© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 045/18 Begründete Stellungnahmen der nationalen Parlamente gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon Einzelfragen zum Verfahren der sog. Subsidiaritätsrüge Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Nach den Bestimmungen des Protokolls Nr. 21 zum Vertrag von Lissabon haben die nationalen Parlamente die Möglichkeit der Rüge, wenn ein Legislativvorschlag nach ihrer Einschätzung das Subsidiaritätsprinzip verletzt. Der Fachbereich ist gefragt worden, wann eine Subsidiaritätsrüge erhoben werden kann, welche Fristen gelten, wer zu ihrer Erhebung berechtigt ist sowie welchen Verlauf das Verfahren nach Erhebung einer Subsidiaritätsrüge nimmt. 2. Vorbemerkungen 2.1. Die primärrechtlichen Bestimmungen zur Subsidiaritätsrüge Die nationalen Parlamente können nach Maßgabe des Protokolls Nr. 2 in einer sog. begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf eines Gesetzgebungsaktes ihres Erachtens nach nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (Art. 6). Für die Erhebung einer solchen Subsidiaritätsrüge räumt Art. 6 Protokoll Nr. 2 den nationalen Parlamenten eine Frist von acht Wochen ab dem Zeitpunkt der Übermittlung des Entwurfs eines Gesetzgebungsakts in allen Amtssprachen der EU ein (sog. Acht-Wochen- Frist).2 Prüfungsgegenstand einer solchen Subsidiaritätsrüge sind nur Gesetzgebungsvorschläge der EU, die gemäß Art. 4 Abs. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union3 (AEUV) der geteilten Zuständigkeit der EU und der Mitgliedstaaten unterfallen. Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit der EU gemäß Art. 3 AEUV4 erübrigt sich eine Subsidiaritätsprüfung. 1 Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, (ABl. Nr. C 202 S. 201). 2 Aus der Festlegung zum Beginn der Acht-Wochen-Frist ist für die Praxis zu folgern, dass dem Bundestag auch mehr als acht Wochen für die Subsidiaritätsprüfung zur Verfügung stehen können, falls Übersetzungen in andere EU-Amtssprachen erst nach der deutschen Übersetzung vorliegen. Der offizielle Fristbeginn wird den Parlamenten mit gesondertem Schreiben der Europäischen Kommission bzw. des Rats der EU mitgeteilt. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte Fassung vom 7. Juni 2016 (ABl. Nr. C 202 S. 47). 4 Dies betrifft folgende Bereiche: die Zollunion, die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik , die gemeinsame Handelspolitik. Darüber hinaus hat die EU die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss bestimmter internationaler Übereinkünfte. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 045/18 Seite 4 In Deutschland ist das Recht zur Erhebung einer sog. Subsidiaritätsrüge einfachgesetzlich in § 11 Integrationsverantwortungsgesetz5 (IntVG) näher bestimmt. 2.2. Das Subsidiaritätsprinzip Prüfungsmaßstab der Subsidiaritätsprüfung ist das in Art. 5 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip (im weiteren Sinne), das die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung (Abs. 1 und 2), der Subsidiarität im engeren Sinne (Abs. 3) und der Verhältnismäßigkeit (Abs. 4) umfasst.6 Dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zufolge verbleiben alle der EU nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten. Damit ist der Erlass eines EU-Gesetzgebungsaktes ohne eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage unzulässig . Die EU darf nach dem Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne nur dann tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden und daher wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im engeren Sinne wird damit anhand der Fragen geprüft, ob die Ziele des EU-Legislativvorschlags – einerseits – ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten und -– andererseits – wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen der EU inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen; es zielt insbesondere auf die Frage der Erforderlichkeit der Regelungsdichte eines EU-Gesetzgebungsvorschlags. Ein Legislativvorschlag verletzt auch das Subsidiaritätsprinzip (im weiteren Sinne), wenn er nur in Teilen nicht dessen Anforderungen entspricht. 2.3. Rechtsfolgen einer Subsidiaritätsrüge In Art. 7 Protokoll Nr. 2 sind die Rechtsfolgen einer Subsidiaritätsrüge eines oder mehrerer nationaler Parlamente verankert. Art. 7 Abs. 1 Protokoll Nr. 2 bestimmt, dass die 5 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz - IntVG) vom 22. September 2009 (BGBl. I S. 3022), zul. geä. durch Art. 1 des Gesetzes vom 1. Dezember 2009 (BGBl. I S. 3822). 6 Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der politischen Diskussion ist umstritten, ob die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente auf das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne beschränkt ist oder sich auch darüber hinaus auf die Tragfähigkeit der Rechtsgrundlage und das Verhältnismäßigkeitsprinzip erstreckt. Die Europäische Kommission berücksichtigt in ihrer Praxis jedoch nicht nur Stellungnahmen der nationalen Parlamente, in denen eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips im engeren Sinne gerügt wird, sondern auch solche, die sich auf eine Missachtung der Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung oder der Verhältnismäßigkeit stützen. Zahlreiche nationale Parlamente haben – wie auch der Bundestag – ihren Subsidiaritätsrügen das Subsidiaritätsprinzip im weiteren Sinne als Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Vgl. BT-Drs. 18/12260, S. 10. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 045/18 Seite 5 Subsidiaritätsrüge eines Parlaments von den beteiligten EU-Institutionen zu berücksichtigen ist. Vor diesem Hintergrund wird jedem nationalen Parlament, das eine solche Rüge nach Protokoll Nr. 2 erhebt, ein Antwortschreiben übermittelt, das die Reaktion der beteiligten EU-Institutionen – zumeist der Europäischen Kommission – auf die Argumentation dieses nationalen Parlaments enthält. Art. 7 Protokoll Nr. 2 legt darüber hinaus bestimmte Quoren für erhobene Subsidiaritätsrügen fest, die unterschiedliche Formen der Weiterverfolgung des Legislativvorschlags im Gesetzgebungsprozess auslösen. So sieht die Bestimmung vor, dass der Entwurf überprüft wird, wenn mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der nationalen Parlamente eine Subsidiaritätsrüge erhebt (sog. gelbe Karte). Die Schwelle beträgt ein Viertel der Gesamtzahl der nationalen Parlamente, wenn es sich um einen Gesetzgebungsakt handelt, der den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft. Dabei hat jeder Mitgliedstaat für sein Parlament bzw. seine Parlamente zwei Stimmen, die in Zweikammersystemen auf beide Kammern aufgeteilt werden.7 Nach Abschluss der Überprüfung kann der Initiator des Legislativentwurfs – zumeist die Europäische Kommission – beschließen, an dem Entwurf festzuhalten , ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen. Dieser Beschluss muss begründet werden. (Art. 7 Abs. 2 Protokoll Nr. 2) Erhebt die Mehrheit der nationalen Parlamente eine Subsidiaritätsrüge gegen einen Legislativvorschlag (sog. orangefarbene Karte), entscheidet der Unionsgesetzgeber (Rat der EU und Europäisches Parlament) über die Weiterverfolgung des Entwurfs. Hierzu prüfen Rat der EU und Europäisches Parlament vor Abschluss der ersten Lesung die begründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente sowie die Position der Europäischen Kommission zur Subsidiaritätsprüfung. Kommen bei der sich anschließenden Abstimmung 55 % der Mitglieder des Rats der EU oder die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Europäischen Parlament zu dem Schluss, dass der Legislativentwurf dem Subsidiaritätsgrundsatz widerspricht, wird der Gesetzgebungsvorschlag verworfen und nicht mehr weiterverfolgt (Art. 7 Abs. 3 Protokoll Nr. 2). Somit haben die nationalen Parlamente nicht die Möglichkeit, mit einer signifikanten Zahl von Subsidiaritätsrügen ein rechtsverbindliches Veto gegen einen Gesetzgebungsvorschlag der EU einzulegen. Vielmehr bedarf es einer eigenen Beschlussfassung durch den Initiator des Legislativvorschlags (im Falle der „gelben Karte“) oder durch den Unionsgesetzgeber (im Falle der „orangefarbenen Karte“). Die EU-Organe haben somit stets die Möglichkeit, sich über ein Subsidiaritätsvotum der nationalen Parlamente hinwegzusetzen . 3. Zum Verfahren der Subsidiaritätskontrolle im Deutschen Bundestag Die Prüfung der Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität durch den Bundestag ist in das Verfahren der Behandlung von Unionsdokumenten eingebettet. Die Geschäftsordnung 7 In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat jeweils eine Stimme. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 - 045/18 Seite 6 des Deutschen Bundestages (GO BT)8 weist die Aufgabe der Subsidiaritätsprüfung dem für das jeweilige Unionsdokument fachlich zuständigen Ausschuss zu (§ 93a Abs. 1 GO-BT). Eine besondere Stellung räumt die Bestimmung dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (EU-Ausschuss) ein. Dieser ist zu informieren, wenn der federführende Ausschuss beabsichtigt, eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes zu rügen . Befürwortet der EU-Ausschuss eine Subsidiaritätsrüge, der federführende Ausschuss aber nicht, berichtet der EU-Ausschuss dennoch dem Plenum des Deutschen Bundestages. Die in § 93a Abs. 1 GO-BT vorgesehene Beteiligung des EU-Ausschusses an der Subsidiaritätskontrolle wird dadurch gesichert, dass ihm stets alle Unionsdokumente , die für eine Subsidiaritätsprüfung in Betracht kommen, zur Mitberatung überwiesen werden. Das Verfahren der Subsidiaritätskontrolle im Deutschen Bundestag ist im Detail dargestellt in Anlage 1.9 Diese umfassende Darstellung wird ergänzt durch eine Basisinformation der Unterabteilung Europa (PE) zur Subsidiaritätskontrolle, die hier angefügt ist als Anlage 2. Ein Muster für den Antrag einer Fraktion auf Annahme einer Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses an das Plenum des Deutschen Bundestages für die Annahme einer Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon i.V.m. § 11 IntVG ist beigefügt als Anlage 3. – Fachbereich Europa – 8 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980 (BGBl. I S.1237), zuletzt geändert laut Bekanntmachung vom 12. Juni 2017 (BGBl. I S. 1877). 9 Auszug aus der Unterrichtung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages: Bericht über die Subsidiaritätsprüfung im Deutschen Bundestag und in anderen nationalen Parlamenten, BT-Drs. 18/12260, S. 12 ff.