© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 037/21 Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie Zur Frage der Notifizierungspflicht gemäß Richtlinie (EU) 2015/1535 Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 2 Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie Zur Frage der Notifizierungspflicht gemäß Richtlinie (EU) 2015/1535 Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 037/21 Abschluss der Arbeit: 7. Juni 2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtlicher Rahmen 5 2.1. Das Notifizierungsverfahren gemäß Richtlinie 2015/1535 (Info-RL) 5 2.2. Die Vorgaben der Richtlinie 2019/1152 (DigRL) 6 2.3. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der DigRL (DiRUG-E) 7 3. Zur Frage nach dem Bestehen einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung bestimmter Gesellschaftsformen 8 3.1. Notifizierungspflicht für „Vorschriften betreffend Dienste“ (Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Info-RL) 8 3.1.1. Vorliegen der geschriebenen Begriffsmerkmale 8 3.1.2. Eingreifen einer ungeschriebenen Ausnahme unklar 10 3.2. Ausnahme von der Notifizierungspflicht für Vorschriften, durch die die Mitgliedstaaten „verbindlichen Rechtsakten der Union […] nachkommen“ (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL) 11 3.2.1. Keine eindeutige Rechtsprechung zu Umsetzungsspielräumen 11 3.2.2. Auslegung nach Wortlaut, Zweck und Systematik 13 3.2.3. Fazit 15 4. Zur Frage nach Möglichkeiten zur Vermeidung einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften durch Aufnahme einer Verordnungsermächtigung 15 4.1. Vorüberlegungen 15 4.1.1. Prämisse des Bestehens einer Notifizierungspflicht 15 4.1.2. Folgen eines Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht 16 4.2. Vermeidung einer möglichen Notifizierungspflicht 16 5. Ergebnis 17 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich Europa ist um Auskunft gebeten worden, ob bestimmte Vorschriften des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG-E)1 der Notifizierungspflicht gemäß der Richtlinie (EU) 2015/1535 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft2 (Info-RL) unterliegen. Im Einzelnen wird gefragt, ob es sich bei den Vorschriften des DiRUG-E über die Einführung eines notariellen Online-Verfahrens für Beurkundungen und Beglaubigungen (insb. §§ 16a ff. BeurkG-E; § 78p BnotO-E) um „Vorschriften betreffend Dienste“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Info-RL handelt und ob diese als Maßnahme zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DigRL)3 der Ausnahme gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL unterfallen. Ferner wird gefragt, ob diese Ausnahmebestimmung auch auf diejenigen Vorschriften des DiRUG-E anwendbar ist, welche die Vorgaben der DigRL überschießend umsetzen, indem sie das nach der DigRL nur für bestimmte Gesellschaftsformen vorgeschriebene Online-Verfahren auch für die Gründung von Genossenschaften vorsehen. Ergänzend werden Überlegungen angestellt, ob eine mögliche Notifizierungspflichtigkeit dieser Vorschriften des DiRUG-E vermieden werden könnte, indem die Einbeziehung der Genossenschaften aus dem DiRUG-E gestrichen und lediglich eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung aufgenommen würde. Im Anschluss an Ausführungen zum rechtlichen Rahmen (hierzu unter 2.) werden die aufgeworfenen Fragen nach dem Bestehen einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung bestimmter Gesellschaftsformen (hierzu unter 3.) sowie nach den Möglichkeiten zur Vermeidung einer Notifizierungspflicht der Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften durch Aufnahme einer Verordnungsermächtigung beantwortet (hierzu unter 4.). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (hierzu unter 5.). 1 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG), Drucksache 19/28177, 01.04.2021. 2 Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft . 3 Richtlinie (EU) 2019/1151 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht . Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 5 2. Rechtlicher Rahmen 2.1. Das Notifizierungsverfahren gemäß Richtlinie (EU) 2015/1535 (Info-RL) Der Erlass technischer Vorschriften durch die Mitgliedstaaten kann zu Hindernissen für den grenzüberschreitenden Austausch von Waren und Dienstleistungen führen.4 Um derartige Beeinträchtigungen für Binnenmarkt und Wettbewerb bereits in der Entstehung zu vermeiden, verfolgt die Info-RL das Ziel, in diesem Bereich für eine größere Transparenz zu sorgen.5 Zu diesem Zweck enthält die Info-RL eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, jeden Entwurf einer technischen Vorschrift an die Kommission zu übermitteln und sie gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe zu unterrichten, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen (Art. 5 Abs. 1). Der Begriff der „technischen Vorschrift“ umfasst neben technischen Spezifikationen, in denen die Merkmale von Erzeugnissen festgelegt sind, und sonstigen Vorschriften betreffend den Lebenszyklus eines Erzeugnisses auch „Vorschriften betreffend Dienste“, welche sich auf „Dienstleistungen der Informationsgesellschaft“ beziehen (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. b-f). Durch diese Mitteilung erhalten die Kommission sowie die anderen Mitgliedstaaten Gelegenheit, zu dem Entwurf eine Stellungnahme abzugeben, die der Mitgliedstaat bei der weiteren Ausarbeitung der technischen Vorschrift so weit wie möglich zu berücksichtigen hat (Art. 5 Abs. 2). Es ist den Mitgliedstaaten untersagt, den Entwurf einer technischen Vorschrift vor Ablauf von drei Monaten nach Eingang der betreffenden Mitteilung anzunehmen (Art. 6 Abs. 1). Diese Stillhaltefrist kann sich unter bestimmten Voraussetzungen auf vier, sechs, zwölf bzw. 18 Monate verlängern (Art. 6 Abs. 2-7). Eine Missachtung dieses Notifizierungsverfahrens führt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zur Unanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften.6 Dies gilt allerdings nur, soweit die betreffenden Vorschriften die Verwendung oder den Vertrieb eines mit diesen Vorschriften nicht konformen Produkts behindern, hat aber nicht zur Folge, dass jede Verwendung eines Produkts rechtswidrig ist, das mit den nicht mitgeteilten Vorschriften konform ist.7 Schließlich ist zu beachten, dass das Notifizierungsverfahren nicht für Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten gilt, durch die die Mitgliedstaaten den verbindlichen Rechtsakten der Union, mit denen technische Spezifikationen oder Vorschriften betreffend Dienste in Kraft gesetzt werden, nachkommen (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a). 4 Vgl. ErwG 2 und 4 der Info-RL. 5 Vgl. ErwG 3 und 9 der Info-RL. 6 EuGH, Rs. C‑336/14, Ince, Rn. 67, dort mit weiteren Nachweisen. 7 EuGH, Rs. C-226/97, Lemmens, Rn. 35. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 6 2.2. Die Vorgaben der Richtlinie 2019/1152 (DigRL) Durch die Richtlinie (EU) 2019/1152 (DigRL)8 wurde die Richtlinie (EU) 2017/1132 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts (GesRRL)9 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht geändert. Im Wesentlichen verpflichtet die DigRL die Mitgliedstaaten zur Festlegung von Verfahren, durch die u. a. eine Online-Gründung in Bezug auf bestimmte Formen von Gesellschaften ermöglicht wird. Nach der zentralen Bestimmung in Art. 13g GesRRL haben die Mitgliedstaaten hierfür „detaillierte Regelungen“ festzulegen (Abs. 2). Die Details der zu treffenden Regelungen werden durch diese Bestimmung jedoch nicht im Einzelnen vorgegeben. Es werden vielmehr lediglich verschiedene Aspekte genannt, die von den mitgliedstaatlichen Regelungen mindestens zu umfassen sind (Abs. 3) und die von ihnen umfasst werden können (Abs. 4). Durch diese Vorgaben wird der von der DigRL ausdrücklich anerkannte Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten (vgl. auch ErwG 19) eingegrenzt. Die genannten Absätze des Art. 13g GesRRL haben folgenden Wortlaut : „Artikel 13g Online-Gründung von Gesellschaften (1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 13b Absatz 4 und des Absatzes 8 dieses Artikels, dass die Online-Gründung von Gesellschaften vollständig online durchgeführt werden kann, ohne dass die Antragsteller persönlich vor Behörden, Personen oder Stellen, nach nationalem Recht mit der Bearbeitung von Aspekten der Online-Gründung von Gesellschaften, einschließlich der Erstellung des Errichtungsakts einer Gesellschaft, betrauten sind, erscheinen müssen. Die Mitgliedstaaten können sich jedoch dafür entscheiden, für Rechtsformen von Gesellschaften , bei denen es sich nicht um die in Anhang IIA genannten Rechtsformen handelt, keine Verfahren für die Online-Gründung anzubieten. (2) Die Mitgliedstaaten legen detaillierte Regelungen für die Online-Gründung von Gesellschaften fest, einschließlich der Regelungen für die Verwendung von Mustern nach Artikel 13h und die für die Gründung einer Gesellschaft erforderlichen Urkunden und Informationen . Im Rahmen dieser Regelungen sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass diese Online-Gründung durch die Übermittlung von Urkunden oder Informationen in elektronischer Form, einschließlich elektronischer Kopien der in Artikel 16a Absatz 4 genannten Urkunden und Informationen, abgewickelt werden kann. 8 Richtlinie (EU) 2019/1151 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht . 9 Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 7 (3) Die in Absatz 2 genannten Regelungen umfassen mindestens Folgendes: a) die Verfahren zur Gewährleistung der erforderlichen Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Antragssteller und ihrer Befugnis zur Vertretung der Gesellschaft; b) die Mittel zur Überprüfung der Identität der Antragsteller gemäß Artikel 13b; c) die Verpflichtung der Antragsteller, in der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 genannte Vertrauensdienste zu nutzen; d) die Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Unternehmensgegenstands, sofern im Rahmen des nationalen Rechts vorgesehen; e) die Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Namens der Gesellschaft, sofern im Rahmen des nationalen Rechts vorgesehen; f) die Verfahren zur Überprüfung der Bestellung von Geschäftsführern. (4) Die in Absatz 2 genannten Vorschriften können zudem insbesondere Folgendes umfassen : a) die Verfahren zur Gewährleistung der Rechtmäßigkeit des Errichtungsakts der Gesellschaft , einschließlich der Überprüfung der ordnungsgemäßen Verwendung von Mustern; b) die Folgen der Disqualifikation eines Geschäftsführers durch die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats; c) die Rolle eines Notars oder jeder anderen Person oder Stelle, die nach nationalem Recht mit der Bearbeitung von Aspekten der Online-Gründung von Gesellschaften betraut ist; d) der Ausschluss einer Online-Gründung, wenn das Gesellschaftskapital in Sachleistungen zu erbringen ist.“ (Unterstreichung hinzugefügt) 2.3. Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der DigRL (DiRUG-E) Die Vorschriften im DiRUG-E über die Einführung von Beurkundungen mittels Videokommunikation dienen der Umsetzung der entsprechenden Vorgaben der DigRL.10 Zur Begrenzung des Gegenstands der vorliegenden Untersuchung wird im Weiteren davon ausgegangen – und wäre somit ggf. gesondert zu überprüfen –, dass die betreffenden Vorschriften des DiRUG-E (insb. §§ 16a ff. BeurkG-E; § 78p BnotO-E) u. a. die nach Art. 13g GesRRL bei der Festlegung der 10 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG), Drucksache 19/28177, 01.04.2021, S. 113 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 8 „detaillierten Regelungen“ zu beachtenden Grenzen des mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraums wahren. Es ist an dieser Stelle lediglich anzumerken, dass das DiRUG-E die Vorgaben der DigRL insoweit überschießend umsetzt, als es sich nicht auf die in Art. 13 GesRRL genannten Gesellschaftsformen beschränkt, sondern das Online-Verfahren auch für die Gründung von Genossenschaften vorsieht.11 3. Zur Frage nach dem Bestehen einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung bestimmter Gesellschaftsformen 3.1. Notifizierungspflicht für „Vorschriften betreffend Dienste“ (Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Info-RL) 3.1.1. Vorliegen der geschriebenen Begriffsmerkmale Die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung bestimmter Gesellschaftsformen erfüllen die in Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Info-RL festgelegten (geschriebenen) Merkmale des Begriffs „Vorschriften betreffend Dienste“. Nach dieser Begriffsdefinition werden hiervon Vorschriften über den Zugang zu Diensten der Informationsgesellschaft erfasst oder Vorschriften über die Betreibung solcher Dienste; ausgenommen sind Vorschriften, die nicht speziell auf solche Dienste abzielen: „Artikel 1 (1) Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: […] e) „Vorschrift betreffend Dienste“ eine allgemein gehaltene Vorschrift über den Zugang zu den Aktivitäten der unter Buchstabe b genannten Dienste und über deren Betreibung, insbesondere Bestimmungen über den Erbringer von Diensten, die Dienste und den Empfänger von Diensten, unter Ausschluss von Regelungen, die nicht speziell auf die unter dieser Nummer definierten Dienste abzielen. Im Sinne dieser Definition i) gilt eine Vorschrift als speziell auf Dienste der Informationsgesellschaft abzielend, wenn sie nach ihrer Begründung und ihrem Wortlaut insgesamt oder in Form einzelner Bestimmungen ausdrücklich und gezielt auf die Regelung dieser Dienste abstellt; ii) ist eine Vorschrift nicht als speziell auf die Dienste der Informationsgesellschaft abzielend zu betrachten, wenn sie sich lediglich indirekt oder im Sinne eines Nebeneffekts auf diese Dienste auswirkt;“ 11 Vgl. auch Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG), Drucksache 19/28177, 01.04.2021, S. 93. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 9 Die vorliegend zu beurteilenden Vorschriften des DiRUG-E über ein Online-Verfahren könnten wohl allenfalls insoweit unter die Begriffsbestimmung zu fassen sein, als sie sich auf die vom Notar erbrachte Dienstleistung der Beurkundung beziehen und somit allgemein gehaltene Vorgaben für die Betreibung solcher Dienste enthalten. Bei einer im Wege eines Online-Verfahrens vorgenommenen notariellen Beurkundung dürfte es sich zudem um eine „Dienstleistung der Informationsgesellschaft“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. b Info-RL handeln, also um eine in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung: „b) „Dienst“ eine Dienstleistung der Informationsgesellschaft, d. h. jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung. Im Sinne dieser Definition bezeichnet der Ausdruck i) „im Fernabsatz erbrachte Dienstleistung“ eine Dienstleistung, die ohne gleichzeitige physische Anwesenheit der Vertragsparteien erbracht wird; ii) „elektronisch erbrachte Dienstleistung“ eine Dienstleistung, die mittels Geräten für die elektronische Verarbeitung (einschließlich digitaler Kompression) und Speicherung von Daten am Ausgangspunkt gesendet und am Endpunkt empfangen wird und die vollständig über Draht, über Funk, auf optischem oder anderem elektromagnetischem Wege gesendet, weitergeleitet und empfangen wird; iii) „auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung“ eine Dienstleistung die durch die Übertragung von Daten auf individuelle Anforderung erbracht wird. Eine Beispielliste der nicht unter diese Definition fallenden Dienste findet sich in Anhang I;“ (Unterstreichung hinzugefügt) Die Dienstleistung eines Notars, die darin besteht, den Empfängern eine Online-Beurkundung gemäß den gesetzlichen Vorgaben anzubieten, zählt zwar nicht zu den typischen Dienstleistungen der Informationsgesellschaft, auf die die Richtlinie anwendbar ist.12 Auch liegt zu diesem speziellen Anwendungsfall, soweit ersichtlich, keine Rechtsprechung des EuGH vor. Allerdings dürfte eine solche notarielle Dienstleistung die Begriffsmerkmale einer „Dienstleistung der Informationsgesellschaft“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. b i)-iii) Info-RL erfüllen, jedenfalls soweit die Voraussetzungen des DiRUG-E (vgl. § 13b) für eine nicht gleichzeitige physische Anwesenheit der Vertragsparteien gegeben sind (i) und die Dienstleistung elektronisch (ii) und durch 12 Vgl. die beispielhafte Nennung in Europäische Kommission, Vademecum zur Richtlinie (EU) 2015/1535, 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/de/the-20151535-and-you/being-informed /guidances/vademecum/, S. 13: „Beispiele für Dienste, die unter die Richtlinie fallen, sind allgemeine Online -Informationsdienste (Zeitungen, Datenbanken usw.), Fernüberwachungstätigkeiten, interaktives Teleshopping , elektronische Post, Online-Flugreservierungen, freiberufliche Online-Dienstleistungen (Zugang zu Datenbanken , Fehlersuche usw.), Online-Vermittlungsdienste zur Kontaktvermittlung zwischen potenziellen Gästen und professionellen oder nicht professionellen Gastgebern, die Kurzzeitunterkünfte anbieten, gegen Entgelt“. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 10 Übertragung von Daten auf individuellen Abruf (iii) erbracht wird. Das Vorliegen einer Dienstleistung der Informationsgesellschaft lässt sich jedenfalls an keinem der genannten Begriffsmerkmale eindeutig ausschließen.13 3.1.2. Eingreifen einer ungeschriebenen Ausnahme unklar Unklar ist, ob der Begriff „Vorschrift betreffend Dienste“ im Lichte der Zielsetzung der Info-RL einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass nur solche Vorschriften darunter fallen, von denen überhaupt ein Hindernis für den grenzüberschreitenden Austausch von Dienstleistungen ausgeht. Für eine solche Beschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf mögliche Grundfreiheitsbeschränkungen könnten die Feststellungen des EuGH im Kontext der Warenverkehrsfreiheit angeführt werden, wonach die durch die Info-RL bezweckte „präventive Kontrolle […] insofern geboten [sei], als die unter die Richtlinie fallenden technischen Vorschriften den innergemeinschaftlichen Warenverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell beeinträchtigen können“.14 Mit dieser Formulierung greift der EuGH seine Rechtsprechung zum Vorliegen einer (rechtfertigungsbedürftigen) Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit nach dem Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung gemäß Art. 34 AEUV auf, welche er in seinem Urteil in der Rechtssache Keck und Mithouard15 auf Marktzugangshindernisse begrenzt hat. Auch in seiner Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer (rechtfertigungsbedürftigen) Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit stellt der EuGH regelmäßig darauf ab, ob die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen „den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten betreffen und somit den innergemeinschaftlichen Handel behindern“16 oder ob die Maßnahme „die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen erschwert, die innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats stattfindet“.17 Dies könnte mit Blick auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Einführung eines notariellen Online-Verfahrens für Beurkundungen und Beglaubigungen bezweifelt werden, weil durch sie die Erbringung von derartigen notariellen Dienstleistungen bei der Gründung von Genossenschaften überhaupt erst ermöglicht wird, was grundsätzlich zum Abbau grenzüberschreitender Handelshemmnissen beitragen dürfte. Ganz besonders für die im EU-Ausland ansässigen Unternehmen wird durch ein solches Online-Verfahren der Zugang zu den betreffenden notariellen Dienstleistungen erleichtert. Andererseits könnte darauf verwiesen werden, dass jede einzelstaatliche Maßnahme stets auch zur Entstehung oder Verfestigung von Unterschieden zwischen den 13 Vgl. die in Anhang I der Info-RL aufgeführte „Beispielliste der nicht unter Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b fallenden Dienste“, die vorliegend nicht einschlägig sein dürfte. 14 EuGH, Rs. C-13/96, Bic Benelux, Rn. 19. 15 EuGH, Rs. C-267/91, Keck und Mithouard, Rn. 17. 16 Siehe nur EuGH, Rs. C‑577/11, DKV Belgium, Rn. 33; EuGH, Rs. C‑518/06, Kommission/Italien, Rn. 64, dort mit weiteren Nachweisen. 17 EuGH, verb. Rs. C‑544/03 und C‑545/03, Mobistar u. a., Rn. 30. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 11 Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beiträgt, die ihrerseits eine den Handel behindernder Wirkung entfalten können. Die Möglichkeit des Vorliegens einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit wäre vorliegend jedenfalls nicht etwa deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil mit einer notariellen Beurkundung besonderen Rechtswirkungen verbunden sind. Hierzu hat der EuGH ausdrücklich klargestellt , dass die Tätigkeit von Notaren auch in Bezug auf Beurkundungen nicht der Bereichsausnahme gemäß Art. 51 AEUV (Ausübung öffentlicher Gewalt) unterfällt.18 Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten, dass mangels eindeutiger Rechtsprechung des EuGH nicht abschließend geklärt werden kann, ob aus dem Begriff „Vorschriften betreffend Dienste“ im Lichte der Zielsetzung der Info-RL solche Vorschriften auszuschließen sind, von denen bereits keine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung der Grundfreiheiten ausgeht. 3.2. Ausnahme von der Notifizierungspflicht für Vorschriften, durch die die Mitgliedstaaten „verbindlichen Rechtsakten der Union […] nachkommen“ (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL) Soweit es sich bei einer im Wege eines Online-Verfahrens vorgenommenen notariellen Beurkundung um eine Dienstleistung der Informationsgesellschaft handelt, ist diese grundsätzlich notifizierungspflichtig gemäß Art. 5 Abs. 1 Info-RL. Eine Ausnahme von der Notifizierungspflicht gilt nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL u. a. für Vorschriften, „durch die die Mitgliedstaaten den verbindlichen Rechtsakten der Union, mit denen technische Spezifikationen oder Vorschriften betreffend Dienste in Kraft gesetzt werden, nachkommen“. Wie bereits dargestellt, sind die Mitgliedstaaten aufgrund der DigRL zwar zur Festlegung von Verfahren verpflichtet, durch die eine Online-Gründung in Bezug auf bestimmte Formen von Gesellschaften ermöglicht wird. Bei der Ausgestaltung der Einzelheiten räumt die DigRL ihnen jedoch einen Spielraum ein, der dahingehend begrenzt ist, dass sowohl die zwingenden, als auch die fakultativ zu regelnden Aspekte vorgegeben werden (siehe unter 2.2.). Es stellt sich daher die Frage, ob die Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL auch auf solche Vorschriften der Mitgliedstaaten anzuwenden ist, für die der betreffende Unionsrechtsakt den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt. 3.2.1. Keine eindeutige Rechtsprechung zu Umsetzungsspielräumen Der EuGH hat sich bislang nur in wenigen Urteilen mit der Auslegung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL (bzw. ihren Vorgängerbestimmungen in Art. 8 Richtlinie 83/189 und 18 EuGH, Rs. C-54/08, Kommission/Deutschland, Rn. 78 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 12 Art. 10 Richtlinie 98/34/EG) befasst, die jedoch für die Frage ihrer Anwendung auf mitgliedstaatliche Maßnahmen bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen keine eindeutige Linie erkennen lassen.19 In der Rechtssache Albers u. a.20 ging es um ein niederländisches Verbot, Mastrinder, die älter als 14 Wochen sind und denen bestimmte Tierarzneimittel verabreicht wurden, zu halten, vorrätig zu halten, zu kaufen oder zu verkaufen. Der Inhalt dieser Vorschrift war nicht vollständig durch die betreffende Richtlinie über die Untersuchung von Tieren und von frischem Fleisch auf Rückstände determiniert. Vielmehr sah die fragliche Richtlinienbestimmung lediglich vor, dass „in Fällen, in denen die Untersuchung das Vorhandensein verbotener Stoffe ergibt, die Tiere nicht für den Verbrauch durch Menschen oder Tiere in den Verkehr gebracht werden dürfen“. 21 Unter pauschalem Verweis darauf, dass die Niederlande mit dem Verbot ihre Verpflichtung aus dieser Richtlinienbestimmung erfüllte, sah er die Voraussetzung einer Ausnahme von der Notifizierungspflicht als gegeben an.22 In seinem späteren Urteil in der Rechtssache Unilever23 legte der EuGH ein auf den ersten Blick deutlich engeres Verständnis der Ausnahme zugrunde. In dem Ausgangsverfahren ging es um eine italienische Vorschrift aus dem Jahr 1998 über die Angabe des Ursprungs von Olivenöl auf dem Etikett. Italien berief sich darauf, dass diese Regelung zur Umsetzung einer Bestimmung der Richtlinie 79/112/EWG des Rates über die Etikettierung von Lebensmitteln ergangen sei, wonach der Ursprungs- oder Herkunftsort auf dem Etikett anzugeben sei, falls ohne diese Angabe ein Irrtum des Verbrauchers über den tatsächlichen Ursprung oder die wahre Herkunft des Lebensmittels möglich wäre. Eine Anwendung der Ausnahme lehnte der EuGH jedoch unter Verweis darauf ab, dass die fragliche Richtlinienbestimmung allgemein abgefasst sei und Mitgliedstaaten „großen Handlungsspielraum“ belasse.24 Diese Ausführungen des EuGH könnten möglicherweise so verstanden werden, dass eine Anwendung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL auf mitgliedstaatliche Maßnahmen bei der Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen grundsätzlich ausgeschlossen sei. Es erscheint jedoch unklar, ob der EuGH mit diesem Urteil allgemein zu einer restriktiven Auslegung der Ausnahme übergehen wollte, oder ob letztlich die besonderen Umstände des Erlasses der fraglichen italienischen Vorschrift für das konkrete Urteil ausschlaggebend waren. Denn Italien hatte die fragliche 19 Für eine Übersicht siehe Europäische Kommission, Vademecum zur Richtlinie (EU) 2015/1535, 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/de/the-20151535-and-you/being-informed /guidances/vademecum/, S. 40 ff. 20 EuGH, verb. Rs. C-425/97, C-426/97 und C-427/97, Albers u. a. 21 EuGH, verb. Rs. C-425/97, C-426/97 und C-427/97, Albers u. a., Rn. 21. 22 EuGH, verb. Rs. C-425/97, C-426/97 und C-427/97, Albers u. a., Rn. 23. 23 EuGH, Rs. C-443/98, Unilever. 24 EuGH, Rs. C-443/98, Unilever, Rn. 29. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 13 Richtlinie aus dem Jahr 1979 bereits im Jahr 1982 in einem Dekret umgesetzt,25 und so war die streitige Etikettierungsvorschrift aus dem Jahr 1998 nur schwerlich als Maßnahme anzusehen, mit der Italien seinen Verpflichtungen aus einem Rechtsaktes der Union im Sinne der Ausnahme nachkommt („durch die die Mitgliedstaaten den verbindlichen Rechtsakten der Union […] nachkommen “, vgl. Art. 7 Abs. 1 Info-RL), ohne zugleich vom Vorliegen eines langjährigen Umsetzungsdefizits auszugehen. In der nachfolgenden Rechtssache Canal Satélite Digital26 ging es um spanische Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 95/47/EG über die Anwendung von Normen für die Übertragung von Fernsehsignalen. In seinem Urteil stellte der EuGH fest, dass keine Notifizierungspflicht besteht, „soweit die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung die Richtlinie […] umsetzen sollte“.27 Diese Voraussetzungen sah er mit Blick auf das von Spanien eingeführte System vorheriger behördlicher Genehmigungen nicht als gegeben an, da die betreffende Richtlinie zwar u. a. bestimmte Pflichten der Diensteanbieter, jedoch keine Regelung über die administrativen Modalitäten zur Durchführung dieser Verpflichtungen vorsah.28 Die Kommission betrachtet dieses Urteil als Bestätigung einer ihrer Ansicht nach „restriktiven Auslegung“ im Unilever-Urteil.29 Diese Lesart erscheint jedoch nicht zwingend. Schließlich bezieht sich der EuGH in seinem Urteil in Rechtssache Canal Satélite Digital nicht explizit auf seine frühere Rechtsprechung und so könnte das Urteil in der Sache ebenso als Bestätigung des Ansatzes im Urteil der Rechtssache Albers u. a. anzusehen sein, indem es darauf abstellt, ob der Mitgliedstaat mit dem Erlass der Vorschrift einer sekundärrechtlichen Verpflichtung nachkommt. Es ist somit festzuhalten, dass aus der vorstehenden Rechtsprechung des EuGH nicht deutlich wird, ob und inwieweit die Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL auch auf mitgliedstaatliche Vorschriften zur Ausfüllung von in Unionsrechtsakten (zumeist Richtlinien) enthaltenen Umsetzungsspielräumen anzuwenden ist. Eine Auslegung der Ausnahmebestimmung deutet jedoch darauf hin (näher dazu unter 3.2.2.), dass sie jedenfalls insoweit auch auf mitgliedstaatliche Vorschriften zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen anzuwenden ist, als der betreffende Unionsrechtsakt spezifische Vorgaben zur Begrenzung der Spielräume enthält. 3.2.2. Auslegung nach Wortlaut, Zweck und Systematik Der Wortlaut der Ausnahmebestimmung in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL deutet zunächst darauf hin, dass ihre Anwendung nur insoweit in Betracht kommt, als die mitgliedstaatliche Vor- 25 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-443/98, Unilever, Rn. 52. 26 EuGH, Rs. C-390/99, Canal Satélite Digital. 27 EuGH, Rs. C-390/99, Canal Satélite Digital, Rn. 48. 28 EuGH, Rs. C-390/99, Canal Satélite Digital, Rn. 27, 49. 29 Europäische Kommission, Vademecum zur Richtlinie (EU) 2015/1535, 2021, abrufbar unter: https://ec.europa .eu/growth/tools-databases/tris/de/the-20151535-and-you/being-informed/guidances/vademecum/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 14 schrift dazu dient, einer sekundärrechtlichen Verpflichtung nachzukommen („durch die die Mitgliedstaaten den verbindlichen Rechtsakten der Union […] nachkommen“). Zugleich schließt es der Wortlaut nicht aus, dass davon auch mitgliedstaatliche Vorschriften zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen miterfasst werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betreffenden Spielräume nach der Zielsetzung des Unionsrechtsaktes notwendig (und damit verpflichtend) auszufüllen sind, und den Mitgliedsaaten nicht etwa nur eine fakultative Möglichkeit zu weitergehenden Maßnahmen belassen wird wie etwa in Fällen der Mindestharmonisierung. Für eine solche differenzierte Auslegung der Ausnahmebestimmung spricht auch das grundlegende Ziel der Info-RL, welches auf die Verhinderung der Entstehung von Handelshemmnissen gerichtet ist (hierzu bereits unter 2.1.). Denn durch die Umsetzung von Unionsbestimmungen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten werden Handelshemmnisse in den jeweiligen Bereichen gerade beseitigt, so dass in diesen Fällen grundsätzlich kein Bedürfnis für die Durchführung des Notifizierungsverfahrens nach der Info-RL besteht.30 Werden die Mitgliedstaaten etwa durch eine Richtlinie zum Erlass nationaler Vorschriften in einem bestimmten Bereich veranlasst, besteht somit weder für die Kommission, noch die Mitgliedstaaten ein entsprechendes Informationsbedürfnis. Der durch eine Harmonisierung vorgegebene Rahmen umfasst jedoch neben zwingenden inhaltlichen Vorgaben auch mitunter sehr spezifische Vorgaben zur Begrenzung der verbleibenden Spielräume, die von den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der zur Erreichung des Richtlinienziels notwendigen Einzelheiten zu beachten sind. Auch derartige Vorgaben zur Begrenzung des Handlungsspielraums der Mitgliedstaaten vermindern zumindest die Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in dem betreffenden Bereich und dienen somit auch der Beseitigung von Handelshemmnissen. Dies legt den Schluss nahe, dass eine Umsetzung unter Beachtung spezifischer Vorgaben zur Begrenzung mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume ebenfalls das Bedürfnis für die Durchführung des Notifizierungsverfahrens nach der Info-RL entfallen lässt. Demgegenüber würde ein formalistisches Verständnis des Anwendungsbereichs der Ausnahme etwa in dem Sinne, dass ihre Anwendung auf Vorschriften zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen generell ausgeschlossen wäre, wohl dazu führen, dass die Ausnahme weitgehend leerliefe . Denn selbst bei geringfügigen Umsetzungsspielräumen wäre der Entwurf nationaler Vorschriften zur Umsetzung des Unionsrechtsaktes stets „vollständig“31 zu übermitteln. Ausgehend von einem solch engen Verständnis der Ausnahme von der Notifizierungspflicht wäre es auch in systematischer Hinsicht nicht nachvollziehbar, welchem Informationsbedürfnis es noch dienen sollte, wenn ein bereits aufgrund der Info-RL nicht nur im Entwurfsstadium (Art. 5 Abs. 1), sondern auch in ihrem endgültigen Wortlaut übermittelte Vorschrift (Art. 5 Abs. 3), schließlich noch nach Maßgabe des umzusetzenden Unionsrechtsakts (vgl. Art. 2 Abs. 5 DigRL) ein weiteres Mal der Kommission mitzuteilen wäre. 30 So auch Europäische Kommission, Vademecum zur Richtlinie (EU) 2015/1535, 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/de/the-20151535-and-you/being-informed/guidances/vademecum /, S. 40 f. 31 EuGH, Rs. C‑336/14, Ince, Rn. 68. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 15 3.2.3. Fazit Es spricht somit viel dafür, die Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL grundsätzlich auch auf eine mitgliedstaatliche Vorschrift zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen anzuwenden, jedenfalls soweit der betreffende Unionsrechtsakt spezifische Vorgaben zur Begrenzung der Spielräume enthält und soweit diese Vorgaben von dem Mitgliedstaat bei der Festlegung der notwendigen Einzelheiten tatsächlich beachtet werden. Eine verbindliche Auslegung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL könnte allerdings nur durch den EuGH erfolgen, dessen bisherige Rechtsprechung jedoch, wie dargelegt, keine eindeutige Linie erkennen lässt. 4. Zur Frage nach Möglichkeiten zur Vermeidung einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften durch Aufnahme einer Verordnungsermächtigung 4.1. Vorüberlegungen Die Frage nach Möglichkeiten zur Vermeidung einer Notifizierungspflicht in Bezug auf die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften stellt sich nur, sofern die betreffenden Vorschriften überhaupt notifizierungspflichtig sind (hierzu unter 4.1.1.). Ergänzend ist auf Rechtsprechung des EuGH hinzuweisen, wonach ein Verstoß gegen die Notifizierungspflicht nicht zwingend die Unanwendbarkeit der betreffenden nationalen Vorschriften zur Folge hat (hierzu unter 4.1.2.). 4.1.1. Prämisse des Bestehens einer Notifizierungspflicht Soweit die Vorschriften des DiRUG-E als Vorschriften betreffend Dienste anzusehen sind und sie auch nicht aufgrund einer grundlegenden Einschränkung vom Anwendungsbereich dieser Begriffsbestimmung ausgenommen sind (hierzu bereits unter 3.1.), unterfallen sie grundsätzlich der Notifizierungspflicht gemäß Art. 5 Abs. 1 Info-RL. Dies gilt somit auch für die im DiRUG-E vorgesehene Erstreckung des Online-Verfahrens auf die Gründung von Genossenschaften. Es wäre jedenfalls nicht davon auszugehen, dass die betreffenden Vorschriften des DiRUG-E gemäß der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL von der Notifizierungspflicht ausgenommen sind. Denn nach dem Wortlaut dieser Bestimmung werden von ihr nur nationale Vorschriften erfasst, durch die die Mitgliedstaaten den „verbindlichen Rechtsakten der Union […] nachkommen “. Die Vorgaben der DigRL gelten jedoch nur für die darin aufgezählten Rechtsformen von Gesellschaften, zu denen die Genossenschaft nicht zählt (vgl. Art. 13 GesRRL), so dass der Gesetzgeber mit dem DiRUG-E insoweit keinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Es handelt sich vielmehr um eine freiwillige überschießende Umsetzung der DigRL. Ob und unter welchen Voraussetzungen die Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL möglichweise auch auf Fälle der überschießenden Umsetzung eines Unionsrechtsaktes Anwendung findet, ist in der Rechtsprechung des EuGH, soweit ersichtlich, nicht geklärt. Hierbei könnte von Bedeutung sein, dass von einer einzelstaatlichen Erstreckung des in der DigRL entworfenen Rahmens für ein Online-Verfahren auch auf anderen Formen von Gesellschaften möglicherweise keine (nennenswerte) Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs ausgehen dürfte. Dies ist Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 16 jedoch eine grundlegende Frage des Anwendungsbereichs der Info-RL (hierzu unter 3.1.2.) und somit nicht auch als eigenständiger Aspekt der Anwendung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL auf Fälle der überschießenden Umsetzung von Bedeutung. 4.1.2. Folgen eines Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht Soweit die Vorschriften des DiRUG-E über die Erstreckung des Online-Verfahrens auf die Gründung von Genossenschaften der Notifizierungspflicht unterfallen, wäre im Lichte der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich davon auszugehen, dass ihre Verabschiedung ohne vorherige Notifizierung gemäß den Vorgaben der Info-RL grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschriften führt (hierzu bereits unter 2.1.). Dies muss allerdings nicht zwingend bedeuten, dass jede im Einklang mit den nicht notifizierten Vorschriften durchgeführte Genossenschaftsgründung rechtswidrig wäre. Denn, wie bereits eingangs dargelegt wurde (2.1.), gilt die Folge der Unanwendbarkeit nach einem Urteil des EuGH, das jedoch eine (produktbezogene) technische Spezifikation betraf, „nur soweit [die betreffenden Vorschriften] die Verwendung oder den Vertrieb eines mit diesen Vorschriften nicht konformen Produkts behindern; [dies hat aber] nicht zur Folge, daß jede Verwendung eines Produkts rechtswidrig ist, das mit den nicht mitgeteilten Vorschriften konform ist“.32 Übertragen auf Vorschriften betreffend Dienste über ein Online-Verfahren zur Gründung von Genossenschaften könnte dies bedeuten, dass sie allenfalls insoweit unanwendbar wären, als sie die Erbringung bzw. Inanspruchnahme der betreffenden notariellen Dienstleistungen behindern. Die Rechtmäßigkeit einer im Einklang mit den nicht notifizierten Vorschriften durchgeführten Genossenschaftsgründung wäre davon wiederum nicht berührt. Aber auch mit Blick auf die Erbringung bzw. Inanspruchnahme der betreffenden notariellen Dienstleistungen erscheint es zweifelhaft, ob unter Zugrundelegung der Kriterien des zitierten Urteils von einer Unanwendbarkeit der betreffenden Vorschriften auszugehen wäre. Denn die Vorschriften über Online-Verfahren zur Gründung von Genossenschaften behindern nicht etwa die Erbringung derartiger notarieller Dienstleistungen, sondern ermöglichen sie überhaupt erst, indem hierfür ein rechtlicher Rahmen geschaffen wird. Eine Nichtanwendung dieses Rechtsrahmens würde somit bedeuten, dass kein Online-Verfahren zur Gründung von Genossenschaften zur Verfügung stünde. Nach dem zitierten Urteil gilt die Unanwendbarkeitsfolge jedoch „nur soweit“ die betreffenden Vorschriften die Verwendung oder den Vertrieb eines Produkts behindern . Eine verbindliche Klärung der Frage nach der Übertragbarkeit des genannten Urteils könnte indes nur durch den EuGH erfolgen. 4.2. Vermeidung einer möglichen Notifizierungspflicht Eine mögliche Notifizierungspflichtigkeit der in Rede stehenden Vorschriften des DiRUG-E könnte vermieden werden, indem die Einbeziehung der Genossenschaften aus dem DiRUG-E 32 EuGH, Rs. C-226/97, Lemmens, Rn. 35. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 17 gestrichen und lediglich eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung aufgenommen würde. Hierfür ist entscheidend, dass es sich bei dem Entwurf für eine Verordnungsermächtigung nicht um den „Entwurf einer technischen Vorschrift“ im Sinne der Stillhalteverpflichtung gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. g Info-RL handelt, weil dieser Entwurf als solcher nicht „als technische Vorschrift “ ausgearbeitet worden wäre. Der Gegenstand einer Verordnungsermächtigung ist nicht gleichzusetzen mit dem Gegenstand einer auf ihrer Grundlage zu einem späteren Zeitpunkt in Form einer Rechtsverordnung erlassenen technischen Vorschrift. Dies muss selbst dann gelten, wenn der Inhalt der späteren Rechtsverordnung durch die Ermächtigung weitgehend vorgezeichnet ist. Hierfür spricht auch, dass eine nationale Verordnungsermächtigung aus unionsrechtlicher Sicht in erster Linie einen Aspekt der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung betrifft, der nach ständiger Rechtsprechung des EuGH in Ermangelung spezifischer unionsrechtlicher Vorgaben in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Zudem würde es sich bei der Verabschiedung einer Verordnungsermächtigung nicht um die Annahme des Entwurfs einer technischen Vorschrift im Sinne der Stillhalteverpflichtung gemäß Art. 6 Abs. 1 Info-RL handeln. Denn eine Annahme in diesem Sinne liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn nach den einschlägigen innerstaatlichen Verfahrensvorschriften noch wesentliche Änderungen an dem Entwurf möglich sind (vgl. Art. 5 Abs. 1 Buchst. g Info-RL). Hierfür reicht es aus, dass der später zu notifizierende Entwurf einer Rechtsverordnung etwa im Falle einer ausführlichen Stellungnahme der Kommission gemäß Art. 6 Abs. 2 Info-RL insgesamt nicht erlassen werden könnte. 5. Ergebnis Die Vorschriften des DiRUG-E über die Einführung eines notariellen Online-Verfahrens für Beurkundungen und Beglaubigungen erfüllen die (geschriebenen) Merkmale des Begriffs „Vorschrift betreffend Dienste“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. e Info-RL und unterliegen somit grundsätzlich der Notifizierungspflicht gemäß Art. 5 Abs. 1 Info-RL. Mangels eindeutiger Rechtsprechung des EuGH kann jedoch nicht abschließend geklärt werden, ob aus dieser Begriffsbestimmung solche Vorschriften ausgenommen sind, von denen bereits keine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung der Grundfreiheiten ausgeht, was mit Blick auf die fraglichen Vorschriften des DiRUG-E bezweifelt werden könnte (3.1.). Die Vorschriften des DiRUG-E dürften aber jedenfalls der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL unterfallen und somit von der Notifizierungspflicht ausgenommen sein. Dies gilt grundsätzlich auch insoweit, als mit ihnen ausfüllungsbedürftige Vorgaben der DigRL umgesetzt werden. Denn es spricht trotz der unklaren Rechtsprechung des EuGH viel dafür, diese Ausnahmebestimmung auch auf mitgliedstaatliche Vorschriften zur Ausfüllung von Umsetzungsspielräumen anzuwenden, jedenfalls soweit der betreffende Unionsrechtsakt spezifische Vorgaben zur Begrenzung der Spielräume enthält und diese Vorgaben von dem Mitgliedstaat bei der Festlegung der notwendigen Einzelheiten tatsächlich beachtet werden (3.2.). Die Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften stellen eine überschießende Umsetzung der DigRL dar, die somit nicht der Ausnahme in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Info-RL unterfällt. Eine mögliche Notifizierungspflicht könnte vermieden werden, indem die Einbeziehung der Genossenschaften aus dem DiRUG-E gestrichen und lediglich eine Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 037/21 Seite 18 Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung aufgenommen würde. Auf derartige Überlegungen kommt es jedoch nur an, sofern sie überhaupt als Vorschriften betreffend Dienste anzusehen sind und nicht etwa aufgrund einer ungeschriebenen Ausnahme vom Anwendungsbereich der Info-RL ausgenommen sind. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verabschiedung der Vorschriften des DiRUG-E über die Online-Gründung von Genossenschaften ohne vorherige Notifizierung nicht zwingend bedeuten würde, dass jede im Einklang mit den nicht mitgeteilten Vorschriften durchgeführte Genossenschaftsgründung rechtswidrig wäre (4.). - Fachbereich Europa -