© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 040/21 Bilaterale Gestaltungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund des Scheiterns der Verhandlungen des institutionellen Rahmenabkommens der Europäischen Union mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 2 Bilaterale Gestaltungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund des Scheiterns der Verhandlungen des institutionellen Rahmenabkommens der Europäischen Union mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 040/21 Abschluss der Arbeit: 29.06.2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Fortgeltung der bestehenden Abkommen zwischen der EU und der Schweiz 4 3. Bilaterale Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten 5 3.1. Beispiele für verbleibende Spielräume der Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Abkommen 6 3.2. Mögliche Rechtsfragen im Falle einer nicht weiter verfolgten Anpassung der bestehenden Abkommen 6 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 4 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist der Fachbereich um Prüfung der Frage gebeten worden, in welchem Rahmen „konfliktfrei“ bilaterale Regelungen in den Bereichen des Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs möglich sind, um eventuelle Folgeprobleme des gescheiterten institutionellen Rahmenabkommens abzumildern . 2. Fortgeltung der bestehenden Abkommen zwischen der EU und der Schweiz Zwischen der Union und der Schweiz bestehen derzeit mehr als 120 Abkommen.1 Als Grundpfeiler der Beziehungen wird das Freihandelsabkommen von 1972 bezeichnet, das nach wie vor in Kraft ist. Im Jahr 1999 wurden die Bilateralen I beschlossen. Dabei handelt es sich um insgesamt sieben sektorielle Abkommen, die – mit Ausnahme des Forschungsabkommens – als klassische Marktöffnungsabkommen eingeordnet werden können.. Das zweite im Jahr 2004 abgeschlossene Vertragspaket, die Bilateralen II, beinhaltet mehrere Abkommen, die weitere wirtschaftliche Interessen der Union und der Schweiz berücksichtigen und die Zusammenarbeit der Vertragspartner auf neue politische Bereiche erweitern.2 Zunächst ist festzuhalten, dass die bestehenden Abkommen zwischen der Union und der Schweiz auf unbestimmte Zeit gelten und aus rechtlichen Gründen grundsätzlich nichts dagegen spricht, diese nach den darin vorgesehenen (Ausschuss-)Verfahren auch weiterhin anzupassen.3 Aber auch ohne eine fortgesetzte Anpassung würde sich zunächst nichts daran ändern, dass sich die Vertragsparteien auf die bestehenden Abkommen berufen können, solange deren Wirkungen nicht durch Kündigung nach Maßgabe des jeweiligen Abkommens beendet worden sind.4 Ob und 1 Siehe auch Ausarbeitung des WD 5 – 3000 – 052/21, S. 4. 2 Eine Übersicht der bestehenden Abkommen ist dem Factsheet zu den Grundlegenden Fakten zum Rahmen der Beziehungen EU-Schweiz zu entnehmen; siehe https://eeas.europa.eu/sites/default/files/na0221630denproof _3.pdf. 3 In der Erklärung der Kommission zur Entscheidung des Schweizer Bundesrats die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz abzubrechen, geht die Kommission davon aus, dass ohne das institutionelle Rahmenabkommen eine Modernisierung der laufenden Beziehungen unmöglich wird und die bestehenden bilateralen Abkommen zwangsläufig veralten werden; vgl. https://ec.europa .eu/commission/presscorner/detail/de/statement_21_2683. 4 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 21.12.2016, Gutachten 2/15, ECLI:EU:C:2016:992, Rn. 77; siehe auch Art. 25 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2002/243/de), wobei dieser ein Kündigungsrecht für die Europäische Gemeinschaft oder die Schweiz vorsieht. Ein Kündigungsrecht der Mitgliedstaaten scheint hier nicht gewollt, da das Abkommen wohl sonst von einem Kündigungsrecht für die „Vertragspartner“ sprechen würde. Auch das Bestehen der sog. Guillotine-Klausel im Rahmen der Bilateralen I spricht wohl gegen ein Kündigungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 5 in welcher Weise eine künftig nicht oder nur teilweise weiterverfolgte Anpassung einzelner Abkommen in bestimmten Bereichen zu rechtlichen Schwierigkeiten führen würde, lässt sich nicht allgemein beantworten.5 Dies wäre für bestimmte Einzelfragen bereichsspezifisch zu erörtern. Mit Blick auf das in dem Auftrag nicht weiter eingegrenzte weite Feld des „Personen-, Warenund Dienstleistungsverkehrs“ kann es somit in der vorliegenden Ausarbeitung nur um allgemeine Hinweise gehen, inwieweit es einzelnen Mitgliedstaaten im Rahmen der (fort-)geltenden EU-Schweiz-Abkommen unionsrechtlich möglich wäre, bilaterale Vereinbarungen mit der Schweiz zu treffen. 3. Bilaterale Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten Um die Frage beantworten zu können, welche Gestaltungsmöglichkeiten einzelnen Mitgliedstaaten im Rahmen der bereits bestehenden Abkommen zwischen der EU und der Schweizerischen Eidgenossenschaft verbleiben, kommt es grundsätzlich auf den Inhalt und die Reichweite der bestehenden Abkommen an. Sofern ein bestimmter Bereich nicht in den Anwendungsbereich eines bestehenden Abkommens fällt, können einzelne Mitgliedstaaten mit Drittstaaten Abkommen schließen, vorausgesetzt, dass der Bereich nicht in die ausschließliche Außenkompetenz der Union fällt. Dies ist der Fall, wenn die Union in dem Bereich nach Art. 3 Abs. 2 AEUV ausschließlich zuständig ist.6 Die Union hat danach die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist (Var. 1), wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann (Var. 2), oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte (Var. 3, sog. „AETR-Variante“7). Sofern der fragliche Bereich zwar grundsätzlich den Regelungen eines bestehenden Abkommens unterliegt, kommt der Abschluss von bilateralen Abkommen lediglich insoweit in Betracht, als den Mitgliedstaaten nach dem Abkommen noch ein Spielraum verbleibt. Dies dürfte nur Bereiche der geteilten Zuständigkeit der Union betreffen. Die Mitgliedstaaten können ihre Zuständigkeiten nur wahrnehmen, „sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeiten nicht ausgeübt hat“ (Sperrwirkung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV8). Das bedeutet, dass selbst wenn die Union eine geteilte Zuständigkeit ausgeübt hat, das Bestehen oder Nichtbestehen einer mitgliedstaatlichen Re- 5 Vgl. hierzu Ausarbeitung des WD 5 – 3000 – 052/21. 6 Das Verhältnis des Art. 3 Abs. 2 zu Art. 216 Abs. 1 AEUV ist hierbei umstritten, siehe hierzu Häde, in: Pechstein /Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 3 AEUV, Rn. 15 ff. 7 Vgl. Mögele, in: Streinz, 3. Aufl. 2018, Art. 216 AEUV, Rn. 38; vgl. hierzu auch EuGH, Gutachten 3/15 vom 14.2.2017, ECLI:EU:C:2017:114, Rn. 105 ff. 8 Vgl. Giegerich, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 216 AEUV, Rn. 162. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 6 gelungsbefugnis vom konkreten inhaltlichen Umfang und der Reichweite der Regelung im Rahmen einer Übereinkunft abhängt.9 Den Mitgliedstaaten verbleibt eine Regelungsbefugnis für die von einer Unionsregelung nicht erfassten Angelegenheiten des Sachbereichs.10 Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Union sich auf eine Mindestnorm beschränkt oder eine vertraglich vorgesehene Schutzverstärkungsmöglichkeit besteht (z.B. Art. 193 AEUV). In diesen Fällen könnte ein Mitgliedstaat darüberhinausgehende Regelungen treffen.11 3.1. Beispiele für verbleibende Spielräume der Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Abkommen In einigen zwischen der Union und der Schweiz geschlossenen Abkommen ist ein Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten ausdrücklich vorgesehen. Dies gilt etwa für Art. 12 des Personenfreizügigkeitsabkommens .12 Dieser regelt, dass das Abkommen „günstigeren innerstaatlichen Bestimmungen, die den Staatsangehörigen der Vertragsparteien bzw. ihren Familienangehörigen eingeräumt werden, nicht entgegensteht.“ Den Mitgliedstaaten steht es demzufolge frei, in diesem konkreten Bereich günstigere Bestimmungen zu erlassen. Bei anderen zwischen der EU und der Schweiz geschlossenen Abkommen ergibt sich ein Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten daraus, dass in den Anhängen der Abkommen auf Bestimmungen des EU-Sekundärrechts verwiesen wird (z.B. im Luftverkehrsabkommen). Soweit den Mitgliedstaaten aufgrund der betreffenden Sekundärrechtsbestimmungen Spielräume verbleiben, etwa zur Festlegung günstigerer Bestimmungen als den sekundärrechtlich vorgeschriebenen Mindestschutzvorschriften ,13 gilt dies aufgrund der Verweisung auch im Verhältnis zur Schweiz. 3.2. Mögliche Rechtsfragen im Falle einer nicht weiter verfolgten Anpassung der bestehenden Abkommen Im Falle einer nicht weiter verfolgten Anpassung der Anhänge einzelner Abkommen an eine Fortentwicklung des Sekundärrechts könnte sich etwa die Frage stellen, ob einzelne Mitgliedstaaten eine jedenfalls bilaterale Anpassung an diese Entwicklung durch den Abschluss von Vereinbarungen mit der Schweiz verwirklichen können, um die sich aus der fehlenden Anpassung ggf. für die Vertragsparteien ergebenden einseitigen Beschränkungsmöglichkeiten zu vermeiden. In rechtlicher Hinsicht bedürfte es hierfür wohl insbesondere der Klärung, ob und inwieweit durch die Fortentwicklung des Sekundärrechts in dem betreffenden Bereich nach der in Art. 3 Abs. 2 Var. 3 AEUV kodifizierten AETR-Rechtsprechung eine ausschließliche Außenkompetenz 9 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 2 AEUV, Rn. 13; vgl. auch Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert , 5. Aufl. 2016, Art. 216 AEUV, Rn. 22. 10 Siehe Calliess, in: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 2 AEUV, Rn. 13. 11 So Calliess, in: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 2 AEUV, Rn. 13. 12 Vgl. Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit; abrufbar unter: https://www.fedlex.admin .ch/eli/cc/2002/243/de. 13 Vgl. etwa Art. 15 Richtlinie 2003/88/EG. EUR-Lex - 32003L0088 - EN - EUR-Lex (europa.eu). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/21 Seite 7 der Union entstanden ist, die einem Abschluss bilateraler Vereinbarungen einzelner Mitgliedstaaten mit der Schweiz grundsätzlich entgegenstehen würde. Der konkrete Umfang der Entstehung ausschließlicher Außenkompetenzen der Union wäre im Wege der Auslegung der betreffenden Bestimmungen des (fortentwickelten) Sekundärrechts zu ermitteln. Es bedürfe hierfür einer Analyse des Verhältnisses zwischen der geplanten internationalen Übereinkunft und dem geltenden Unionsrecht. Die jeweils erfassten Bereiche der Unionsregeln und die Bestimmungen des geplanten Abkommens wären zu identifizieren und auch ihre voraussichtlichen Entwicklungsperspektiven sowie Art und Inhalt dieser Regeln und Bestimmungen, um zu prüfen, ob das fragliche Abkommen die einheitliche und kohärente Anwendung der Unionsregeln und das reibungslose Funktionieren des durch sie geschaffenen Systems beeinträchtigen kann.14 Sofern die Mitgliedstaaten Maßnahmen im Rahmen des Bereichs der ausschließlichen Außenkompetenz der Union treffen wollen, bedürfte es hierzu einer Ermächtigung seitens der Union.15 - Fachbereich Europa - 14 Vgl. EuGH, Gutachten 3/15 vom 14.2.2017, ECLI:EU:C:2017:114, Rn. 108. 15 Vgl. Giegerich, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 216 AEUV, Rn. 124. Hierzu wird in der Praxis wohl ein Sekundärrechtsakt ergehen, so Calliess, in: Calliess/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 2 AEUV, Rn. 10 in Bezug auf Ermächtigung nach Art. 2 Abs. 1 AEUV.