© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 46/13 Gesetzes- und Verfassungsänderungen in Ungarn seit 2010 aus Sicht des Rechts der Europäischen Union Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 2 Gesetzes- und Verfassungsänderungen in Ungarn seit 2010 aus Sicht des Rechts der Europäischen Union Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 46/13 Abschluss der Arbeit: 16.5.2013 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Überblick über besondere Verfassungs- und Gesetzesänderungen in Ungarn seit 2010 4 2.1. Medienrecht 4 2.1.1. Inhalt der gesetzlichen Regelung 4 2.1.1.1. Das „Gesetz CIV von 2010 über die Freiheit der Presse und die Grundregeln über Medieninhalte“ 5 2.1.1.2. Das Gesetz CLXXXV von 2010 über Mediendienstleistungen und Massenmedien 5 2.1.2. Kritik 6 2.2. Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank 8 2.3. Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde 9 2.4. Absenkung des Rentenalters für Richter, Staatsanwälte und Notare 10 2.4.1. Inhalt der gesetzlichen Regelung 10 2.4.2. Kritik und Vertragsverletzungsverfahren 11 2.5. Wahlwerbung 12 2.5.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung 12 2.5.2. Kritik 13 2.6. Studentenverträge 14 2.6.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung 14 2.6.2. Kritik 14 2.7. Änderung des Gerichtsortes 15 2.7.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung 15 2.7.2. Kritik 16 2.8. Geldstrafen 17 2.8.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung 17 2.8.2. Kritik 17 3. Ausblick 18 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung stellt die Diskussionen dar, die aus der Perspektive des Rechts der Europäischen Union (EU) bezüglich der Änderungen des ungarischen Grundgesetzes (GG) seit 20101 insbesondere im Kontext von Vertragsverletzungsverfahren geführt worden sind bzw. geführt werden . Für die allgemeine Darstellung der einzelnen Verfassungsänderungen wird verwiesen auf die Dokumentation des Fachbereichs WD 3 (WD 3 – 3000 – 080/13); für die Stellungnahmen der Institutionen des Europarates wird verwiesen auf die Dokumentation des Fachbereichs WD 2 (WD 2 – 3000 – 031/13); für die Auflistung von Grundlagengesetzen unter der alten Verfassung und dem Grundgesetz Ungarns wird verwiesen auf das Arbeitsdokument 5 des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments vom 5.4.2013.2 2. Überblick über Verfassungs- und Gesetzesänderungen in Ungarn seit 2010 im Kontext von Vertragsverletzungsverfahren 2.1. Medienrecht 2.1.1. Inhalt der gesetzlichen Regelung Noch vor Inkrafttreten des ungarischen Grundgesetzes geriet das neue ungarische Medienrecht in den Fokus der Kritik. Das neue ungarische Medienrecht ist zum 1.1.2011 in Kraft getreten und besteht aus dem „Gesetz CIV von 2010 über die Freiheit der Presse und die Grundregeln über Medieninhalte“3 sowie dem „Gesetz CLXXXV von 2010 über Mediendienstleistungen und Massenmedien “4. 1 Für die Darstellung der Fragen bezüglich der 4. Verfassungsnovelle stützt sich die Ausarbeitung auf den Wortlaut der im Text angegebenen englischen Arbeitsübersetzung (http://www.parlament.hu/angol/the_fundamental_law_of_hungary_consolidated_interim.pdf) sowie den in den Fußnoten angegebenen Originalwortlaut (http://www.njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=140968) der 4. Verfassungsnovelle . 2 Arbeitsdokument 5 über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn (gemäß der Entschließung des Europaischen Parlaments vom 16. Februar 2012) – Abschließende Bemerkungen des Berichterstatters; Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres; Berichterstatter: Rui Tavares; PE 508.190v01-00, online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=- %2f%2fEP%2f%2fNONSGML%2bCOMPARL%2bPE-508.190%2b01%2bDOC%2bPDF%2bV0%2f%2fDE 3 http://www.kormany.hu/download/c/b0/10000/act_civ_media_content.pdf, vgl. http://mediatanacs.hu/dokumentum/2791/1321457199hungary_new_media_regulation_eng_web.pdf 4 http://mediatanacs.hu/dokumentum/2791/1321457199hungary_new_media_regulation_eng_web.pdf; vgl. http://vsr-europa.blogspot.de/2011/02/deutsche-ubersetzung-der-ungarischen.html Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 5 2.1.1.1. Das „Gesetz CIV von 2010 über die Freiheit der Presse und die Grundregeln über Medieninhalte “ Das Gesetz enthält Regelungen zu Inhalten der Berichterstattung sowie Rechten und Pflichten der Journalisten. Der mit „Freiheit der Presse“ überschriebene dritte Abschnitt stellt in Art. 4 Abs. 1 und 2 fest, dass Ungarn die Pressefreiheit anerkennt und respektiert und die Vielfalt der Presse in Unabhängigkeit vom Staat garantiert. Ihre Ausübung darf allerdings kein Verbrechen darstellen oder begünstigen, die guten Sitten nicht verletzen und die Rechte Dritter nicht beeinträchtigen (Art. 4 Abs. 3). Für Mediendienstleistungen und Printmedien kann eine offizielle Registrierung als Vorbedingung für die Aufnahme ihrer Tätigkeit vorgesehen werden; die Bedingungen hierfür dürfen die Pressefreiheit nicht beschränken (Art. 5 Abs. 1). Art. 6 regelt den Quellenschutz, der zu Gunsten jeder Person besteht, die bei einem oder für einen Anbieter von Mediendienstleistungen arbeitet. Daten über die Identität der Quelle dürfen nicht vertraulich gehalten werden, wenn diese „qualifizierte Daten widerrechtlich offenlegt“. „Sogar“ in juristischen und anderen offiziellen Verfahren gilt der Informantenschutz, sofern die jeweils übermittelten Informationen „im Interesse der Öffentlichkeit“ offengelegt worden sind (Art. 6 Abs. 2). In besonders begründeten Fällen dürfen die Gerichte oder Behörden „im Interesse der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Aufdeckung oder Verhinderung von Straftaten“ von dem jeweiligen Anbieter sowie von jeder Person, die bei diesem oder für diesen arbeitet, verlangen, die Identität des Informanten zu offenbaren (Art. 6 Abs. 3). Unter dem Titel „Verpflichtungen der Presse“ werden alle Medienunternehmer dazu verpflichtet, „wahrhaftige, schnelle und genaue Informationen über lokale, nationale und EU-Angelegenheiten sowie jedes für ungarische Bürger und Mitglieder der ungarischen Nation relevante Ereignis“ anzubieten (Art. 13 Abs. 1). Anbieter von audiovisuellen Medienangeboten müssen „umfassend, sachlich, aktuell, objektiv und ausgewogen“ über die nämlichen Themen berichten (Art. 13 Abs. 2). Bei der Erarbeitung und Veröffentlichung von Medieninhalten ist die „menschliche Würde“ zu wahren. Eine selbstgefällige und abträgliche Darstellung von Personen in erniedrigenden oder schutzlosen Situationen ist nicht erlaubt (Art. 14 Abs. 1 und 2). Medieninhalte dürfen nicht den „Hass auf Personen, Nationen, Gemeinschaften sowie nationale, ethnische, sprachliche oder andere Minderheiten oder Mehrheiten ebenso wie kirchliche oder religiöse Gruppen schüren“ oder diese Personenkreise „explizit oder/und implizit diskriminieren“ (Art. 17 Abs. 1 und 2). 2.1.1.2. Das Gesetz CLXXXV von 2010 über Mediendienstleistungen und Massenmedien Das Gesetz konkretisiert die Pflichten der Medien insbesondere bezüglich des Prinzips der „Ausgewogenheit “ und regelt Verfahren bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen (Art. 12, 185 ff). Die Ausgewogenheitsverpflichtung muss „nach Art des Programms“ gewährleistet sein (Art. 12 Abs. 2). Abgesehen von einer Erläuterung dürfen die Angestellten der Medienanbieter die politischen Nachrichten nicht mit einer „Meinung oder wertenden Erklärung“ versehen, es sei denn, diese Ausführungen sind klar von der jeweiligen Nachricht zu unterscheiden (Art. 12 Abs. 3, 4). Darüber hinaus fasst das Gesetz die vier öffentlich-rechtlichen Anstalten Ungarns unter dem Dach eines gemeinnützigen Fonds zusammen, trifft Regelungen zu Fusionen und Konzentration Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 6 im Mediensektor und regelt den Jugendschutz. Ferner regelt das Gesetz die Zusammensetzung und die Befugnisse der Nationalen Medien- und Infokommunikationsbehörde (NMHH)5 als autonome , dem Parlament gegenüber berichtspflichtige Aufsichts- und Regulierungsbehörde für den Mediensektor. Die NMHH besteht aus dem Präsidenten, dem aus dem Medienrat sowie dem Büro der NMHH. Der Ministerpräsident ernennt den Präsidenten für neun Jahre und hat das Recht, ihn zu entlassen, etwa wenn dieser nach der Ernennung einen „Interessenkonflikt“ nicht binnen dreißig Tagen beenden sollte (Art. 113 Abs. 2). Der Präsident und seine Stellvertreter dürfen keine Regierungsmitglieder, Medienunternehmer, Funktionäre und Angestellte politischer Parteien sein und sich während der Amtszeit nicht parteipolitisch engagieren (Art. 118). Der vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit für eine Amtszeit von 9 Jahren gewählte Medienrat überwacht als das eigentliche Aufsichtsorgan die Einhaltung der Bestimmungen der Mediengesetze (Art. 124 ff.). Wird die Pflicht zu ausgewogener Berichterstattung verletzt, hat jedermann das Recht, vom Sender zu verlangen, dass Ansichten, die angeblich für die Ausgewogenheit erforderlich sind, im Programm nachgereicht werden. Sollte dem Antragsteller nicht abgeholfen werden, kann er sich an die NMHH wenden und auf diesem Wege erreichen, dass sein „Standpunkt“ bekannt gemacht wird (Art. 181). Die NMHH kann den Medienanbieter dazu verpflichten, diese Entscheidung ohne weiteren Kommentar zu veröffentlichen. In dem Fall kommen weitere rechtliche Konsequenzen wie Straf- und Verwarnungsgelder (Art. 186 – 187) nicht zur Anwendung (Art. 181 Abs. 5). Bei Rechtsverstößen ist der Medienrat zu einem Vorgehen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Maßgabe der Schwere und Dauer der Verletzung und der Umstände des Einzelfalls verpflichtet (Art. 185 Abs. 2). Er kann bei einmaligen Verstößen eine Verwarnung aussprechen (Art. 186), eine nach Art des Mediums gestaffelte Geldstrafe verhängen, das Erscheinen des jeweiligen Medienerzeugnisses für eine bestimmte Zeit untersagen oder die erforderliche Registrierung entziehen (Art. 187). Gegen die Festsetzung der Sanktionen kann innerhalb von dreißig Tagen Rechtsmittel eingelegt werden, das jedoch nur dann aufschiebende Wirkung hat, wenn das Gericht einem entsprechenden Antrag stattgibt (Art. 163 Abs. 1 und 3). 2.1.2. Kritik und Reaktionen Die Medienpolitik fällt weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dies gilt insbesondere für den vom ungarischen Mediengesetz erfassten Bereich der Printmedien. Gleichwohl hat die Kommission die ungarische Regierung am 21.1.2011 zu Änderungen der Mediengesetze aufgefordert und um Stellungnahme gebeten.6 Anknüpfungspunkt der Kritik war insbesondere die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste von 20077. Daneben stützt sich die Kritik auf die Charta der Grundrechte der EU (GRCh), die in Art. 11 Abs. 1 die Meinungs- und Informationsfreiheit und in Abs. 2 die Pressfreiheit schützt.. Die Kommission war der Auffassung, das Herkunftslandprinzip werde nicht beachtet, die Kontrolle für ausländische Medien sei zu strikt, die 5 http://english.nmhh.hu/ 6 Vgl. http://www.pesterlloyd.net/2011_04/04eubriefBayer/EUKommission_Ungarn.pdf 7 Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. L 332/27. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 7 Möglichkeiten einer ausgewogenen Berichterstattung beschränkt und die Registrierungsanforderungen seien zu hoch. Das Gesetz beschneide die Pressefreiheit, es stelle alle Fernseh- und Rundfunksender , Presseerzeugnisse und Internetportale unter die Kontrolle der staatlichen Medienbehörde NMHH und des politisch einseitig von der Regierungspartei Fidesz – Magyar Polgári Szövetség (FIDESZ) besetzten Medienrates. Bei Verstößen gegen die vage formulierten Vorschriften des Gesetzes drohten den Medien hohe Strafen. Es werde befürchtet, dass dies zu einer Selbstzensur der Medien führen könne. In einer Entschließung vom 10.3.20118 forderte das Europäische Parlament, das ungarische Mediengesetz dringend auszusetzen und auf der Grundlage der Bemerkungen und Vorschläge der Kommission, der OSZE und des Europarates zu überprüfen. Zugleich forderte das Europäische Parlament die Kommission auf, ihre genaue Überwachung und Bewertung der Vereinbarkeit des ungarischen Mediengesetzes in der geänderten Fassung mit den europäischen Rechtsvorschriften, insbesondere mit der Charta, fortzusetzen. Vor Ablauf der für die Stellungnahme gesetzten Frist antwortete die ungarische Regierung, sie sei weiterhin davon überzeugt, dass das Gesetz den Anforderungen des EU-Rechts vollkommen gerecht werde.9 Sie zeigte sich aber dazu bereit, Anpassungen vorzunehmen, sofern dies nach Erörterung ungarischer Experten mit Mitarbeitern der Kommission nötig werde. Das ungarische Verfassungsgericht erklärte am 19.12.2011 Teile der Mediengesetze für verfassungswidrig .10 Es sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, dass Journalisten ihre Quellen offenlegen und in bestimmten Fällen Informationen an die von der Regierung kontrollierten Medienbehörde weiterleiten müssten. In der Folge legte die ungarische Regierung im Februar 2012 eine neue Fassung der Mediengesetze vor, worin unter anderem die Vorschriften zu „ausgewogener Berichterstattung“ für Blogbetreiber abgeschafft und ausländische Medienunternehmen von den Sanktionen der Medienbehörde ausgenommen wurden. Mit Gesetz 2012/LXVI „über die Änderung einzelner Gesetze im Zusammenhang mit Mediendienstleistungen und Presseerzeugnissen” v. 18. 6. 201211 reagierte der Gesetzgeber auf das Urteil des Verfassungsgerichts und setzte dessen Vorgaben teilweise um. Nur noch der Rundfunk und die elektronischen Medien unterliegen in vollem Umfang der strengen staatlichen Aufsicht und Inhaltskontrolle. Der NMHH werden Eingriffsrechte in die Presse genommen, während sie Rundfunk und elektronischen Medien weiterhin bereits wegen der möglichen Verletzung „berücksichtigenswerter Interessen” von Privatpersonen Einschränkungen auferlegen darf. Die Vorschriften über die Quoten für ungarische Programminhalte wurden präzisiert und nur an das Ausland gerichtete Sendungen hiervon freigestellt . In der ungarischen Zivilprozessordnung und Strafprozessordnung wurden die Aussageverweigerungsrechte von Medienmitarbeitern weitergehend und im ungarischen Verwaltungsverfahrensgesetz die Freiheit vor Beschlagnahmen stringenter normiert, um den Medien den Schutz 8 Angenommene Texte, P7_TA(2011)0094. 9 http://www.euractiv.de/fileadmin/images/Answer_to_Mme_Neelie_Kroes.pdf 10 Verfassungsgerichtsurteil 165/2011. (XII. 20.) AB v. 20. 12. 2011; vgl. http://www.ajbh.hu/en/web/ajbhen /press-releases/-/content/14315/1/the-ombudsman-s-petition-to-the-constitutional-court-concerning-themedia -act-s-provision-on-imposing-administrative-fine; http://www.ajbh.hu/en/web/ajbh-en/press-releases/- /content/14315/1/the-commissioner-s-petition-concerning-the-fourth-amendment-to-the-basic-law 11 Magyar Közlöny 2012, Nr. 73. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 8 ihrer Informanten zu ermöglichen. Gerichte können weiterhin die Medien zur Aufdeckung von Straftaten „ausnahmsweise” zur Preisgabe von Informationen und ihren Quellen verpflichten. Von einigen MdEP wurde kritisiert, dass die Kommission keine rechtlichen Schritte gegen die ungarischen Mediengesetze eingeleitet hat. Das Europäische Parlament hat die Kommission in einer am 10.3.2012 von den Fraktionen S&D, ALDE, Grüne/EFA und VEL/NGL eingebrachten Entschließung zu einer weiteren Prüfung der ungarischen Mediengesetze aufgefordert.12 In der Entschließung begrüßen die MdEP ausdrücklich die Zusammenarbeit der Kommission mit den ungarischen Behörden, um das „ungarische Mediengesetz mit den EU-Verträgen und dem EU- Recht vereinbar zu machen, sowie den Beginn des Novellierungsprozesses auf nationaler Ebene“. Die Abgeordneten teilen jedoch die von der OSZE und dem Europarat geäußerten Bedenken insbesondere hinsichtlich der Abschaffung der politischen und finanziellen Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien, des Grundsatzes der Vertraulichkeit journalistischer Quellen, der Einrichtung eines politisch unausgewogenen Regulierungssystems mit unverhältnismäßigen Befugnissen sowie hinsichtlich „unklarer Definitionen“ im Gesetzestext, die zu „fehlerhaften Auslegungen “ führen können. 13 2.2. Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank Art. 30 der Übergangsbestimmungen des ungarischen Grundgesetzes und das Gesetz über die ungarische Zentralbank („Magyar Nemzeti Bank“, MNB-Gesetz) sahen u.a. die Möglichkeit einer Verschmelzung der ungarischen Zentralbank mit der Finanzaufsicht vor. Mit Blick auf die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbank hat die Kommission mehrere Verstöße gegen das Primärrecht festgestellt.14 Diese betreffen insbesondere Art. 130 AEUV, Art. 14 Satzung ESZB/EZB, in dem eine vollständige Unabhängigkeit der Zentralbank gefordert wird, und Art. 127 Abs. 4 AEUV, dem zufolge „zu allen Vorschlägen für Rechtsakte der Union im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Zentralbank“ diese angehört werden muss. Am 17.1.2013 hat die Kommission bezüglich der möglichen Vertragsverletzung mit einem Aufforderungsschreiben an Ungarn die erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 258 AEUV eingeleitet.15 Die ungarische Regierung wies zunächst einige Aufforderungen der Kommission als unbegründet zurück.16 So lehnt sie eine Änderung der Vorschriften ab, die eine Vereidigung des Gouverneurs der Nationalbank und der Mitglieder des Währungsrates auf Ungarn die ungarische Verfassung 12 Angenommene Texte, P7_TA-PROV(2011)0094 13 Vgl. http://www.pesterlloyd.net/html/1318pressefreiheitbilanz.html 14 Pressemitteilung der Kommission, IP/12/24, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12- 24_de.htm?locale=en 15 Pressemitteilung der Kommission, IP/12/24, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12- 24_de.htm?locale=en, vgl. auch http://www.ecb.int/ecb/legal/pdf/en_con_2012_49_f_sign.pdf 16 Vgl. http://www.kormany.hu/en/ministry-for-national-economy/news/the-government-is-committed-to-resolveall -issues-raised-in-the-european-commission-s-infringement-procedure-related-to-the-magyar-nemzeti-bank Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 9 vorsehen. Den Vorwurf des Verstoßes gegen Art. 127 Abs. 4 AEUV durch Unterlassen der Konsultation der EZB während des Gesetzgebungsverfahrens zur geplanten Verfassungsänderung zur Fusion der Nationalbank mit der Finanzaufsichtsbehörde hält die ungarische Regierung für unbegründet . Entsprechende Vorschläge zur Fusion seien erst während des Gesetzgebungsverfahrens zum MNB-Gesetz von Mitgliedern des ungarischen Parlaments eingebracht, und die Stellungnahme der EZB sei noch während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens eingeholt und berücksichtigt worden. Mit dem Gesetz 2012/XCIX „über die Änderung des Gesetzes 2011/CCVIII über die Ungarische Nationalbank” vom 13. 7. 201217 kam der ungarische Gesetzgeber der europäischen Kritik am Status der Notenbank entgegen. Die wesentlichen Änderungen betrafen die Aufteilung der Exekutivbefugnisse zwischen Währungsrat und Verwaltungsrat. Die Verpflichtung der MNB, der Regierung die Tagesordnungen für die Sitzungen des Währungsrates vorzulegen, das Recht des Regierungsvertreters, an den Sitzungen des Währungsrates teilzunehmen, und die Bestimmung zur Auflösung des Währungsrates bei Einführung des Euro durch Ungarn wurden aufgehoben. Infolge der Reaktionen Ungarns auf die im Aufforderungsschreiben geäußerte Kritik hat die Kommission keine Klage vor dem EuGH erhoben, sondern stellte das am 17.1.2012 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn formell ein.18 2.3. Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde Mit Inkrafttreten des ungarischen Grundgesetzes am 1.1.2012 wurde das bis dahin bestehende Amt des Datenschutzbeauftragten durch das neue nationale Amt für den Datenschutz ersetzt. Damit wurde die sechsjährige Amtszeit des 2008 ernannten Datenschutzbeauftragten vorzeitig beendet, ohne bis zum Ablauf der Amtszeit im Jahr 2014 Übergangsmaßnahmen vorzusehen. Durch die Reform und insbesondere die Verkürzung der Amtszeit des Datenschutzbeauftragten sieht die Kommission die Unabhängigkeit der nationalen Datenschutzbehörde gefährdet. Gemäß der geltenden EU-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG19 sowie Art. 16 AEUV und Art. 8 GRCh seien die Mitgliedstaaten gehalten, eine Kontrollstelle einzurichten, die die Anwendung der Richtlinie überwacht und in völliger Unabhängigkeit handelt. Am 17.1.2013 hat die Kommission bezüglich der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde mit einem Aufforderungsschreiben an Ungarn die erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens gem. 17 Magyar Közlöny 2012, Nr. 91, online abrufbar unter http://www.mnb.hu/Root/Dokumentumtar/MNB/A_jegybank/kozerdeku_informaciok/tevekenysegre_mukodesr e_adatok/mnbhu_szerv_alaptevekenyseg_hataskor/arh_jegybanktorv_en_20120714.pdf 18 Pressemitteilung der Kommission, IP/12/803, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12- 803_de.htm#PR_metaPressRelease_bottom 19 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. L 281/31. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 10 Art. 258 AEUV eingeleitet und am 8.6.2012 nach Beendigung der zweiten Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens Klage vor dem EuGH gegen Ungarn erhoben.20 Nach Ansicht der Kommission hat Ungarn mit der in Folge des Vertragsverletzungsverfahrens durchgeführten Gesetzesänderung vom 3.4.2012, durch welche die neue Nationale Datenschutzbehörde zu einer unabhängigen Behörde im Sinne des Unionsrechts werden sollte, die Bedenken zwar teilweise ausgeräumt. Jedoch habe Ungarn die Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht durch die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des Datenschutzbeauftragten bereits verletzt. Mit dem in der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Auftrag war bis zum 31.12.2011 der Datenschutzbeauftragte betraut. Nach der bis zum 31.12.2011 geltenden ungarischen Regelung sei der Datenschutzbeauftragte vom ungarischen Parlament für sechs Jahre gewählt worden. Die Amtszeit des am 31.12.2011 amtierenden Datenschutzbeauftragten begann am 29.9.2008, so dass er bis September 2014 hätte im Amt bleiben sollen. Mit Wirkung zum 1.1.2012 wurde diese Regelung dahingehend geändert, dass das Rechtsinstitut des Datenschutzbeauftragten wegfiel und der amtierende Datenschutzbeauftragte seines Amtes enthoben wurde. Für das Amt des leitenden Präsidenten der nunmehr mit der Kontrolle des Datenschutzes beauftragten Nationalen Datenschutzstelle wurde nicht der vorige Datenschutzbeauftragte ernannt. In dem vorzeitigen Ende der Beauftragung der mit der Kontrolle des Datenschutzes beauftragten Stelle sieht die Kommission einen Verstoß gegen die von der Richtlinie geforderten Unabhängigkeit dieser Stelle. Ohne Einhaltung der im Voraus festgelegten, im Ermessen der Mitgliedstaaten stehenden Dauer der Beauftragung bestünde die Gefahr, dass die Kontrollstelle bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben durch die Gefahr eines vorzeitigen Endes ihrer Beauftragung beeinflusst und dadurch ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt werde. Mit Beschluss des EuGH vom 8.1.2013 ist der Europäische Datenschutzbeauftragte dem Verfahren beigetreten.21 Das Urteil soll im Laufe des Jahres 2013 ergehen. 2.4. Absenkung des Rentenalters für Richter, Staatsanwälte und Notare 2.4.1. Inhalt der gesetzlichen Regelung Die neue Verfassung von 2011 und eine einfach-gesetzliche Begleitgesetzgebung hatten ab dem 1.1.2012 das Renteneintrittsalter für Richter, Staatsanwälte und Notare von bisher 70 auf das allgemeine Rentenalter von 62 abgesenkt.22 Richter und Staatsanwälte mussten seit dem 1.1.2012 aus ihrem Amt ausscheiden, wenn sie das 62. Lebensjahr erreicht haben. Erreichten sie dieses 20 EuGH, Rs. C-288/12, (Kommission/Ungarn), ABl. C 227/15 v. 28.7.12, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=125053&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst &dir=&occ=first&part=1&cid=2343708; vgl. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12-24_de.htm?locale=en 21 http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=132502&pageIndex=0&doclang=FR&mode=re q&dir=&occ=first&part=1&cid=2343708 22 Gesetz 2011/LXXII v. 27. 6. 2011 „über die Änderung einzelner Statusgesetze im Zusammenhang mit dem Grundgesetz”; Gesetz 2011/CLXI „über die Organisation und Verwaltung der Gerichte”; Gesetz 2011/CLXII „über die Rechtsstellung und Vergütung der Richter”, Gesetz 2011/CLXIII „über die Staatsanwaltschaft” und Gesetz 2011/CLXIV „über die Rechtsstellung des Generalstaatsanwalts, der Staatsanwälte und anderen staatsanwaltschaftlichen Angestellten und über die staatsanwaltschaftliche Laufbahn”, alle v. 2. 12. 2011. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 11 Alter bereits vor dem 1.1.2012, endete ihr Dienst am 30.6.2012. Erreichten sie dieses Alter zwischen dem 1.1.2012 und dem 31.12.2012, mussten sie am 31.12.2012 aus dem Amt ausscheiden. Ab Anfang 2014 sollte die neue Altersgrenze auch für Notare gelten. 2.4.2. Kritik und Vertragsverletzungsverfahren Ungarn rechtfertigte die Absenkung der Altersgrenze mit dem Erfordernis, das Rentenalter im öffentlichen Dienst zu vereinheitlichen, und mit dem Ziel, eine ausgewogenere Altersstruktur herzustellen, um den Zugang junger Juristen zu den betreffenden Berufen zu erleichtern. Durch die Absenkung des Renteneintrittsalters für Richter, Staatsanwälte und Notare von 70 auf 62 Jahre sieht die Kommission die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet. Am 17.1.2013 hat die Kommission diesbezüglich mit einem Aufforderungsschreiben an Ungarn die erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 258 AEUV eingeleitet und am 25.4.2012, nach Beendigung der zweiten Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens, Klage vor dem EuGH gegen Ungarn erhoben .23 Zwischenzeitlich hatte das ungarische Verfassungsgericht einige der gesetzlichen Bestimmungen für verfassungswidrig erklärt, da sie gegen die richterliche Unabhängigkeit verstoßen; die bereits entlassenen Richter wurden nicht wieder eingestellt.24 Die Europäische Kommission wählte für ihr Vertragsverletzungsverfahren die Altersdiskriminierung als Ansatzpunkt. Ungarn habe für den Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung gemäß der Richtlinie 2000/78/EG25 keinen hinreichenden Rechtfertigungsgrund dargelegt. Die Einführung einer Klausel, wonach Richter im Einzelfall auch nach Vollendung des 62. Lebensjahres weiter arbeiten könnten, sei nicht ausreichend. Die von Ungarn behauptete teilweise Erledigung aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils akzeptierte der EuGH nicht, da die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes keine automatische Wiedereinsetzung in das Dienstverhältnis bewirkt, sondern die betroffenen Richter im Einzelfall klagen müssen. Angesichts des damals bevorstehenden Eintritts von 236 Richtern in den Ruhestand entschied der EuGH auf Antrag der Kommission am 6.11.2012 im beschleunigten Verfahren, dass die starke Senkung des Eintrittsalters in den Ruhestand zur Vereinheitlichung des Rentenalters im öffentlichen Dienst nicht erforderlich sei.26 Zwar seien die von Ungarn vorgebrachten Begründungen für die Maßnahme – Abbau einer positiven Diskriminierung im öffentlichen Dienst und 23 EuGH, Rs. C-286/12 (Kommission/Ungarn), ABl. C 217/14 v. 21.7.2012, online abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=129324&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst &dir=&occ=first&part=1&cid=2344507; vgl. hierzu http://europa.eu/rapid/press-release_IP-12- 24_de.htm?locale=en 24 Verfassungsgerichtsurteil 33/2012, AB v. 17.7.2012, http://mkab.hu/sajto/news/certain-parts-of-the-transitionalprovisions -of-the-fundametal-law-held-contrary-tothe-fundamental-law; vgl. Küpper, Verfassungsgerichtsurteil 33/2012. (VII. 17.) AB über die richterliche Unabhängigkeit und die „Errungenschaften unserer historischen Verfassung“, in: Zeitschrift für Ostrecht 2012, S. 113 ff. 25 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ABl. L 303/16. 26 EuGH, Rs. C-286/12 (Kommission/Ungarn). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 12 Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur durch Verbesserung des Berufszugangs für junge Juristen – grundsätzlich im Rahmen der Richtlinie akzeptable Rechtfertigungsgründe. Die alte Altersgrenze von 70 Jahren habe aber bei den betroffenen Personen die berechtigte Erwartung geweckt, bis zu diesem Alter im Dienst bleiben zu können. Zudem stehe die Senkung des Ruhestandsalters im Widerspruch zu der von 2014 an vorgesehenen Erhöhung des allgemeinen Ruhestandsalters um drei Jahre von 62 auf 65 Jahre. Schließlich sei die neue Altersgrenze zur Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur nicht geeignet. Die positive Wirkung, jungen Juristen kurzfristig den Zugang zu den betreffenden Berufen zu erleichtern, könne durch die Ersetzung nur einer Altersstufe in Frage gestellt werden. Der Rotationsrhythmus werde zudem nach und nach in dem Maße langsamer, in dem die Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst stufenweise von 62 auf 65 Jahre angehoben werde. Dies werde die Zugangsmöglichkeiten junger Juristen zu den Justizberufen sogar verschlechtern. Mit der Verabschiedung des Gesetzes XX/2013 „über die Gesetzesänderungen in Bezug auf die für bestimmte juristische Rechtsverhältnisse geltende Altersgrenze“ wurde das Pensionsalter von Richtern auf 65 Jahre nach einer zehnjährigen Übergangszeit festgesetzt und Vorkehrungen für die Wiedereinsetzung von Richtern vorgesehen, die unrechtmäßig entlassen wurden. Wiedereingestellte Richter erhalten jedoch nur dann ihre ursprünglichen Leitungsfunktionen, wenn diese nicht besetzt sind. Vor dem Hintergrund dieses Urteils verwies die Vizepräsidentin der Kommission auf die Pflicht gemäß Art. 260 Abs. 1 AEUV, das Urteil des EuGH vom 6.11.2013 hinsichtlich der Herabsetzung des Renteneintrittsalters für Richter, Staatsanwälte und Notare vollständig umsetzen.27 Zwar habe die ungarische Regierung die entsprechenden Gesetze zwischenzeitlich geändert, jedoch sei nach Informationen der Kommission bisher noch keiner der damals aus dem Dienst entlassenen Amtsträger wieder in sein Amt eingesetzt worden. 2.5. Wahlwerbung 2.5.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung Art. IX Abs. 3 GG wurde durch Art. 5 Abs. 1 der 4. Verfassungsnovelle wie folgt neu gefasst: For the appropriate dissemination of information necessary for the formation of democratic public opinion and to ensure the equality of opportunity, political advertisements may only be published in media services free of charge. In the campaign period prior to the election of Members of Parliament and of Members of the European Parliament, political advertisements published by and in the interest of nominating organisations setting up country-wide candidacy lists for the general election of Members of Parliament or candidacy lists for the 27 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 13 election of Members of the European Parliament may only be published by way of public media services and under equal conditions, as provided for by a cardinal Act.28 2.5.2. Kritik Die Beschränkung der Wahlwerbung in Wahlkampfzeiten auf öffentlich-rechtliche Medien war so bereits in Art. 151 Abs. 1 Wahlverfahrensgesetz geregelt. Dieser wurde durch das ungarische Verfassungsgericht im Januar 2013 mit der Begründung aufgehoben, dies bedeute eine Einschränkung des gleichen Informationszugangs.29 Da die Regelung auch für die Europawahlen gilt und damit der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, verlangt die Kommission auch nach der Analyse der der Kommission am 15.4.2013 übermittelten Änderungsvorschläge betreffend die Regelungen über Wahlwerbung eine Änderung der Regelungen.30 Mit Blick auf die Kritik der Kommission und des Europäischen Parlaments will die ungarische Regierung in einem Ausführungsgesetz zur Verfassung festlegen lassen , dass die Wahl zum Europäischen Parlament von der Regelung ausgenommen ist. Doch auch in dem Fall besteht nach Ansicht der Kommission die Gefahr einer Vertragsverletzung:31 Ohne Änderung des Verfassungstextes bestünde ein Widerspruch zwischen Ausführungsgesetz und Verfassung, so dass die vorgeschlagenen Änderungen nach Ansicht der Kommission nicht ausreichen . Zudem bestehe keine sachliche Begründung für den Ausschluss des privaten Rundfunks und die Kommission vermutet, dass die Regelung primär der Einflussnahme und Kontrolle der Regierung dient. Zudem könne mit „media services“ auch das Internet gemeint sein, so dass Parteien ihre Werbung potenziell auch nicht auf ihren Websites veröffentlichen könnten. Trotz des erklärten Ziels der Bestimmung, Kosten für politische Kampagnen zu verringern und Chancengleichheit für die Parteien zu schaffen, gefährde das Werbeverbot die Bereitstellung ausgewogener Informationen. Schließlich schränke das Verbot politischer Werbung während des Wahlkampfes mit Ausnahme der Werbung in den öffentlich-rechtlichen Medien die Pressefreiheit ein. 28 Original: „A demokratikus közvélemény kialakulásához szükséges megfelelõ tájékoztatás, valamint az esélyegyenlõség biztosítása érdekében, politikai reklám médiaszolgáltatásban kizárólag ellenérték nélkül közölhetõ. Az országgyûlési képviselõk általános választásán országos listát, illetve az európai parlamenti képviselõk választásán listát állító jelölõ szervezetek által és érdekében, az országgyûlési képviselõk és az európai parlamenti képviselõk választását megelõzõen, kampányidõszakban politikai reklám – sarkalatos törvényben meghatározottak szerint – kizárólag közszolgálati médiaszolgáltatások útján, egyenlõ feltételek mellett tehetõ közzé.“ 29 http://www.mkab.hu/letoltesek/en_0001_2013.pdf; siehe hierzu auch http://hungarianspectrum.wordpress.com/2013/01/04/hungarian-voter-registration-found-unconstitutional/ 30 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm 31 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 14 2.6. Studentenverträge 2.6.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung Art. XI Abs. 3 GG wurde durch Art. 7 der 4. Verfassungsnovelle wie folgt neu gefasst: An Act may provide that financial support of higher education studies shall be subject to participation for a definite period in employment or to exercising for a definite period of entrepreneurial activities, regulated by Hungarian law.32 2.6.2. Kritik Die verfassungsgesetzliche Regelung, wonach die finanzielle Unterstützung eines Hochschulstudiums durch Parlamentsbeschluss von der Ausübung eines befristeten Anstellungsverhältnisses bzw. einer Unternehmertätigkeit nach ungarischem Recht im Anschluss an das Studium gebunden sein kann, war bereits als Teil der Übergangsbestimmung des ursprünglichen Grundgesetzes aus formalen Gründen durch das ungarische Verfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt worden.33 Nunmehr wurde die Regelung mit der 4. Verfassungsnovelle auf Verfassungsebene in das Grundgesetz eingefügt. In der potenziellen Abhängigkeit einer finanziellen Unterstützung eines Hochschulstudiums von der Ausübung eines befristeten Anstellungsverhältnisses bzw. einer Unternehmertätigkeit nach ungarischem Recht im Anschluss an das Studium wird ein Verstoß gegen die unionsrechtliche Freizügigkeit gesehen.34 Die ungarische Regierung rechtfertigt die Regelung mit der Begründung, dass auch der Staat von dem in der Bildungsunterstützung liegendem Investment profitieren soll.35 32 Original: „Törvény a felsõfokú oktatásban való részesülés anyagi támogatását meghatározott idõtartamú olyan foglalkoztatásban való részvételhez, illetve vállalkozási tevékenység gyakorlásához kötheti, amelyet a magyar jog szabályoz.“ 33 Verfassungsgerichtsurteil 32/2012., AB v. 28.3.2012, http://public.mkab.hu/dev/dontesek.nsf/0/780CA328B83B304BC1257ADA00524DBC?OpenDocument 34 http://www.pesterlloyd.net/html/1246euverfahrenleinenzwang.html, Petition AJB-2834/2012 of the Commissioner for Fundamental Rights of Hungary to the Constitutional Court on the Government decree on student contract, 30/03/2012, online abrufbar unter http://www.ajbh.hu/-/alkotmanybirosagi-inditvany-a-hallgatoiszerzodeseket -szabalyozo-kormanyrendelettelkapcsolatban ?redirect=http%3A%2F%2Fwww.ajbh.hu%2Fegyebkiad - vanyok%3Fp_p_id%3D3%26p_p_lifecycle%3D0%26p_p_state%3Dmaximized%26p_p_mode%3Dview%26_3_ groupId%3D0%26_3_keywords%3DAJB- 2834%252F2012%26_3_struts_action%3D%252Fsearch%252Fsearch%26_3_redirect%3D%252Fegyebkiadvanyok 35 http://www.pesterlloyd.net/Janos_Martonyi_letter_to_EU_foreign_ministers.pdf; vgl. auch Rupert Scholz, Rechtsgutachten zur Verfassungs- und Europarechtskonformität der Vierten Verfassungsnovelle zum ungarischen Grundgesetz vom 11./25. März 2013, S. 15 f., online abrufbar unter http://public.mkab.hu/dev/dontesek.nsf/0/780ca328b83b304bc1257ada00524dbc/$FILE/ATT57121.pdf/2012_2 655-0.pdf Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 15 Eine konkrete gesetzliche Ausgestaltung steht derzeit noch aus. Die gesetzliche Konkretisierung muss dem Umstand genügen, dass sich ungarische Staatsbürger als Unionsbürger im Sinne des Art. 20 AEUV auch gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen können, insbesondere auf das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV. Dieses umfasst sowohl das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben als auch das Recht, den Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen.36 Zudem können sich Unionsbürger im Rahmen ihrer grenzüberschreitenden beruflichen Tätigkeit auf ihre Grundfreiheiten (Art. 45 ff. AEUV) berufen. Zudem normiert Art. 45 Abs. 1 GRCh ein Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit . Das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit oder auf Wahrnehmung ihrer Grundfreiheiten besteht nicht uneingeschränkt. Grundsätzlich können Mitgliedstaaten die Freizügigkeit eines Unionsbürgers aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Die Gründe dürfen jedoch regelmäßig nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.37 Zudem muss die staatliche Regelung mit potenziell die Freizügigkeit der Unionsbürger beschränkender Wirkung insgesamt verhältnismäßig sein.38 2.7. Änderung des Gerichtsortes 2.7.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung Art. 27 Abs. 4 GG wurde durch Art. 14 der 4. Verfassungsnovelle wie folgt neu gefasst: To give effect to the fundamental right to a court decision taken within a reasonable time and to balance the workload across courts, the President of the National Office for the Judiciary may appoint, in the way defined by cardinal Act, a court other than a court of general competence but with the same powers to hear particular cases defined by cardinal Act.39 36 Vgl. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. Nr. L 158/77. 37 Vgl. Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG; vgl. EuGH, Rs. C-33/07 (Jipa), Rn. 22 ff.; EuGH, Rs. C-34/09 (Ruiz Zambrano). 38 Vgl. EuGH, Rs. C-434/10 (Aladzhov), Rn. 38; EuGH, Rs. C-33/07 (Jipa), Rn. 29; Raschka, Aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht, ZAR 2012, S. 231 ff. 39 Original: „Az ésszerû határidõn belüli bírói döntéshez való alapjog érvényesülése és a bíróságok kiegyensúlyozott ügyterhelése érdekében sarkalatos törvényben meghatározottak szerint az Országos Bírósági Hivatal elnöke sarkalatos törvényben meghatározott ügyek tárgyalására az általános illetékességû bíróságtól eltérõ, azonos hatáskörû bíróságot jelölhet ki.“ Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 16 2.7.2. Kritik Das Recht des Präsidenten des Landesgerichtsamtes, anhängige Prozesse von einem Gericht auf ein anderes zu übertragen, war bereits Teil der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes. Art. 11 Abs. 3 des Einführungsgesetzes zum Grundgesetz (GrundG-EG) gestattete die Übertragungen im allgemeinen Gerichtsstand. Das in einem negativen Zuständigkeitskonflikt mit der Vorschrift befasste Oberste Gericht legte Art. 11 Abs. 3 GrundG-EG weit aus. Es entschied, dass das Übertragungsrecht für alle Gerichtsstände gelte und verpflichtete Zielgerichte, Übertragungen anzunehmen.40 Mit der verfassungsgerichtlichen Aufhebung von Art. 11 Abs. 3 GrundG-EG41 entfiel zunächst die Befugnis des Präsidenten des Landesgerichtsamtes zur Änderung des Gerichtsortes . Jedoch wurde sie im Rahmen der 4. Verfassungsnovelle auf Verfassungsebene mit der Begründung eingefügt, dass die Bestimmung eine Verkürzung der Dauer von Gerichtsverfahren in Ungarn ermögliche.42 Nach Ansicht des Europäischen Parlaments verstößt das Recht des Präsidenten des Landesgerichtsamtes zur Änderung des Gerichtsortes gegen den Justizgewähranspruch, das Recht auf ein faires Verfahren und die Unabhängigkeit der Justiz.43 Die Kommission bewertet die Vorschrift als einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter, nach dem das Gericht für ein Verfahren nicht durch eine individuelle Entscheidung der Verwaltung auszuwählen ist, sondern nach abstrakten Kriterien, die schon vor Prozessbeginn festgelegt sind (etwa den Wohnsitz der Prozessbeteiligten ). Insbesondere in Fällen, in denen EU-Recht zur Anwendung komme, wie z. B. bei der öffentlichen Auftragsvergabe, könne nach Ansicht der Kommission das Unionsrecht und insbesondere die EU-Mehrwertsteuerrichtlinie44 verletzt werden. Gemäß Art. 47 Abs. 2 GRCh hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen , unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Danach verlangt Art. 47 Abs. 2 GRCh, dass das Gericht durch Gesetz geschaffen wurde, bevor es sein judikative Tätigkeit aufnimmt . Zudem muss das Gesetz neben der Errichtung der Gerichte auch den organisatorischen Aufbau sowie die sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten zumindest in den Grundlagen re- 40 Bírósági határozatok (Entscheidungssammlung des OG) 2012, Nr. 293, http://www.birosag.hu/obh/obhelnokenek -dontesei/2012/2932012-ix-27-obhe-szamu-hatarozat-szombathelyi-torvenyszek-bunteto, vgl. Küpper, Ungarn, in: Wirtschaft und Recht in Osteuropa 2013, S. 122 (124). 41 Verfassungsmäßigkeit des Grundgesetz-Einführungsgesetzes (GrundG-EG) Verfassungsgerichtsentscheidung 45/2012. (XII. 29.) AB v. 28.12.2012, online abrufbar unter http://www.mkab.hu/letoltesek/en_0045_2012.pdf 42 Vgl. zu der Begründung http://www.kormany.hu/en/ministry-of-public-administration-and-justice/news/eucommissioner -s-remarks-on-hungary-s-judiciary-are-unacceptable-says-tibor-navracsics; http://www.kormany.hu/download/1/a7/d0000/NT_open_letter_to_V_Reding%2008_04_2013.pdf; http://www.pesterlloyd.net/Janos_Martonyi_letter_to_EU_foreign_ministers.pdf; 43 Europäisches Parlament, Entschließung vom 16.2.2012, P7_TA-PROV(2012)0053, D. 44 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, Abl. L 347/1. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 17 geln. Ein Recht auf den gesetzlichen Richter entsprechend Art. 101 Grundgesetz garantiert Art. 47 Abs. 2 GRCh hingegen nicht.45 2.8. Geldstrafen 2.8.1. Inhalt der verfassungsgesetzlichen Regelung Art. 37 Abs. 6 GG wurde durch Art. 17 Abs. 2 der 4. Verfassungsnovelle wie folgt neu gefasst: As long as state debt exceeds half of the Gross Domestic Product, if the State incurs a payment obligation by virtue of a decision of the Constitutional Court, the Court of Justice of the European Union or any other court or executive organ for which the available amount under the State Budget Act is insufficient, a contribution to the satisfaction of common needs shall be established which shall be exclusively and explicitly related to the fulfilment of such obligation in terms of both content and designation.46 2.8.2. Kritik Die ungarische Regierung rechtfertigt die Bestimmung mit ihrer Haushaltssouveränität. Wie der Haushalt finanziert werde, aus dem die Geldstrafen bezahlt werden, liege in der ausschließlichen Zuständigkeit des nationalen Haushaltsgesetzgebers.47 Die Kommission sieht hingegen in der Vorschrift einen Verstoß gegen den „Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“ aus Art. 4 Abs. 3 EUV, soweit Urteile des EuGH hiervon betroffen sind. Diese Vorschrift würde die ungarischen Bürger in der Praxis gleich doppelt bestrafen: Zunächst aufgrund der Verletzung der ihnen zustehenden Rechte aus den EU-Verträgen durch die Regie- 45 Vgl. Follow-Up Report on the Green Paper on the criminal-law protection of the financial interests of the Community and the establishment of a European Prosecutor, COM(2003) 128 final, S. 17, online abrufbar unter http://ec.europa.eu/anti_fraud/documents/fwk-green-paper-suivi/follow_up_en.pdf; Jarass, Charta EU- Grundrechte, 1. Aufl. 2010, Art. 47, Rn. 18; vgl. auch vgl auch Rupert Scholz, Rechtsgutachten zur Verfassungsund Europarechtskonformität der Vierten Verfassungsnovelle zum ungarischen Grundgesetz vom 11./25. März 2013, S. 15 f., online abrufbar unter http://public.mkab.hu/dev/dontesek.nsf/0/780ca328b83b304bc1257ada00524dbc/$FILE/ATT57121.pdf/2012_2 655-0.pdf 46 Original: „Mindaddig, amíg az államadósság a teljes hazai össztermék felét meghaladja, ha az Alkotmánybíróság , az Európai Unió Bírósága, illetve más bíróság vagy jogalkalmazó szerv döntésébõl az állam által teljesítendõ olyan fizetési kötelezettség fakad, amelynek teljesítésére a központi költségvetésrõl szóló törvényben e célra rendelkezésre álló összeg nem elegendõ, tartalmában és elnevezésében is kizárólag és kifejezetten az e kötelezettség teljesítéséhez kapcsolódó, a közös szükségletek fedezéséhez való hozzájárulást kell megállapítani .“ 47 Vgl. Rupert Scholz, Rechtsgutachten zur Verfassungs- und Europarechtskonformität der Vierten Verfassungsnovelle zum ungarischen Grundgesetz vom 11./25. März 2013, S. 28, online abrufbar unter http://public.mkab.hu/dev/dontesek.nsf/0/780ca328b83b304bc1257ada00524dbc/$FILE/ATT57121.pdf/2012_2 655-0.pdf Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 18 rung, für die sie dann auch noch zahlen müssten.48 Insofern kann sich die Kommission auf das aus Art. 4 Abs. 3 EUV resultierende Verbot von mitgliedstaatlichen Handlungen berufen, die unionsrechtliche Pflichten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen oder konterkarieren. Der nationale Gesetzgeber steht in der Pflicht, das nationale Recht so zu ändern, aufzuheben oder zu ergänzen, dass die Vorgaben des Unionsrechts ihre volle praktische Wirksamkeit entfalten können.49 Der EuGH kann auf Grundlage von Art. 260 Abs. 2 AEUV in jeder Rechtssache nach Maßgabe des ihm erforderlich erscheinenden Grades an Überzeugungskraft und Abschreckung die angemessenen finanziellen Sanktionen bestimmen, um für eine möglichst schnelle Durchführung des Urteils, mit dem zuvor eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, zu sorgen und die Wiederholung ähnlicher Verstöße gegen das Unionsrecht zu verhindern und um letztlich damit die wirksame Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten.50 Dem könnte gerade eine Regelung entgegenstehen , die dazu bestimmt ist, den Umsetzungsdruck der mit einem Urteil des Gerichtshofes verbundenen Zwangsmittel zu begrenzen.51 3. Ausblick Derzeit befasst sich die Kommission eingehend mit den Entwicklungen in Ungarn. Anlässlich einer Aussprache über die Verfassungsnovelle am 17. April 2013 im Plenum des Europäischen Parlaments präzisierte die Vizepräsidentin und für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft zuständige Kommissarin Viviane Reding die von der Kommission beanstandeten Vorschriften der Verfassungsnovelle und griff dabei die bereits von Kommissionspräsident Barroso in einem Schreiben an den ungarischen Premierminister Viktor Orbán vom 11.4.2013 geäußerten Bedenken auf.52 Zuvor hatte Orbán am 12.4.2013 in einem kurzen Antwortschreiben bereits in Aussicht gestellt, dass seine Regierung auf die Bedenken der Kommission eingehen werde.53 Eine erste Beurteilung habe ergeben, dass die Kommission „ernsthafte Besorgnis“ habe, dass die Änderungen mit EU- Recht sowie dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar seien. In der gleichen Aussprache des Eu- 48 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm 49 Vgl. EuGH, Rs. 30/72 (Kommission/Italien), Rn. 11; EuGH, Rs. C-62/00 (Marks&Spencer), Rn. 26. 50 EuGH , Rs. C-304/02 (Kommission/Frankreich), Rn. 80; EuGH, Rs. C-496/09 (Kommission/Italien), Rn. 36 ff. 51 Vgl. EuGH, Rs. C-62/00 (Marks&Spencer), Rn. 36; EuGH, Rs. C-147/01 (Weber´s Wine World), Rn. 86 f. 52 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm 53 Pressemitteilung der Kommission, SPEECH/13/324, online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease _SPEECH-13-324_en.htm Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 19 ropäischen Parlaments wurde unter anderem auch eine mögliche Anwendung des Verfahrens gemäß Art. 7 EUV54 gegen Ungarn thematisiert.55 Während der Aussprache zeigten sich die meisten wortnehmenden MdEP eher zurückhaltend in Bezug auf das Verfahrens nach Art. 7 EUV. Lediglich der Vorsitzende der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt (BE), sprach sich in der Debatte für die Einleitung eines diesbezüglichen Verfahrens gegen Ungarn aus. Dagegen bezeichneten einige andere MdEP das Verfahren nach Artikel 7 EUV als die „schärfste Waffe Brüssels“ oder als „Atombombe“, die man zwar besitze, über deren Einsatz man aber besser zwei oder drei Mal nachdenke. Auf die Möglichkeit der Einleitung eines solchen Verfahrens gegen Ungarn angesprochen, zeigte sich auch Vizepräsidentin Reding vorerst zurückhaltend. Die Kommission werde zunächst einen für Mitte Juni 2013 angekündigten Bericht der Venedig-Kommission des Europarates sowie den Bericht des LIBE-Ausschusses zur Lage der Grundrechte in Ungarn abwarten, bevor eventuelle weitere, über die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren hinausgehende Schritte in Betracht gezogen würden. Die Vizepräsidentin schloss jedoch die Anwendung von Art. 7 EUV nicht grundsätzlich aus, wenn man auf Grundlage der beiden Berichte zum Schluss komme, dass die Grundwerte der Union verletzt seien. Bereits seit längerem beschäftigt sich auch der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments (LIBE) mit der Situation in Ungarn. Am 8. April 2013 stellte der Berichterstatter, Rui Tavares (GRÜNE-EFA/PT), ein fünftes Arbeitsdokument zur Lage der Grundrechte in Ungarn vor, in dem er auch auf die vierte Verfassungsnovelle eingeht.56 In dem Dokument wird u. a. die vorgesehene Einschränkung der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts kritisiert. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle werde durch die Schaffung von neuem, gerichtlich nicht mehr überprüfbaren Verfassungsrecht umgangen. So würden vermehrt Regelungen in der Verfassung verankert, die problemlos auch einfachgesetzlich geregelt werden könnten. Daneben bestehe die Gefahr, dass die Meinungsfreiheit durch die Aufnahme des Kriteriums „Schutz der Würde der Nation“ in den Verfassungstext unverhältnismäßig eingeschränkt werden könnte. Auf Grundlage der Arbeitsdokumente und gemäß der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.2.2012 hat der Berichterstatter für den LIEBE-Ausschuss am 2.5.2013 einen abschließenden Entwurf eines Berichts über die Lage der Grundrechte in Ungarn vorgelegt, über 54 Art. 7 EUV sieht ein zweistufiges Verfahren vor, wenn Mitgliedstaaten gegen Grundwerte wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte verstoßen. Bei der Gefahr einer Verletzung dieser Grundwerte kann ein Mitgliedstaat zunächst von den anderen Mitgliedstaaten mit Vier-Fünftel-Mehrheit verwarnt werden. Wird dem Missstand nicht abgeholfen, ist im zweiten Schritt die formelle Feststellung möglich, dass dieses Land die Grundwerte schwerwiegend und andauernd verletzt. Dafür bedarf es eines einstimmigen Beschlusses des Rates mit Ausnahme des betroffenen Staates. In der Folge können die Stimmrechte des Staates mit qualifiziertem Mehrheitsbeschluss ausgesetzt werden. Das Verfahren nach Art. 7 EUV kann von einem Drittel der EU-Mitgliedstaaten, der Kommission oder dem EP initiiert werden. 55 Vgl. Referat PE4 – EU-Verbindungsbüro –, Bericht aus Brüssel 08/2013 vom 22.04.2013, S. 7. 56 http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2009_2014/documents/libe/dt/932/932303/932303de.pdf Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 20 den voraussichtlich noch im Juni 2013 im LIBE-Ausschuss abgestimmt werden soll.57 Nach einem vorangestellten Zitat des ungarischen Nationaldichters Petőfi Sándor58 kommt der Bericht zu dem Ergebnis, dass „der systematische und allgemeine Trend, die Verfassung und den Rechtsrahmen in sehr kurzen Zeitabständen wiederholt zu ändern, und der Inhalt solcher Änderungen mit den in Art. 2 EUV, Art 3 Abs. 1 und Art. 6 EUV genannten Werten unvereinbar sind und von den in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsätzen abweichen; ist der Auffassung, dass dieser Trend – wenn er nicht rechtzeitig und ausreichend korrigiert wird – auf ein eindeutiges Risiko einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV dargelegten Werte hinauslaufen wird“. Insbesondere kritisiert der Bericht „aufs Schärfste“ die Bestimmungen des 4. Verfassungsnovelle, welche die Vorrangstellung der Verfassung dadurch untergrabe, indem sie zuvor vom Verfassungsgericht aus formellen oder materiellen Gründen für verfassungswidrig erklärte Bestimmungen in die Verfassung aufnehme. Zudem untergrabe die umfassende Schwerpunktgesetzgebung die Grundsätze von Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Die Einschränkung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung führe zu einer besorgniserregenden Machtverschiebung im demokratischen System gegenseitiger Kontrolle. Die Unabhängigkeit der Justiz sei nicht hinreichend sichergestellt , was beispielsweise in der vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes zum Ausdruck komme. Bezüglich des Medienpluralismus äußert der Bericht die Besorgnis, dass öffentlich-rechtliche Sendeanstalten durch ein extrem zentralisiertes institutionelles System kontrolliert werden. Die ungarischen Behörden werden aufgefordert, „Maßnahmen zu ergreifen, um aktiv regelmäßige Bewertungen zu den Auswirkungen der Gesetzgebung auf die Medienlandschaft durchzuführen oder in Auftrag zu geben“. Vor diesem Hintergrund appelliert der Bericht an den Präsidenten des Europäischen Rates, das Parlament über seine Einschätzung der Lage zu unterrichten und rasch Beratungen mit dem Präsidenten des Parlaments und dem Präsidenten der Kommission aufzunehmen. Die Kommission wird aufgefordert, sich nicht nur auf spezifische Verstöße des EU-Rechts zu konzentrieren, sondern aus einer systemischen Veränderung der Verfassungs- und Rechtsordnung eines Mitgliedstaats mit Blick auf Artikel 2 EUV ebenfalls Konsequenzen zu ziehen. Zudem solle die Kommission u.a. in einem umfassenden Ansatz eine „Alarm-Agenda für Artikel 2 EUV / Rechtsstaatlichkeit “ einrichten und nach Aktualisierung ihrer Mitteilung aus dem Jahr 2003 zu Art. 7 EUV (KOM(2003)606) einen detaillierten Vorschlag für einen schnellen und unabhängigen Überwachsungsmechanismus und ein Frühwarnsystem zu erarbeiten. In einer Empfehlung des Berichts werden die ungarischen Behörden aufgefordert, zur Beseitigung von Missständen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte folgenden Empfehlungen ohne weitere Verzögerung umzusetzen: 57 Entwurf eines Berichts über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn (gemäß der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Februar 2012) (2012/2130(INI)), Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=- %2f%2fEP%2f%2fNONSGML%2bCOMPARL%2bPE-508.211%2b02%2bDOC%2bPDF%2bV0%2f%2fDE 58 Haza csak ott van, hol jog is van (Ohne Recht gibt es keine Heimat) Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 46/13 Seite 21 Umsetzung der Empfehlungen der Venedig-Kommission59 und Herstellung des Vorrangs des Grundgesetzes durch Streichung der zuvor vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Vorschriften; Aufhebung der Beschränkungen der Befugnisse des Verfassungsgerichts in seiner Rechtsprechung ; Beseitigung der Einschränkungen der parlamentarischen Befugnisse durch den außerparlamentarischen Haushaltsrat Rückgängigmachung der vorzeitigen Beendigung der Amtszeit hoher Beamter, insbesondere mit Blick auf die institutionelle Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde; Sicherung der Garantie der Unabhängigkeit der Justiz und Umsetzung des EuGH-Urteils Rs. C-286/12 (Kommission/Ungarn); Festlegung objektiver Kriterien für eine Verlagerung des Gerichtsortes; Umsetzung der Empfehlungen der Venedig-Kommission60 zu den grundlegenden Gesetzen für das Gerichtswesen; Sicherstellung der Unabhängigkeit der Medienaufsicht und des Grundsatzes der Vertraulichkeit von Quellen; Festlegung von neutralen und unparteilichen Anforderungen und institutionellen Verfahren für die Anerkennung religiöser Organisationen. Die Bewertung der Umsetzung soll durch je einen Vertreter Ungarns, der Kommission und des Rates erfolgen („Artikel-2-Trilog“). Für den Fall, dass Ungarn die vorgenannten Empfehlungen nicht umsetzt, stellt der Bericht Maßnahmen nach Art. 7 Abs. 1 EUV in Aussicht, um zu bestimmen , ob eine eindeutige Gefahr eines schwerwiegenden Verstoßes gegen die gemeinsamen Werte der Union im Sinne von Art. 2 EUV durch Ungarn besteht. Hierzu wird die Konferenz der Präsidenten ersucht, Art. 7 Abs. 1 EUV gegebenenfalls zu aktivieren. - Fachbereich Europa - 59 Vgl. die Dokumentation „Gesetzes- und Verfassungsänderungen in Ungarn seit 2010 aus Sicht des Europarates“, WD 2 – 3000 – 031/13. 60 Venedig-Kommission Nr. CDL-AD(2012)020 v. 15.10.2012, online abrufbar unter http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD%282012%29020-e; vgl. auch Venedig- Kommission Nr. CDL-REF(2013)014 v. 21.3.2013, S. 17 ff., online abrufbar unter http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-REF%282013%29014-e