© 2017 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 037/17 Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 2 Zur unionsrechtlichen Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 37/17 Abschluss der Arbeit: 12. Juli 2017 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Geltende Vorgaben der Handwerksordnung 4 2.1. Selbständiger Betrieb zulassungspflichtiger Handwerke und Ausbildung in zulassungspflichtigen Handwerken 4 2.2. Selbständiger Betrieb zulassungsfreier Handwerke und Ausbildung in zulassungsfreien Handwerken 6 2.3. Wiedereinführung der Zulassungspflicht 7 3. Unionsrechtliche Prüfungsmaßstab für die Wiedereinführung einer Zulassungspflicht 7 3.1. Konstellation der Niederlassung oder der vorübergehenden Dienstleistungserbringung 8 3.2. Primärrechtliche Niederlassungsfreiheit 9 3.3. Berufsanerkennungsrichtlinie 9 3.3. Dienstleistungsrichtlinie 10 3.4. Verhältnismäßigkeitsrichtlinie 12 3.5. Zwischenergebnis 14 4. Wiedereinführung der Zulassungspflicht als Eingriff in die Niederlassungsfreiheit 15 4.1. Allgemeine, sich aus der Rechtsprechung ergebende Vorgaben 15 4.2. Vorgaben aus der Rechtsprechung zu Berufsqualifikationen 16 4.3. Konsequenzen für die Wiedereinführung der Zulassungspflicht 19 5. Rechtfertigung der Wiedereinführung der Zulassungspflicht 19 5.1. Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie 20 5.2. Rechtfertigungsprüfung 23 5.2.1. Struktur der Rechtfertigungsprüfung 23 5.2.2. Ausbildungssicherung 25 5.2.2.1. Zum Rechtfertigungsgrund 25 5.2.2.2. Verhältnismäßigkeit 26 5.2.3. Gewährleistung eines hohen Qualitätsstandards 28 5.2.3.1. Zum Rechtfertigungsgrund 28 5.2.3.2. Verhältnismäßigkeit 28 5.2.4. Nachhaltigkeit der Betriebsgründungen aus Gründen des Verbraucherschutzes 29 5.2.4.1. Zum Rechtfertigungsgrund 29 5.2.4.2. Verhältnismäßigkeit 29 6. Ergebnis 30 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich wird um Beantwortung der Frage ersucht, ob die Wiedereinführung einer Zulassungspflicht für nach geltendem Recht zulassungsfreie Handwerke nach Anlage B Abschnitt 1 der Handwerksordnung1 (HwO) mit Unionsrecht vereinbar ist. Hintergrund der Anfrage sind Berichte über die Auswirkungen der im Jahre 2003 erfolgten Handwerksnovelle ,2 mit der für eine Vielzahl von Handwerksberufen auf den Meisterzwang verzichtet wurde.3 Aus heutiger Sicht habe das u. a. zur Folge gehabt, dass die Ausbildungsbereitschaft in den nun zulassungsfreien Handwerken überdurchschnittlich gesunken sei, die in diesem Bereich erfolgten Unternehmensgründungen nicht nachhaltig gewesen seien und die Qualität der erbrachten Handwerksleistungen nachgelassen habe.4 Zur Beantwortung der Gutachtenfrage werden zunächst die geltenden rechtlichen Vorgaben der HwO dargestellt (siehe unter 2.). Anschließend wird die unionsrechtliche Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht untersucht (siehe unter 3. bis 5.). 2. Geltende Vorgaben der Handwerksordnung Die derzeit geltende Handwerksordnung unterscheidet zwischen zulassungspflichtigen Handwerken auf der einen Seite (siehe unter 2.1.) und zulassungsfreien Handwerken sowie den – hier nicht weiter relevanten – handwerksähnlichen Gewerben auf der anderen Seite (siehe unter 2.2.). 2.1. Selbständiger Betrieb zulassungspflichtiger Handwerke und Ausbildung in zulassungspflichtigen Handwerken Die zulassungspflichtigen Handwerke werden in den §§ 1 bis 5b HwO geregelt. Ihr Umfang ergibt sich aus der Anlage A zur HwO5 (vgl. § 1 Abs. 2 HwO). Derzeit erfasst die Liste 41 Handwerke. Voraussetzung für den selbständigen Betrieb eines zulassungspflichtigen Handwerks ist die Eintragung in die Handwerksrolle, § 1 Abs. 1 HwO. Die Eintragung wiederum ist in § 7 HwO geregelt und knüpft an die Person des Betriebsleiters an (vgl. Abs. 1). Dieser muss die berufsspezifischen Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle hinsichtlich des zu betreibenden Handwerks erfüllen. Hierfür bestehen mehrere Möglichkeiten: 1 Siehe online unter https://www.gesetze-im-internet.de/hwo/anlage_b.html (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 2 Vgl. BT-Drs. 15/1206 sowie BGBl. 2003 I 2933. 3 Vgl. dazu bspw. Wiemers/Sonder, Das Handwerksrecht zwischen Liberalisierung und Europäisierung, DÖV 2011, S. 104 (105 f.). 4 Vgl. etwa Siehe etwa Esser, Meister in Europa. Bildungspolitisch aufgestiegen – als Stabilitätsanker gefährdet?, BWP 2/2014, S. 3, online abrufbar unter https://www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/bwp/show/7221 (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Siehe ferner unten unter 5.2.2., S. 25; 5.2.3., S. 28; 5.2.4., S. 29. 5 Siehe online unter https://www.gesetze-im-internet.de/hwo/anlage_a.html (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 5 Zu diesen zählt nach § 7 Abs. 1a HwO nicht mehr nur das Bestehen der Meisterprüfung im betreffenden Handwerk. Eine weitere Möglichkeit ist insbesondere die sog. Altgesellenregelung nach § 7 Abs. 7 HwO in Verbindung mit § 7b HwO. Mit Ausnahme von sechs Handwerken6 kann danach auch ein Geselle in die Handwerksrolle eingetragen werden, wenn er in dem betreffenden Handwerk mindestens sechs Jahre tätig gewesen ist, davon insgesamt vier Jahre in leitender Stellung (vgl. § 7b Abs. 1 Nr. 1 u. 2 HwO). Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht wurde mit der Schaffung des § 7b HwO auch für die zulassungspflichtigen Handwerke letztlich der Meisterzwang abgeschafft.7 Die weiteren Eintragungstatbestände umfassen mit einem Handwerk verwandte Hoch- und Fachschulberufe (§ 7 Abs. 2 HwO) sowie Personen mit Ausnahmebewilligung nach §§ 8 und 9 HwO. § 8 HwO regelt Fälle beruflicher Erfahrung, in denen die Meisterprüfung eine unzumutbare Belastung darstellt. § 9 HwO erfasst in Verbindung mit der EU/EWR-Handwerk-Verordnung (EU/EWR HwV)8 hingegen die Situation von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten bzw. von Personen, die in anderen Mitgliedstaaten entsprechende Berufsqualifikationen oder Berufserfahrung erworben haben. Die EU/EWR HwV unterscheidet dabei zwischen Personen, die im Inland eine gewerbliche Niederlassung unterhalten oder als Betriebsleiter tätig sein wollen einerseits (§§ 1 bis 7 EU/EWR HwV) und solchen, die ohne gewerbliche Niederlassung im Inland nur vorübergehend und gelegentlich dort Dienstleistungen im Bereich eines zulassungspflichtigen Handwerks erbringen wollen andererseits (§§ 8 bis 10 EU/EWR HwV). Diese Unterscheidung geht zum einen auf die beiden voneinander abzugrenzenden Grundfreiheiten der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit sowie auf die Konkretisierung beider durch die Berufsanerkennungsrichtlinie9 zurück.10 Einer Ausnahmebewilligung für die Eintragung in die Handwerksrolle bedarf nur die erstgenannte Personengruppe; sie muss für deren Erhalt entweder eine bestimmte Berufserfahrung nachweisen (vgl. § 2 EU/EWR HwV) oder Ausbildungs- und Befähigungsnachweise anerkennen lassen (§ 3 ff. EU/EWR HwV). Ggf. müssen sich Interessierte Ausgleichsmaßnahmen unterwerfen, zu denen auch eine Eignungsprüfung zählen kann (§ 5 EU/EWR HwV ggf. i. V. m. § 7 EU/EWR HwV). Die 6 Die Nr. 12 sowie die Nrn. 33 bis 37 der Anlage A (Fn. 5) umfassen den Schornsteinfeger sowie die Gesundheitsberufe . 7 Honig/Knörr/Thiel, Handwerksordnung, 5. Aufl. 2017, § 7b HwO, Rn. 1 8 Verordnung über die für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz geltenden Voraussetzungen für die Ausübung eines zulassungspflichtigen Handwerks, online abrufbar unter https://www.gesetze -im-internet.de/eu_ewrhwv_2016/BJNR050900016.html (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 9 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl.EU 2005 Nr. L 255/22, letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02005L0036- 20160524&qid=1499701036861&from=DE (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 10 Siehe unten unter 3.1., S. 8 f. bzw. 3.3., S. 9 f. Vgl. zu den Regelungen der Berufsanerkennungsrichtlinie für den Bereich der (aktiven) Dienstleistungsfreiheit Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 5, Rn. 172 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 6 nur vorübergehend tätig werdende andere Personengruppe unterliegt lediglich der Anzeigepflicht und dem Nachweis bestimmter Unterlagen. Die Ausbildung von Lehrlingen (Auszubildenden) ist nach der Handwerksordnung generell nur zulässig, wenn der Ausbilder u. a. fachlich geeignet ist11, vgl. § 22 Abs. 1 S. 2 HwO. Die fachliche Eignung für die Ausbildung in einem zulassungspflichtigen Handwerk besitzt nach § 22b Abs. 2 HwO, wer die Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle erfüllt, also einen der eben beschriebenen Eintragungstatbestände erfüllt. Außer in Fällen der Meisterprüfung müssen die Ausbilder zudem Teil IV der Meisterprüfung (berufs- und arbeitspädagogische Kenntnisse) oder eine gleichwertige andere Prüfung, insbesondere eine Ausbildereignungsprüfung12 bestanden haben (vgl. § 22b Abs. 2 Nr. 2 HwO). Insoweit gehen die (fachlichen) Ausbildungsvoraussetzungen über die Zulassungsvoraussetzungen für zulassungspflichtige Handwerke hinaus. 2.2. Selbständiger Betrieb zulassungsfreier Handwerke und Ausbildung in zulassungsfreien Handwerken Die zulassungsfreien Handwerke werden zusammen mit den handwerksähnlichen Gewerben in §§ 18 bis 20 HwO geregelt. Welche Handwerke und Gewerbe davon umfasst sind, ergibt sich aus der Anlage B zur HwO (vgl. § 1 Abs. 2 HwO), wobei die Liste der unter B Abschnitt 1 geführten zulassungsfreien Handwerke derzeit 53 Handwerke erfasst.13 Einzige Voraussetzung für den selbständigen Betrieb eines zulassungsfreien Handwerks ist seine Anzeige gegenüber der örtlich zuständigen Handwerkskammer. Ein Erwerb oder Nachweis von Berufsqualifikationen in Gestalt der Meisterprüfung o. ä. ist für die Aufnahme und Ausübung in diesem beruflichen Bereich nicht erforderlich.14 Anders verhält es sich hinsichtlich der fachlichen Berechtigung als Voraussetzung für die Ausbildung von Lehrlingen im Bereich zulassungsfreier Handwerke. Nach § 22b Abs. 3 HwO besitzt die fachliche Voraussetzung u. a., wer in dem betreffenden zulassungsfreien Handwerk die Meisterprüfung (Nr. 1) oder die Gesellenprüfung bestanden hat (Nr. 2.), wobei im letzten Fall zusätzlich der Nachweis erbracht werden muss, dass man eine angemessene Zeit in seinem Beruf praktisch tätig gewesen ist. Schließlich sind nach § 22b Abs. 3 S. 3 HwO noch berufs- und arbeitspädagogische Kenntnisse nachzuweisen, deren Erwerb sich außerhalb der Meisterprüfung – ebenso wie bei zulassungspflichtigen Handwerken – nach der Ausbilder-Eignungsverordnung von 200915 richtet. 11 Siehe zu den Voraussetzungen für die Einstellungsberechtigung §§ 21, 22 HwO, für die persönliche Eignung, §§ 22, 22a HwO 12 Maßgeblich hierfür ist die Ausbilder-Eignungsverordnung von 2009, online abrufbar unter https://www.gesetzeim -internet.de/ausbeignv_2009/AusbEignV_2009.pdf (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Vgl. dazu Honig/Knörr/Thiel (Fn. 7), § 22b HwO, Rn. 11. 13 Siehe oben Fn. 1. 14 Vgl. Detterbeck, Handwerksordnung, 3. Online-Auflage 2016, Einleitung, Rn. 6. 15 Vgl. oben Fn. 12. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 7 2.3. Wiedereinführung der Zulassungspflicht Hinsichtlich der hier am Maßstab des Unionsrechts zu prüfenden Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke nach Anlage B Abschnitt 1 wird davon ausgegangen , dass es um die Wiedereinführung der nach geltenden Recht bestehenden Anforderungen an zulassungspflichtige Handwerke geht, wie sie oben unter 2.1. dargestellt wurden, und zwar sowohl hinsichtlich des selbständigen Betriebs als auch der Ausbildung in den betreffenden Handwerken. 3. Unionsrechtliche Prüfungsmaßstab für die Wiedereinführung einer Zulassungspflicht Um die Zulässigkeit einer solchen Wiedereinführung beurteilen zu können, ist zunächst der einschlägige unionsrechtliche Prüfungsmaßstab zu bestimmen. Unionsrechtliche Vorgaben für die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten bestehen grundsätzlich nur für sog. grenzüberschreitende Sachverhalte.16 Auf rein innerstaatliche Konstellationen, die mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausreichen, finden die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften keine Anwendung.17 Die hier im Raum stehende Wiedereinführung der Zulassungspflicht soll unabhängig von der Staatsangehörigkeit alle Personen erfassen, die (zukünftig) eine Tätigkeit im Bereich der bisher zulassungsfreien Handwerke ausüben wollen. Damit wären auch Angehörige anderer Mitgliedstaaten betroffen und ein grenzüberschreitender Bezug für die Anwendung des einschlägigen Unionsrechts gegeben.18 Hiervon ausgehend ist für die Bestimmung des unionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs in einem zweiten Schritt zu bestimmen, welche grenzüberschreitende Konstellation der Aufnahme und Ausübung entsprechender Tätigkeiten bei der Wiedereinführung der Zulassungspflicht im Vordergrund steht (siehe unter 3.1.). Anschließend werden zunächst die insoweit einschlägige Grundfreiheit (siehe unter 3.2.) sowie die ggf. anwendbaren Sekundärrechtsakte (siehe unter 3.3. bis 3.5.) betrachtet. 16 Vgl. dazu Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016, Rn. 830, 963, 1002. 17 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 16.01.1997, C-134/95 (USSL), Rn. 19; EuGH, Urt. v. 6.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard), Rn. 26. 18 Wäre das nicht der Fall, weil das Vorhaben etwa allein auf deutsche Staatsangehörige beschränkt wäre, die zudem keine EU-ausländischen Berufsabschlüsse etc. vorweisen könnten, wäre es mangels grenzüberschreitendem Bezug jedenfalls nicht am Maßstab der Grundfreiheiten zu prüfen, vgl. EuGH, Urt. v. 15.12.1993, verb. Rs. C-277/91, C-318 u. 319/91 (Ligur Carni Srl u. a.), Rn. 41; siehe auch Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 963. Eine derartige Beschränkung könnte jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen problematisch sein im Hinblick auf den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Fraglich wäre auch ihre Zweckmäßigkeit aus Sicht der Wettbewerbsgleichheit im Binnenmarkt. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 8 3.1. Konstellation der Niederlassung oder der vorübergehenden Dienstleistungserbringung Die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten unterfällt unionsrechtlich je nach Art des grenzüberschreitenden Sachverhalts zwei verschiedenen Grundfreiheiten: der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV oder der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV.19 Während sich der niedergelassene Erwerbstätige (aus dem EU-Ausland) im ersten Fall auf Dauer in die Volkswirtschaft eines anderen Mitgliedstaates integriert und von hier aus seiner Tätigkeit (im Schwerpunkt) nachgeht,20 erbringt der (aktive) Dienstleistungserbringer im Sinne des Art. 56 f. AEUV21 die gleiche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat lediglich vorübergehend (vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV) und behält im Übrigen seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt (Niederlassung ) in seinem Herkunftsstaat.22 Beide Grundfreiheiten beschränken in unterschiedlichem Umfang die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten , die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit reglementieren bzw. einschränken zu können und sind in den nachfolgend darzustellenden Richtlinien entsprechend auf unterschiedliche Weise ausgestaltet bzw. konkretisiert worden. Vorbehaltlich der Ausgestaltung im Einzelfall lässt sich insoweit im Grundsatz festhalten, dass der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Reglementierung von Konstellationen der Niederlassungsfreiheit größer ist als in Konstellationen der Dienstleistungsfreiheit.23 Grund hierfür ist, dass der Dienstleistungserbringer bereits den Anforderungen einer (Wirtschafts-)Rechtsordnung unterliegt, nämlich der seines (Herkunfts-) Niederlassungsstaates, von wo aus er nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat tätig wird. Soweit bekannt, bezieht sich die Idee einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht vornehmlich auf die Konstellation der Niederlassungsfreiheit. Für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit bestehen bereits nach § 9 HwO in Verbindung mit §§ 8 bis 10 EU/EWR HwV Sonderregelungen, die auf die Vorgaben der unten darzustellenden Berufsanerkennungsrichtlinie zurückgehen.24 Sollte die Wiedereinführung der Zulassungspflicht mit den unionsrechtlichen Vorgaben zur Niederlassungsfreiheit vereinbar sein, so wären die Sonderregelungen für die unter die Dienstleistungsfreiheit fallenden Konstellationen zu beachten. Läge hingegen eine Unvereinbarkeit mit der 19 Siehe hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 958 ff., 1002 ff. 20 Vgl. hierzu Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 960. 21 Die Dienstleistungsfreiheit umfasst neben der sog. aktiven Dienstleistungsfreiheit noch weitere Konstellationen grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung, die aber keine Überschneidungen mit der Niederlassungsfreiheit aufweisen, vgl. insoweit Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 1012. Zudem sind sie für den hier im Raum stehenden Sachverhalt nicht von Relevanz. 22 Siehe zur Abgrenzung der beiden Grundfreiheiten, die im Einzelfall aufgrund des weiten (Einzelfall-)Verständnisses des Merkmals der vorübergehenden Leistungserbringung problematisch sein kann, Haratsch/ Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 1008. 23 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Rs. C-58/98 (Corsten), Rn. 43; siehe dazu auch Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 1044. 24 Vgl. zu diesen Calliess/Korte (Fn. 10), Rn. 172 ff., Kluth/Rieger, Die neue EU-Berufsanerkennungsrichtlinie - Regelungsgehalt und Auswirkungen für Berufsangehörige und Berufsorganisationen, EuZW 2005, S. 486 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 9 Niederlassungsfreiheit vor, dann wäre (erst recht) auch von einer Unzulässigkeit im Lichte der Dienstleistungsfreiheit auszugehen. Die bestehenden Sonderregelungen müssten dann nicht angewendet werden, es bliebe bei der Zulassungsfreiheit auch für Dienstleistungserbringer. Aus diesen Gründen wird im Folgenden nur die Konstellation der Niederlassungsfreiheit betrachtet. 3.2. Primärrechtliche Niederlassungsfreiheit Von ihrer Struktur ähneln alle Grundfreiheiten den (nationalen) Grundrechten: Ist der persönliche und sachliche Anwendungsbereich eröffnet, ist zu untersuchen, ob die betreffenden nationalen Vorschriften, hier die wiedereinzuführende Zulassungspflicht, einen Eingriff darstellen und ob dieser Eingriff ggf. gerechtfertigt ist, wozu neben dem Bestehen von Rechtfertigungsgründen auch die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zählt.25 Kann die Wiedereinführung der Zulassungspflicht nicht gerechtfertigt werden, sind die entsprechenden nationalen Vorschriften unanwendbar. Liegt hingegen ein gerechtfertigter Eingriff vor, bleiben die nationalen Vorschriften auch in grenzüberschreitenden Sachverhalten anwendbar. Etwaige Hindernisse für den Binnenmarkt, die daraus folgen, können dann nur durch sekundärrechtliche (inhaltliche) Vorgaben beseitigt werden. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, ist vorliegend von der Eröffnung des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit auszugehen.26 Eine Prüfung der Eingriffsqualität der Wiedereinführung der Zulassungspflicht sowie der Rechtfertigung unmittelbar am Maßstab der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV kommt von Unionsrechts wegen allerdings nur in Betracht, soweit nicht anwendungsvorrangiges Sekundärrecht vorliegt.27 Folglich sind zunächst die sachlich einschlägigen Sekundärrechtsakte zu betrachten (siehe unter 3.3 bis 3.5.). 3.3. Berufsanerkennungsrichtlinie Die wiedereinzuführende Zulassungspflicht im Sinne der HwO stellt eine Berufsqualifikation im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. b der sog. Berufsanerkennungsrichtlinie28 (im Folgenden auch: BA-RL) dar. Besteht eine solche Zulassungspflicht für den Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit, handelt es sich um reglementierte Berufe gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a BA-RL, so dass der Anwendungsbereich dieses Rechtsakts nach Art. 1 und Art. 2 BA-RL dem Grunde nach eröffnet ist. Dieser erfasst nämlich alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die als Selbständige (oder abhängig Beschäftigte ) einen solchen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem ausüben wollen , in dem sie ihre Berufsqualifikation erworben haben (vgl. Art. 2 Abs. 1 BA-RL). 25 Siehe zur Struktur und Konvergenz der Grundfreiheiten Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 829 ff. 26 Siehe oben unter 3., S. 7, 3.1., S. 8 f. 27 Vgl. zum Verhältnis von Grundfreiheit und ausgestaltendem (Binnenmarkt-)Sekundärrecht Haratsch/ Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 826 ff. 28 Siehe oben Fn. 9. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 10 Fraglich ist jedoch, ob die Berufsanerkennungsrichtlinie als Prüfungsmaßstab für die Wiedereinführung der Zulassungspflicht in Frage kommt. Hauptanliegen dieses Rechtsaktes ist nämlich die Anerkennung von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Berufsqualifikationen. Hierfür legt sie Vorschriften fest (vgl. Art. 1 Abs. 1 BA-RL). Sie setzt damit das Bestehen von Berufsqualifikationen voraus. Dies wird auch deutlich an den einzelnen Vorschriften im Rechtsakt, die (für Konstellationen der Niederlassungsfreiheit) ausschließlich formale und materielle Anerkennungsvoraussetzungen regeln. Eine Ausnahme bildet insoweit lediglich Art. 59 Abs. 3 BA-RL, wonach die Mitgliedstaaten zu prüfen haben, ob „geltende Anforderungen zur Beschränkung der Aufnahme oder Ausübung eines Berufs“ mit den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung, der Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind. Für den vom Wortlaut nicht erfassten Fall der Wiedereinführung könnte Art. 59 Abs. 5 S. 2 BA-RL greifen. Danach müssen die Mitgliedstaaten sechs Monate nach Annahme neuer Anforderungen diese sowie die Gründe mitteilen, aus denen sich ergibt, dass diese Anforderungen ihrer Ansicht nach mit den Vorgaben nach Art. 59 Abs. 3 BA-RL konform sind. Aus beiden Fällen folgt für die Mitgliedstaaten nur eine Prüfungs- und Mitteilungspflicht. Die Einhaltung der zu prüfenden Vorgaben, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wird von den beiden Vorschriften nicht als unionsrechtliche Zulässigkeitsvoraussetzung normiert. Ein Verstoß gegen Art. 59 Abs. 3 bzw. Abs. 5 S. 2 BA-RL kommt daher nur in Betracht, wenn die Prüfungs - und Mitteilungspflicht verletzt wird, nicht aber, wenn der betreffende Mitgliedstaat aufgrund etwa der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einem anderen materiellen Ergebnis gelangt als beispielsweise die Kommission oder – schlussendlich – der EuGH. Aus diesem Grund kommt die Berufsanerkennungsrichtlinie als Prüfungsmaßstab für die Wiedereinführung der Zulassungspflicht nicht in Betracht. 3.3. Dienstleistungsrichtlinie Der Anwendungsbereich der sog. Dienstleistungsrichtlinie29 (im Folgenden auch: DL-RL) ist weiter als der der Berufsanerkennungsrichtlinie. Erstere gilt nach Art. 2 Abs. 1 DL-RL allgemein für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. Der Begriff der Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie erfasst nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 DL-RL jede selbständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird.30 Hierunter fallen auch Handwerksleistungen. 29 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl.EU 2006 Nr. L 376/36, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006L0123&qid=1499701267232&from=DE (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 30 Verwiesen wird in der Dienstleistungsrichtlinie an dieser Stelle auf Art. 50 EG, den heutigen Art. 57 AEUV. In diesem Artikel finden sich Vorgaben zum Begriff der Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsfreiheit, die in Art. 57 Abs. 3 AEUV u. a. auch das Merkmal der vorübergehenden Leistungserbringung beinhalten. Auf primärrechtlicher Ebene dient dieses Merkmal der Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit. Für die sekundärrechtliche Definition der Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie dürfte dieses Merkmal hingegen keine Bedeutung haben, da die Dienstleistungsrichtlinie beide Konstellationen selbständiger Tätigkeit erfasst. Vgl. auch Streinz/Leible, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008, Art. 4, Rn. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 11 Ziel der Dienstleistungsrichtlinie ist nach Art. 1 Abs. 1 die Erleichterung der Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie die Erleichterung des freien Dienstleistungsverkehrs , beides bei gleichzeitiger Gewährleistung einer hohen Qualität der Dienstleistung . Für den Bereich der Niederlassungsfreiheit regelt die Dienstleistungsrichtlinie zum einen die Zulässigkeit von Anforderungen im Bereich von Genehmigungsregelungen (Art. 9 ff. DL-RL) und zum anderen die Zulässigkeit sonstiger Anforderungen an die Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungen im Sinne der Richtlinie (Art. 14 f. DL-RL). Unter Genehmigungsregelung ist gemäß Art. 4 Nr. 6 DL-RL jedes Verfahren zu verstehen, das einen Dienstleistungserbringer oder -empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken. Darunter dürften auch die Zulassungspflicht und die damit verbundene Eintragung in die Handwerksrolle fallen.31 Dann wäre die Wiedereinführung der Zulassungspflicht an Art. 9 ff. DL-RL zu messen. Art. 9 DL-RL unterwirft die Genehmigungsregelung an sich bestimmten Voraussetzungen, Art. 10 DL-RL benennt die Kriterien, auf denen eine Genehmigungsregelung beruht. Beide Vorschriften beruhen im Wesentlichen auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung sowie der grundfreiheitlichen Rechtfertigungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung und gehen damit im Grundsatz nicht über die primärrechtliche Niederlassungsfreiheit hinaus. Dessen ungeachtet werden diese Anforderungen und insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz , anders als im Rahmen der Berufsanerkennungsrichtlinie, als (sekundärrechtlich zu beachtende) Zulässigkeitsvoraussetzung für Genehmigungsregelungen bzw. Genehmigungskriterien normiert.32 Es bestehen jedoch Zweifel, ob die Dienstleistungsrichtlinie mit den genannten Artikeln vorliegend als Prüfungsmaßstab zur Anwendung kommen kann. Im Verhältnis zur Berufsanerkennungsrichtlinie , die sich gezielt auf die Aufnahme und Ausübung sog. reglementierter Berufe bezieht , tritt die Dienstleistungsrichtlinie nach ihrem Art. 3 Abs. 1 lit. d nämlich dann zurück, wenn sich die Bestimmungen der beiden Rechtsakte widersprechen. Zwar enthält die Berufsanerkennungsrichtlinie – wie oben ausgeführt – keine Vorschriften über die Zulässigkeit einer erstmaligen oder Wiedereinführung von obligatorisch zu erfüllenden Berufsqualifikationen, so dass es an einem konkreten Normwiderspruch fehlt. Da die Berufsanerkennungsrichtlinie das Bestehen solcher Qualifikationen implizit voraussetzt und in diesem Bereich außer Vorgaben zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen nur eine mitgliedstaatliche Prüfungspflicht 31 Vgl. dazu Erwägungsgrund Nr. 39 der Dienstleistungsrichtlinie (Fn. 29), wonach unter Genehmigungsregelungen auch die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer oder einer Berufsrolle gehört, falls diese Voraussetzung dafür ist, eine Tätigkeit ausüben zu können. 32 Siehe dazu oben unter 3.3., S. 9 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 12 enthält, würde es ihrem Sinn und Zweck zuwiderlaufen, wenn das Bestehen dieser Qualifikationen durch die Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie in Frage gestellt würde.33 Von einer Nicht-Einschlägigkeit der Dienstleistungsrichtlinie im Bereich reglementierter Berufe scheint auch die Kommission auszugehen. In den Erwägungsgründen ihres Vorschlags zu der nachfolgend darzustellenden sog. Verhältnismäßigkeitsrichtlinie34 führt sie aus, dass „das Unionsrecht keine spezifischen Rechtsvorschriften zur Harmonisierung der Anforderungen an den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder an die Ausübung eines solchen Berufs enthält […]. [Daher] fällt die Entscheidung, ob und wie ein Beruf zu reglementieren ist, in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, solange die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.“35 Ein Hinweis auf die Dienstleistungsrichtlinie findet sich weder an dieser noch an anderer Stelle des Vorschlags. Der Anwendungsbereich der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie wird vielmehr an den Anwendungsbereich (nur) der Berufsanerkennungsrichtlinie geknüpft (vgl. Art. 2 Abs. 1 VHM-RL-Vorschlag). Die darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung der Kommission, wonach die Dienstleistungsrichtlinie insoweit für reglementierte Berufe keine Anwendung findet, ist zwar nicht rechtsverbindlich für die Auslegung des Unionsrechts – eine solche Wirkung kommt nur den Urteilen der Unionsgerichte zu, vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV. Mit Blick auf die Rolle der Kommission als Hüterin des Unionsrechts kommt ihr jedoch eine wichtige Indizfunktion für dessen Verständnis zu. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Wiedereinführung der Zulassungspflicht nicht am Maßstab der Dienstleistungsrichtlinie und dort insbesondere nicht an den Art. 9 u. 10 DL-RL geprüft werden kann. 3.4. Verhältnismäßigkeitsrichtlinie Mit Datum vom 10. Januar 2017 hat die Kommission den Vorschlag für eine Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen36 vorgelegt (sog. Verhältnismäßigkeitsrichtlinie , auch: VHM-RL-Vorschlag). Der Rat hat den Kommissionsvorschlag mit 33 In Richtung dieses Ergebnisses weist auch eine Entscheidung des EuGH, die das Verhältnis von Art. 16 DL-RL zu Konstellationen der aktiven Dienstleistungsfreiheit zur Berufsanerkennungsrichtlinie behandelt. Nach EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-342/14 (X-Steuerberatungsgesellschaft), Rn. 36, findet jedenfalls Art. 16 DL-RL auf „Anforderungen im Mitgliedstaat der Dienstleistungserbringung, die eine Tätigkeit den Angehörigen eines bestimmten Berufs vorbehalten, keine Anwendung […].“ Es ist nicht ersichtlich, warum dies nicht in gleicher Weise für die die Niederlassungsfreiheit konkretisierenden Art. 9 u. 10 RL 2006 gelten soll. 34 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, KOM(2016) 822 final, online abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016PC0822&qid=1499846926789&from=DE (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 35 Erwägungsgrund Nr. 2 (Fn. 34). 36 Siehe oben unter Fn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 13 Änderungen am 29. Mai 2017 in erster Lesung angenommen (im Folgenden: Ratsfassung).37 Die Beschlussfassung des europäischen Parlaments steht noch aus. Dieser sieht – ähnlich wie Art. 59 Abs. 3 und Abs. 5 S. 2 BA-RL – eine Pflicht für die Mitgliedstaaten vor, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, wenn neue Anforderungen für den Zugang zu reglementierten Berufen oder für deren Ausübung eingeführt oder bestehende geändert werden sollen (vgl. Art. 4 Abs. 1 VHM-RL-Vorschlag/Ratsfassung). Anders als die genannten Vorschriften der Berufsanerkennungsrichtlinie enthält die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie sehr detaillierte Vorgaben zu allen Ebenen der durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung, vgl. vor allem Art. 6 Abs. 2 und Abs. 4 VHM-RL-Vorschlag/Ratsfassung. Wie unten noch zu zeigen sein wird, lassen sich diese Vorgaben für den hier betroffenen Bereich der reglementierten Berufe jedoch nicht auf einschlägige Rechtsprechung des EuGH zurückführen. Als Prüfungsmaßstab für die Wiedereinführung der Zulassungspflicht kommt die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie aus zwei Gründen nicht in Betracht. Erstens handelt es sich zurzeit noch um einen Richtlinienvorschlag. Selbst nach Erlass und Inkrafttreten (vgl. Art. 12 VHM-RL-Vorschlag) dürfte eine Umsetzungsfrist vorgesehen sein (vgl. Art. 11 Abs. 1 VHM-RL-Vorschlag – nach Ratsfassung 24 Monate). Erst nach deren Ablauf wären die Vorgaben von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten. Darüber hinaus erschöpft sich der Richtlinienvorschlag – ähnlich wie Art. 59 Abs. 3 und Abs. 5 S. 2 BA-RL – in der (formellen) Pflicht zur Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hierdurch werden die Mitgliedstaaten zwar einem Transparenz- und v. a. weitreichendem Begründungserfordernis im Hinblick auf autonome Gesetzgebung und sonstige Rechtssetzung im Bereich der Berufsreglementierung unterworfen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist jedoch auch hier nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung normiert. An das materielle Ergebnis einer solchen Prüfung knüpft die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie keine Rechtsfolgen. Ein Richtlinienverstoß dürfte nur insoweit in Betracht kommen, als die Mitgliedstaaten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht oder nicht gemäß der Richtlinie durchführen. Welche Konsequenzen dieser Verstoß hat, ist zudem in der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie nicht geregelt.38 Es ist jedoch mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH zu ähnlichen, wenngleich in der Sache weitergehenden Se- 37 Vgl. Ratsdokument 9057/1/2017 REV 1, online abrufbar unter http://data.consilium.europa .eu/doc/document/ST-9057-2017-REV-1/de/pdf (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Siehe hierzu Stöbener de Mora, Binnenmarkt: Ratsbeschluss zur Verhältnismäßigkeitsrichtlinie für reglementierte Berufe, EuZW 2017, S. 444. 38 Anders hingegen liegt der Fall bei dem an die Dienstleistungsrichtlinie anknüpfenden Vorschlag für eine Richtlinie über die Durchsetzung der Richtlinie 2006/123 […], zur Festlegung eines Notifizierungsverfahrens für dienstleistungsbezogene Genehmigungsregelungen und Anforderungen […], KOM(2016) 821 final, online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52016PC0821&rid=1 (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Dieser Richtlinienvorschlag sieht einen Verstoß gegen die darin geregelte Notifizierungspflicht als „einen wesentlichen und hinsichtlich seiner Folgen schwerwiegenden Verfahrensfehler“, vgl. Art. 4 Abs. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 14 kundärrechtsakten im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit nicht ausgeschlossen, dass eine Unanwendbarkeit der ohne Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung erlassenen Berufsreglementierungen in Betracht kommt.39 Führt der Mitgliedstaat eine richtlinienkonforme Verhältnismäßigkeitsprüfung durch und gelangt dieser zu dem Ergebnis, dass eine neu eingeführte Berufsreglementierung aus seiner Sicht zulässig ist, bleibt es der Kommission bei einer abweichenden Bewertung der Verhältnismäßigkeit unbenommen , mit dem Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens gegen die betreffenden Vorschriften bzw. den Mitgliedstaat vorzugehen. Prüfungsmaßstab hierfür wäre dann aber nicht die Richtlinie selbst, sondern unionsrechtliche Vorschriften, die – in sachlicher Hinsicht anwendbare – (materielle) Zulässigkeitsanforderungen normieren. 3.5. Zwischenergebnis Im vorliegenden Fall kommt allein die primärrechtliche Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV als Prüfungsmaßstab in Betracht. Wie oben festgestellt, sind die hier sachlich einschlägigen Richtlinien, die der Grundfreiheit als Prüfungsmaßstab für nationales Recht vorgehen, im Ergebnis nicht anwendbar. Dies gilt insbesondere für die Dienstleistungsrichtlinie, die zwar materielle Zulässigkeitsanforderungen für Anforderungen im Bereich der Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten enthält, u. a. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Für den speziellen Bereich reglementierter Berufe findet sie jedoch keine Anwendung. Materielle Unterschiede dürften sich hieraus jedenfalls für die Ebene der Rechtfertigung nicht ergeben, da die Dienstleistungsrichtlinie in den Art. 9 u. 10 DL-RL diesbezüglich im Grundsatz nicht über die entsprechenden Vorgaben zur primärrechtlichen Niederlassungsfreiheit hinausgeht . Anders verhält es sich hingegen in Bezug auf die Eingriffsprüfung. Genehmigungsregelungen im Sinne des Art. 9 DL-RL sowie die Erteilungsvoraussetzungen im Sinne des Art. 10 DL-RL werden durch die Dienstleistungsrichtlinie implizit als vertypte Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit normiert, ihre Eingriffsqualität damit per se unterstellt. Im Rahmen des Art. 49 AEUV ist die Eingriffsqualität einer Maßnahme jedes Mal gesondert zu prüfen und festzustellen (siehe unter 4.), bevor Fragen der Rechtfertigung relevant werden (siehe unter 5.). Die formellen Vorgaben der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie zur Ausgestaltung der Verhältnismäßigkeitsprüfung finden derzeit zwar ebenfalls (noch) keine Anwendung. Sie werden im Rahmen der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsprüfung gleichwohl berücksichtigt. Denn es ist davon auszugehen, dass zumindest die Kommission die dort aufgeführten detaillierten Parameter bei der unionsseitigen (eigenen) Beurteilung nationaler Vorhaben im Bereich reglementierter Berufe anwenden würde. 39 So für die damals geltende Fassung der sog. Informationsrichtlinie 83/189 auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften, siehe EuGH, Urt. v. 26.09.2000, Rs. C-443/98 (Unilever), Rn. 44. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 15 4. Wiedereinführung der Zulassungspflicht als Eingriff in die Niederlassungsfreiheit Im Zusammenhang mit der grundfreiheitlichen Eingriffsprüfung ist im Folgenden zu unterscheiden : Zunächst sind die sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenden allgemeinen Vorgaben für diese Prüfungsebene der Niederlassungsfreiheit zu betrachten (siehe unter 4.1.). Anschließend werden die Vorgaben in den Blick genommen, die sich spezifisch aus der auf Berufsqualifikationen bezogenen Rechtsprechung ergeben (siehe unter 4.2.). 4.1. Allgemeine, sich aus der Rechtsprechung ergebende Vorgaben Art. 49 Abs. 1 AEUV verbietet ausweislich seines Wortlautes „Beschränkungen“ der freien Niederlassung . Darunter fallen zunächst Maßnahmen, die offen oder versteckt nach der Staatsangehörigkeit differenzieren (Diskriminierungsverbot40, vgl. insoweit Art. 49 Abs. 2 AEUV).41 Darüber hinaus werden Eingriffe erfasst, „die, selbst wenn sie hinsichtlich der Staatsangehörigkeit unterschiedslos angewandt werden, geeignet sind, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“42 Das Verbot der unterschiedslos anwendbaren Beschränkungen ist von seinem Wortlaut sehr weit formuliert und wird auch in der Rechtsprechung weit verstanden. So wird etwa ein mitgliedstaatlicher Genehmigungsvorbehalt für betriebliche Massenentlassungen43 als (unterschiedslos anwendbare) Beschränkung angesehen. Im Schrifttum wird die Notwendigkeit einer Begrenzung des Beschränkungsverbots betont und hierbei – in Analogie insbesondere zur Warenverkehrsfreiheit – u. a. auf das Eingrenzungskriterium des Marktzugangs verwiesen.44 Maßnahmen, die erst nach Marktzugang greifen und so eher auf die Berufsausübung zielten, sollten nicht mehr vom Beschränkungsverbot des Art. 49 AEUV erfasst sein. Auch in der Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit findet sich dieses Kriterium, allerdings nicht als allein maßgebliches.45 Und wie an der obigen Entscheidung erkennbar wird, lässt sich eine solche Differenzierung der Rechtsprechung des EuGH zudem nicht ohne weiteres entnehmen. 40 Siehe zum Begriff der offenen und versteckten Diskriminierung Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 835. 41 Siehe dazu Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 983 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 42 Ständige Rechtsprechung, zitiert nach EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), Rn. 48, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Rn. 37. 43 EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), Rn. 26, 50 ff. 44 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 989; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 49 AEUV (60. Erg.lfg. 2016), Rn. 96; Korte, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Rn. 50 ff. 45 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-201/15 (AGET Iraklis), Rn. 49, allerdings mit Bezug auf Unternehmen. Für natürliche Personen dürfte nichts anderes gelten. Nach EuGH umfasst der Begriff der Beschränkung Marktzugangsbehinderungen aber nur „u. a.“. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 16 4.2. Vorgaben aus der Rechtsprechung zu Berufsqualifikationen Ob dieses weite Verständnis auch im Bereich der Berufsqualifikationen zur Anwendung gelangt und die Wiedereinführung der Zulassungspflicht als Beschränkung im Sinne des Art. 49 AEUV angesehen werden kann, ist im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu diesem Bereich fraglich. Kennzeichnend für die einschlägigen Entscheidungen in diesem Bereich46 ist zunächst, dass der Gerichtshof jeweils zu Beginn der Eingriffsprüfungen betont, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer (sekundärrechtlichen) Harmonisierung der Voraussetzungen für den Zugang zu einem Beruf, „festlegen dürfen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung dieses Berufs notwendig sind, und die Vorlage eines Diploms verlangen dürfen, mit dem diese Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt werden.“47 In einem früheren Urteil hat der EuGH ferner ausgeführt, dass im Falle solcher Bedingungen für die Aufnahme oder Ausübung einer Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat, „der Angehörige eines anderen Mitgliedstaates, der diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen [muss]. Deshalb sieht Artikel [53 Abs. 1 AEUV] vor, dass […] Richtlinien […] für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstige Befähigungsnachweise [erlassen werden].“48 In neueren Entscheidungen findet sich die Formulierung, dass „das Unionsrecht folglich dem nicht entgegen[steht], dass [Mitgliedstaaten] den Zugang zu [einer] Tätigkeit vom Besitz der für notwendig erachteten Kenntnisse und Fähigkeiten abhängig machen […].“49 Die Betonung mitgliedstaatlicher Regelungsautonomie bei Fehlen sekundärrechtlicher (inhaltlicher ) Harmonisierung des Berufszugangs sowie der Verweis auf Richtlinien zur Anerkennung von Berufsqualifikationen bedeuten jedoch nicht, dass mitgliedstaatliche Regelungen in diesem 46 Diese betreffen zum Teil auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV sowie in einigen Fällen ferner die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 f. AEUV. Im Zusammenhang mit Berufsqualifikationen besteht insbesondere zwischen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit allerdings ein Gleichlauf, da mitgliedstaatliche Anforderungen an Berufsqualifikationen nicht nur im Bereich selbständiger Tätigkeiten bestehen , sondern auch bei abhängiger Beschäftigung, die von Art. 45 AEUV erfasst wird. Die oben dargestellte Berufsanerkennungsrichtlinie erfasst entsprechend auch die Situation abhängig Beschäftigter, vgl. Art. 2 Abs. 1 BA-RL. Die einschlägigen Urteile verweisen daher auch gelegentlich auf beide Grundfreiheiten, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 2.12.2010, verb. Rs. C-422/09, 425 u. 426/09 (Vandorou u. a.), Rn. 66; EuGH, Urt. v. 13.11.2003, Rs. C-313/01 (Morgenbesser), Rn. 56 ff., 60. Ungeachtet der Sonderregelungen in der Berufsanerkennungsrichtlinie für die aktive Dienstleistungsfreiheit besteht auch zwischen Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit ein Wertungsgleichlauf bei Fragen der Berufsqualifikation, da auch der vorübergehenden bzw. lediglich über die Grenzen hinweg erbrachten selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat Berufsqualifikationen entgegengehalten werden können, vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-342/14 (X-Steuerberatungsgesellschaft ), Rn. 43 ff. 47 EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Rn. 10; EuGH, Urt. v. 7.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Rn. 9; EuGH, Urt. v. 6.12.2007, Rs. C-456/05 (Kommission/Deutschland), Rn. 48; EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 34; EuGH, Urt. v. 06.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard), Rn. 48. 48 EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Rn. 36. 49 EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-342/14 (X-Steuerberatungsgesellschaft), Rn. 46. Vgl. ferner EuGH, Urt. v. 06.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard), Rn. 50. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 17 Bereich keiner unionsrechtlichen Kontrolle unterliegen. Gerade in neueren Entscheidungen unterstreicht der EuGH ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten die ihnen insoweit verbleibende Befugnis zur Berufsreglementierung nur unter Beachtung der Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungsfreiheit, ausüben können.50 Dies gilt v. a. in Situationen, in denen die Anerkennungsrichtlinien nicht anwendbar sind.51 Nach der bisherigen Rechtsprechung sind Eingriffe im Zusammenhang mit Anforderungen bezüglich Berufsqualifikationen nur insoweit bejaht worden, als die Mitgliedstaaten die im EU- Ausland erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen der betreffenden Person unberücksichtigt gelassen haben.52 Der EuGH formuliert hierzu in ständiger Rechtsprechung, „dass nationale Qualifikationsvoraussetzungen , selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken können, dass sie die Ausübung dieser Grundfreiheiten beeinträchtigen, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen.“53 Da eine solche Berücksichtigung durch nationale Behörden in der Regel erfolgt, weil Anerkennungsverfahren durchgeführt werden, fehlt es überwiegend an einem Eingriff, sofern die Vorgaben zum Verfahren und dem hierbei zu gewährleistenden Rechtsschutz eingehalten werden .54 Eine Rechtfertigungsprüfung erfolgt dann nicht mehr, bzw. nur insoweit, als es an einer Berücksichtigung ausländischer Qualifikationen fehlt.55 Aus dieser Rechtsprechung lässt sich vor allem der Schluss ziehen, dass Berufsqualifikationen an sich bzw. allein die Tatsache, dass sie für den Berufszugang als Voraussetzung normiert werden, 50 Vgl. EuGH, Urt. v. 06.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard), Rn. 51; EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 35; EuGH, Urt. v. 06.12.2007, Rs. C-456/05 (Kommission/Deutschland), Rn. 48. 51 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 22, 25, 34. Siehe auch EuGH, Urt. v. 7.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Rn. 10, 13 ff.; EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Rn. 11. 52 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 06.12.2007, Rs. C-456/05 (Kommission/Deutschland), Rn. 51, 60; EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-342/14 (X-Steuerberatungsgesellschaft), Rn. 47 ff., insb. 49, 52 f., 54 f. (zur Dienstleistungsfreiheit ); EuGH, Urt. v. 17.03.2011, verb. Rs. C-372/09 u. C-373/09 (Josep Peñarroja Fa), Rn. 53 ff. (ebenfalls zur Dienstleistungsfreiheit). 53 EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 36; EuGH, Urt. v. 6.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard), Rn. 53. EuGH, Urt. v. 13.11.2003, Rs. C-313/01 (Morgenbesser), Rn. 62; Hervorhebung durch Verfasser. Vgl. ferner etwa EuGH, Urt. v. 02.12.2010, verb. Rs. C-422/09, 425 u. 426/09 (Vandorou u. a.), Rn. 66. Siehe auch EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Rn. 15. Hieraus entnimmt die Rechtsprechung in positiver Hinsicht den Grundsatz, wonach nationale Behörden, die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen ihrem Wert entsprechend anerkannt und angemessen zu berücksichtigen haben, vgl. EuGH, Urt. v. 17.03.2011, verb. Rs. C-372/09 u. C-373/09 (Josep Peñarroja Fa), Rn. 58; EuGH, Urt. v. 08.05.2008, Rs. C-39/07 (Kommission /Spanien), Rn. 37. 54 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 37 ff.; EuGH, Urt. v. 6.10.2015, Rs. C-298/14 (Brouillard ), Rn. 54 ff. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Rn. 16 ff.; EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Rn. 12 ff. 55 Siehe insbesondere EuGH, Urt. v. 17.12.2015, Rs. C-342/14 (X-Steuerberatungsgesellschaft), Rn. 52 ff. und sodann Rn. 54 bis 60, 61 (zur Dienstleistungsfreiheit); EuGH, Urt. v. 17.03.2011, verb. Rs. C-372/09 u. C-373/09 (Josep Peñarroja Fa), Rn. 53 ff. (ebenfalls zur Dienstleistungsfreiheit), Rn. 55 ff., insb. Rn. 58 u. 64 f. Vgl. ferner EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Rn. 36 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 18 keinen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit darstellen. Ein solcher liegt bei diesem Verständnis nur dann, wenn die nationalen Vorschriften eine Berücksichtigung ausländischer Qualifikationen etc. nicht vorsehen. Die mit dieser Schlussfolgerung verbundene Einschränkung des weiten Beschränkungsverbots spiegelt sich auch im Kommentarschrifttum wieder. In diesem wird unter Verweis auf die einschlägigen Entscheidungen die Ansicht vertreten, dass das Beschränkungsverbot im Bereich der Berufsreglementierung auf ein Verbot (versteckter) Diskriminierungen beschränkt sei.56 In der Regel gälten Erfordernisse im Zusammenhang mit Berufsqualifikation für alle an der Berufsausübung interessierten Personen und somit nicht nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten. Eine offene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit liege damit nicht vor.57 Würden jedoch die Berufsqualifikationen und Berufserfahrungen nicht anerkannt, die in anderen Mitgliedstaaten erworben wurden, würden sich Berufsqualifikationserfordernisse überwiegend zum Nachteil Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten auswirken, da diese Personengruppe Berufsausbildungen etc. grundsätzlich in ihren Heimatstaaten absolviert haben. Den dadurch begründeten Vorwurf einer versteckten Diskriminierung könne ein Mitgliedstaat nur durch die Berücksichtigung ausländischer Qualifikationen und Berufserfahrungen entkräften.58 Da die Urteile insoweit aber nicht eindeutig formuliert sind und sich den Ausführungen des EuGH nicht ausdrücklich entnehmen lässt, dass Berufsqualifikationen an sich keinen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit darstellen, ist noch eine andere Lesart der Rechtsprechung zu Berufsqualifikationen möglich. Danach können Erfordernisse in diesem Bereich zwar einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit darstellen. Dieser ist aber per se gerechtfertigt und insbesondere verhältnismäßig, wenn nationale Vorschriften eine Berücksichtigung ausländischer Qualifikationen etc. vorsehen. Für dieses Verständnis finden sich in den Urteilen allerdings nur wenige Anhaltspunkte und erst recht keine expliziten. Beide Deutungen unterscheiden sich zwar in ihrem rechtlichen Ansatz – Eingriffsausschluss bzw. generelle Rechtfertigung. Sie kommen jedoch zum gleichen Ergebnis: Die Niederlassungsfreiheit steht mitgliedstaatlichen Qualifikationsanforderungen für den Zugang zu Berufen dann nicht entgegen, wenn die einschlägigen nationalen Vorschriften hierbei Qualifikationen und Berufserfahrung , die in anderen Mitgliedstaaten erworben wurden, angemessen berücksichtigen. Dies kommt auch in der durch den EuGH getroffenen Aussage zum Ausdruck, wonach die Gleichwertigkeitsprüfung59, die sich aus dem Berücksichtigungsgebot ausländischer Qualifikationen ergibt, das „Erfordernis der für die Ausübung eines bestimmten Berufs verlangten Befähigung 56 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 44), Art. 49 AEUV (60. Erg.lfg. 2016), Rn. 109 f.; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 49 AEUV, Rn. 92. Die oben zitierte Aussage des EuGH, wonach „nationale Qualifikationsvoraussetzungen […] ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden“ (Fn. 53), wäre dann dahingehend zu verstehen, dass die Anwendung nicht offen diskriminierend erfolge. 57 Siehe zur Definition offener und versteckter Diskriminierung Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 825. 58 So Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 56), Art. 49 AEUV, Rn. 93. 59 Siehe hierzu EuGH, Urt. v. 13.11.2003, Rs. C-313/01 (Morgenbesser), Rn. 57. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 19 mit den Geboten der wirksamen Ausübung der in den Art. [45 und 49 AEUV] garantierten Grundfreiheiten in Einklang [bringt].“60 Der in dem Berücksichtigungsgebot liegende Ausgleich zwischen dem Interesse der Mitgliedstaaten, den Berufszugang reglementieren zu können, und der Gewährleistung der unionsrechtlichen Personenfreiheiten erklärt, warum in der mittlerweile 30jährigen ständigen Rechtsprechung seit dem Urteil Heylens61 keine EuGH-Entscheidungen ergangen sind, in denen die Zulässigkeit eines Berufsqualifikationserfordernisses unabhängig von der Berücksichtigungsverpflichtung in Frage gestellt wurde. 4.3. Konsequenzen für die Wiedereinführung der Zulassungspflicht Überträgt man diese Feststellungen auf die Zulassungspflicht, so wäre diese entweder nicht als Eingriff oder generell nicht als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit anzusehen, wenn zugleich gewährleistet ist, dass in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen und Berufserfahrung angemessen berücksichtigt werden. Entsprechende Anerkennungsverfahren sind nach geltender Rechtslage in § 9 HwO in Verbindung mit §§ 1 bis 7 EU/EWR HwV vorgesehen.62 Bei ihrer Anwendung im Fall der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für jetzt zulassungsfreie Handwerke würde ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit daher entweder bereits auf Ebene des Eingriffs ausscheiden oder er wäre als gerechtfertigt anzusehen. Ob sich etwas anderes aus dem Umstand ergibt, dass es sich um die Wiedereinführung der Zulassungspflicht für Handwerke handelt, nachdem diese Pflicht vor mehr als 10 Jahren mangels Notwendigkeit für Zulassungsanforderungen in Gestalt handwerklicher Berufsqualifikationen für diese Gewerke aufgehoben wurde,63 lässt sich mangels vergleichbarer Fälle in der bisherigen Rechtsprechung nicht abschließend beurteilen. Im Lichte der obigen Ausführungen dürfte es aber keine Rolle spielen, ob es sich um bestehende, wegen neuer Berufsbilder erstmals oder eben um wiedereingeführte Qualifikationsanforderungen handelt. Entscheidend ist nach bisheriger Rechtsprechung , dass in allen Fällen das Gebot der angemessenen Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Qualifikationen und Erfahrung beachtet wird. Davon wäre – wie oben geschrieben – mit Blick auf die geltende Rechtslage auszugehen. 5. Rechtfertigung der Wiedereinführung der Zulassungspflicht Fehlt es Qualifikationserfordernissen bereits an der grundfreiheitlichen Eingriffsqualität oder generell an einem Grundfreiheitsverstoß, so besteht im Lichte der Niederlassungsfreiheit auch keine Notwendigkeit, die Berufsqualifikation an sich einer (gesonderten) Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen. Die wiedereinzuführende Zulassungspflicht als solche unterläge nach bisheriger 60 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2009, Rs. C-345/08 (Peśla), Rn. 51. Siehe ferner EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Rn. 13. 61 EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Rs. 222/86 (Heylens), Rn. 10 ff. Die in diesem Kontext oftmals als Ausgangsentscheidung zitierte Rechtssache Vlassopoulou wurde im Jahre 1991 entschieden. In seinen Entscheidungsgründen in diesem Urteil zitiert der EuGH jedoch mehrmals die Rs. Heylens, siehe EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Rn. 9, 17, 22. 62 Siehe oben unter 2.1., S. 4 f. 63 Vgl. BT-Drs. 15/1206, S. 2. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 20 Rechtsprechung des EuGH im Bereich der Berufsreglementierung somit im Ergebnis keinem Rechtfertigungs- und Verhältnismäßigkeitsvorbehalt. Vor diesem Hintergrund stellt sich zum einen die Frage nach der Zulässigkeit sowie dem Sinn und Zweck der geplanten Verhältnismäßigkeitsrichtlinie (siehe unter 5.1.). Dessen ungeachtet ist nicht auszuschließen, dass sich die Rechtsprechung zu Berufsreglementierungen zukünftig ändert bzw. fortentwickelt und Berufsqualifikationen dann einem primärrechtlichen Rechtfertigungsvorbehalt unterzogen werden. Daher ist zum anderen eine mögliche (potentielle) Rechtfertigung einer wiedereingeführten Zulassungspflicht zu untersuchen (siehe unter 5.2.). Hierbei werden auch die Vorgaben der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie berücksichtigt. 5.1. Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie Die Kommission führt in der Begründung ihres Vorschlags für die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie aus, dass zwar die Regulierung reglementierter Berufe in Abwesenheit harmonisierter Vorschriften auf EU-Ebene in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle.64 Diese hätten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit aber die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit zu wahren.65 In der Ratsfassung wurden diese Feststellungen sogar in den normativen Teil aufgenommen (vgl. dort Art. 1 S. 2). Die Kommission führt in ihrer Begründung ferner aus, „dass nationale Berufsreglementierungen und Qualifikationsanforderungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung angewendet werden, die Ausübung der vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten der EU-Bürger erschweren oder weniger attraktiv machen können.“66 Wie oben gezeigt, lassen sich solche Schlussfolgerung aus der Rechtsprechung nur insoweit ziehen , als hierbei in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen und Erfahrungen nicht be- 64 Vgl. Fn. 34, S. 2. 65 Vgl. Fn. 34, S. 2. 66 Vgl. Fn. 34, S. 3. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 21 rücksichtigt werden. Auf diesen entscheidenden Umstand weist die Kommission in ihrer Begründung jedoch nicht hin,67 obwohl der Gerichtshof ihn in diesem Zusammenhang in der Regel ausdrücklich anführt.68 Erfolgt eine Berücksichtigung ausländischer Qualifikationen sowie Erfahrungen und werden die hierfür bestehenden Vorgaben eingehalten, ist der Niederlassungsfreiheit bzw. den anderen Personenfreiheiten in ihrer Gestalt als Diskriminierungsverbot Genüge getan bzw. ein Grundfreiheitsverstoß insgesamt ausgeschlossen.69 Auf eine Rechtfertigungs- und insbesondere Verhältnismäßigkeitsprüfung in Bezug auf die Berufsqualifikation als solche, zu der die Mitgliedstaaten nach der vorgeschlagenen Verhältnismäßigkeitsrichtlinie verpflichtet werden, kommt es nicht an. Hieraus folgt, dass der Richtlinienvorschlag in Bezug auf Qualifikationsanforderungen keine Stütze im primärrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten findet. Zwar enthält er nur eine Pflicht zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit, normiert diese aber nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Einführung von Berufsqualifikationsanforderungen. Gleichwohl wird durch die Prüfungspflicht sowie durch Art. 1 S. 2 Ratsfassung der (Rechts-)Eindruck suggeriert, als ob die Mitgliedstaaten auch materiell zu einer Beachtung der Rechtfertigungsebene verpflichtet wären, weil Qualifikationserfordernisse per se einen Grundfreiheitseingriff bzw. -verstoß darstellen. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen bzw. unklar, ob der Verstoß gegen die (formelle) Prüfungspflicht der Richtlinie einen Formfehler begründet, der zur Unanwendbarkeit der nicht oder nicht richtig geprüften mitgliedstaatlichen Qualifikationsanforderungen führt. In einem solchen Fall würde die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie – über den Umweg einer lediglich formellen Verpflichtung – weiterreichendere Rechtsfolgen nach sich ziehen, als dies nach der Niederlassungsfreiheit im Lichte der bisherigen Rechtsprechung möglich wäre. Zwar dürfte dem Unionsgesetzgeber die Befugnis zukommen, bei der sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Binnenmarkts über die primärrechtlichen Vorgaben hinauszugehen und eine weitergehende Liberalisierung vorzusehen, als sie sich aus der Anwendung der Grundfreiheiten selbst ergibt. Verwiesen sei insoweit auf Art. 16 Abs. 1 lit. b der Dienstleistungsrichtlinie, der die 67 Auffallend ist, dass die Kommission zum Nachweis der unter Fn. 66 zitierten Aussage nur zwei Urteile (ohne Randnummernbezug) aufführt: EuGH, Urt. v. 07.05.1991, Rs. C-340/89 (Vlassopoulou) und EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), denen sich diese Aussage so zudem nicht entnehmen lässt. In der Rs. Vlassopoulou ist zwar die Rede davon, dass nationale Qualifikationsanforderungen sich dahingehend auswirken können, dass sie die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen (vgl. Rn. 15). Nach EuGH kann dies „der Fall sein, wenn die fraglichen Vorschriften, die […] in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen.“ (Rn. 15). Dass ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff allein in der Berufsqualifikation liegt, stellt der EuGH hingegen nicht fest. In der Rs. Gebhard führt der EuGH in Rn. 37 nur allgemein aus, dass nationale Maßnahmen, die die Grundfreiheiten „behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen […].“ Zu diesen Voraussetzungen zählen u. a. die Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls und die Verhältnismäßigkeit. Berufsqualifikationen und die sich in diesem Fall ergebenden unionsrechtlichen Konsequenzen erwähnt er erst eine Randnummer weiter. In dieser führt er unter Verweis auf die Rs. Vlassopoulou aus, dass die Mitgliedstaaten in anderen Mitgliedstaaten erworbene Kenntnisse und Qualifikationen nicht außer Acht lassen dürfen (vgl. Rn. 38). 68 Siehe oben die in Fn. 53 zitierten Urteile. 69 Siehe oben unter 4.2., S. 16 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 22 Rechtsfertigungsgründe, die den Mitgliedstaaten nach der primärrechtlichen Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 57 f. AEUV zustehen, auf einen Katalog von vier Gründen reduziert.70 Ob eine Liberalisierung hingegen unionsrechtlich auch in Fällen zulässig ist, in denen es an einem Grundfreiheitseingriff bzw. -verstoß mangelt, erscheint zumindest fraglich. Kompetentiell ist der Vorschlag der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie auf Art. 46, 53 Abs. 1 und 62 AEUV gestützt. Versteht man diese Bestimmungen als besondere, speziellere Ausprägungen der allgemeinen Binnenmarktharmonisierungskompetenzen in Art. 114 AEUV,71 so dürfte auch für die drei erstgenannten Vertragsvorschriften gelten, dass das Bestehen von Hemmnissen für den freien Verkehr von Personen eine notwendige Tatbestandsvoraussetzung für die Nutzung dieser Kompetenzgrundlagen darstellt.72 Mangels grundfreiheitlicher Eingriffs- bzw. Verstoßqualität von Berufsqualifikationsanforderungen wird diese Voraussetzung jedoch gerade nicht erfüllt. Ob die genannten Harmonisierungskompetenzen eine Rechtssetzung auch unabhängig von dieser Voraussetzung ermöglichen, ist umstritten.73 Dessen ungeachtet wäre im Fall einer sekundärrechtlichen Liberalisierung, die über die primärrechtlichen Vorgaben der Grundfreiheiten hinausgeht, zu erwarten, dass dieser Umstand sowohl in der Begründung des Rechtsakts als auch in seinen Erwägungsgründen offen gelegt wird. Die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie kommt hingegen sowohl im Kommissionsvorschlag als auch in der Ratsfassung als Kodifizierung bestehender primärrechtlicher Vorgaben daher, die so nicht bestehen . Das gilt nicht nur für die Verpflichtung zur Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung als solche, sondern zum Teil auch für die sehr detaillierten Kriterien, die die Mitgliedstaaten nach dem Richtlinienvorschlag in Art. 6 Abs. 2 und 4 bei der Prüfung zu beachten haben. Soweit diese speziell auf Berufsqualifikationen und deren Bewertung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bezogen sind (vgl. etwa Art. 6 Abs. 2 lit. d, e, g VHM-RL-Vorschlag), lassen sie sich auch der allgemeinen Rechtsprechung zu grundfreiheitlichen Verhältnismäßigkeitsprüfungen nicht entnehmen . Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass die betreffenden Kriterien im Falle einer grundfreiheitlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Berufsqualifikationen Beachtung fänden. Aufgrund der bisherigen Rechtsprechungslinie gibt es hierfür jedoch gerade keine Beispiele. 70 Vgl. hierzu Schmidt-Kessel, in: Schlachter/Ohler (Fn. 30), Art. 16, Rn. 31, 42 f.; Calliess/Korte (Fn. 10), § 6, Rn. 26 ff.; 71 Vgl. etwa Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 44), Art. 114 AEUV (60. Erg.lfg. 2016), Rn. 122; Classen, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 56), Art. 114 AEUV, Rn. 89 f. 72 Siehe Classen, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 56), Art. 114 AEUV, Rn. 42 ff.; Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Fn. 56), Art. 114 AEUV (60. Erg.lfg. 2016), Rn. 97 ff. 73 Vgl. Classen, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 56), Art. 114 AEUV, Rn. 48 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 23 5.2. Rechtfertigungsprüfung Für eine mögliche Rechtfertigungsprüfung (zur allgemeinen Struktur, siehe unter 5.2.1.) der Wiedereinführung der Zulassungspflicht ist auf drei Beweggründe abzustellen, die mit den als negativ eingeschätzten Auswirkungen der 2003 erfolgten Handwerksnovelle korrespondieren: der Sicherstellung von Ausbildung (siehe unter 5.2.2.), der Gewährleistung einer hohen Qualität der Handwerksleistungen in den betreffenden Handwerken (siehe unter 5.2.3.) und der Nachhaltigkeit von Betriebsgründungen (siehe unter 5.2.4.). 5.2.1. Struktur der Rechtfertigungsprüfung Bei der Rechtfertigungsprüfung wird im Folgenden gemäß der Rechtsprechung jeweils zwischen den geltend gemachten Rechtfertigungsgründen und der eigentlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterschieden.74 Diese Unterscheidung liegt auch der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie zugrunde , vgl. Art. 5 VHM-RL-Vorschlag einerseits und Art. 6 VHM-RL-Vorschlag andererseits. Im Rahmen der eigentlichen Verhältnismäßigkeit prüft der EuGH zwei Punkte. Zum einen die Geeignetheit der betreffenden nationalen Maßnahme zur Erreichung des geltend gemachten Ziels bzw. Rechtfertigungsgrundes und zum anderen die Erforderlichkeit, wonach der geltend gemachte Rechtfertigungsgrund nicht durch weniger beschränkende Maßnahmen erreicht werden darf.75 Diese beiden Prüfungspunkte finden sich zwar auch in der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie, vgl. Art. 6 Abs. 1 VHM-RL-Vorschlag. Vom Wortlaut her werden sie aber durch einen dritten Prüfungspunkt ergänzt, nämlich der Notwendigkeit der betreffenden Vorschriften, vgl. Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 sowie Art. 4 Abs. 3 VHM-RL-Vorschlag.76 Soweit es sich hierbei um einen eigenständigen und neuen Prüfungspunkt für die sekundärrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung handelt , wird er im Folgenden mangels primärrechtlicher Verankerung nicht weiter berücksichtigt. Von Bedeutung ist darüber hinaus, dass die Darlegungslast im Rahmen der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten liegt. Der EuGH führt – wenngleich im konkreten Fall in Bezug auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit – hierzu etwa folgendes aus: „Die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, müssen daher von einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahme sowie von genauen Angaben zur 74 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 8.09.2016, Rs. C-225/15 (Domenico Politanò), Rn. 40; EuGH, Urt. v. 5.12.2013, verb. Rs. C-159/12 bis C-161/12 (Venturini), Rn. 37. Siehe aus der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung), Rn. 34. 75 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 8.09.2016, Rs. C-225/15 (Domenico Politanò), Rn. 44; EuGH, Urt. v. 05.12.2013, verb. Rs. C-159/12 bis C-161/12 (Venturini), Rn. 37, 44, 58. EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung), Rn. 34. 76 Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 VHM-RL-Vorschlag lautet insoweit: „[…] prüfen die Mitgliedstaaten, ob diese Vorschriften notwendig und für die Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sind und nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinausgehen […]“(Hervorhebung durch Verfasser). Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 VHM-RL-Vorschlag lautet insoweit: „Bei der Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Vorschriften berücksichtigen die einschlägigen zuständigen Behörden […]“(Hervorhebung durch Verfasser). Zum Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 VHM-RL-Vorschlag, siehe nächster Absatz. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 24 Stützung seines Vorbringens begleitet sein.“77 Dieser Hinweis erfolgt allerdings nicht in allen Fällen .78 In der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie findet sich hierzu in Art. 4 Abs. 3 die Vorgabe, wonach die Mitgliedstaaten „die Gründe für die Betrachtung einer Vorschrift als gerechtfertigt, notwendig und verhältnismäßig […] durch qualitative und, soweit möglich, quantitative Nachweise [substantiieren müssen].“ Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage nach einem mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum , dem spiegelbildlich eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte gegenübersteht, insbesondere bei der Entscheidung, welche Maßnahmen als erforderlich angesehen werden. Einen solchen Beurteilungsspielraum räumt der Gerichthof den Mitgliedstaaten etwa im Bereich des Gesundheitsschutzes ein,79 wobei sich im Einzelnen die Frage stellt, wie sehr hierdurch die gerichtliche Kontrolldichte zurückgenommen wird.80 In der Ratsfassung der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie finden sich in diesem Zusammenhang an zwei Stellen Ergänzungen. Nach Art. 1 S. 2 Ratsfassung berührt der Gegenstand der Richtlinie u. a. nicht „den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Entscheidung, ob und wie ein Beruf zu reglementieren ist […].“ Dies gilt allerdings nur solange – so die weitere Formulierung der Ratsergänzung – wie die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Ergänzt wurde ferner der eben zitierte Art. 4 Abs. 3 VHM-RL-Vorschlag um den Passus „unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten dieses Mitgliedstaates“. Wie hoch die mitgliedstaatliche Darlegungslast im Einzelfall ist und in welchem Umfang der EuGH einen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten akzeptiert, lässt sich ungeachtet der anerkannten allgemeinen Rechtsprechungsvorgaben zur grundfreiheitlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung nur schwer vorhersagen. Mit Blick auf die nur schwer zu systematisierende Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, wonach sich die „Prüfungsdichte [der Verhältnismäßigkeitsprüfung] eher an einem Faktorbündel orientier[t], das nur case-by-case bestimmt werden kann (Wertigkeit des Schutzguts, Schärfe des Eingriffs etc.).“81 77 EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung), Rn. 35, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 78 Vgl. etwa die zur Niederlassungsfreiheit ergangenen, in Fn. 74 zitierten Entscheidungen. 79 EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung), Rn. 30. 80 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 (Deutsche Parkinson Vereinigung), Rn. 36 ff. EuGH, Urt. v. 23.12.2015, Rs. C-333/14 (Scotch Whisky Association), Rn. 55 ff. 81 Siehe hierzu etwa Brigola, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gefüge der EU-Grundfreiheiten – Steuerungsinstrument oder Risikofaktor?, EuZW 2017, S. 406 (412). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 25 5.2.2. Ausbildungssicherung Hinsichtlich der negativen Auswirkungen der Handwerksnovelle wird in erste Linie auf die nachlassende Ausbildungsbereitschaft in den zulassungsfreien Handwerksberufen verwiesen.82 Nach einer Untersuchung des ifh Göttingen83 sank der Anteil der Ausbildungsbetriebe an allen Betrieben im Zeitraum von 2003 bis 2013 in den zulassungsfreien Betrieben von 12,8% auf 3,7%, was eine (negative) Veränderung von 71,09% ergibt. Bei den zulassungspflichtigen Handwerken sank der Anteil der Ausbildungsbetriebe an allen Betrieben von 32,0% auf 22,8%, was eine (negative ) Veränderung von 28,75% ergibt.84 Die Zahl der gewerblich-technischen Auszubildenden sank nach dieser Untersuchung in zulassungsfreien Handwerken im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Zeitraum von 2008 bis 2012 von 4,1% auf 2,9%, was eine (negative) Veränderung von 27,9% bedeutet .85 Bei den zulassungspflichtigen Handwerken war im gleichen Zeitraum ein Rückgang von 12,7% auf 10,04% zu verzeichnen und damit ein negative Veränderung in Höhe von 18,2%.86 Hinsichtlich der Zahl der Ausbildungsanfänger seit 2003 (100%) sank der Anteil der Anfänger in zulassungsfreien Handwerken bei mehr oder weniger gleichbleibenden Zahlen hinsichtlich der Schulabgänger bis 2013 auf ca. 74 % und damit um ca. 26%. Bei zulassungspflichtigen Betrieben erfolgte eine Absenkung auf ca. 83% und damit um ca. 17%. Mit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke soll die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommende nachlassende Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung in dem Bereich aufgehalten bzw. wieder erhöht werden. 5.2.2.1. Zum Rechtfertigungsgrund Die Sicherstellung einer ausreichenden Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung in derzeit zulassungsfreien Handwerken dürfte als Ziel des Allgemeininteresses und damit als zulässiger Rechtfertigungsgrund anzusehen sein. Zwar sind keine Urteile des EuGH bekannt, in denen eine 82 Siehe etwa Esser, Meister in Europa. Bildungspolitisch aufgestiegen – als Stabilitätsanker gefährdet?, BWP 2/2014, S. 3, online abrufbar unter https://www.bibb.de/veroeffentlichungen/de/bwp/show/7221 (letztmaliger Abruf am 13.07.17); Müller, ifh Göttingen, 10 Jahre nach der Novellierung der Handwerksordnung – eine Bilanz, Präsentation vom 26.03.2015 auf dem Unternehmertag 2015 des Unternehmerverbandes Handwerk NRW, online abrufbar unter http://www.ifh.wiwi.uni-goettingen.de/sites/default/files/Vortrag%20Dr.%20M%C3%BCller %20Unternehmertag%20D%C3%BCsseldorf%202015_03_26.pdf (letztmaliger Abruf am 13.07.17). Zimmermann , Erosion ohne Gewinn: Die Handwerksrechtsreform und ihre Auswirkung auf die Ausbildung, GewArch 2011, S. 63 ff. 83 Volkswirtschaftliches Institut für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen, online siehe unter http://www.ifh.wiwi.uni-goettingen.de/ (letztmaliger Abruf am 13.07.17). 84 Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 15. 85 Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 14. 86 Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 14. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 26 solche Allgemeinwohlerwägung vorgetragen wurde. Auch die beispielhafte Aufzählung in Art. 4 Abs. 2 VHM-RL-Vorschlag enthält insoweit nichts. Der Katalog der im Allgemeininteresse liegenden Ziele ist jedoch offen,87 ausgeschlossen sind lediglich Gründe, die rein wirtschaftlicher Natur sind.88 Art. 4 Abs. 3 VHM-RL-Vorschlag ergänzt diese, der ständigen Rechtsprechung entnommene Einschränkung noch um die Formulierung, wonach die Gründe nicht im Wesentlichen protektionistischen Zwecken dienen oder protektionistische Wirkungen haben dürfen. Protektionistische Zwecke oder Auswirkungen sind im Fall der Sicherstellung der Ausbildungsbereitschaft und der Ausbildung in derzeit zulassungsfreien Handwerken nicht gegeben. Das Gegenteil ist der Fall. Die betriebliche Ausbildung von Nachwuchskräften ist in Deutschland aufgrund des Systems der dualen Ausbildung neben der (berufs-)schulischen Bildung ein zentraler Pfeiler der Berufsausbildung (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Berufsbildungsgesetz). Sinkt die Anzahl der Ausbildungsbetriebe, so hat dies auch konkrete (negative) Folgen für die Ausbildungsmöglichkeiten von Nachwuchskräften, hier im handwerklichen Bereich, wie an der rückläufigen Zahl der Ausbildungsanfänger deutlich wird. Dies könnte nicht nur Nachteile für die auf Fachkräfte angewiesene Handwerks- und Gesamtwirtschaft nach sich ziehen, sondern auch für die an einer Ausbildung im Handwerk interessierten Jugendlichen, die ohne Ausbildungsplätze, die ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechen, u. U. von Jugendarbeitslosigkeit bedroht sind.89 Eine Sicherstellung der Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung von Fachkräften ist daher als im Allgemeininteresse liegendes Ziel anzusehen, das einen zulässigen Rechtfertigungsgrund darstellt. 5.2.2.2. Verhältnismäßigkeit Fraglich ist jedoch, ob die Wiedereinführung der Zulassungspflicht für die derzeit zulassungsfreien Handwerke geeignet und erforderlich ist, um die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und die Ausbildung von Nachwuchskräften sicherzustellen. Speziell hierauf bezogene Kriterien finden sich zwar weder in dem Kommissionsvorschlag für die Verhältnismäßigkeitsrichtlinie noch in der Ratsfassung dieses Vorschlags.. Zweifel bestehen dennoch, und zwar zunächst an der Geeignetheit. Wie aus den oben wiedergegebenen Zahlen deutlich wird, ist die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in zulassungspflichtigen Handwerken und die Zahl der dort beschäftigen Ausbildungsanfänger ebenfalls gesunken, wenngleich nicht so stark wie im Bereich der zulassungsfreien Handwerke. Dies wirft zum einen die Frage auf, ob die Wiedereinführung der Zulassungspflicht für die derzeit zulassungsfreien Handwerke überhaupt die gewünschte Wirkung bezüglich Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung wird erzielen können . Zum anderen stellt sich Frage, ob und ggf. welche anderen Ursachen möglichweise für das Nachlassen der Ausbildungsbereitschaft einerseits und individuelle Entscheidungen gegen eine 87 Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 993. 88 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-120/95 (Decker), Rn. 39. 89 Siehe hierzu etwa die Broschüre des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB), Qualität kommt von Qualifikation, Mai 2014, online abrufbar unter https://www.zdb.de/zdb-cms.nsf/res/Duale%20Ausbildung _2014.pdf/$file/Duale%20Ausbildung_2014.pdf (letztmaliger Abruf am 13.07.17), S. 7. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 27 Ausbildung in Handwerksberufen andererseits bestehen. Soweit bekannt, liegen hierzu keine Untersuchungen vor. Im Zusammenhang mit der Ausbildungsbereitschaft ist in diesem Zusammenhang jedoch auf einen Umstand hinzuweisen, der sich ebenfalls aus der Handwerksnovelle ergibt und sowohl zulassungspflichtige als auch zulassungsfreie Handwerke betrifft. In beiden Fällen bestehen nämlich zum Teil unterschiedliche Voraussetzungen für den Berufszugang einerseits und für die fachliche Ausbildungsberechtigung andererseits. Für letztere ist unterhalb der Meisterprüfung immer zusätzlich der Nachweis von berufs- und arbeitspädagogischen Kenntnissen zu erbringen .90 Da die Meisterprüfung auch bei zulassungspflichtigen Handwerken nicht mehr die einzige Zugangsvoraussetzung darstellt, verfügen auch nicht alle Betriebe bzw. die dort tätigen Personen in diesem Bereich automatisch über die fachliche Ausbildungsberechtigung. Bei den zulassungsfreien Handwerken stellt sich die Situation noch gravierender dar. Denn dort bedarf es derzeit keinerlei Qualifikationen für den selbständigen Betrieb von Handwerken, die fachliche Ausbildungsberechtigung knüpft hingegen weiterhin v. a. an die Meister- oder Gesellenprüfung, wobei im letzten Fall zusätzlich berufs- und arbeitspädagogische Kenntnisse nachzuweisen sind. Diese Diskrepanz würde bei Wiedereinführung der Zulassungspflicht zwar deutlich reduziert, aber eben nicht beseitigt werden. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die dann noch fortbestehende Diskrepanz weiterhin negativen Einfluss auf die Ausbildungsbereitschaft hat, ergeben sich auch hieraus Zweifel an der Geeignetheit einer wiedereingeführten Zulassungspflicht zur Sicherstellung der Ausbildung in derzeit zulassungsfreien Handwerken. Sollte sich aus Untersuchungen etc. ergeben, dass die Wiedereinführung der Zulassungspflicht gleichwohl dem Grunde nach geeignet ist, Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung in den betreffenden Handwerken zu sichern, stellt sich die Frage nach ihrer Erforderlichkeit bzw. nach milderen Mitteln, die das Ziel in weniger einschränkender Weise erreichen können. Hierbei ist zu unterstellen, dass die Wiedereinführung der Zulassungspflicht als solche einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit darstellt. Hiervon ausgehend wiegt dieser insoweit schwer, als nach derzeitiger Rechtslage keinerlei an die Berufsqualifikation gebundene Zugangsvoraussetzungen bestehen. Mit Blick auf die mitgliedstaatliche Darlegungslast für die Erforderlichkeit wäre an dieser Stelle zu prüfen, welche milderen Maßnahmen ggf. erwogen und als weniger geeignet zur Zielverwirklichung verworfen wurden. Hierzu liegen aufgrund der hypothetischen Fallfrage keine Angaben vor. Aus Verfassersicht könnte jedoch im Hinblick auf die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe etwa erwogen werden, finanzielle Anreize hierfür zu schaffen, ab bestimmten Unternehmensgrößen Ausbildungsverpflichtungen vorzusehen oder eben den Erwerb von Arbeits- und berufspädagogischen Kenntnissen in bestimmten Fällen vorzuschreiben etc. Insgesamt ist festzuhalten, dass eine abschließende Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit der Ausbildungssicherung nach derzeitigem Informations- und Kenntnisstand nicht möglich ist. Allein der deutlich negative Trend in Bezug auf Ausbildungsbereitschaft und Ausbildung in den derzeit zulassungsfreien Handwerken genügt angesichts der auch bei zulassungspflichtigen Handwerken bestehenden (geringeren) Negativentwicklung nicht. Anzumerken 90 Siehe oben unter 2.1., S. 4 f., und 2.2., S. 6. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 28 ist ferner, dass eine alle 53 zulassungsfreien Handwerke erfassende Wiedereinführung der Zulassungspflicht entsprechend differenziert im Hinblick auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit begründet werden müsste. 5.2.3. Gewährleistung eines hohen Qualitätsstandards 5.2.3.1. Zum Rechtfertigungsgrund Die Gewährleistung eines hohen Qualitätsstandards handwerklicher Arbeiten steht in engem Zusammenhang mit dem Schutz der Verbraucher als Kunden der Handwerksbetriebe. Ersteres ist durch die Rechtsprechung auch in dieser besonderen Kombination als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt.91 In der beispielhaften Aufzählung in Art. 5 Abs. 2 VHM-RL-Vorschlag findet sich insoweit nur der Verbraucherschutz. 5.2.3.2. Verhältnismäßigkeit Die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer wiedereinzuführenden Zulassungspflicht zur Gewährleistung eines hohen Qualitätsstandards im Bereich der derzeit zulassungsfreien Handwerke dürfte entscheidend davon abhängen, ob Nachweise dafür bestehen, dass die Qualität der Handwerksleistungen in diesem Bereich nachgelassen hat, insbesondere im Vergleich zu den zulassungspflichtigen Betrieben bzw. zu der Zeit vor der Handwerksnovelle. Nach der oben zitierten ifh-Untersuchung soll es jedenfalls zu Fliesenlegern Studien geben, wonach die Mängel seit der Handwerksnovelle deutlich zugenommen haben.92 Ob und inwieweit bereits hierdurch qualitativ und quantitativ ausreichende Belege für die Geeignetheit und Erforderlich einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht vorliegen, lässt sich an dieser Stelle nicht beurteilen. Auch hier gilt, dass bei einer alle 53 zulassungsfreien Handwerke erfassende Wiedereinführung entsprechend differenzierte Informationen und Nachweise erforderlich wären. Könnten diese erbracht werden, dann könnte ein solches Vorhaben im Lichte der Rechtsprechung durchaus als verhältnismäßig angesehen werden.93 Ob dieses Ergebnis auch auf Grundlage der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie unter diesen Umständen zu erzielen wäre, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nach Art. 6 Abs. 2 lit. c VHM-RL-Vorschlag haben die Mitgliedstaaten etwa zu prüfen, ob nicht „bestehende Regelungen spezifischer oder allgemeiner Art, etwa Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Produktsicherheit oder des Verbraucherschutzes, das angestrebte Ziel nicht hinreichend schützen […].“ In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie man das Verhältnis eines präventiven Verbraucherschutzes durch Quali- 91 EuGH, Urt. v. 3.10.2000, Rs. C-58/98 (Corsten), Rn. 38. Der Fall betraf zwar die (aktive) Dienstleistungsfreiheit. Für die hier relevante Konstellation der Niederlassungsfreiheit dürfte aber nichts anderes gelten. 92 Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 31, unter Verweis auf eine dem Verfasser nicht vorliegende Studie der „Hommerich Forschung“. 93 Vgl. EuGH, Urt. v. 3.10.2000, Rs. C-58/98 (Corsten), Rn. 45. Siehe dazu auch Haratsch/Koenig/Pechstein (Fn. 16), Rn. 994. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 29 fikationsanforderungen zum nachgelagerten Verbraucherschutz in Gestalt des Gewährleistungsrechts bewertet. Als dazwischen liegende und damit ebenfalls mildere Maßnahme ließe sich auch an die jetzt schon mögliche Nutzung geschützter Berufsbezeichnungen denken, vgl. insoweit Art. 6 Abs. 4 lit. a VHM-RL-Vorschlag. Auch in zulassungsfreien Handwerken ist die Ablegung einer Meister- und Gesellenprüfung möglich, um damit gegenüber dem Kunden für einen bestimmten Qualitätsstandard zu werben. Dessen ungeachtet ist auch hier eine abschließende Entscheidung zur Verhältnismäßigkeit nach derzeitigem Informations- und Kenntnisstand nicht möglich. 5.2.4. Nachhaltigkeit der Betriebsgründungen aus Gründen des Verbraucherschutzes Als weitere (negative) Auswirkung der Handwerksnovelle wird die fehlende Nachhaltigkeit von Betriebsgründungen im Bereich der zulassungsfreien Handwerke angesehen. So habe es dort zwar viele Gründungen gegeben, es handele sich hierbei aber vor allem um Kleinstbetriebe mit geringen Qualifikationen und Stabilität.94 Die Überlebensrate neu gegründeter Betriebe nach fünf Jahren lag im Zeitraum 2003-2008 bei 66,8%, im Zeitraum 2007-2012 nur noch bei 45,9% und damit unter 50%.95 Dieser Umstand stelle auch ein Problem im Hinblick auf den Verbraucherschutz dar, da mängelbedingte Gewährleistungsansprüche vielfach mangels Schuldner ins Leere gehen würden. 5.2.4.1. Zum Rechtfertigungsgrund Wie oben ausgeführt, ist der Verbraucherschutz ein anerkannter zwingender Grund des Allgemeininteresses und damit ein zulässiger Rechtfertigungsgrund. Soweit die Nachhaltigkeit der Betriebsgründungen auch unabhängig von verbraucherschutzrechtlichen Erwägungen als Rechtfertigungsgrund angesehen werden soll, etwa im Sinne der Sicherung und Förderung eines soliden Mittelstandes, lässt sich nicht abschließend beurteilen, da hierzu – soweit ersichtlich – bisher keine EuGH-Rechtsprechung im Grundfreiheitsbereich vorliegt .96 Problematisch dürfte ein solcher Rechtfertigungsgrund jedenfalls dann sein, wenn es sich um eine Förderung nur des heimischen Mittelstandes handeln würde bzw. die Maßnahme nur seiner Sicherung dienen würde. Wie oben ausgeführt, dürfen die geltend gemachten Rechtfertigungsgründe nicht rein wirtschaftlicher Natur sein und keinen protektionistischen Zwecken dienen oder protektionistische Wirkungen haben. 5.2.4.2. Verhältnismäßigkeit Fragt man zunächst nach der Verhältnismäßigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für die Nachhaltigkeit der Betriebsgründungen aus Gründen des Verbraucherschutzes, so ist hin- 94 So das Ergebnis von Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 33, vgl. hierzu auch die Seiten 3 bis 13. 95 Müller, ifh Göttingen (Fn. 82), S. 9. Vgl. auch Esser (Fn. 82), S. 3. 96 Zur Europarechtskonformität der Mittelstandsförderung im Bereich des Vergaberechts (siehe § 97 Abs. 3 GWB), vgl. Kaltenborn, Mittelstandsförderung im Konflikt mit europäischem Vergaberecht?. GewArch 2006, S. 321 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 30 sichtlich der Geeignetheit zu beachten, dass die „gesetzliche“ Verjährungsfrist für Gewährleistungen bei Bauwerken nach § 13 Abs. 4 Nr. 1 Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen – Teil B (VOB/B) vier Jahre beträgt. Die regelmäßige Verjährungsfrist nach BGB liegt gemäß § 195 BGB bei nur drei Jahren. Eine über die Zeitdauer hinausgehende Nachhaltigkeit von Betriebsgründungen hat für den durch das Gewährleistungsrecht abgesicherten Verbraucherschutz keine Bedeutung. Hinsichtlich der Erforderlichkeit stellt sich die Frage nach milderen Mitteln als einer Wiedereinführung der Zulassungspflicht und dem damit verbundenen Erfordernis von Berufsqualifikationen . Mit Blick auf die insoweit bestehende mitgliedstaatliche Darlegungslast wäre an dieser Stelle zu prüfen, welche milderen Maßnahmen ggf. erwogen und als weniger geeignet zur Zielverwirklichung verworfen wurden. Hierzu liegen aufgrund der hypothetischen Fallfrage keine Angaben vor. Aus Verfassersicht könnte zum Schutz der Verbraucher bspw. auch hier an die Nutzung geschützter Berufsbezeichnungen oder an verpflichtende Unternehmensinformationen über das Datum der Betriebsgründung etc. gedacht werden, so dass Verbraucher die Wahl des Betriebs in Kenntnis der Qualifikationen seiner Angestellten einerseits und der Dauer der Marktteilnahme andererseits treffen können. Letztlich zeigen diese Alternativen, dass es sich hierbei um eine politisch und weniger rechtlich zu entscheidende Frage handelt, die sich im Kern darauf reduzieren lässt, ob der Markt über die Qualität entscheiden soll oder letztere durch staatliche Vorgaben im Bereich der Berufsqualifikationen zu gewährleisten ist. Den Grundfreiheiten selbst lassen sich hierfür kaum Parameter entnehmen . Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist eine abschließende Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für die Nachhaltigkeit der Betriebsgründungen aus Gründen des Verbraucherschutzes an dieser Stelle nicht möglich. Gleiches gilt für dieses Anliegen im Hinblick auf das Ziel einer Mittelstandsförderung, soweit diese als zulässiger Rechtfertigungsgrund angesehen werden kann. 6. Ergebnis Für die Frage nach der Zulässigkeit der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für derzeit zulassungsfreie Handwerke im Lichte des EU-Rechts kommt es zunächst auf den unionsrechtlichen Prüfungsmaßstab für diese Frage an. Die vorliegend sachlich einschlägigen Richtlinien, die Berufsanerkennungsrichtlinie sowie die Dienstleistungsrichtlinie, sind beide aus unterschiedlichen Gründen im Ergebnis nicht anwendbar. Während die Berufsanerkennungsrichtlinie keine Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Berufsqualifikationserfordernisse normiert, findet die Dienstleistungsrichtlinie mit den darin normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen für den hier einschlägigen Bereich reglementierter Berufe keine Anwendung. Somit ist die Wiedereinführung der Zulassungspflicht an der primärrechtlichen Niederlassungsfreiheit zu messen. Nach der für diese Grundfreiheit bisher maßgeblichen Rechtsprechung sind Berufsqualifikationserfordernisse entweder nicht als Eingriff oder generell nicht als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit zu werten , wenn zugleich gewährleistet ist, dass in anderen Mitgliedstaaten erworbene Qualifikationen und Berufserfahrung angemessen berücksichtigt werden. Entsprechende Anerkennungsverfahren sind nach geltender Rechtslage für den Zugang zu den aktuell bestehenden zulassungspflichten Handwerken vorgesehen. Bei ihrer Anwendung im Fall der Wiedereinführung der Zulassungspflicht für jetzt zulassungsfreie Handwerke würde ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit daher entweder bereits auf Ebene des Eingriffs ausscheiden oder er wäre als gerechtfertigt anzusehen . Eine gesonderte Rechtfertigungs- und insbesondere Verhältnismäßigkeitsprüfung wäre Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 37/17 Seite 31 hinsichtlich der Wiedereinführung der Zulassungspflicht bzw. der damit eingeführten Qualifikationsanforderungen im Ergebnis nicht notwendig. Dieser Umstand weckt Zweifel an der unionsrechtlichen Zulässigkeit sowie Sinnhaftigkeit der kürzlich vorgeschlagenen Verhältnismäßigkeitsrichtlinie , die die Mitgliedstaaten vor dem Erlass neuer Berufsreglementierungen zur Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verpflichtet. Für den Fall, dass eine primär- bzw. grundfreiheitliche Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der zukünftigen Rechtsprechung entnommen werden könnte, lässt sich vorliegend nicht abschließend entscheiden, ob die Wiedereinführung der Zulassungspflicht aus Gründen der Ausbildungssicherung, der Gewährleistung einer hohen Qualität der Handwerksleistungen in den betreffenden Handwerken und/oder der Nachhaltigkeit von Betriebsgründungen gerechtfertigt wäre. – Fachbereich Europa –