© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 040/20 Zur Zulässigkeit der Abweichung von europarechtlichen Vorschriften durch die auf Grundlage von § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz erlassenen Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 2 Zur Zulässigkeit der Abweichung von europarechtlichen Vorschriften durch die auf Grundlage von § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz erlassenen Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 040/20 Abschluss der Arbeit: 18.06.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Ausgangssituation und Fragestellung 4 2. Das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht 5 3. § 9 MedBVSV aus europarechtlicher Perspektive 6 3.1. Art. 114 Abs. 10 AEUV 6 3.2. Art. 168 Abs. 7 AEUV 7 3.3. Art. 347 AEUV 9 3.4. Ausnahmen nach Art. 34 ff. AEUV 10 4. Empfehlung (EU) 2020/403 der Kommission vom 13. März 2020 10 5. Ergebnis 12 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 4 1. Ausgangssituation und Fragestellung Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 20201 wurde das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im neu gefassten § 5 Abs. 2 IfSG in den in Nr. 1 – 21 genannten Bereichen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt. Das BMG hat mit Erlass der Verordnung zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs bei der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie (Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung-MedBVSV) von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Am 25. Mai 2020 ist die MedBVSV ohne wesentliche Änderungen vom vorliegenden Referentenentwurf verabschiedet worden.2 In der MedBVSV soll von der Verordnung (EU) 2016/4253 (PSA-Verordnung) abgewichen werden. Zentraler Punkt ist die vereinfachte Einfuhr von PSA aus den USA, Kanada, Australien und Japan. Wegen eines vergleichbaren Sicherheitsstandards, soll aus diesen Ländern der gesteigerte Bedarf an Schutzausrüstung während der Pandemie gedeckt werden. Der genaue Wortlaut der Vorschrift ist folgender: § 9 Bereitstellung von persönlichen Schutzausrüstungen im Kontext der COVID-19-Bedrohung (1) Soweit es zur Bewältigung der vom Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 IfSG festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite und der damit verbundenen Mangelsituation erforderlich ist, dürfen persönliche Schutzausrüstungen im Sinne des Artikels 3 Nummer 1 der Verordnung (EU) 2016/425 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über persönliche Schutzausrüstungen und zur Aufhebung der Richtlinie 89/686/EWG des Rates (ABl. L 81 vom 31.3.2016, S. 51), die in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien oder Japan verkehrsfähig sind, auf dem deutschen Markt durch einen Wirtschaftsakteur im Sinne des Artikels 3 Nummer 8 der Verordnung (EU) 2016/425 bereitgestellt werden. Die Verkehrsfähigkeit der persönlichen Schutzausrüstungen in der Bundesrepublik Deutschland kontrolliert die zuständige Marktüberwachungsbehörde nach § 24 Absatz 1 des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG). (2) Persönliche Schutzausrüstungen im Sinne des Artikels 3 Nummer 1 der Verordnung (EU) 2016/425 aus anderen als den in Absatz 1 genannten Staaten können auf dem deutschen Markt durch einen Wirtschaftsakteur im Sinne des Artikels 3 Nummer 8 der Verordnung (EU) 2016/425 bereitgestellt werden, wenn in einem Bewertungsverfahren durch eine geeignete Stelle auf Grund eines von der Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik auf ihrer Internetseite veröffentlichten Prüfgrundsatzes festgestellt wurde, dass sie ein den grundlegenden Gesundheitsschutz- und Sicherheitsanforderungen nach Anhang II der Verordnung (EU) 2016/425 vergleichbares Gesundheits - und Sicherheitsniveau bieten. Die Verkehrsfähigkeit der persönlichen Schutzausrüstungen 1 BGBl. I. S. 587 ff. 2 Verordnung zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs bei der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie (Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung – MedBVSV), BAnz AT 26.05.2020 V1. 3 Verordnung (EU) 2016/425 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über persönliche Schutzausrüstungen und zur Aufhebung der Richtlinie 89/686/EWG des Rates (ABl. L 81 vom 31.3.2016, S. 51). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 5 in der Bundesrepublik Deutschland nach Satz 1 kontrolliert die zuständige Marktüberwachungsbehörde nach § 24 Absatz 1 ProdSG. (3) Persönliche Schutzausrüstungen, die nach Maßgabe des Absatzes 2 Satz 2 von der zuständigen Marktüberwachungsbehörde nach § 24 Absatz 1 ProdSG als verkehrsfähig angesehen werden , sind von ihr mit einer Bestätigung zu versehen, die jeder Abgabeeinheit beizufügen ist und Auskunft darüber gibt, dass es sich um persönliche Schutzausrüstungen handelt, die nach Absatz 2 Satz 1 und nicht nach der Verordnung (EU) 2016/425 bereitgestellt werden. (4) Persönliche Schutzausrüstungen, die nach Maßgabe von Absatz 1 Satz 2 oder Absatz 2 Satz 2 von der zuständigen Marktüberwachungsbehörde nach § 24 ProdSG als verkehrsfähig angesehen werden, dürfen abweichend von § 2 Absatz 1 Nummer 1 der PSA-Benutzungsverordnung durch den Arbeitgeber ausgewählt und den Beschäftigten bereitgestellt werden. Der Fachbereich Europa ist vor diesem Hintergrund gebeten worden, zu prüfen, ob durch die Verordnungsermächtigung in § 5 Abs. 2 IfSG Abweichungen von Verordnungen der Europäischen Union gedeckt sein können und im Falle der MedBVSV über Art. 114 Abs. 10, 168 Abs. 7, 347 AEUV gerechtfertigt werden können. Die Frage, ob die Verordnungsermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen, wird nachfolgend nicht behandelt . Zu beleuchten ist zunächst das generelle Verhältnis zwischen Unionsrecht und dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten, (dazu 2.), im darauf folgenden Schritt ist dann zu bewerten, ob eine Abweichung von der PSA-Verordnung hier im Einzelfall vereinbar mit Unionsrecht ist (dazu 3.). Ebenso sollen die Auswirkungen der Empfehlung (EU) 2020/403 der Kommission vom 13. März 2020 untersucht werden (dazu 4.). Eine abschließende Bewertung findet sich unter 5. 2. Das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht Grundsätzlich ist das Verhältnis vom nationalen Recht und dem Recht der Europäischen Union vom Prinzip des Anwendungsvorrangs geprägt. In ständiger Rechtsprechung bekräftigt der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Vorrang des Unionsrechts, der im Falle einer Kollision mit Vorschriften nationalen Rechts jeder Art dazu führt, dass dieses zugunsten des Unionsrechts unangewendet bleibt.4 Dieser Anwendungsvorrang gilt nicht nur im Verhältnis zu bestehendem nationalen Recht, sondern auch, wenn in Mitgliedsstaaten erst später Gesetze erlassen werden, welche dem Unionsrecht widersprechen. Diese können dann ebenso keine Anwendung finden. Bei der hier in Rede stehenden Verordnung des BMG handelt es sich um eine Rechtsverordnung nach Art. 80 Abs. 1 GG, die ebenfalls als untergesetzlicher Rechtsakt der Exekutive mit allgemeiner Wirkung 5 dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts unterliegt. 4 EuGH, Urteil vom 05.02.1963, Rs. C-26/62 (Van Gend & Loos); EuGH, Urteil vom 15.07.1964, Rs. C-6/64 (Costa/E.N.E.L.; EuGH, Urteil vom 17.12.1970, Rs. C-11/70 (Internationale Handelsgesellschaft). 5 Zum Begriff der Rechtsverordnung Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, 7. Auflage 2018, Art. 80 Rn. 18 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 6 Mitgliedsstaatliche Abweichungen von Rechtsakten der Europäischen Union sind nur ausnahmsweise in engen Grenzen unionsrechtlich zulässig. 3. § 9 MedBVSV aus europarechtlicher Perspektive Die PSA-Verordnung wird ausweislich ihrer Begründung auf Art. 114 Abs. 1 AEUV gestützt und soll grundlegende Anforderungen an persönliche Schutzausrüstung (PSA) auf dem europäischen Binnenmarkt angleichen. Verordnungen nach Art. 288 II AEUV sind allgemeine bindende und unmittelbar anwendbare Rechtsakte, welche grundsätzlich dann zum Einsatz kommen, wenn den Mitgliedsstaaten kein Spielraum bei der Umsetzung in der eigenen Rechtsordnung gewährt werden soll.6 In Verordnungen selbst kann vorgesehen sein, dass die Mitgliedsstaaten unter bestimmten Voraussetzungen von ihnen abweichen können. Dies geschieht beispielsweise durch Schutzklauseln , die in Art. 114 Abs. 10 AEUV für Maßnahmen der Rechtsangleichung im Binnenmarkt anerkannt sind (3.1.) Zur Begründung der Abweichung rekurriert der Referentenentwurf daneben auf Art. 168 Abs. 7 AEUV, welcher grundlegende Kompetenzen der Mitgliedsstaaten im Gesundheitsbereich behandelt (3.2.). Anschließend werden noch die Voraussetzungen des Art. 347 AEUV überprüft (3.4), und nachrangig die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die allgemeinen Vorschriften zur Warenverkehrsfreiheit erörtert (3.4.) 3.1. Art. 114 Abs. 10 AEUV Die PSA-Verordnung wird vom europäischen Gesetzgeber auf Art. 114 Abs. 1 AEUV, die Kompetenznorm zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt, gestützt. Ziel solcher Rechtsakte ist es, den Binnenmarkt als eins der Grundprinzipien der Europäischen Union (Art. 3 Abs. 3 EUV) durch Integration der nationalen Märkte fortzuentwickeln.7 Art. 114 Abs. 10 AEUV erkennt die Möglichkeit der Mitgliedsstaaten an, Ausnahmen vom Unionsrecht über sog. Schutzklauseln vorzusehen. Diese Klauseln ermächtigen dazu, trotz Eröffnung des Anwendungsbereichs eines Rechtsaktes, vorläufige Schutzmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren im Sinne des Vorsorgeprinzips zu treffen und in Notfällen schnell reagieren zu können.8 Schutzklauseln sind typischerweise wie folgt aufgebaut: Bestimmte Waren sind unionsrechtlich zugelassen, ein Mitgliedsstaat entwickelt jedoch, etwa weil ihm neue Informationen über die Risiken eines Produkts vorliegen, Zweifel an dieser Zulassung. Da der Rechtsakt nicht unmittelbar geändert werden kann, gibt es über einen Mechanismus die Möglichkeit, ein Nachjustieren auf 6 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Rn. 16 ff. 7 M. Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 114 Rn. 4. 8 EuGH, Urteil vom 09.09.2003, Rs. C-236/1, Rn. 110; M. Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 114 Rn. 122; Korte, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 114, Rn. 58. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 7 EU-Ebene zu erwirken. Bis dahin kann die Zulassung eines zwar mit dem Sekundärrecht konformen , dennoch potentiell gefährlichen Produktes suspendiert werden.9 In den Art. 38-40 PSA-Verordnung ist ein solches Schutzklauselverfahren vorgesehen. Wenn auf mitgliedsstaatlicher Ebene festgestellt wurde, dass von einem zugelassener PSA im Anwendungsbereich der Verordnung ein Risiko ausgeht, kann der Mitgliedsstaat Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass das Produkt weiterhin im Verkehr bleibt. Entsprechend dem Normzweck der Schutzklauseln, also der Abwehr von Gefahren, soll das Gefahrenpotential des Erlaubten im Sinne des Rechtsgüterschutzes begrenzt werden.10 In § 9 MedBVSV ist außerdem vorgesehen, dass Güter, die eigentlich nur bei Einhaltung der strengen Anforderungen der PSA-Verordnung zugelassen werden können, in einem vereinfachten Verfahren auf den Markt gelangen. Das ist in der PSA-Verordnung selbst aber nicht vorgesehen . Die Mitgliedsstaaten werden nur ermächtigt, Maßnahmen gegen PSA anzuordnen, die trotz Konformitätsüberprüfung eine Gefahr darstellen. Durch die MedBVSV wird aber nicht mehr Schutz vor potentiell gefährlichen Produkten gewährt, sondern es werden die Sicherheitsstandards wegen der Beschaffungsproblematik in der Situation der Pandemie angepasst, was im Grunde genommen (zumindest vorläufig) zu einem geringen Schutzniveau führen kann. Man müsste Art. 114 Abs. 10 AEUV entgegen seinem Regelungsgehalt als tatbestandslose Abweichungsbefugnis von angleichendem Sekundärrecht verstehen, um diese Maßnahme darauf stützen zu können.11 Die Abweichung in § 9 MedBVSV lässt sich somit wegen struktureller Unterschiede nicht auf Art. 114 Abs. 10 AEUV stützen. Es fehlt dafür an einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage in der PSA-Verordnung. 3.2. Art. 168 Abs. 7 AEUV Die Begründung der MedBVSV nennt zusätzlich Art. 168 Abs. 7 AEUV zur Rechtfertigung der Abweichung. Gemäß Art. 6 S. 2 lit. a AEUV ist die Europäische Union zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit grundsätzlich nur zu Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen befugt. Aus Art. 168 AEUV ergeben sich die einzelnen Bereiche, in denen die EU ihre Kompetenzen ausüben darf. Gemäß Art. 168 Abs. 7 S. 1 AEUV soll allerdings die Verantwortung der Mitgliedsstaaten für ihre Gesundheitspolitik und die Organisation des Gesundheits- 9 Fischer, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 6. Aufl. 2012, Art. 114, Rn. 39. 10 Löwer, Tierversuchsrichtlinie und nationales Recht, Tübingen 2012, S. 87. 11 Kritisch Löwer, Tierversuchsrichtlinie und nationales Recht, Tübingen 2012, S. 88. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 8 wesens gewahrt werden. Hierbei handelt es sich nach allgemeiner Auffassung um eine sog. Sicherungsklausel , welche die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten schützt.12 Ihre Bedeutung ist jedoch größtenteils deklaratorisch, da die Kompetenz der Union zum Erlass von Unterstützungs -, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen sowieso nicht die grundsätzliche mitgliedsstaatliche Kompetenz zu verdrängen vermag.13 Was alles in den Anwendungsbereich dieser Klausel fällt, ist nicht abschließend geklärt, prinzipiell wird dieser aber sehr weit verstanden, sodass die politische Gestaltung der Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung sowie die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinische Versorgung umfasst sind.14 Neben der Funktion als Sicherungsklausel wird Art. 168 Abs. 7 AEUV als Kompetenzausübungsschranke für die Europäische Union verstanden.15 Fraglich ist nur, wie weit deren Wirkung reicht. Teilweise wird sie nur als Grenze für eine Tätigkeit der Union nach Art. 168 AEUV gesehen . Begründet wird diese mit ihrer systematischen Stellung am Ende dieser Norm und der generellen Wirkungsweise, die Sicherungsklauseln zugeschrieben wird.16 Andererseits wird in der Literatur vertreten, dass die Vorschrift auch bei der Ausübung anderer Kompetenzen, beispielsweise der Rechtsangleichung im Binnenmarkt nach Art. 114 AEUV, begrenzende Wirkung hat.17 Dieses Verständnis wird vor allem mit dem durch den Vertrag von Lissabon angepassten Wortlaut begründet, der nicht mehr nur von der der „Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung“, wie noch in Art. 152 Abs. 5 EGV, sondern insgesamt von „der Tätigkeit der Union“ spricht.18 Der EuGH geht zumindest davon aus, dass die Mitgliedsstaaten zwar die Verantwortung in den von Art. 168 Abs. 7 AEUV umfassten Bereichen tragen, bei der Ausübung dieser Kompetenz 12 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 60. EL 2016, Art. 168 Rn. 77; Lübbig, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 168 Rn. 35. 13 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV. 5. Auflage 2016, Art. 168 Rn. 25; Berg/Augsberg, in: Schwarze, EU- Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 168 Rn. 36. 14 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union , 60. EL 2016, Art. 168 Rn. 78 ff. 15 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 168 Rn. 25; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der europäischen Union, 60. EL 2016, Art. 168 Rn. 82. 16 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 60. EL 2016, Art. 168. 83; Lübbig, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 168 Rn. 36. 17 Besonders im Hinblick auf das Zusammenspiel mit Art. 114 AEUV Kingreen, in: Calliess/Ruffert, 5. Auflage 2016, Art. 168, Rn. 25; zustimmend Niggemeier, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht , 7. Auflage 2017; Ebsen, Soziale Sicherheit in der Landwirtschaft 2010, S. 4 (19), 18 Niggemeier, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 168 Rn. 73. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 9 ebenso an bestehendes Unionsrecht, vor allem im Bereich der Grundfreiheiten, gebunden bleiben .19 Mitgliedsstaatliche Tätigkeiten im Gesundheitsbereich sind also nicht durch Art. 168 Abs. 7 AEUV von der Bindung an bestehendes Recht der Union ausgenommen. Dass diese Kompetenzausübungsschranke , selbst bei Annahme einer über Art. 168 AEUV hinausgehenden Wirkung , die Mitgliedsstaaten nicht davon entbindet, ihre Gesundheitspolitik unionsrechtskompatibel auszugestalten, wird in der europarechtlichen Literatur ebenfalls betont.20 Selbst wenn man also die Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung als eine Maßnahme der Bundesrepublik zur Gesundheitsversorgung verstehen würde, könnte sie damit nicht von bestehendem Unionsrecht abweichen. Eine Abweichung von Rechtsakten der Binnenmarktharmonisierung wie der PSA-Verordnung kann somit nicht auf Art. 168 Abs. 7 AEUV gestützt werden. 3.3. Art. 347 AEUV Art. 347 AEUV ermächtigt die Mitgliedstaaten dazu, bei Vorliegen einer der dort abschließend geregelten drei Tatbestandsvarianten einseitige, von den Vertragsbestimmungen abweichende Maßnahmen zu ergreifen.21 Diese Regelung ermöglicht den Mitgliedstaaten, in einer krisenhaften Ausnahmesituation22 zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von den unionsrechtlichen Verpflichtungen mit vorübergehenden Maßnahmen abzuweichen. Ein Tätigwerden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wäre auf Grundlage dieser nur zulässig, wenn das ordnungsgemäße Funktionieren des Staatswesens ganz oder teilweise gefährdet ist oder die Verfassungsordnung zusammenzubrechen droht. Wirtschaftliche oder soziale Krisensituationen, die solche Wirkungen nicht hervorriefen, erfüllten die Voraussetzungen der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift 23 des Art. 347 AEUV regelmäßig nicht.24 Aufgrund einer mit Art. 347 AEUV vergleichbaren Vorgängerregelung stellte der EuGH in der Rechtssache C-265/95 fest: 19 EuGH, Urteil vom 28.4.1998, Rs. C-12/95, Rn. 21, 23; EuGH, Urteil vom 29.03.2012, Rs. C-185/10, Rn. 47; Schmidt am Busch, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 60. EL 2016, Art- 168 Rn. 84. 20 Niggemeier, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 168 Rn. 75. 21 Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 347 Rn. 24. 22 Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 347 AEUV Rn. 4. 23 EuGH, Urt. v. 19.12.1968, Rs. 13/68, S. 689, Dittert, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht , 7. Aufl. 2015, Art. 347 AEUV Rn. 1. 24 EuGH, Urt. v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 Rn. 54 ff; Hummer, Das griechische Embargo, Everling-FS, 1995, S. 511 (531). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 10 Der betreffende Mitgliedstaat hat alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die volle, wirksame und korrekte Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Interesse aller Wirtschaftsteilnehmer sicherzustellen, sofern er nicht nachweist, daß sein Tätigwerden Folgen für die öffentliche Ordnung hätte, die er mit seinen Mitteln nicht bewältigen könnte.25 Die Voraussetzungen für ein auf Art. 347 AEUV gestütztes Abweichen von den Vorgaben des Unionsrechts dürften bzgl. der vorliegend untersuchten Fragestellung derzeit nicht erfüllt sein. 3.4. Ausnahmen nach Art. 34 ff. AEUV Ebenso ist zu prüfen, ob ein Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen zu Maßnahmen im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zulässig ist. Dafür dürfte die PSA-Verordnung als zentraler Rechtsakt des PSA-Rechts keine Sperrwirkung entfalten. Entscheidend für die Sperrwirkung ist der abschließende Charakter der in Rede stehenden unionsrechtlichen Regelung.26 Die PSA-Verordnung regelt aber auf umfassende Weise Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung auf dem europäischen Binnenmarkt.27 Art. 4 PSA-Verordnung legt fest, dass diese nur auf dem Markt bereitgestellt werden darf, wenn sie den beschlossenen Anforderungen entspricht. Da bereits umfassende Regelungen über das Inverkehrbringen von PSA in den Binnenmarkt auf europäischer Ebene bestehen, bleibt somit kein Spielraum mehr für die Mitgliedsstaaten über die Art. 34 ff. AEUV gerechtfertigte Maßnahmen im freien Warenverkehr zu treffen. Die Sperrwirkung der PSA-Verordnung verhindert einen Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften. 4. Empfehlung (EU) 2020/403 der Kommission vom 13. März 2020 Am 13. März 2020 hat die Europäische Kommission eine Empfehlung über die Konformitätsbewertungs - und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung erlassen.28 Zentraler Inhalt dieser Empfehlung ist eine angemessene Reaktion auf die gesteigerte Nachfrage an PSA und Medizinprodukten.29 Wesentlich für die Frage der Abweichung sind die Empfehlungen Nr. 7 und Nr. 8, welche den Marktüberwachungsbehörden erlaubt, bereits PSA zuzulassen, die ein vergleichbares Gesundheits- und Sicherheitsniveau gewährleisten, aber nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben der PSA-Verordnung stehen. Ebenso kann PSA auch schon vor 25 EuGH, Urt. v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 Rn. 56. 26 Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 35 Rn. 86 ff.; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, 55. EL 2015, Art. 36 Rn. 42; Führ, in: Wegener, Europäische Querschnittspolitiken , § 4 Technikrecht und Standardisierung, Rn. 101, 104. 27 Schucht, Die neue Verordnung über persönliche Schutzausrüstung, EuZW 2016, 407; Langner/Klindt/Schucht, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, C.VI. Technische Sicherheitsvorschriften und Normen , 49. EL 2019, Rn. 105 28 Empfehlung (EU) 2020/403 der Kommission vom 13.3.2020 über die Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung (ABl. L 79 I vom 16.03.2020, S. 1). 29 Ausführlich Schucht, Produktrecht im Pandemiemodus – Schutzmasken als Compliance- und Haftungsrisiko?, NJW 2020, 1551. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 11 der CE-Kennzeichnung in den Verkehr gebracht werden.30 Die zeitweise und vorläufige Zulassung soll solange die Nachfrage an diesen Produkten decken, bis die reguläre Zulassung nach den aufwändigeren Verfahren der geltenden Verordnungen über PSA und Medizinprodukte durchgeführt wird (Empfehlung Nr. 7). PSA kann nach diesen Leitlinien auch ganz ohne CE-Kennzeichnung in Verkehr gebracht werden, wenn dies in einem staatlich organisierten Beschaffungsvorgang geschieht und neben anderen Voraussetzungen die Abgabe nur an medizinisches Fachpersonal erfolgt (Empfehlung Nr. 8). Neben dieser Empfehlung hat die Kommission Leitlinien ausgearbeitet, welche am 30. März 2020 zuletzt aktualisiert wurden.31 Darin wird auf die „Technologieneutralität“ der PSA-Verordnung hingewiesen: Zwar gilt bei Berufung auf die im Amtsblatt der EU veröffentlichen Normen nach Art. 14 PSA-Verordnung eine Vermutung der Konformität als Beweiserleichterung, jedoch sind auch abseits der europäischen standardisierten Normen andere technische Lösungen als Grundlage von Konformitätsbewertungen zugelassen, solange ein ausreichendes Schutz- und Qualitätsniveau erreicht wird. Durch diese Maßnahmen versucht die Kommission, die produktsicherheitsrechtlichen Vorschriften im PSA-Bereich erheblich zu flexibilisieren. Das BMG geht mit der MedBVSV einen ähnlichen Weg und erleichtert den Zugang von PSA auf den deutschen Markt. Fraglich ist nur, welche Rechtsnatur die Empfehlung hat und wie groß ihre Bindungswirkung ist. Eine Rechtsgrundlage für den Erlass von Empfehlungen durch die Kommission findet sich in Art. 292 S. 4 AEUV. Sie sind als unverbindliche Rechtsakte nach Art. 288 Abs. 5 AEUV Bestandteile des soft law der Europäischen Union.32 Eine politisch-steuernde und auch rechtliche Wirkung kann ihnen dennoch nicht abgesprochen werden.33 Aufgrund der Annahme, dass sich die Mitgliedsstaaten kein unionsfeindliches Verhalten vorwerfen lassen wollen und deshalb die Empfehlungen umsetzen, wird ihnen auf jeden Fall eine Steuerungswirkung zugeschrieben.34 Wenn auf Grundlage von Empfehlungen wirtschaftliche Maßnahmen getroffen werden, wird vertreten, dass sich die EU unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes daran festhalten lassen muss.35 30 Mit der CE-Kennzeichnung versichert ein Hersteller, dass sein Produkt mit den Anforderungen, die das Unionsrecht aufstellt, konform ist, Art. 30 Verordnung (EG) 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates (ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 30) 31 Abrufbar unter https://ec.europa.eu/docsroom/documents/40521?locale=de (Stand 16.06.2020). Diese Leitlinien werden nach Angaben der Kommission fortlaufend aktualisiert. 32 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 288 Rn. 95. 33 Ausführlich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 3. Auflage 2017, Bd. I Rn. 905 ff. 34 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. EL 2012, Art. 288 Rn. 208. 35 Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 288 Rn. 37; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht , 8. Auflage 2018, § 9 Rn. 128. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 040/20 Seite 12 Ebenso haben Gerichte sie bei der Entscheidungsfindung zu beachten, insbesondere dann, wenn es um die Auslegung anderer nationaler oder unionsrechtlicher Rechtsakte geht.36 Aus der Berücksichtigungspflicht ergibt sich jedoch keine Befolgungspflicht, es muss sich lediglich mit dem Inhalt der Empfehlung beschäftigt werden.37 Die Empfehlung der Kommission verpflichtet also die Mitgliedsstaaten nicht, sich teilweise von der PSA-Verordnung zu lösen, ermöglicht aber eventuell eine Auslegung dieser dahin, dass in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie, vor allem bei einem vergleichbaren Sicherheits- und Gesundheitsniveau, Ausnahmen vom bestehenden Prüfprogramm gemacht werden dürfen bzw. dass die Standards in den genannten Ländern generell ihren Anforderungen entsprechen. Eine verbindliche Rechtsgrundlage für die Abweichung kann die Empfehlung (EU) 2020/403 allerdings nicht darstellen. 5. Ergebnis Die in der Begründung der MedBVSV angegebenen Kompetenzgrundlagen in Art. 114 Abs. 10, 168 Abs. 7, 347 AEUV sind nach jetzigen Stand nicht geeignet, die Abweichungen von der PSA- Verordnung in § 9 zu rechtfertigen. Wie deutsche und europäische Gerichte diese Situation behandeln würden, ist zum jetzigen Zeitpunkt mangels ähnlich gelagerter Fallkonstellationen noch ungeklärt. Dennoch erkennt die Europäische Kommission in der Empfehlung 2020/403 vom 13. März 2020 an, dass die Flexibilisierung der durchzuführenden Verfahren notwendig ist und versucht durch Anerkennung drittstaatlicher Qualitäts- und Schutzanforderungen, den Mitgliedsstaaten die Einfuhr von PSA zu vereinfachen. Diesen Versuch hat das BMG mit der MedBVSV unternommen. Es bleibt abzuwarten, ob dies unionsgerichtliche Bestätigung findet. - Fachbereich Europa - 36 EuGH, Urteil vom 13.12.1989, Rs. C - 322/88, Rn. 18. 37 W. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 Rn. 131.