© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 038/21 Händlerverifizierung durch Online-Handelsplattformen und Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 2 Händlerverifizierung durch Online-Handelsplattformen und Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 038/21 Abschluss der Arbeit: 01.07.2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Vorgaben des EU-Sekundärrechts 5 2.1. E-Commerce-Richtlinie (Richtlinie 2000/31/EG) 5 2.2. Verordnung (EU) Nr. 910/2014 5 3. Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 ff. AEUV 6 3.1. Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit 6 3.1.1. Online-Händler 7 3.1.2. Online-Handelsplattform 8 3.2. Rechtfertigung eines Eingriffs 8 3.2.1. Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes 8 3.2.2. Verhältnismäßigkeit 9 3.2.2.1. Geeignetheit 9 3.2.2.2. Erforderlichkeit 10 3.2.2.3. Angemessenheit 10 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wurde beauftragt, zu prüfen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar wäre, wenn eine bundesdeutsche Regelung Online-Handelsplattformen mit Sitz in Deutschland verpflichten würde, Anmeldungen von Online-Händlern für die Nutzung der Plattform nur dann zu akzeptieren, wenn deren Identität aufgrund bestimmter technischer Vorgaben verifiziert ist. Hierzu verweist der Auftraggeber auf das Verfahren mittels SMS-Verifizierung. Im Rahmen dieses Verfahrens sendet die Online-Handelsplattform dem Online-Händler zur Verifizierung seiner Identität eine SMS an eine von ihm benannte Mobilfunknummer. In Deutschland ist der anonyme Kauf von sog. Prepaid-Mobilfunkkarten aufgrund von § 111 Abs. 1 Satz 3 ff. Telekommunikationsgesetz ausgeschlossen.1 Konkret möchte der Auftraggeber daher wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar wäre, die o. g. Online-Handelsplattformen aufgrund bundesdeutschem Recht zu verpflichten, Händleranmeldungen nur nach Verifizierung einer deutschen Mobilfunkkarte bzw. einer gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte zu akzeptieren. Hintergrund der Anfrage ist der Verweis des Auftraggebers, dass sich der illegale Handel mit lebenden Tieren zunehmend auf Online-Plattformen verlagere2 und es aufgrund der damit zusammenhängenden Anonymität der Online-Händler den Behörden erschwert werde, illegale Züchter bzw. Händler ausfindig zu machen und strafrechtlich zu verfolgen. Zunächst ist zu untersuchen, ob sich im Hinblick auf eine mitgliedstaatliche Verifizierungspflicht spezifische Vorgaben aus dem EU-Sekundärrecht ergeben (Ziff. 2). Ferner ist zu prüfen, ob eine solche Maßnahme mit den Unionsverträgen und insbesondere mit der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vereinbar wäre (Ziff. 3.). 1 Gemäß § 111 Abs.1 Satz 3 ff. Telekommunikationsgesetz besteht für den Erbringer von Telekommunikationsdiensten bei im Voraus bezahlten Mobilfunkdiensten die Verpflichtung vor Freischaltung des Anschlusses die Identität des Anschlussinhabers zu überprüfen. Im Übrigen hat der Erbringer von Telekommunikationsdiensten verschiedene Daten, wie bspw. den Namen und die Anschrift des Anschlussinhabers, vor der Freischaltung zu erheben und unverzüglich zu speichern, § 111 Abs.1 Satz 1 f. Telekommunikationsgesetz. 2 Vgl. hierzu Deutscher Tierschutzbund e.V., „Illegaler Heimtierhandel in Deutschland - Auswertung bekannt gewordener Fälle aus dem Jahr 2019 - Ausblick Auswertung bekannt gewordener Fälle aus dem Jahr 2020“, (Stand 1/2021) S. 12. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 5 2. Vorgaben des EU-Sekundärrechts 2.1. E-Commerce-Richtlinie (Richtlinie 2000/31/EG) Zunächst ist zu prüfen, ob sich aus der sog. E-Commerce-Richtlinie (Richtlinie 2000/31/EG (RL 2000/31))3 spezifische Regeln für die Zulässigkeit von Verifizierungsanforderungen gegenüber Händlern, die sich bei Online-Handelsplattformen anmelden wollen, ergeben. Art. 3 Abs. 1 RL 2000/31 regelt, dass jeder Mitgliedstaat dafür Sorge trägt, dass die Dienste der Informationsgesellschaft, die von einem in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen Diensteanbieter erbracht werden, den in diesem Mitgliedstaat geltenden innerstaatlichen Vorschriften entsprechen , die in den koordinierten Bereich4 fallen. Dies bedeutet, dass eine in Deutschland niedergelassene Online-Handelsplattform grundsätzlich den deutschen Vorschriften unterfällt und deren Einhaltung von deutschen Behörden kontrolliert wird.5 Zur konkreten Frage der Zulässigkeit von Verifizierungsprüfungen durch Online-Handelsplattformen trifft die E-Commerce-Richtlinie keine ausdrückliche Regelung. Im Hinblick auf Online- Werbung enthält die E-Commerce-Richtlinie Anforderungen an die Identifizierbarkeit der hinter einer Online-Werbung stehenden natürlichen oder juristischen Personen, Art. 6 lit. b) RL 2000/31, nicht jedoch an deren Verifizierung (d. h. an den Nachweis über deren Identität mittels eines technischen Verfahrens). Unter die Regelung in Art. 9 Abs. 1 Satz 2 RL 2000/31, die die Mitgliedstaaten u. a. dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass ihre für den Vertragsabschluss geltenden Rechtsvorschriften keine Hindernisse für die Verwendung elektronischer Verträge bilden, lassen sich Verifizierungsanforderungen mit Blick auf die dazugehörigen Ausnahmen in Art. 9 Abs. 2 RL 2000/31 ebenso nicht fassen. 2.2. Verordnung (EU) Nr. 910/2014 Es ist ferner zu prüfen, ob sich Vorgaben für Verifizierungsanforderungen gegenüber Händlern, die sich bei Online-Handelsplattformen anmelden wollen, aus der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 (VO 910/2014)6 ergeben. 3 RICHTLINIE 2000/31/EG DES EUROPAISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs , im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EG vom 17.7.200, L 178, S. 1. 4 Vgl. die Definition in Art. 2 lit. h) RL 2000/31 „koordinierter Bereich" „die für die Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft und die Dienste der Informationsgesellschaft in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten festgelegten Anforderungen, ungeachtet der Frage, ob sie allgemeiner Art oder speziell für sie bestimmt sind.“. 5 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Hausmann/Obergfell, in: Fezer/Büscher/Obergfell, Lauterkeitsrecht: UWG, 3. Auflage 2016, Band 1, Erster Abschnitt, Teil C. II. 3., lit, c), aa), Rn. 121. 6 VERORDNUNG (EU) Nr. 910/2014 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG, ABl. EU vom 28.8.2014, L 257, S. 73. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 6 Gemäß Art. 1 lit. a) legt die VO 910/2014 u. a. Bedingungen fest, unter denen die Mitgliedstaaten elektronische Identifizierungsmittel für natürliche und juristische Personen, die einem notifizierten elektronischen Identifizierungssystem eines anderen Mitgliedstaats unterliegen, anerkennen. Hierzu legt Art. 6 Abs. 1 VO 910/2014 fest, dass, soweit für den Zugang zu einem von einer öffentlichen Stelle in einem Mitgliedstaat erbrachten Online-Dienst nach nationalem Recht oder aufgrund der Verwaltungspraxis eine elektronische Identifizierung mit einem elektronischen Identifizierungsmittel und mit einer Authentifizierung erforderlich ist, ein in einem anderen Mitgliedstaat ausgestelltes elektronisches Identifizierungsmittel im ersten Mitgliedstaat für die Zwecke der grenzüberschreitenden Authentifizierung für diesen Online-Dienst anerkannt wird, wenn die weiteren in Art. 6 Abs. 1 lit. a) bis c) VO 910/2014 bestimmten Bedingungen erfüllt sind. Ausweislich der vorgenannten Vorschriften regelt die VO 910/2014 u. a. die gegenseitige Anerkennung von mitgliedstaatlichen elektronischen Identifizierungssystemen, nicht jedoch die Zulässigkeit von Verifizierungspflichten für Online-Handelsplattformen. 3. Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 ff. AEUV 3.1. Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit Eine bundesdeutsche Regelung, die Betreiber von Online-Handelsplattformen verpflichten würde, Anmeldungen von Händlern nur dann zu akzeptieren, wenn sie von einer deutschen bzw. verifizierten Mobilfunkkarte erfolgen, müsste mit den Vorgaben der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 ff. AEUV vereinbar sein. Die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV untersagt zunächst Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Europäischen Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind (sog. aktive Dienstleistungsfreiheit).7 Geschützt ist nach der Rechtsprechung des EuGH ferner die sog. passive Dienstleistungsfreiheit, im Rahmen derer sich der Dienstleistungsempfänger in den Mitgliedstaat des Dienstleisters begibt.8 Dienstleistungen im Sinne von Art. 57 AEUV sind Leistungen ,9 die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Die Bereitstellung einer Online-Handelsplattform dürfte nach der Rechtsprechung des EuGH eine Dienstleistung i. S. v. Art. 57 AEUV darstellen, wenn sie entgeltlich10 erfolgt und die Leistung 7 Aus der Literatur Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 34 f.. 8 EuGH, Urt. v. 31.01.1984, Rs. 286/82 und 26/83, Slg. 1984, 377 (Luisi und Carbone), dazu Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 49, 53; ferner Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 36. 9 Als Dienstleistungen gelten gemäß Art. 57 AEUV insbesondere: a) gewerbliche Tätigkeiten, b) kaufmännische Tätigkeiten, c) handwerkliche Tätigkeiten, d) freiberufliche Tätigkeiten. 10 EuGH, Urt. v. 12.12.1974, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 Rn. 4/10 (Walrav), dazu Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 19. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 7 grenzüberschreitend in der EU angeboten wird.11 Nach den gleichen Kriterien dürfte es sich beim Online-Handel um eine Dienstleistung i. S. v. Art. 57 AEUV darstellen In den persönlichen Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit fallen sowohl der in der Union ansässige Leistungserbringer als auch der Leistungsempfänger.12 Eine Beschränkung liegt nach der Rechtsprechung des EuGH vor, wenn Maßnahmen bestehen, die die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit „unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen“.13 3.1.1. Online-Händler Ein Erfordernis, die Anmeldung von Händlern an Online-Handelsplattformen auf von Inhabern deutscher Mobilfunkkarten bzw. gleichwertig verifizierter Mobilfunkkarten zu beschränken, dürfte einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit der jeweiligen Online-Händler darstellen, die die Inanspruchnahme der Dienste der in Deutschland ansässigen Online-Handelsplattformen bzw. die Erbringung der eigenen Dienstleistung behindert oder zumindest weniger attraktiv macht. Der EuGH unterscheidet hinsichtlich der Qualität von Eingriffen im Grundsatz zwischen (offen bzw. versteckten) diskriminierenden und sonstigen, d. h. unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen .14 Zu prüfen wäre für die vorgenannte Regelung das Vorliegen einer sog. versteckten bzw. mittelbaren Diskriminierung. Mittelbare Diskriminierungen liegen immer dann vor, wenn es durch eine Maßnahme zu einer Ungleichbehandlung kommt, die nicht offen an die Staatsangehörigkeit anknüpft, aber durch die EU-Ausländer faktisch Nachteile gegenüber Inländern haben.15 Eine mittelbare Diskriminierung könnte dann bestehen, wenn sich EU-ausländische Händler, die nicht über eine deutsche Mobilfunkkarte verfügen, nicht bei inländischen Online-Handelsplattformen anmelden können, da bspw. ihre nationalen Mobilfunkbetreiber die entsprechenden Verifizierungsanforderungen aufgrund deren mitgliedstaatlichen Vorgaben nicht erfüllen und keine andere Möglichkeit zur Verifizierung besteht.16 Soweit eine diskriminierende Wirkung nicht vorliegt , dürfte durch die Verifizierungsanforderungen eine sonstige Beeinträchtigung zu sehen sein. 11 EuGH, Urt. v. 30.04.1974, Rs. 155/73, Slg. 1974, 409 (Sacchi), dazu Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 40. 12 EuGH, Urt. v. 31.01.1984, Rs. 286/82 und 26/83, Slg. 1984, 377 (Luisi und Carbone), dazu Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 49, 53. 13 EuGH, Urt. v. 20.02.2001, Rs. C-205/99, Slg. 2001, I-1271, Rn. 21 (Analir) m. w. N. aus der Rechtsprechung, dazu Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 70. 14 Vgl. die Ausführungen bei Kluth, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 57 AEUV, Rn. 54 ff.; siehe dazu auch Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 102 ff.. 15 Kluth, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 57 AEUV, Rn. 56. 16 Vgl. hierzu auch Art. 16 Abs. 1 UAbs. 3 lit. a) der Dienstleistungsrichtlinie (RICHTLINIE 2006/123/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt , ABl. EG vom 27.12.2006, L 376, S. 36); zur Frage der Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie neben dem Primärrecht, vgl. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 137, m. w. N. aus dem Schrifttum. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 8 Mangels konkreter Umstände kann eine abschließende Bewertung nicht erfolgen. 3.1.2. Online-Handelsplattform Von der Verifizierungspflicht dürfte ferner die Dienstleistungsfreiheit des deutschen Anbieters einer Online-Handelsplattform betroffen sein, da sie sein Angebot – insbesondere gegenüber einem ausländischen Anbieter, der seine Dienste in Deutschland anbietet, ohne an die Verifizierungspflicht gebunden zu sein – u. U. weniger attraktiv macht. Nachteile entstehen dem deutschen Anbieter der Online-Handelsplattform gegenüber dem EU-ausländischen Anbieter bspw. durch die für die Erfüllung der Verifizierungspflicht entstehenden Kosten bzw. dadurch, dass einige EU-ausländische Händler mangels einer deutschen bzw. gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte auf die Nutzung deutscher Online-Handelsplattformen verzichten. 3.2. Rechtfertigung eines Eingriffs 3.2.1. Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit können gemäß Art. 62 AEUV i. V. m. Art. 52 Abs. 1 AEUV aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt werden.17 Darüber hinaus hat der EuGH für unterschiedslos wirkende Maßnahmen zusätzlich eine Vielzahl von Rechtfertigungsgründen als sog. zwingende Gründe des Allgemeinwohls anerkannt.18 Denkbar wäre eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung bzw. des Gesundheitsschutzes . Eine Rechtfertigung aufgrund der öffentlichen Ordnung kommt in Betracht, wenn die nationale Maßnahme einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung begegnen soll, die ein Grundinteresse der Gesellschaft und ihre elementaren unverzichtbaren Grundregeln berührt .19 Der Gesundheitsschutz umfasst nach Ansicht in der Literatur u. a. den Schutz vor Krankheitsgefahren für große Bevölkerungsteile, insbesondere vor übertragbaren epidemischen Krankheiten, soweit diese von der Art. 29 der Richtlinie 2004/38/EG (RL 2004/38)20 umfasst sind.21 Gemäß 17 Vgl. hierzu die Ausführungen von Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 52 AEUV, Rn. 7-13. 18 Vgl. dazu grundlegend EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, 650, Rn. 8 (Cassis de Dijon); für die Dienstleistungsfreiheit vgl. EuGH, Urt. v. 3.4.2008, Rs. C-346/06), Rn. 42 (Rüffert); siehe ferner hierzu die Darstellung von Müller-Graf, in Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 106 ff. mit weiteren Beispielen ; zudem Kluth, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 57 AEUV, Rn. 72. 19 EuGH, Urt. v. 28. 10. 1975, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 26 ff. (Rutili), vgl. dazu Kainer, in: Pechstein/Nowak /Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 52 AEUV, Rn. 9. 20 RICHTLINIE 2004/38/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77). 21 Vgl. Kainer, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 52 AEUV, Rn. 11; Korte, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 52 AEUV, Rn. 14. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 9 Art. 29 Abs. 1 RL 2004/38 gelten als Krankheiten, die eine die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme rechtfertigen, ausschließlich die Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats getroffen werden. Gründe der öffentlichen Ordnung könnten für eine Rechtfertigung in Betracht kommen, wenn durch die Beschränkung der Möglichkeit, anonym als Händler auf Online-Handelsplattformen tätig zu sein, nachweislich auch die Handlungsmöglichkeiten organisierter Kriminalität eingeschränkt würden. Eine Berufung auf den Gesundheitsschutz wäre vorstellbar, wenn durch die genannten Maßnahmen die Verbreitung von Zoonosen durch illegalen Tierhandel eingeschränkt werden könnten. Mangels konkreter Umstände kann eine umfängliche Prüfung des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes an dieser Stelle nicht erfolgen. 3.2.2. Verhältnismäßigkeit Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit müsste die genannte Verifizierungspflicht ferner verhältnismäßig sein.22 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des rechtmäßig verfolgten Ziels zu gewährleisten, ohne darüber hinauszugehen , was hierzu erforderlich ist.23 3.2.2.1. Geeignetheit Eine Maßnahme ist zunächst dann geeignet, wenn es für das Erreichen des verfolgten Rechtfertigungsgrundes tatsächlich förderlich ist. Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einer Maßnahme vielmehr einen Prognosespielraum.24 Verlangt wird allerdings , dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.25 Die Verpflichtung von Online-Handelsplattformen, Händleranmeldungen nur nach Verifizierung einer deutschen Mobilfunkkarte bzw. einer gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte zu akzeptieren , erscheint zur Verfolgung der vorgenannten Ziele im Bereich der öffentlichen Ordnung bzw. 22 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-299/02, Slg. 2004, I- 9783, Rn. 18 (Kommission/Niederlande); EuGH, Urt. v. 9.7.1997, verb. Rs. C-34/95, C-35/95, C-36/95, Slg. 1997, I-3875, Rn. 54 (KO/De Agostini u. a.); vgl. ferner EuGH, Urt. v. 19.06.2008, Rs. C-319/06, ECLI:EU:C:2008:350, Rn. 52 (Kommission/Luxemburg). 23 Vgl. hierzu bspw. EuGH, Urt. v. 9.7.1997, verb. Rs. C-34/95, C-35/95, C-36/95, Slg. 1997, I-3875, Rn. 54 (KO/De Agostini u. a.). 24 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076), Rn. 63 (Gambelli u. a). 25 EuGH, Urt. v. 17.7.2008, Rs. C-500/06, ECLI:EU:C:2008:421, Rn. 39 f. (Corporación Dermoestética SA/To Me Group Advertising Media). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 10 Gesundheit zielführend. Durch die genannte Verifizierung erscheint die Identifizierung der jeweiligen Händler möglich, wodurch die zuständigen Behörden im Falle eines Verdachts von illegalen Geschäften mit Tieren in der Lage wären, weitere Untersuchungen anzustellen. Allerdings kann durch das SMS-Verifizierungsverfahren nicht ausgeschlossen werden, dass der Online- Händler und der Inhaber der Mobilfunkkarte personenverschieden sind. Im Hinblick auf die Erreichung der vorgenannten Ziele wäre jedoch auch zu berücksichtigen, dass Händler möglicherweise über im Ausland ansässige Online-Handelsplattformen in Deutschland tätig sein könnten und somit die deutsche Verifizierungspflicht umgehen könnten. 3.2.2.2. Erforderlichkeit Bejaht man die Geeignetheit einer Maßnahme, wäre in der Folge deren Erforderlichkeit zu prüfen . Diese fehlt nach der Rechtsprechung des EuGH im Grundsatz, wenn der angestrebte Zweck mit einem genauso wirksamen Mittel erreicht werden kann, das die Dienstleistungsfreiheit weniger beschränkt.26 Zwischen verschiedenen zur Erreichung desselben Ziels geeigneten Mitteln hat der Mitgliedstaat dasjenige auszuwählen, mit dem die geringsten Beeinträchtigungen einhergehen .27 Die Verpflichtung von Online-Handelsplattformen, Händleranmeldungen nur nach Verifizierung einer deutschen Mobilfunkkarte bzw. einer gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte zu akzeptieren , erscheint eine effektive Maßnahme um die Identität von Online-Händlern nachweisbar zu ermitteln und damit möglicherweise illegale Geschäfte nachverfolgen zu können. Andere gleich wirksame aber weniger eingreifende Maßnahmen zur Verifizierung einer Person dürften zudem nicht ersichtlich sein. Eine denkbare freiwillige Verifizierung wäre – als milderes Mittel – nicht gleich effektiv. Die bereits angesprochene Regelung zur Identifizierbarkeit von hinter Online- Werbung stehenden natürlichen oder juristischen Personen gemäß Art. 6 lit. b) RL 2000/31 stellt ferner eine mildere Maßnahme dar. Allerdings erscheint diese Maßnahme nicht gleichsam wirksam , da ohne das Verifizierungsverfahren kein Nachweis über die Identität der jeweiligen Person erbracht wird. Für eine abschließende Bewertung käme es auf die konkreten Einzelumstände an. 3.2.2.3. Angemessenheit Letztlich müsste die Verpflichtung von Online-Handelsplattformen, Händleranmeldungen nur nach Verifizierung einer deutschen Mobilfunkkarte bzw. einer gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte zu akzeptieren im engeren Sinne angemessen sein. Zu prüfen wäre insoweit die kon- 26 EuGH, Urt. v. 25.7.1991, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4035, Rn. 15 (Stichting Collective Antennevoorziening Gouda u. a./Commissariat voor de Media). 27 EuGH, Urt. v. 25.7.1991, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4035, Rn. 15 (Stichting Collective Antennevoorziening Gouda u. a./Commissariat voor de Media). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 038/21 Seite 11 krete Zweck-Mittel-Relation. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung führt der EuGH eine Güterabwägung durch, bei der er die abstrakte Gewichtigkeit des betroffenen Schutzgutes, die Intensität der konkreten Bedrohung sowie die Besonderheiten des Falles einfließen lässt.28 Anknüpfungspunkt für eine Prüfung der Angemessenheit könnte der Umstand sein, ob und inwieweit sich die Anforderungen zur Erfüllung der Verifizierungspflicht durch EU-ausländische und inländische Händler unterscheiden. Je schwieriger bspw. die Anforderungen von ausländischen Händlern im Vergleich zu deutschen Händlern zu erfüllen sind, desto mehr spricht gegen die Angemessenheit der Maßnahme. Werden EU-ausländische Online-Händler aufgrund der Verifizierungspflicht praktisch vom Zugang zu in Deutschland ansässigen Online-Handelsplattformen ausgeschlossen, bliebe wenig Raum für die Annahme der Angemessenheit. Für die Prüfung, ob eine deutsche Verpflichtung von Online-Handelsplattformen, Händler-Anmeldungen nur nach Verifizierung einer deutschen Mobilfunkkarte bzw. einer gleichwertig verifizierten Mobilfunkkarte zu akzeptieren mit Art. 56 AEUV vereinbar wäre, müsste jedoch eine genaue Analyse der Auswirkungen der mitgliedstaatlichen Maßnahme in ihrer konkreten Form erfolgen, die an dieser Stelle nicht vorgenommen werden kann. Eine abschließende Entscheidung bleibt dem EuGH vorbehalten. – Fachbereich Europa – 28 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.7.1997, verb. Rs. C-34/95, C-35/95, C-36/95, Slg. 1997, I-3875, Rn. 54 (KO/De Agostini u. a.); ferner die Ausführungen von Müller-Graf in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 56 AEUV, Rn. 115 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung.