besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen wurde ursprünglich nur in den Erwägungsgründen der Änderungsverordnung erwähnt25 und erst 2005 ausdrücklich in Art. 4 Abs. 2a UAbs. 1 VO 1408/71 verankert. Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004 weist insoweit den gleichen Wortlaut auf und lautet: „Dieser Artikel gilt für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen.“ Welche Merkmale dies jeweils sind, ist zwar weder in die VO 1408/71 ausgeführt gewesen, noch sind diese in der VO 883/2004 beschrieben. Sie ergeben sich jedoch insbesondere aus 22 Siehe Erwägungsgründe Nr. 1 u. 3 sowie Art. 1 Nr. 2 u. Nr. 5 der Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige , die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, ABl.EU 2005 Nr. L 117/1. 23 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 27 ff.; EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C- 265/05 (Naranjo), Rn. 31 ff.; EuGH, Urt. v. 18.10.2007, Rs. C-299/05 (Kommission/EP und Rat), Rn. 53 ff.; EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C- 140/12 (Brey), Rn. 33-37. Die ersten beiden genannten Urteile bezogen sich noch auf die Regelungen in der VO 1408/71, in der Rechtssache Brey wird auch auf die geltende Rechtslage eingegangen (siehe Rn. 36 f.). Weitere Rechtsprechung zu Art. 70 VO 883/2004, liegt – soweit ersichtlich – bisher noch nicht vor. Siehe aber auch die Kommentierungen zum Begriff der besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen bei Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 12 ff.; Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 70 VO 883/2004, Rn. 10 ff., die ebenfalls den EuGH-Ansatz zugrunde legen. Anders dagegen Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 109 ff. 24 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 6. 25 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 3 u. 4 VO 1247/92 (Fn. 17). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 10 den Entscheidungen des EuGH aus der Zeit vor Kodifizierung dieser Leistungskategorie, in denen Leistungen der sozialen Sicherheit von Sozialhilfe abzugrenzen waren und hierzu definiert werden mussten. Ausgangspunkt war dabei der Begriff der Leistungen der sozialen Sicherheit. Darunter ist nach ständiger Rechtsprechung eine solche zu verstehen, die „den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und wenn sie sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 [bzw. Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004] ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht […].“26 Kennzeichnend für den Begriff der Sozialhilfe sind nach der Rechtsprechung hingegen die folgenden Merkmale:27 Neben der individuell zu beurteilenden Bedürftigkeit als wesentliche Anwendungsvoraussetzung und der Unabhängigkeit von etwaigen Berufstätigkeits-, Mitgliedschafts - oder Beitragszeiten28 stellt der EuGH entscheidend auf das Vorliegen eines Ermessens hinsichtlich der Gewährung der Leistung ab, also dem Fehlen eines Anspruchs auf die Leistung im Sinne einer gebundenen Entscheidung.29 Für den Sozialhilfeteil besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen wird vor diesem Hintergrund als charakteristisch angesehen, dass sie eine Bedürftigkeit voraussetzen und keine irgendwie gearteten Beitragszeiten erfordern; die Nähe zu Leistungen der sozialen Sicherheit ergibt sich für Rechtsprechung und Gesetzgeber daraus, dass kein freies Ermessen bei der Gewährung der 26 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 16.9.2015, Rs. C-433/13 (Kommission/Slowakei), Rn. 71; EuGH, Urt. v. 24.10.2013, Rs. C-177/12 (Lachheb), Rn. 30; jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rspr. 27 Vgl. Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 108 f. 28 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 5.5.1983, Rs. 139/82 (Piscitelo), Rn. 11; EuGH, Urt. v. 16.7.1992, Rs. C-78/91 (Hughes), Rn. 17; EuGH, Urt. v. 2.8.1993, Rs. C-66/92 (Acciardi), Rn. 15. 29 Siehe hinsichtlich des Ermessenscharakters insbesondere EuGH, Urt. v. 16.9.2015, Rs. C-433/13 (Kommission /Slowakei), Rn. 72, 79, 82; EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-101/04 (Noteboom), Rn. 21. Anders noch in EuGH, Urt. v. 27.3.1985, Rs. 249/83 (Hoeckx), Rn. 12 ff. Hier bestand zwar ein Leistungsanspruch bei Erfüllung der Voraussetzungen. Die Leistung (Hilfe zum Lebensunterhalt) sah der EuGH aber als nicht von den Zweigen der sozialen Sicherheit im Sinne des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Art. 4 Abs. 1 VO 1408/71 gedeckt an und verneinte aus diesem Grund die Qualifizierung als Leistung der sozialen Sicherheit. Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 108, zieht daraus den Schluss, dass Sozialhilfeleistungen „keinen spezifischen und direkten Bezug“ zu einem der Zweige der sozialen Sicherheit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 haben dürfen. Im hier relevanten Zusammenhang hat diese Frage keine Bedeutung, da besondere beitragsunabhängige Geldleistungen diesen Bezug per definitionem aufweisen, vgl. Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii VO 883/2004 und insoweit den Leistungen der sozialen Sicherheit ähneln. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 11 Leistung gegeben ist, sondern dem Begünstigten ein Rechtsanspruch auf die Leistung zusteht, soweit er die jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt.30 Im Schrifttum wird der Hybridcharakter als Anwendungsvoraussetzung31 bzw. Prüfungskriterium 32 verstanden. Dies ist insoweit zutreffend, als der Hybridcharakter den Ausgangspunkt für die Prüfung des Begriffs der Sonderleistung bildet.33 Allerdings liegen bisher keine Urteile vor, die in zeitlicher Hinsicht auf Art. 70 VO 883/2004 oder der gleichlautenden letzten Fassung des Art. 4 Abs. 2a VO 1408/71 beruhen. Da die dort aufgeführten Kriterien letztlich – jedenfalls zum größeren Teil – auf die genannte Rechtsprechung zurückgehen, werden im Folgenden die sich aus der Verordnung ergebenden Voraussetzungen im Einzelnen betrachtet. 2.1.2. Zusätzlicher, ersatzweiser oder ergänzender Schutz gegen Risiken im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 (Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i Hs. 1 VO 883/2004) Die Voraussetzung, wonach es sich bei besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen um solche handelt, die dazu bestimmt sind, „einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind“ (Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i Hs. 1 VO 883/2004), wurde bereits bei der erstmaligen Kodifizierung im Jahre 1992 verankert34 und muss daher auf die davor bestehende Rechtsprechung zu Hybridleistung zurückgehen.35 In der anschließenden Rechtsprechung zu dieser Leistungskategorie haben die sich daraus ergebenden Anforderungen bisher keine Rolle gespielt, wohl weil sie regelmäßig erfüllt waren oder zumindest nicht in Frage gestellt wurden. Die Ausrichtung auf die Risiken, die durch die in Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 aufgeführten Zweige der sozialen Sicherheit abgedeckt werden, dürfte mit Blick auf die geltende Aufzählung, die auch Leistungen bei Alter nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. d VO 883/2004 erfasst, nur selten Probleme bereiten . Im Schrifttum und seitens der Verwaltungskommission werden unter ergänzenden und zusätzlichen Leistungen solche verstanden, die Regelleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 30 Siehe Erwägungsgrund Nr. 3 VO 1247/92 (Fn. 15) und aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Urt. v. 22.6.1972, Rs. 1/72 (Frilli), Rn. 14/15; EuGH, Urt. v. 5.5.1983, Rs. 139/82 (Piscitelo), Rn. 11. Vgl. auch die Entschließung der Verwaltungskommission vom 29. Juni 2000 betreffend die Kriterien für die Eintragung von Leistungen als „beitragsunabhängige Sonderleistungen“ in den Anhang II Teil III oder IIa der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (im Folgenden: Verwaltungskommission), ABl. EU 2000 Nr. C 44/13. 31 So etwa Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 8. 32 So etwa Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 109 f. 33 Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 32-35; siehe auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 25 f.; EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 30 f. 34 Vgl. die urspr. Fassung des Art. 4 Abs. 2a Buchst. a VO 1408/71 in der Fassung des Art. 1 Nr. 2 VO 1247/92 (Fn. 17). 35 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 22.6.1972, Rs. 1/72 (Frilli), Rn. 14/15 („den Empfängern unzureichender Leistungen der sozialen Sicherheit ein zusätzliches Einkommen sichern“ – Hervorhebung durch Verfasser). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 12 aufstocken, wohingegen ersatzweise gewährte Leistungen solche seien, die anstelle der Regelleistung in Versicherungsfällen gewährt werden.36 Auch diese Voraussetzungen dürften regelmäßig erfüllt sein, soweit die streitige Leistung ein von Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 erfasstes Risiko adressiert. 2.1.3. Garantie eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts (Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i Hs. 2 VO 883/2004) Die Voraussetzung, wonach besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, „den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht“, ist erst 2005 in die Begriffsdefinition eingefügt worden.37 Sie ist allerdings nicht neu, sondern verankert lediglich das Bedürftigkeitserfordernis ausdrücklich, dass diese Leistungskategorie mit der Sozialhilfe teilt. Ausgehend von dem Kommissionsvorschlag für die betreffende Änderungsverordnung 647/2005 lassen sich insoweit zwei Aspekte unterscheiden.38 Zunächst muss die leistungsberechtigte Personen bedürftig sein bzw. die Sicherung des Lebensunterhalts angesichts der Bedürftigkeit den Hauptzweck der Leistung ausmachen.39 Ob und inwieweit hierfür eine Bedürftigkeitsprüfung vorzunehmen ist bzw. eine solche in individueller Hinsicht Anwendungsvoraussetzung ist, lässt sich zumindest der Rechtsprechung nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. So ließ es der EuGH in zwei Rechtssachen genügen, dass eine solche Prüfung nicht vorgenommen wird, da die meisten der die Leistung erhaltenden Personen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten.40 Ähnliche Standpunkte vertreten auch die Verwaltungskommission in ihrer Entschließung aus dem Jahre 200141 sowie die Kommission in ihrem Änderungsvorschlag.42 In einer Großen-Kammer-Entscheidung aus dem Jahre 2007 betonte der EuGH hingegen im Zusammenhang mit der Argumentation für den Sozialhilfecharakter der streitigen Hybridleistung, die einnahmeabhängig und daher in der Höhe variabel gewährt wurde, dass die „persönliche Be- 36 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 13; Verwaltungskommission (Fn. 30), Pkt. 6 und 7. 37 Vgl. Art. 1 Nr. 2 VO 647/2005 (Fn. 22). 38 Vgl. KOM(2003) 468 endg., S. 8. 39 Vgl. KOM(2003) 468 endg., S. 8; EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 25 u. 26; . EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersbergen-Lap), Rn. 30 u. 31. Siehe auch Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 17. 40 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersbergen-Lap), Rn. 32; EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-577/09 (Bartlett), Rn. 29. Hierauf wird auch in den Kommentaren verwiesen, vgl. etwa Schreiber, in: Schreiber/ Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 17. 41 Verwaltungskommission (Fn. 30), Pkt. 5 Buchst. d. 42 Vgl. KOM(2003) 468 endg., S. 8 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 13 dürftigkeit, d. h. die individuelle finanzielle Situation jedes Empfängers [für die Leistungsgewährung ] deshalb eine entscheidende Rolle [spielt].“ Ob hieraus der Schluss zu ziehen ist, dass es nunmehr immer auf eine persönliche und individuell geprüfte Bedürftigkeit ankommt, lässt sich mangels weiterer Urteile nicht abschließend entscheiden. Der ausdrücklich in den Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii VO 883/2004 aufgenommene Bezug des Mindesteinkommens zum „wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat“ greift sodann die Voraussetzung auf, die der EuGH als Rechtfertigung für Ausnahmen vom Exportgebot statuiert hat.43 Insbesondere bei Leistungen mit einem solchen Bezug dürfen Wohnortklauseln vorgesehen und die Leistungsgewährung auf das Territorium des zuständigen Mitgliedstaats beschränkt werden. Die Kommission konkretisiert die daraus fließenden Anforderungen in ihrem Änderungsvorschlag dahingehend, dass das „durch die betreffende Leistung sichergestellte Mindesteinkommen […] demnach in etwa dem im betreffenden Mitgliedstaat rechnerisch ermittelten oder dort üblichen Existenzminimum entsprechen bzw. an dieses gekoppelt sein [muss].“44 Der EuGH hat den Bezug zum wirtschaftlichen und sozialen Umfeld des betreffenden Mitgliedstaats in einer Entscheidung etwa bejaht, weil die streitige mitgliedstaatliche Leistung „vom dortigen Mindestlohn und Lebensstandard abhängt.“45 Wie genau der EuGH das Bestehen dieses Bezugs im Einzelfall prüfen würde und welche Grenzen hieraus folgen können, lässt sich mangels weiterer Entscheidungen zu diesem Kriterium allerdings nicht bestimmen. 2.1.4. Beitragsunabhängigkeit (Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004) Die Beitragsunabhängigkeit ist Grundvoraussetzung und prägt bereits die Eigenbezeichnung dieser Leistungskategorie. Sie spielt auch für die Exportierbarkeit bzw. die Ausnahme hiervon eine Rolle, da das Exportgebot zuvörderst für Leistungen gilt, die auf Beiträgen beruhen und daher als wohlerworbene Rechtspositionen anzusehen sind.46 Die die Voraussetzung der Beitragsunabhängigkeit aufgreifende und in Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004 verwandte Formulierung, wonach die „Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und [die] Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen [darf]“, geht auf die 2005 erfolgte Präzisierung zurück47 und weist zwei voneinander zu unterscheidende 43 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 41 f.; EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 313/86 (Lenoir), Rn. 16. Siehe auch KOM (2003) 468 endg., S. 8; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 16; . Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 16 der VO 993/2004 (Fn. 7). 44 KOM (2003) 468 endg., S. 8. 45 EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 33. 46 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 20; Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 110. 47 Siehe Art. 1 Nr. 2 VO 647/2005 (Fn. 22). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 14 Komponenten auf: die Finanzierung der Leistung (2.1.4.1.) und ihre Gewährung und Berechnung (2.1.4.2.).48 2.1.4.1. Finanzierung der Leistung In der Rechtsprechung spielte bisher – soweit ersichtlich – nur die erste Komponente, die Leistungsfinanzierung , eine Rolle. Entscheidend ist für den EuGH insoweit die tatsächliche Finanzierung der Leistung, wobei zu prüfen ist, ob sie unmittelbar oder mittelbar durch Sozialbeiträge oder durch öffentliche Mittel sichergestellt wird.49 Der Wortlaut präzisiert dies – wie oben zitiert – dahingehend, dass es ausschließlich obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben sein dürfen. Im Lichte der Rechtsprechung dürfte der Begriff der Steuer jedoch weniger formal und nicht anhand des nationalen Rechts zu verstehen sein, sondern vielmehr unionsrechtlich und es dabei darauf ankommen , ob die zur Finanzierung der Leistung herangezogenen Beträge oder Abgaben in einem „erkennbaren Zusammenhang“ zu dieser stehen oder nicht: im ersten Fall sind es Sozialbeiträge, die die Qualifizierung als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen ausschließen, im zweiten Fall Steuern, aus denen die Finanzierung insoweit erfolgen darf.50 Einen solchen, gegen eine beitragsunabhängige Finanzierung sprechenden erkennbaren Zusammenhang hat der EuGH etwa zwischen dem in Frankreich erhobenen allgemeinen Sozialbeitrag und der streitgegenständlichen Leistung u. a. deshalb verneint, weil diese nicht ausschließlich aus dem Sozialbeitrag finanziert wurde, sondern auch aus Steuern und der Sozialbeitrag auch der Finanzierung anderer Leistungssysteme diente.51 Der Fall einer (nicht zulässigen) mittelbaren Finanzierung durch Sozialbeiträge betraf eine österreichische Konstellation, die sich durch eine mittelbare Umschichtung zwischen verschiedenen Sozialversicherungsbeiträgen auszeichnete.52 2.1.4.2. Gewährung und Berechnung der Leistung Dem Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004 nach reicht allein eine beitragsunabhängige Finanzierung der Leistung nicht aus, kumulativ darf auch ihre „Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen.“ Diese Voraussetzung 48 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 18. 49 Siehe EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 36; EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger- Lap), Rn. 36; EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 28. 50 So zuletzt EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 45, 52. 51 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 49, 50. 52 EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 29 ff. Siehe hierzu auch Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 20. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 15 dürfte auf das Merkmal der Sozialhilfe zurückgehen, wonach diese „keinerlei Berufstätigkeits-, Mitgliedschafts- oder Beitragszeiten [erfordert]“.53 Allerdings begrenzt der Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004 diese (negative) Abhängigkeit auf „Beiträge“, was zunächst auf geldwerte Zuwendungen hindeutet. Rechtsprechung gibt es zu dieser Anforderung – soweit ersichtlich – bisher keine. Lediglich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vorliegen einer beitragsfreien Finanzierung hat der EuGH in einer Entscheidung bei der Prüfung nach dem erkennbaren Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung u. a. ausgeführt, dass die „Anspruchsvoraussetzungen und die Einzelheiten für die Berechnung der Zusatzbeihilfe nicht in Abhängigkeit von irgendeinem Beitrag der Begünstigten“ stehen. Dies erfolgte jedoch erstens nicht auf Grundlage des zitierten Normwortlauts und schließt zweitens ein weites, auch Mitgliedschaftszeiten etc. erfassendes Verständnis von Beiträgen nicht aus. Im Kommissionsvorschlag, der der Einführung dieser Formulierung zugrunde lag, finden sich hierzu keine Ausführungen.54 Soweit dieser Punkt im Schrifttum adressiert wird, wird der Begriff eher weit verstanden und auch „Wartezeiten o. ä.“ als unzulässige Anknüpfungsgegenstände angesehen .55 Gegen ein allein finanzielle Beiträge erfassendes Verständnis spricht schließlich auch, dass dieser Komponente der Beitragsunabhängigkeit ansonsten gegenüber der Steuerfinanzierung keine eigenständige Bedeutung mehr zukommen würde. Denn die Finanzierungskomponente der Beitragsunabhängigkeit verlangt ja bereits, dass die Leistung nicht durch (finanzielle) Beiträge der Versicherten aufgebracht wird. Legt man das weite, der früheren Rechtsprechung zu Hybridleistungen und ihren Sozialhilfemerkmalen zugrunde liegende Verständnis für den Begriff der Beiträge in Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004 zugrunde, so kommt in dieser Norm zum Ausdruck, dass Finanzierung und sonstige Beitrags(un)abhängigkeit nicht zwingend miteinander verbunden sein müssen, eine Leistung zwar steuerfinanziert aber gleichwohl an Mitgliedschaftszeiten etc. gebunden sein kann. Besteht die Beitragsunabhängigkeit nicht auf beiden Ebenen, so ist dem Wortlaut der Norm nach die Qualifizierung einer Geldleistung als besondere beitragsunabhängige nicht möglich. Von Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang schließlich noch, dass sowohl Gewährung als auch Berechnung beitragsunabhängig sein müssen. Ob hierdurch jegliche Anknüpfungen an Beiträge des Versicherten auch in Bezug auf die Berechnung von Leistungen unzulässig sind, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Rechtsprechung gibt es hierzu – soweit ersichtlich – bisher keine. Im Schrifttum findet sich dazu die nicht näher belegte Aussage, dass „Beitragsleistungen weder unmittelbar noch mittelbar […] als Berechnungsfaktor der Höhe nach erforderlich [sein dürfen].“56 Im Lichte eines so weiten Verständnisses wären bspw. solche Freibetragsregelungen beitragsunabhängiger Geldleistungen als problematisch anzusehen, die sich auf Einnahmen aus beitragsabhängigen Leistungen beziehen. Denn auch in einem solchen Fall würde die Höhe der 53 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.6.1972, Rs. 1/72 (Frilli), Rn. 14/15; EuGH, Urt. v. 5.5.1983, Rs. 139/82 (Piscitello), Rn. 11. 54 Siehe KOM(2003) 468 endg., S. 2 ff. 55 Siehe etwa Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 18. Keine Ausführungen hierzu hingegen bei Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 70 VO 883/2004, Rn. 13. 56 So Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 18. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 16 beitragsunabhängigen Geldleistung über den Freibetrag zumindest mittelbar von der Höhe der beitragsabhängigen Leistung und damit den dort erbrachten Beiträgen abhängen. Gegen ein so weit verstandenes Verhältnis der beitragsunabhängigen Berechnung spricht jedenfalls , dass diese bereits von ihrem Zweck her auch ergänzend oder zusätzlich zu beitragsabhängigen Leistungen gewährt werden können und dann zwangsläufig in der Höhe von dem Umfang der beitragsabhängigen Leistungen und den hierfür erbrachten Beiträgen abhängen. Dies spricht dafür, die Beitragsunabhängigkeit der Berechnung auf die Leistung an sich zu beziehen und die daneben (und primär) gewährte beitragsabhängige Leistungen außer Betracht zu lassen. 2.1.5. Verhältnis zu zeitgleich gewährten beitragsabhängigen Leistungen (Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004) Art. 70 Abs. 2 Buchst. b S. 1 VO 883/2004 stellt klar, dass Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistung zu betrachten sind. Dies folgt auch schon aus der Anforderung, wonach besondere beitragsunabhängige Geldleistungen einen zusätzlichen oder ersatzweisen Schutz gegen die von Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 erfassten Risiken gewähren. Vor diesem Hintergrund dürfte dieser Voraussetzung eine eigenständige Bedeutung kaum zukommen. Rechtsprechung gibt es hierzu – soweit ersichtlich – allerdings bisher nicht. Auch finden sich im Schrifttum hierzu keine Ausführungen , die über den Wortlaut der Voraussetzung hinausgehen. 2.1.6. Eintragung in Anhang X (Art. 70 Abs. 2 Buchst. c VO 883/2004) Die Anforderung, wonach die betreffende besondere beitragsunabhängige Geldleistung im – nach geltendem Recht – Anhang X eingetragen sein muss, besteht seit der Kodifizierung dieser Leistungskategorie .57 Im Schrifttum wird das Eintragungserfordernis als konstitutiv angesehen,58 was sich in der geltenden Fassung auch der Vorschrift entnehmen lässt. Denn darin ist die Eintragungsvoraussetzung in Art. 70 Abs. 2 Buchst. c VO 883/2004 mit den anderen, in den Buchstaben a und b genannten und oben erläuterten Voraussetzungen mit einem „und“ verbunden.59 Daraus wird deutlich, dass nur die Eintragung in Anhang X nicht genügt, um eine Geldleistung als besonders beitragsunabhängig zu qualifizieren. Eine alleine auf die Eintragung abstellende Betrachtungsweise wurde ursprünglich mit Blick auf die ersten Entscheidungen des EuGH zu dieser 57 Siehe die ursprüngliche Version von Art. 10a Abs. 1 VO 1408/71, eingeführt durch Art. 1 Nr. 4 VO 1247/92 (Fn. 15). 58 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 21; ähnlich Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 70 VO 883/2004, Rn. 14. 59 Siehe auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 19; EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 25. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 17 Leistungskategorie vertreten, da dort eine Überprüfung ihrer materiellen Kriterien nicht vorgenommen wurde.60 In der späteren Rechtsprechung stellte der Gerichtshof jedoch klar, dass neben der Eintragung auch die materiellen Leistungskriterien vorliegen müssen.61 Hieraus müsste zugleich folgen, dass eine Maßnahme auch dann nicht als besondere beitragsunabhängige Geldleistung angesehen werden kann, wenn zwar die materiellen Kriterien erfüllt sind, es aber an einer Eintragung fehlt.62 In der Praxis dürfte eine solche Situation mittlerweile wohl eher selten auftreten, da ein Mitgliedstaat bei Einführung entsprechender Leistungen in der Regel aus Gründen der Rechtssicherheit ein Interesse daran haben wird, diese in den Anhang X aufnehmen zu lassen. Da dies jedoch nur durch Änderung der VO 883/2004 bzw. ihres Anhangs X erfolgen kann,63 muss hierzu ein entsprechendes ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchgeführt werden (vgl. Art. 48 AEUV). Dieses kann – je nach Umständen des Einzelfalls – auch mehrere Monate bis Jahre dauern, insbesondere, wenn weitere und in der Sache streitige Punkte zu regeln sind. Es stellt sich dann die Frage, was hinsichtlich der Leistung bis zur Eintragung bzw. dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens gilt. Soweit ersichtlich, gibt es hierzu weder Rechtsprechung noch Ausführungen im Schrifttum. Hier könnte die Erklärung nach Art. 9 VO 883/2004 zum Geltungsbereich der Koordinierungsverordnung eine Rolle spielen. Danach notifizieren die Mitgliedstaaten der Kommission schriftlich u. a. „die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen im Sinne des Art. 3 […] sowie spätere wesentliche Änderungen“. Auch wenn die in Art. 3 Abs. 3 VO 883/2004 genannten besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen in der zitierten Vorschrift nicht mehr ausdrücklich aufgeführt werden,64 ist davon auszugehen, dass sie von dem Verweis auf „Art. 3“ erfasst sind.65 Rechtsfolge einer Erklärung nach Art. 9 VO 883/2004 ist, dass die Mitgliedstaaten sich hieran festhalten lassen müssen.66 Die gilt auch dann, wenn die betreffenden Leistungen nach materiellen Kriterien 60 Etwa von Seiten Österreichs, siehe EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 17; siehe auch KOM(2003) 468 endg., S. 2. Vgl. dazu auch Beschorner, Die beitragsunabhängigen Geldleistungen i.S.v. Art. 4 Abs. 2a VO (EWG) Nr. 1408/71 in der Rechtsprechung des EuGH, ZESAR 2009, S. 320 (325). 61 Erstmals wohl EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 21; EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 19; vgl. vorher etwa EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 29, 32. Siehe auch Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 22; Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 70 VO 883/2004, Rn. 17. 62 So vertritt etwa Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 110, die Auffassung, dass die betreffende, nicht eingetragene Leistung dann nur als Leistung der sozialen Sicherheit qualifiziert werden kann. Siehe zur Frage an sich auch Beschorner (Fn. 60), ZESAR 2009, S. 327, der sie allerdings nicht weiter beantwortet. 63 Vgl. Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 110. 64 Vgl. Art. 5 VO 1408/71 in der Version von Art. 1 Nr. 3 VO 1247/92 (Fn. 17). 65 So etwa Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 70 VO 883/2004, Rn. 2. 66 Siehe hierzu mit Nachweisen aus der Rechtsprechung Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 9, Rn. 4 f.; Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 9 VO 883/2004, Rn. 7 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 18 nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung einzubeziehen wären.67 Das mag zwar für Leistungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 gelten und nur auf diese bezieht sich auch – soweit ersichtlich – die bisherige Rechtsprechung. Für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen dürfte dies aber nicht zutreffen, da es ansonsten auf diesem Wege doch nicht auf die materiellen Kriterien ankommen würde. Davon unabhängig erscheint es jedoch vertretbar, dass auf die Voraussetzung einer Eintragung in Anhang X zumindest dann verzichtet werden kann, wenn die betreffende Leistung der Kommission nach Art. 9 VO 883/2004 notifiziert wurde. Denn ab diesem Zeitpunkt besteht für die Kommission die Möglichkeit, die Eintragung gesetzgebungsmäßig durch Vorlegen eines entsprechenden Änderungsvorschlags auf den Weg zu bringen. Mangels Rechtsprechung zu dieser Frage ist eine abschließende Beurteilung an dieser Stelle allerdings nicht möglich. 2.1.7. (Rang-)Verhältnis zu Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 Der Hybridcharakter besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen hat zur Folge, dass sich diese Leistungskategorie, Leistungen der sozialen Sicherheit und Sozialhilfe gegenseitig ausschließen ,68 die Zuordnung einer Leistung zu einer dieser Kategorien somit (unionsrechtlich) zwingend ist. Soweit ersichtlich, liegen bisher keine Urteile zu Konstellationen vor, in denen eine Abgrenzung zwischen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen einerseits und Sozialhilfe andererseits vorzunehmen war. Als bisweilen problematisch stellt sich hingegen in der Rechtsprechung die Abgrenzung zwischen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen und solchen der sozialen Sicherheit dar. Ausgangspunkt für den EuGH sind bei der Prüfung dabei regelmäßig der Zweck und die Voraussetzungen der in Frage stehenden Leistung,69 wobei im Fall besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen nur auf den Zweck abgestellt wird, sich dahinter aber die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Bestimmung einer Sonderleistung verbergen.70 In zwei Urteilen stellte der EuGH jedoch weniger auf die einzelnen Voraussetzungen ab, sondern ließ den (Haupt-)Zweck genügen und qualifizierte Leistungen als solche der sozialen Sicherheit nach Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004, obgleich sie „eng mit dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld des 67 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 9, Rn. 4; Fuchs, in: Fuchs (Fn. 2), Art. 9 VO 883/2004, Rn. 7. 68 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 18; Siehe in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit und besondere beitragsunabhängige Geldleistungen EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-286/08 (Hosse), Rn. 36; EuGH, Urt. v. 18.10.2007, Rs. C-299/05 (Kommision/EP u. Rat), Rn. 51. 69 EuGH, Urt. v. 24.10.2013, Rs. C-177/12 (Lachheb), Rn. 28; EuGH, Urt. v. 16.9.2015, Rs. C-433/13 (Kommission /Slowakei), Rn. 70, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 70 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 18.10.2007, Rs. C-299/05 (Kommission/EP und Rat), Rn. 55; EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 32. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 19 betreffenden [Mitgliedstaat] verknüpft [waren]“71 bzw. „gewisse Besonderheiten“ wie die finanziellen Ergänzung von Rentenzahlungen aufwiesen.72 Die zitierten Entscheidungen legen erstens den Schluss nahe, dass allein die jeweiligen Leistungsvoraussetzungen als solche keine eindeutige Abgrenzung ermöglichen und lassen zweitens einen Vorrang von Leistungszwecken im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 gegenüber denen besonderer beitragsunabhängiger Leistungen erkennen. Ein solcher Vorrang konnte auch aus der ursprünglichen Fassung des Art. 4 Abs. 2a VO 1408/71 herausgelesen werden.73 Während die Unschärfe der maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägten Leistungskriterien, insbesondere der Hybridleistungskategorie und die daraus folgenden Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zu Leistungen der sozialen Sicherheit im Schrifttum kritisiert werden,74 lässt sich der seit 2005 geltenden Fassung der einschlägigen Vorschrift sowie anderen Urteilen jedenfalls ein wie auch immer gearteter Vorrang der letztgenannten Leistungskategorie gegenüber besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nicht entnehmen.75 Entscheidend ist das Vorliegen der entsprechenden Leistungsvoraussetzungen. Und auch in der Lehre scheint die Auffassung vom Vorrang nicht vertreten zu werden. Zwar wiederholt der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass die Vorschriften zu besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen aufgrund der darin geregelten Ausnahme vom Exportgebot (vgl. Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004) eng auszulegen sind.76 Diese Vorgabe erschöpft sich – soweit ersichtlich – bisher jedoch darin, dass eine solche Leistung nur angenommen werden kann, wenn die in Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 833/2004 genannten Voraussetzungen – in der Rechtsprechungsterminologie : Sonderleistung, Beitragsunabhängigkeit und Eintrag in Anhang X – erfüllt sind.77 Dass die einzelnen Konkretisierungen dieser Grundvoraussetzungen wiederum in irgendeiner Weise eng auszulegen sind, dafür finden sich in der Rechtsprechung – soweit ersichtlich – keine 71 EuGH, Urt. v. 18.10.2007, Rs. C-299/05 (Kommission/EP und Rat), Rn. 58. 72 EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 28. 73 Diese lautete insoweit: „Diese Verordnung gilt auch für beitragsunabhängige Sonderleistungen, die unter andere als die in Absatz 1 erfassten oder die nach Absatz 4 ausgeschlossenen Rechtsvorschriften oder Systeme fallen […]“, vgl. Art. 1 Nr. 2 VO 1247/92 (Fn. 17). Siehe noch zu diesem Wortlaut, EuGH, Urt. v. 31.5.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 35. 74 Vgl. Beschorner (Fn. 60), ZESAR 2009, S. 323; Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 112. 75 Siehe EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 24 ff.; EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn. 32 ff.; EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 30 ff.; EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 22 ff. In den genannten Entscheidungen prüft der Gerichtshof ausschließlich das Vorliegen der Voraussetzungen für beitragsunabhängige Geldleistungen, ohne zugleich die Kriterien der Leistungen sozialer Sicherheit zu erörtern. So aber in den in Fn. 70 genannten Urteilen. 76 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.1.2007, Rs. C-265/05 (Naranjo), Rn.29; EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersberger-Lap), Rn. 25; EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 19. 77 Siehe die in Fn. 76 genannten Nachweise. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 20 Belege. Daher lässt sich auch auf diesen Umstand ein etwaiger Vorrang von Leistungen der sozialen Sicherheit gegenüber besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nicht stützen. Eine abschließende Einschätzung ist in dieser Frage mangels eindeutiger Rechtsprechung jedoch nicht möglich. 2.1.8. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die in Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004 enthaltenen Voraussetzungen besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen die in der Rechtsprechung entwickelten Merkmale dieser Leistungskategorie aufgreifen und teils auch zu präzisieren suchen. Gleichwohl bleiben zu einzelnen Voraussetzungen Fragen offen, deren Beantwortung sich aus der bisherigen, eher am Einzelfall orientierten Rechtsprechung nicht ergibt. Diese wird darüber hinaus unter Verweis auf mangelnde Schärfe ihrer Konturen eher kritisch beurteilt.78 2.2. Leistungsmerkmale, die Ausnahmen vom Leistungsexport rechtfertigen Die wohl wichtigsten Leistungsmerkmale, die, vorbehaltlich einer notwendigen sekundärrechtlichen Konkretisierung,79 nach bisheriger Rechtsprechung eine Ausnahme vom Leistungsexport rechtfertigen können – und eine solche Rechtfertigung wird als stets erforderlich angesehen80 – liegen den besonderen beitragsunabhängige Geldleistungen zugrunde und wurden dort bereits erwähnt: die enge Bindung der Leistung an das soziale Umfeld des leistungsgewährenden Staates 81 (2.2.1.) und ihre Beitragsunabhängigkeit (2.2.2.).82 Anzusprechen ist ferner die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit (2.2.3) sowie die Frage nach weiteren Merkmalen oder Rechtfertigungsgründen für Ausnahmen vom Exportgebot (2.2.4.). 2.2.1. Enge Bindung an das soziale Umfeld Die enge Bindung an das soziale Umfeld des leistungsgewährenden Mitgliedstaates ist mit Blick auf seine Ausgestaltung bei besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen zumindest dann erfüllt, wenn die betreffende Leistung der Gewährleistung des Existenzminimums dient.83 78 Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 112; Beschorner (Fn. 60), ZESAR 2009, S. 323. 79 Siehe EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 41; EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 21. 80 So die wohl einhellige Deutung der Rechtsprechung im Schrifttum, vgl. etwa Devetzi, Auswirkungen der Wohnsitzverlegung auf den sozialrechtlichen Leistungsexport in Europa, ZESAR 2009, S. 63 (68 f.); Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 7, Rn. 9. 81 EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38; Habelt, Rn. 81; EuGH, Urt. v. 4.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 42. 82 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch) sowie sogleich die Ausführungen unten unter 2.2.2. S. 20 f. 83 Siehe oben unter 2.1.3., S. 11 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 21 Ob das Merkmal nur auf diese Weise umgesetzt werden kann, lässt sich der Rechtsprechung nicht mit hinreichender Klarheit entnehmen. In einer älteren Entscheidung wies der EuGH beispielhaft auf mögliche Ausgestaltungen von Familienleistung hin, in welcher dieses Merkmal fehle bzw. als erfüllt angesehen werden könne. Während es nicht gegeben sei bei „Geldleistungen [, die] ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen gewähr[t]“ werden, könne eine Bindung an den Wohnort des Betroffenen zulässig sein, wenn die Leistung „zur Deckung durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasster Kosten bestimmt ist […].“84 In diesem Beispiel ergab sich die Bindung an das soziale Umfeld aus den jeweils in dem betreffenden Land üblichen Kosten der Einschulung. Mangels weiterer Rechtsprechung lassen sich weitergehende Aussagen zu diesem Merkmal und seiner möglichen Umsetzung nicht treffen. 2.2.2. Beitragsunabhängigkeit Anders als bei der Bindung an das soziale Umfeld weist der EuGH nur selten ausdrücklich auf die Beitragsunabhängigkeit als Voraussetzung für Ausnahmen vom Exportgebot hin.85 In der Sache folgt dieser Zusammenhang aus dem Sinn und Zweck der auf Grundlage von Art. 48 AEUV zu erlassenden Koordinierungsmaßnahmen, die der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dienen.86 Die Grundfreiheit wäre beeinträchtigt, wenn die Mitnahme von auf Beiträgen beruhenden und damit „wohlerworbenen“ Leistungen bei Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat nicht möglich wäre.87 Die Regelung in Art. 7 VO 883/2004 zum generellen Verbot von Wohnortklauseln stellt daher eine „Maßnahm[e] zur Durchführung des [Art. 48 AEUV] dar, die im Bereich der sozialen Sicherheit die in [Art. 45 AEUV] garantierten Freizügigkeit der Arbeitnehmer herstellen [soll].“88 Beruhen die Leistungen hingegen nicht auf Beiträgen der versicherten Arbeitnehmer, so gebietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit zumindest nicht ohne weiteres die Mitnahme dieser Leistungen ,89 so dass entsprechende Ausnahmen vom Exportgebot möglich wären. Ob – wie auch bei besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen – eine Beitragsfreiheit auf Finanzierungs- sowie Gewährungs- und Berechnungsseite vorliegen muss,90 lässt sich der Rechtsprechung mangels einschlägiger Entscheidungen zu anderen Leistungen als denen im Sinne des Art. 70 VO 883/2004 nicht beantworten. 84 EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 313/86 (Lenoir), Rn. 16. 85 Siehe aber EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 20, 21; Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 110. 86 EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38; EuGH, Urt. v. 31.5.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 37. 87 EuGH, Urt. v. 8.3.2001, Rs. C-215/99 (Jauch), Rn. 20, 21. 88 EuGH, Urt. v. 31.5.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 37; EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-537/09 (Bartlett u. a.), Rn. 38. 89 Vgl. Bokeloh (Fn. 13), WzS 2017, S. 110. 90 Siehe oben unter 2.1.4., S. 13 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 22 Gleiches gilt für die Frage, nach der konstitutiven Bedeutung dieses Merkmals bzw. danach, ob auch bei beitragsabhängigen Leistungen Ausnahmen vom Exportgebot möglich sind. Für letzteres spricht die Ausnahmebestimmung bei Arbeitslosigkeit in Art. 63 ff. VO 883/2004, da entsprechende Leistungen zumindest auch auf Beiträgen beruhen können. Allerdings ist diese, durch die Rechtsprechung ebenfalls anerkannte Ausnahme vom Exportgebot, die damit begründet wird, dass der Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen muss und entsprechende Kontrollen notwendig sind,91 im vorliegenden Kontext nicht von Relevanz. 2.2.3. Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit Ohne Bezugnahme auf bestimmte Leistungsmerkmale wird im Schrifttum unter Verweis auf Urteile des EuGH die Auffassung vertreten, dass Ausnahmen vom Leistungsexport auch mit dem Rechtfertigungsgrund des Risikos einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts eines Systems der sozialen Sicherheit begründet werden können.92 Soweit ersichtlich, wurde in den einschlägigen Urteilen ein solcher Nachweis von Seiten der Mitgliedstaaten bisher als nicht erbracht angesehen und auch im Schrifttum wird darauf hingewiesen, dass dieser Rechtfertigungsgrund angesichts der quantitativ eher geringen Exportfälle nur schwer zu begründen sei.93 Hiervon unabhängig stellen sich zwei Fragen: zunächst, ob es auch in Bezug auf diesen Grund einer sekundärrechtlicher Verankerung bedarf oder ob der Mitgliedstaat sich hierauf zur Rechtfertigung einer Wohnsitzklausel auch ohne einer solchen Verankerung berufen kann. Sodann ist unklar, ob im Fall eines solches Nachweises jede Leistung und damit auch beitragsabhängige und nicht an das soziale Umfeld gebundene Maßnahmen im Sinne der VO 883/2004 vom Leistungsexport ausgenommen werden können. Mangels Rechtsprechung zu derartigen Konstellationen lassen sich hierzu keine verbindlichen Antworten geben. 2.2.4. Weitere Merkmale oder Rechtfertigungsgründe Weitere Leistungsmerkmale oder Rechtfertigungserwägungen für Ausnahmen vom Leistungsexport lassen sich der Rechtsprechung nicht entnehmen und sind auch im Schrifttum nicht ersichtlich . Ausgeschlossen sind insbesondere letztere jedoch nicht unbedingt.94 Das zeigt sich daran, dass der EuGH Wohnsitzanforderungen, die entweder nach der VO 883/2004 zulässig sind oder für Leistungen vorgesehenen sind, die von dieser Verordnung nicht erfasst werden, teilweise (zusätzlich ) am Maßstab des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit prüft, wobei es dort v. a. auf die Rechtfertigung entsprechender Klauseln aus objektiven Gründen und 91 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.6.1980, verb. Rs. 41/79, 121/79 und 796/79 (Test u. a.), Rn. 12 ff.; siehe auch EuGH, Urt. v. 18.7.2006, Rs. C-406/04 (De Cuyper), Rn. 43 ff. 92 Siehe etwa Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 7, Rn. 9; Devetzi (Fn. 80), ZESAR 2009, S. 65, 68 f., mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 11.9.2008, Rs. C-228/07 (Petersen), Rn. 57; Habelt, Rn. 83, sowie EuGH, Urt. v. 28.4.1998, Rs. C- (Kohll), Rn. 41. 93 So Devetzi (Fn. 80), ZESAR 2009, S. 68 f. 94 Vgl. auch die generelle Aussage von Schuler, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht (Fn. 2), Art. 7 VO 883/2004, Rn. 3, wonach „nicht alle Geldleistungen oder Systeme der sozialen Sicherheit transferpflichtig“ seien. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 23 auf deren Verhältnismäßigkeit ankommt.95 Bei den objektiven Gründen handelt es sich um einen offenen Katalog von Rechtfertigungserwägungen. 2.2.5. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass vor allem solche Leistungen vom Exportgebot ausgenommen werden können, die beitragsunabhängig gewährt werden und einen engen Bezug zum sozialen Umfeld des leistungsgewährenden Mitgliedstaates aufweisen. Ob jeweils beide Merkmale vorliegen müssen und welche Ausgestaltung sie im Einzelnen annehmen können oder ggf. müssen , lässt sich der Rechtsprechung mangels entsprechender Urteile ebenso wenig entnehmen wie die Antwort auf die Frage, unter welchen konkreten Voraussetzungen das Risiko einer erheblichen finanziellen Gefährdung eines Systems der sozialen Sicherheit Ausnahmen von Exportgebot begründen kann. Denn die bisherigen Entscheidungen zu Ausnahmen vom Exportgebot betreffen überwiegend besondere beitragsunabhängige Geldleistungen. 3. Zu den einzelnen Fragen 3.1. EU-rechtliche Einordnung der sog. Ausgleichszulage nach österreichischem Recht Der Fachbereich wurde u. a. gefragt, wie „aus EU-Rechtlicher Sicht die in Österreich gezahlte Ausgleichzulage (Mindestpension) […] einzuordnen [ist]. Verwiesen wird auf den Umstand, dass diese Leistung in Anlage X der VO 883/2004 aufgeführt wird. Diese Frage war Gegenstand des Urteils in der Rechtssache Skalka aus dem Jahre 2004.96 Darin hat der EuGH – noch auf Grundlage der VO 1408/71 – aufgrund einer materiellen Prüfung festgestellt , dass die damals noch in Anlage IIa aufgeführte Ausgleichszulage nach österreichischem Recht als besondere beitragsunabhängige Geldleistung anzusehen ist.97 Ausgehend von der Terminologie der VO 1408/71 führte der EuGH zum Merkmal der Sonderleistung aus, dass die „österreichische Ausgleichszulage, wie alle Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, festgestellt haben, eine Alters- oder Invaliditätsrente [ergänzt]. Sie hat Sozialhilfecharakter , soweit sie dem Empfänger im Fall einer unzureichenden Rente ein Existenzminimum gewährleisten soll. Ihre Gewährung erfolgt nach objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien . Sie ist daher als „Sonderleistung“ im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 einzustufen.“98 Im Hinblick auf die Beitragsunabhängigkeit stellte der EuGH darauf ab, dass die „mit der österreichischen Ausgleichsabgabe verbundenen Ausgaben zunächst von einem sozialen Träger übernommen und diesem dann in voller Höhe vom betreffenden Bundesland erstattet [werden], das die zur Finanzierung der Leistung erforderlichen Beträge aus dem Bundeshaushalt erhält. Die 95 Siehe hierzu mit Nachweisen aus der Rechtsprechung Devetzi (Fn. 80), ZESAR 2009, S. 63 ff. 96 EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka). 97 Siehe EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 26, 30 f. 98 EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 26. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 24 Beiträge der Versicherten werden zu keiner Zeit in diese Finanzierung einbezogen. Folglich steht fest, dass die österreichische Ausgleichszulage als beitragsunabhängig im Sinne von Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.“99 Diese Einordung hat der EuGH in einem späteren Urteil auch für die neue Rechtslage unter der VO 883/2004 bestätigt,100 so dass auch nach geltendem Recht davon ausgegangen werden kann, dass die nun im Anhang X für Österreich aufgeführte Ausgleichsleistung als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen nach Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004 dem Koordinierungsregime nach Art. 70 Abs. 3 und 4 VO 883/2004 unterliegt. Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 ordnet insoweit an, dass entsprechende Leistungen „ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt [werden].“ Die Gewährung der Ausgleichszulage darf folglich auf Personen beschränkt werden, die in Österreich wohnhaft sind.101 Ob die Regelung des Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 auch als unionsrechtlich gebotener Exportausschluss zu betrachten ist, mit der Folge, dass ein autonom mitgliedstaatlich vorgesehener Leistungsexport unzulässig wäre, ist offen. Zwar deutet der Wortlaut darauf hin und auch im Schrifttum scheint dies vertreten zu werden.102 Rechtsprechung gibt es zu dieser Frage – soweit ersichtlich – bisher nicht. Aus Sicht des Verfassers ist eine solche Deutung jedoch nicht zwingend. Zunächst handelt es sich hier wie auch in Bezug auf andere Bestimmungen der VO 883/2004 um eine Kollisionsnorm, die lediglich das anwendbare mitgliedstaatliche (Sozial-)Recht bestimmt, nicht aber dessen Inhalt.103 Ferner ist allein aus der fehlenden Pflicht zum Leistungsexport – ungeachtet des Wortlauts – nicht unbedingt ein entsprechendes Verbot zu schließen. Deutlich wird dies an einem Urteil des Gerichtshofs zu Familienleistungen.104 In dem betreffenden Fall bestand zwar ein Anspruch nach nationalem Recht auf entsprechende Leistungen, aber nach der VO 1408/71 keine (kollisionsrechtliche) Zuständigkeit des betreffenden Mitgliedstaates für deren Gewährung ; unter Verweis auf letzteres wurde die Gewährung der Leistung durch den Mitgliedstaat verweigert. Der EuGH stellte u. a. fest, dass die Verordnung nicht so ausgelegt werden könne, „dass sie einem Mitgliedstaat verbietet, Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt.“105 99 EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 29 f. 100 EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C- 140/12 (Brey), Rn. 33-36. 101 Vgl. auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004, Rs. C-160/02 (Skalka), Rn. 18, 31. 102 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 30, spricht in seiner Kommentierung von einem „Exportausschluss “, allerdings ohne dies näher zu begründen oder zu belegen. 103 Siehe zu Art. 70 VO 883/2004 insbesondere EuGH, Urt. v. 19.9.2013, Rs. C- 140/12 (Brey), Rn. 39-41. 104 EuGH, Urt. v. 12.6.2012, Rs. C-611/10 (Hudzinski und Wawrzyniak). 105 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.6.2012, Rs. C-611/10 (Hudzinski und Wawrzyniak), Rn. 56. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 25 Es ist nicht ersichtlich, warum dieser Ansatz nicht auch für die Auslegung des Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 Geltung beanspruchen sollte, so dass zwar ein Leistungsexport danach nicht geboten ist, aber unionsrechtlich auch nicht verboten wäre, soweit das mitgliedstaatliche Recht ihn vorsieht . Mangels Rechtsprechung zu dieser Frage ist eine abschließende Beurteilung allerdings nicht möglich. 3.2. Fragen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Weitere Fragen des Auftraggebers betreffen Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Sinne des 4. Kapitels des SGB XII. Auch hierbei handelt es sich um eine Leistung, die im Anhang X der VO 883/2004 eingetragen ist. Soweit ersichtlich, war diese Leistungskategorie – im Gegensatz zur ebenfalls in Anhang X aufgeführten Grundsicherung für Arbeitssuchende106 – bisher nicht Gegenstand unionsgerichtlicher Rechtsprechung. Anders als hinsichtlich der Ausgleichszulage hatte der Gerichtshof somit bisher keine Gelegenheit für eine materielle Überprüfung dieser Leistungskategorie. 3.2.1. Exportpflicht Der Fachbereich wird in diesem Zusammenhang um die Beantwortung der Frage ersucht, „inwieweit […] sich für Grundsicherungsleistungen eine ‚Exportpflicht‘ ergeben [kann]“ und wie „bei einem positiven Vorliegen einer Exportpflicht die praktische Umsetzung aussehen [würde]“. Eine Exportpflicht würde für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur dann bestehen, wenn diese in materieller Hinsicht nicht als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen einzuordnen, sondern als Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 zu qualifizieren wären. Dies dürfte jedoch nicht der Fall sein. Soweit ersichtlich, wird im Schrifttum – für den Fall, dass ihre Eigenschaft als besondere beitragsunabhängige Geldleistung überhaupt in Frage gestellt wird – eher die Ansicht vertreten, dass es sich dabei eigentlich um eine von der Verordnung nicht erfasste Leistung der Sozialhilfe im Sinne von Art. 3 Abs. 5 Buchst. a Var. 1 VO 883/2004 handele.107 Begründet wird dies v. a. mit der individuellen Bedürftigkeitsprüfung, die diesem Leistungstyp zugrunde liege.108 Allein darauf dürfte es jedoch nicht ankommen. Wie oben ausgeführt, ist die Bedürftigkeit zwar das Kriterium , welches den Sozialhilfecharakter besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen prägt.109 Sozialhilfe im Sinne des Art. 3 Abs. 5 Buchst. a Var. 1 VO 883/2004 setzt nach der Rechtsprechung aber ferner voraus, dass die Leistungsgewährung im Ermessen des zuständigen Trägers 106 Siehe in Bezug auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende etwa EuGH, Urt. 15.9.2015, Rs. C-67/14 (Alimanovic), Rn. 8, 13 ff., 43 f. 107 So Fuchs, Deutsche Grundsicherung und europäisches Koordinationsrecht, NZS 2007, S. 1 (2 f.). 108 Siehe Fuchs (Fn. 107), NZS 2007, S. 3. 109 Siehe dazu oben unter 2.1.1., S. 8 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 26 liegt, kein (gebundener) Anspruch auf diese Leistung besteht.110 Ein solcher Anspruch besteht aber bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, bei Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen ist die Leistung zu gewähren (vgl. § 17 Abs. 1 i.V.m. §§ 41 ff. SGB XII). Dieses Merkmal rückt diese Leistung wiederum in die Nähe der Leistungen der sozialen Sicherheit und begründet zugleich ihren Hybridcharakter im Sinne des Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004.111 Darüber hinaus ist die Leistungskategorie aus Steuermitteln finanziert (vgl. § 46a SGB XII), im Hinblick auf die Gewährung allein an die Bedürftigkeit geknüpft (vgl. § 41 SGB XII) und somit – vorbehaltlich der sogleich zu prüfenden Frage nach der Bedeutung von Freibeträgen – beitragsunabhängig .112 Daher dürfte die Qualifizierung, die Deutschland insoweit in seiner geltenden Erklärung nach Art. 9 VO 883/2004 vorgenommen hat, wonach es sich bei den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung um besondere beitragsabhängige Geldleistungen im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004 handelt, die ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, in materieller Hinsicht dem Grunde nach zutreffend sein.113 Vor diesem Hintergrund ist auf die Frage zu antworten, dass Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen – vorbehaltlich der sogleich zu prüfenden Frage nach der Bedeutung von Freibeträgen – nicht dem Exportgebot unterliegen, sondern vielmehr hiervon gemäß Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 ausgenommen sind. 3.2.2. Freibeträge für Betriebs- und sog. Riesterrenten Der Fachbereich wird ferner gefragt, wie „unter dem Gesichtspunkt einer möglichen ‚Exportpflicht ‘ die bisherigen Freibeträge für die Betriebs- und Riesterrente bei der Grundsicherung einzuordnen [sind].“ Die betreffende Regelung für Betriebs- und Riesterrente findet sich in § 82 Abs. 4 und 5 SGB XII (i. V. m. § 43 Abs. 1 S. 1 SGB XII) und wurde erst 2017 erlassen. Sie sieht vor, dass ein Teil der Leistungen aus sog. zusätzlicher (privater) Altersvorsorge bei der Berechnung des die Grundsicherung mindernden Einkommens abgesetzt wird. In der Konsequenz führt dies dazu, dass ein bestimmter Geldbetrag für die Bedürftigkeitsprüfung außer Betracht bleibt und die Person im Ergebnis einen Betrag zur Verfügung hat, der über dem liegt, der allein mit Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erreicht werden könnte. Diese wiederum haben – 110 Vgl. zuletzt etwa EuGH, Urt. v. 16.9.2015, Rs. C-433/13 (Kommission/Slowakei), Rn. 72, 79, 82. Siehe dazu auch oben unter 2.1.1., S. 8 f. 111 Siehe oben unter 2.1.1., S. 9 f. 112 Siehe zu diesem Merkmal oben unter 2.1.4., S. 13 ff. 113 Vgl. Nr. 11 Buchst. a der Erklärung von Deutschland gemäß Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für das am 31. Dezember 2017 endende Bezugsjahr. Abrufbar auf den Internetseiten der Kommission (Generaldirektion Beschäftigung, Soziales, Integration). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 27 wie alle Leistungen der Sozialhilfe im Sinne des SGB XII – zur Aufgabe, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (vgl. § 1 SGB XII i. V. m. § 8 Nr. 2 SBG XII). Damit soll letztlich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichergestellt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob derartige Freibeträge etwas an der Qualifizierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als besondere beitragsunabhängige Geldleistung ändern können. Soweit ersichtlich, gibt es zu einem solchen Fall oder ähnlichen Konstellationen bisher keine Rechtsprechung der Unionsgerichte. Auch im Schrifttum wird diese Frage bisher – soweit bekannt – nicht weiter erörtert. Betrachtet man die Problematik im Lichte der oben dargestellten Kriterien des Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004, so ist zum einen mit Blick auf die Anknüpfung an die beitragsfinanzierte private Altersvorsorge nach der Beitragsunabhängigkeit zu fragen (3.2.2.1.). Zum anderen gilt es zu erörtern , ob diese Leistungskategorie bei Inanspruchnahme von Freibeträgen weiterhin (nur) ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantiert (3.2.2.2.). 3.2.2.1. Beitragsunabhängigkeit Was die Beitragsunabhängigkeit angeht, so bestehen Zweifel hinsichtlich der Leistungsberechnung . Denn über die Freibetragsregelung, die sich auf beitragsfinanzierte Leistungen aus einer betrieblichen oder privaten Altersvorsorgeversicherung bezieht, wird die Höhe von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und damit deren Berechnung mittelbar auch von Beiträgen zur privat durchgeführten Altersvorsorgeabsicherung bestimmt. Ungeachtet der Frage, ob Beiträge zur privaten Altersvorsorge überhaupt von dem Merkmal der Beitragsfreiheit im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. b VO 883/2004 erfasst werden,114 ist auf die obigen Ausführungen zur beitragsunabhängigen Berechnung zu verweisen:115 Danach spricht gegen eine weite Auslegung dieses Merkmals, dass besondere beitragsunabhängige Geldleistungen per definitionem auch zusätzlich und ergänzend zu Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden können, um diese ggf. bis zu Schwelle eines Existenzminimums aufstocken zu können 114 Dahinter steht die Frage, ob eine privat erfolgende, aber durch den Staat finanziell geförderte Altersvorsorge in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fällt. Soweit ersichtlich, finden sich in den einschlägigen Kommentierungen hierzu keine Ausführungen. Der Begriff der Systeme der sozialen Sicherheit ist zwar nach § 3 Abs. 2 VO 883/2004 weit zu verstehen, er dürfte jedoch eher auf staatlich organisierte oder zumindest staatliche vorgegebene Systeme zielen, vgl. auch den Begriff der Rechtsvorschriften im Sinne des § 3 Abs. 1 VO 883/2004, der in Art. 1 Buchst. l VO 883/2004 legaldefiniert ist. Die sog. Riester-Rente bzw. die in diesem Zusammenhang gewährten Altersvorsorgezulagen hat der EuGH zwar als soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl.EU 2011 Nr. L 141/1, siehe auch letzte konsolidierte Fassung angesehen, vgl. EuGH, Urt. v. 10.9.2009, Rs. C-269/07 (Kommission/Deutschland), Rn. 38 ff. Eine Prüfung der streitigen Fragen u. a. zur „Mitnahme“ dieser Zulage ins EU-Ausland am Maßstab der VO 883/2004 erfolgt jedoch nicht. Hieraus lässt sich schließen, dass der EuGH das EU-Koordinierungsrecht als nicht darauf anwendbar ansah. 115 Siehe oben unter 2.1.4.2., S. 14 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 28 (vgl. Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004). In diesen Fällen hängt die Höhe der besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen immer auch von der Höhe der ggf. durch Beiträge finanzierten Leistung der sozialen Sicherheit ab. Wäre hieraus der Schluss zu ziehen, dass die beitragsunabhängige Geldleistung ihre Qualifikation in einem solchen Fall verliert, wäre eine zusätzliche oder ergänzende Gewährung solcher Leistungen ausgeschlossen. Dies widerspricht dem eindeutigen Wortlaut der VO 883/2004. Gleiches dürfte gelten, wenn es wie hier um Freibeträge geht und diese inhaltlich an beitragsfinanzierte Leistungen anknüpfen. Abschließend entscheiden lässt sich diese Frage mangels Rechtsprechung jedoch nicht. 3.2.2.2. Garantie eines Mindesteinkommens Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004 fordert, dass eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantiert, dass in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht. Ob diese Anforderung auch noch dann erfüllt ist, wenn – wie hier im Fall von Freibetragsregelungen – ein bestimmter Teil des Einkommens bei der Bedürftigkeitsprüfung außer Betracht bleibt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Soweit ersichtlich, gibt es hierzu weder Rechtsprechung noch wird diese Frage im Schrifttum erörtert. Problematisch erscheinen solche Freibeträge in diesem Zusammenhang deshalb, weil sie den Leistungsbezug zur Garantie des Mindesteinkommens aufweichen. Je mehr Einkommen bei der Leistungsgewährung und -berechnung außen vor bleibt, desto geringer ist die Bedeutung der individuellen Bedürftigkeit und umso größer der der betreffenden Personen im Ergebnis zustehende Betrag, der über das Mindesteinkommen und das damit gesicherte grundrechtliche Existenzminimum hinausgeht. Dies führt zu einem Abschmelzen des Sozialhilfeelements besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen. Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus vertreten , dass ab einer bestimmten Freibetragshöhe im Verhältnis zur eigentlichen Leistungshöhe eine Garantiefunktion für das Mindesteinkommen zu verneinen wäre. Auf der anderen Seite hat der EuGH in zwei Entscheidungen von der Notwendigkeit einer individuellen Bedürftigkeitsprüfung mit dem Hinweis abgesehen, dass die meisten der die Leistung erhaltenden Personen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten.116 Ein ähnliches Verständnis könnte auch im Hinblick auf die Freibeträge für Betriebs- und sog. Riesterrenten in Ansatz gebracht werden, da sicherlich nur ein Teil der Anspruchssteller über entsprechende Einnahmen aus privater Altersvorsorge verfügen und die entsprechenden Freibeträge beanspruchen wird. Unklar ist ferner, ob der Grundgedanke dieser Freibetragsregelung in die hier erörterte Frage einzustellen ist. Danach ist deren Ziel, Anreize für das Betreiben zusätzlicher Altersvorsorge zu schaffen und insbesondere bei Geringverdienern deren höhere Verbreitung zu erreichen.117 Wür- 116 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersbergen-Lap), Rn. 32; EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-577/09 (Bartlett), Rn. 29. Hierauf wird auch in den Kommentaren verwiesen, vgl. etwa Schreiber, in: Schreiber/ Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 17. Siehe dazu oben unter 2.1.3., S. 11 f. 117 Siehe BT-Drs. 18/11286, S. 48. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 29 den Einnahmen aus entsprechenden Verträgen vollumfänglich auf Leistungen der Grundsicherung angerechnet, würde dies sicherlich die Bereitschaft schmälern, entsprechende Verträge abzuschließen . Inwieweit dieses an sich legitime Ansinnen geeignet ist, Abstriche bei dem Sozialhilfeelement der Grundsicherung zu kompensieren, lässt sich mangels Rechtsprechung zu dieser Frage nicht abschließend beurteilen. 3.2.3. Freibeträge für gesetzliche Renten Gegenstand der einleitend erwähnten Anhörung zum Thema der Altersarmut und ihrer Bekämpfung war u. a. auch ein Antrag der Fraktion der AfD, in welchem vorgeschlagen wurde, eine „teilweise Anrechnungsfreistellung der gesetzlichen Renten“ einzuführen, und zwar mindestens in Höhe von 15 vom Hundert der Rentenzahlbeträge.118 Bei Bestehen zusätzlicher (privater) Altersvorsorge „soll eine kumulative Anrechnungsfreistellung von Renten und zusätzlicher Altersvorsorge “ möglich sein, allerdings „insgesamt nur bis zur Höhe des halben Regelbedarfssatzes“.119 In Bezug auf diesen Vorschlag kann im Grundsatz auf die obigen Ausführungen zu den Freibeträgen aus Betriebs- und sog. Riesterrente verwiesen werden.120 Auch hier dürfte die Tatsache, dass der Freibetrag an eine beitragsabhängige Leistung anknüpft und so auch mittelbar die Höhe der Leistungen der Grundsicherung mitbestimmt, nicht dazu führen, dass die letztgenannte hinsichtlich der Berechnung als beitragsabhängig angesehen wird.121 Denn es ist per definitionem zulässig , dass besondere beitragsunabhängige Geldleistungen zusätzlich oder ergänzend zu beitragsabhängigen Leistungen gewährt werden können (vgl. Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004) und in einem solchen Fall in der Höhe von diesen abhängig sind. 3.2.4. Fazit Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in ihrer grundlegenden Ausgestaltung in materieller Hinsicht als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne des Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004 anzusehen sein dürften. Dies entspricht auch der von Seiten Deutschlands vorgenommenen Qualifizierung in der geltenden Erklärung nach Art. 9 VO 883/2004 und kommt zudem in der Eintragung dieser Leistungskategorie in Anhang X der VO 883/2004 nach Art. 70 Abs. 2 Buchst. c VO 883/2004 zum Ausdruck. Somit besteht nach Art. 70 Abs. 4 VO 883/2004 dem Grunde nach keine Pflicht zum Leistungsexport. Anders als bei der Ausgleichszulage nach österreichischem Recht hatte der Gerichtshof bisher jedoch keine Gelegenheit, eine materielle Prüfung dieser Leistungskategorie vorzunehmen. 118 Siehe BT-Drs. 19/7724, S. 2. 119 Siehe BT-Drs. 19/7724, S. 2. 120 Siehe oben unter 3.2.2., S. 26 ff. sowie grundsätzlich unter 2.1.4.2., S. 14 ff. 121 Anders wohl die schriftliche Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ausschuss -Drs. 19(11)318 des Ausschusses für Arbeit und Soziales v. 29.4.2019, S. 24, allerdings ohne nähere Begründung . Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 30 Ob die derzeitige Freibetragsregelung zu Betriebs- und sog. Riesterrenten sowie die seitens der AfD vorgeschlagene Anrechnungsfreistellung der gesetzlichen Renten zu einer anderen Leistungsqualifikation und damit ggf. auch zu einem Leistungsexport führen könnte, lässt sich mangels Rechtsprechung zu einer solchen bzw. ähnlichen Konstellation nicht abschließend beurteilen . Generell weichen Freibeträge den Leistungsbezug zur Garantie des Mindesteinkommens auf, der sowohl nach Rechtsprechung als auch nach Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004 ein konstitutives Merkmal besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen bildet. Das Problem dürfte umso größer sein, je höher die Freibeträge angesetzt werden. 3.3. Fragen in Bezug auf die einzelnen Rentenmodelle Eine weitere Frage zur unionsrechtlichen Bewertung unter dem Gesichtspunkt der Exportpflicht bezieht sich auf andere im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Altersarmut vorgeschlagene Maßnahmen: die sog. Grundrente von der SPD (3.3.1.), die Solidarischen Mindestrente von Die Linke (3.3.2.) und die sog. Garantierente von Bündnis 90/Die Grünen (3.3.3.). Dabei werden jeweils zunächst die Grundzüge des jeweiligen Modells beschrieben und anschließend untersucht, ob in materieller Hinsicht von einer Exportpflicht oder einer Ausnahme hiervon ausgegangen werden könnte. Dies erfolgt vor allem am Maßstab der materiellen Merkmale besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen im Sinne des Art. 70 Abs. 1 u. 2 VO 883/2004, in denen auch die beiden bisher anerkannten Voraussetzungen für Ausnahmen vom Leistungsexport zum Ausdruck kommen: der Bedürftigkeit als Ausfluss der engen Bindung der Leistung an das soziale Umfeld des leistungsgewährenden Mitgliedsstaates und die Beitragsunabhängigkeit der Leistung.122 Abschließend wird der Frage nach dem Prozedere und der Dauer einer Eintragung in Anhang X der VO 883/2004 nachgegangen (3.3.4.). 3.3.1. Grundrente Im Hinblick auf das Rentenmodell der SPD, die sog. Grundrente, wird im Folgenden auf den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Grundrente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen123 (im Folgenden: Grundrentengesetz-RefE) und die dortige Darstellung abgestellt. Die übrigen dort vorgeschlagenen Maßnahmen bleiben vorliegend außer Betracht. 3.3.1.1. Zum Modell Danach ist die Grundrente für langjährig Versicherte als Rentenzuschlag konzipiert, der von einer nachzuweisenden Bedürftigkeit und dem vorrangigen Verbrauch des Vermögens unabhängig ist.124 Erhalten sollen den Zuschlag Menschen, die 35 Jahre an Grundrentenzeiten vorweisen können , worunter neben Zeiten der Arbeit mit Beitragsleistung zur gesetzlichen Rentenversicherung 122 Siehe dazu im Einzelnen oben unter 2.1.3. S. 12 f. und 2.2.1., S. 21 f. bzw. 2.1.4., S. 13 ff. und 2.2.2., S. 21 f. 123 Online abrufbar auf den Seiten des Internetportals „Sozialpolitik-aktuell“. 124 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 2, 17 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 31 auch Zeiten der Kindererziehung sowie der Pflege nahestehender Personen zu verstehen sind.125 In der Höhe richtet sich die Grundrente nach den in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Entgeltpunkten, was allerdings nicht immer dazu führen muss, dass damit ein Alterseinkommen oberhalb des Grundsicherungsbedarfs gewährleistet werden kann.126 Finanziert werden soll die Grundrente, die als „integraler Leistungsbestandteil der gesetzlichen Rentenversicherung“ konstruiert ist,127 „zu einem hohen Anteil durch eine Anhebung des allgemeinen Bundeszuschusses“.128 3.3.1.2. Zur Exportpflicht Betrachtet man dieses Konzept zunächst unter dem Blickwinkel der Garantie eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts bzw. dem Merkmal der Bedürftigkeit im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 83/2004, so ist festzustellen, dass der als Grundrente bezeichnete Zuschlag zur gesetzlichen Rente gerade hiervon ausdrücklich unabhängig sein soll. Eine Bedürftigkeitsprüfung würde „dem Sicherungsziel der Grundrente [maßgeblich widersprechen ]. Statt der Lebensleistung der Menschen würden lediglich deren Bedarfe anerkannt. Bei der Höhe der von Versicherungsleistungen kommt es im Wesentlichen auf die durch Beitragszahlung erworbenen Anwartschaften und gerade nicht auf den individuellen Bedarf an […]“.129 Zwar gibt es in der Rechtsprechung – wie oben ausgeführt wurde – Beispiele, in denen auf eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung mit dem Hinweis verzichtet wurde, das die meisten der die betreffende Leistung erhaltenden Personen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten.130 Und auch der Grundrentenzuschlag richtet sich an Versicherte mit „unterdurchschnittlichem Einkommen“, ohne dass der Zuschlag stets ein Einkommen über dem Grundsicherungsbedarf gewährleistet .131 Es erscheint im Lichte der bisherigen Rechtsprechung sowie des Wortlauts des Art. 70 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i VO 883/2004 jedoch fraglich, ob angesichts der ausdrücklichen Ausrichtung auf die erwerbswirtschaftliche Lebensleistung einerseits sowie dem gezielten Verzicht auf die Bedürftigkeit als Leistungszweck und -voraussetzung andererseits hier noch eine 125 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 2, 17 f. 126 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 3, 18. 127 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 3. 128 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 3, S. 19. 129 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 18. 130 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.7.2006, Rs. C-154/05 (Kersbergen-Lap), Rn. 32; EuGH, Urt. v. 5.5.2011, Rs. C-577/09 (Bartlett), Rn. 29. Hierauf wird auch in den Kommentaren verwiesen, vgl. etwa Schreiber, in: Schreiber/ Wunder/Dern (Fn. 2), Art. 70, Rn. 17. Siehe dazu oben unter 2.1.3., S. 11 f. 131 Grundrentengesetz-RefE (Fn. 123), S. 3, 18. Vor diesem Hintergrund sieht der Grundrentengesetz-RefE auch einen in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu verankernden Freibetrag vor, siehe Grundrentengesetz -RefE (Fn. 123), S. 2 f., 19. Hierzu kann auf die obigen Ausführungen zu bisherigen Freibeträgen verwiesen werden, 3.2.2.2., S. 27 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 32 zumindest in tatsächlicher Hinsicht an die Bedürftigkeit knüpfende Leistung angenommen werden könnte. Zumal auch unklar ist, wie groß der Anteil der Bezieher wäre, die aus Sicht der Grundsicherung als bedürftig anzusehen wären. Davon unabhängig besteht sowohl hinsichtlich der Leistungsfinanzierung als auch ihrer Gewährung und Berechnung keine Beitragsunabhängigkeit im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. b VO 883/2004. Im Gegenteil, die Gewährung setzt eine 35jährige Beitragszeit voraus, die – wenngleich nicht ausschließlich – vor allem auf Beiträgen aus rentenversicherungspflichtiger Beschäftigung beruht. Hiervon hängt auch die Höhe des Zuschlags ab. Was die Finanzierung der Grundrente angeht , so ist aus dem Hinweis auf die Erhöhung des Bundeszuschuss erkennbar, dass diese zumindest nicht ausschließlich aus Steuermittel erfolgen soll, sondern auch oder sogar zuvörderst aus den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung, deren Leistungsbestandteil sie darstellen soll. 3.3.1.3. Fazit Damit fehlt es der Grundrente jedenfalls an der Beitragsunabhängigkeit, die sowohl konstitutives Merkmal einer besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung ist als auch eine anerkannte Voraussetzung für Ausnahmen von der Exportpflicht. Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die Grundrente wenigstens als in tatsächlicher Hinsicht an eine Bedürftigkeit anknüpfende Leistung angesehen werden könnte. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass die Grundrente – ebenso wie (reguläre) Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung als Leistungen im Alter nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. d VO 883/2004 – nicht vom Leistungsexport ausgenommen werden könnte. 3.3.2. Solidarische Mindestrente In Bezug auf den Vorschlag der Fraktion Die Linke zur Solidarischen Mindestrente wird auf die Ausführungen zu diesem Modell im Antrag vom 20. März 2019 abgestellt.132 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen Baustein von mehreren handelt, die übrigen jedoch an bestehende Maßnahmen anknüpfen.133 3.3.2.1. Zum Modell Die Solidarische Mindestrente ist als Zuschlag konzipiert, der v. a. auf individueller Basis und unabhängig von Beitragen zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet werden soll.134 In der Höhe orientiert sich die Mindestrente nicht an der Grundsicherung bzw. dem Existenzminimum, sondern an der darüber liegenden Armutsschwelle.135 Mit der Mindestrente soll jegliches vorhandenes Einkommen im Alter und bei Erwerbsminderung auf 1.050 € netto monatlich angehoben 132 Siehe BT-Drs. 19/8555. 133 Vgl. BT-Drs. 19/8555, S. 2, Nr. 1 bis 5. 134 BT-Drs. 19/8555, S. 3, Nr. 6. 135 BT-Drs. 19/8555, S. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 33 werden, sofern das persönliche Vermögen 68.750 € nicht übersteigt; selbst genutztes Wohneigentum von bis zu 200 m2 Wohnfläche und eine ortsüblich angemessene Grundstücksgröße werden hierbei nicht als Vermögen berücksichtigt.136 Was die Finanzierung angeht, so beziehen sich die Aussagen im Antrag zum einen auf alle vorgeschlagenen Bausteine gemeinsam, eine Zuordnung der Mittel insbesondere zur Solidarischen Mindestrente erfolgt nicht; zum anderen sollen die betreffenden Vorschläge die Finanzierung nur „unter anderem“ sicherstellen,137 sind also nicht ausschließlich. Eine der dabei aufgelisteten Maßnahmen sieht eine „sofortige Anhebung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung “ vor.138 3.3.2.2. Zur Exportpflicht Betrachtet man dieses Modell zunächst unter dem Blickwinkel der Garantie eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts bzw. dem Merkmal der Bedürftigkeit im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 83/2004, so ist zwar einerseits festzustellen, dass die Gewährung der Solidarischen Mindestrente von der individuellen Situation der betreffenden Person abhängt. Andererseits beurteilt sich diese nicht nach den Maßstäben der Grundsicherung bzw. dem Existenzminimum, sondern nach einer darüber liegenden Armutsschwelle. Ob und inwieweit auch ein solcher Bezugspunkt den genannten Anforderungen entspricht, ist mangels einschlägiger Rechtsprechung nicht abschließend zu beantworten. Von Bedeutung könnte vor allem sein, ob und inwieweit eine Anknüpfung an die Armutsschwelle als kohärenter Ansatz im Zusammenhang mit anderen eine Bedürftigkeit voraussetzenden Sozialleistungen angesehen werden kann. Hierzu lassen sich dem Antrag keine Hinweise entnehmen, insbesondere nicht in Bezug auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Soweit andere bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen weiterhin ein in der Höhe darunter liegendes Existenzminimum als Maßstab aufweisen würden, dürfte die Solidarische Mindestrente nur schwerlich als Garantie eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts anzusehen sein können. Wären hingegen alle bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen an der Armutsschwelle ausgerichtet, dürften die Anforderungen des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 83/2004 bzw. der Rechtsprechung zu diesem Merkmal eher als erfüllt angesehen werden. Denn das Unionsrecht gibt die maßgebliche Schwelle bzw. den Bedürftigkeitsmaßstab nicht vor, sondern verlangt insoweit lediglich, dass das durch die betreffende Leistung zu garantierende Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts in einer Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld des betreffenden Mitgliedstaates steht. Es ist nicht ersichtlich, warum dies nicht auch bei einer systemkohärenten Anknüpfung an die Armutsschwelle der Fall sein sollte. Was die Beitragsunabhängigkeit nach Art. 70 Abs. 2 Buchst. b VO 883/2004 angeht, so dürften nach den Angaben im Antrag zwar sowohl Gewährung als auch Berechnung als beitragsunabhän- 136 BT-Drs. 19/8555, S. 3, Nr. 6. 137 BT-Drs. 19/8555, S. 3, Nr. 7. 138 BT-Drs. 19/8555, S. 3, Nr. 7 Buchst. a). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 34 gig anzusehen sein. Problematisch erscheint aber die Finanzierungsseite, die – ohne weitere Spezifizierung nach der konkreten Herkunft der Mittel für die Solidarische Mindestrente – auch eine Erhöhung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung vorsieht. Soweit die daraus generierten Einnahmen auch der Finanzierung der Solidarischen Mindestrente dienen würden, läge zumindest keine ausschließliche Steuerfinanzierung vor, so dass eine Beitragsunabhängigkeit zu verneinen wäre. 3.3.2.3. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich auf Grundlage der im Antrag vorhandenen Angaben zur Solidarischen Mindestrente sowie zum Teil auch mangels Rechtsprechung nicht abschließend beurteilen lässt, ob die Anforderungen insbesondere der Bedürftigkeit sowie der Beitragsunabhängigkeit , die besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gemäß Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004 sowie generell Ausnahmen vom Leistungsexportgebot auszeichnen, gegeben wären. Hinsichtlich der Bedürftigkeitsanknüpfung hinge dies möglicherweise davon ab, ob die bei der Solidarischen Mindestrente vorgesehene Armutsschwelle zugleich genereller Maßstab für bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen wäre. Hinsichtlich der Beitragsunabhängigkeit ist unklar, ob die Solidarische Mindestrente nur aus Steuermitteln oder zumindest auch aus Beiträgen zur Sozialversicherung finanziert würde. Nur wenn letzteres nicht der Fall und auch das Bedürftigkeitsmerkmal erfüllt wäre, käme in materieller Hinsicht eine Ausnahme von der Exportpflicht in Betracht . 3.3.3. Garantierente Grundlage für die Betrachtung der Garantierente von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist deren Antrag vom 9. April 2019.139 3.3.3.1. Zum Modell Danach ist die Garantierente als Mindestversicherungsschutz im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung gedacht: Geringe Rentenansprüche nach 30 und mehr Versicherungsjahren sollen mit der Garantierente so aufgestockt werden, dass die Gesamtrente ein Mindestniveau von 30 Entgeltpunkten erreicht.140 Eine Bedürftigkeitsprüfung ist nicht vorgesehen, betriebliche und private Altersvorsorge werden nicht angerechnet.141 Die Finanzierung der Garantierente soll über einen steuerfinanzierten Zuschuss zur Rentenversicherung erfolgen.142 139 BT-Drs. 19/9231. 140 BT-Drs. 19/9231, S. 1, 2 Nr. 1. 141 BT-Drs. 19/9231, S. 2, Nr. 1. 142 BT-Drs. 19/9231, S. 3, Nr. 6. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 35 3.3.3.2. Zur Exportpflicht Hinsichtlich der Frage, ob die Garantierente das Merkmal der Bedürftigkeit im Sinne des Art. 70 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i VO 83/2004 erfüllt, bestehen vergleichbare Zweifel wie in Bezug auf das oben beschriebene Grundrentenmodell der SPD.143 Zum einen wird auch hier auf eine individuelle Bedürftigkeitsprüfung verzichtet. Zum anderen liegt der durch die Garantierente zu gewährleistende Betrag über dem der Grundsicherung und daher über dem Existenzminimum.144 Hiervon unabhängig ist die Garantierente zumindest im Hinblick auf die Gewährung nicht beitragsunabhängig , da sie eine 30jährige Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung voraussetzt . Was die Finanzierungsseite angeht, so lässt sich den Angaben nicht zweifelsfrei entnehmen , ob die Garantierente ausschließlich aus dem vorgeschlagenen steuerfinanzierten Zuschuss bezahlt werden soll oder ob auch die Beträge zur gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt würden. Im letzten Fall wäre auch die Finanzierung nicht beitragsunabhängig. 3.3.3.3. Fazit Vor allem wegen mangelnder Beitragsunabhängigkeit dürfte die Garantierente der Exportpflicht unterliegen. 3.3.4. Zur Eintragung in Anhang X Der Fachbereich wird schließlich noch um Auskunft ersucht, welches Prozedere und welcher zeitliche Rahmen erforderlich wäre, um eine Aufnahme von Sozialleistungen in den Anhang X der VO 883/2004 zu erwirken. Wie oben ausgeführt, erfolgt die Aufnahme neuer Leistungen in den Anhang X durch eine entsprechende Änderung der VO 883/204, die im Wege eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens vorzunehmen ist (vgl. insoweit Art. 289 Abs. 1, Art. 294 AEUV).145 Notwendig ist somit zunächst ein Vorschlag der Kommission, der durch eine entsprechende Mitteilung über die Einführung der betreffenden Leistung gemäß Art. 9 VO 883/2004 initiiert werden könnte. Dabei ist davon auszugehen , dass die Kommission eine entsprechende materielle Prüfung der Leistung im Lichte des Art. 70 Abs. 1 und 2 VO 883/2004 sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung vornimmt, bevor sie eine entsprechende Änderung des Anhang X vorschlägt. Über die Dauer eines damit eingeleiteten ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens lassen sich nach dem Kenntnisstand des Verfassers keine Vorhersagen treffen.146 143 Vgl. oben unter 3.3.1.2., S. 31 f. 144 Siehe BT-Drs. 19/9231, S. 3, wonach die 30 Entgeltpunkte derzeit monatlich 920,70 € in Ost- bzw. 960,90 € in Westdeutschland entsprechen, der Bruttogesamtbedarf für die Grundsicherung im Alter derzeit im Durchschnitt bei monatlich 796 €, vgl. BT-Drs. 19/8555, S. 4. 145 Siehe oben unter 2.1.6., S. 17 f. 146 Zur Frage nach der Rechtslage zwischen Mitteilung nach Art. 9 VO 883/2004 und der Eintragung in Anhang X, siehe oben unter 2.1.6., S. 17 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 047/19 Seite 36 – Fachbereich Europa –