PE 6 - 3000 - 036/19 (25. März 2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Der Fachbereich Europa ist beauftragt worden, Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie )1 vor dem Hintergrund des Referentenentwurfs für ein Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz - Referentenentwurf) auszulegen . Art. 18 Rückführungsrichtlinie enthält Abweichungsmöglichkeiten in Bezug auf Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie in bestimmten Notlagesituationen. Gemäß Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie kann, wenn „eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals [führt]“, der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, u. a. „dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen des Artikeln 16 Absatz 1 sowie 17 Absatz 2 abweichen.“ Gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Rückführungsrichtlinie erfolgt die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind diese in einem Mitgliedstaat nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht , Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Rückführungsrichtlinie.2 Gleichsam müssen bis zur Abschiebung 1 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98. 2 Die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt nach Art. 16 Abs. 1 S. 2 Rückführungsrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bereits dann ausgeschlossen, wenn die nach nationalem Recht für Haftanordnung und –vollzug zuständige föderale Untergliederung eines föderal strukturierten Staates über keine spezielle Hafteinrichtung nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 Rückführungsrichtlinie verfügt, solche aber in anderen föderalen Untergliederungen vorhanden sind: EuGH, Urteil vom 17.7.2014, verb. Rs. C-473/13 (Bero/Regierungspräsidium Kassel) und C-514/13 (Bouzamate/Kreisverwaltung Kleve), ECLI:EU:C:2014:2095, Rn. 31-32. Als materielle Voraussetzung für die Unterbringung im Rahmen der Abschiebehaft verbietet das Trennungsgebot nach Auffassung des EuGH auch dann eine gemeinsame Unterbringung mit gewöhnlichen Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Rechtliche Anforderungen in Artikel 18 der Richtlinie 2008/115/EG für außergewöhnliche Maßnahmen in Bezug auf Haftbedingungen Rechtliche Anforderungen in Artikel 18 der Richtlinie 2008/115/EG für außergewöhnliche Maßnahmen in Bezug auf Haftbedingungen Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 in Haft genommene Familien eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet (gemeinsam sog. Trennungsgebot). Aus der Rückführungsrichtlinie (einschließlich ihrer Erwägungsgründe) ergeben sich über den Wortlaut hinaus keine weiteren Anhaltspunkte für die Auslegung des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie . Regelungen zur Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben nach der Rückführungsrichtlinie enthält das Rückkehr-Handbuch im Anhang zur Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission3. Jedoch finden sich auch in dessen entsprechenden Vorschriften – dort unter Ziff. 17 (Notlagen) – keine weiteren Bestimmungen zur Definition einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie. Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ist zudem nicht ersichtlich. Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat von der Notfallregelung des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie Gebrauch machen möchte, trifft Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie Verfahrensvorschriften . Die Mitgliedstaaten setzen gemäß Ziff. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie die Kommission darüber in Kenntnis, wenn sie auf Maßnahmen nach Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zurückgreifen. Gleiches gilt, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen. Entsprechende Informationen sollen gemäß Ziff. 17 Rückkehr- Handbuch der Kommission auf dem üblichen Dienstweg, d. h. über die Ständige Vertretung an das Generalsekretariat der Europäischen Kommission, übermittelt werden.4 Weitere Vorgaben über Inhalt oder Übermittlung der erforderlichen Informationen treffen weder Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie noch Ziff. 17 Rückkehr-Handbuch. Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie ist zudem nicht ersichtlich. Die Abweichungsmöglichkeiten in Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie werden zudem durch Art. 18 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie beschränkt. Gemäß Art. 18 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie ist Art. 18 Rückführungsrichtlinie nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus der Rückführungsrichtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen. Die Vorschrift soll – dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des „effet utile“ folgend5 - dafür Sorge tragen, dass die Bestimmungen Strafgefangenen, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige darin einwilligt: EuGH, Urteil vom 17.7.2014, Rs. C- 474/13, (Thi Ly Pham/Stadt Schweinfurt) ECLI:EU:C:2014:2096, Rn. 21 ff. 3 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch “, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. L 339 vom 19.12.2017, S. 83. 4 Bei dem Rückkehr-Handbuch handelt es sich um eine Empfehlung gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV. Empfehlungen sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV rechtlich nicht verbindlich, legen dem Adressaten jedoch regelmäßig ein bestimmtes Verhalten nahe, siehe dazu Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 288 AEUV, Rn. 96. 5 Erstmals EuGH, Urteil vom 15.7.1963, Rs. 34/62 (Kommission/Deutschland), Slg. 1963, 289, 318, siehe dazu erläuternd Streinz, in Streinz: EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 4 EUV, Rn. 33. Rechtliche Anforderungen in Artikel 18 der Richtlinie 2008/115/EG für außergewöhnliche Maßnahmen in Bezug auf Haftbedingungen Fachbereich Europa (PE 6) Seite 3 der Rückführungsrichtlinie, und damit auch die Vorgaben zu den Haftbedingungen gemäß Art. 16 und 17 Rückführungsrichtlinie, praktisch wirksam zur Anwendung kommen. Die besondere Bedeutung der in der Rückführungsrichtlinie festgelegten Haftbedingungen zeigt sich zudem im Erwägungsgrund 17 der Rückführungsrichtlinie6 sowie in der bereits genannten Entscheidung des EuGH vom 17.7.2014 (verb. Rs. C-473/13 und C-514/13), die gleichsam das Erfordernis des Vollzugs der Abschiebehaft in speziellen Abschiebehaftanstalten betonen. Vor diesem Hintergrund sei nach Ansicht des EuGH bereits die Ausnahmebestimmung in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Rückführungsrichtlinie (siehe oben Seite 1) eng auszulegen.7 Dies könnte dafür sprechen, die Ausnahmebestimmungen des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ebenso eng auszulegen. Weitere Grenzen des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zieht der Generalanwalt beim EuGH Yves Bot in seinen Schlussanträgen vom 30.4.2014 zu den verb. Rs. C-473/13, C-514/13 und C- 474/13. Eine Inhaftierung in einer speziellen Einrichtung – als die am stärksten die Freiheit einschränkende Maßnahme, die die Rückführungsrichtlinie zulasse –, stelle seiner Ansicht nach ein „letztes Mittel“ dar und könne daher nur unter besonderen Umständen zur Anwendung kommen. Die strikte Begrenzung der Inhaftierung durch den Unionsgesetzgeber diene „zum einen [der] Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen [der Gewährleistung der] Beachtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen […]“.8 Soweit die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen müsse, erscheint es nach Ansicht des Generalanwalts daher als „unantastbar“, dass der Mitgliedstaat die Absonderung von den gewöhnlichen Strafgefangenen gewährleiste, „da sie unabhängig vom Ort der Inhaftierung verpflichtend ist“.9 – Fachbereich Europa – 6 Erwägungsgrund 17: „In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung der Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“ 7 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, verb. Rs. C-473/13 (Bero/Regierungspräsidium Kassel) und C-514/13 (Bouzamate/Kreisverwaltung Kleve (Fn. 2), Rn. 25, 29 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 24.4.2012, Rs. C-571/10 (Kambaraj/IPES), ECLI:EU:C:2012:233, Rn. 86. 8 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 30.4.2014 (verb. Rs. C-473/13, C-514/14 und C-474/13), ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 7. 9 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 30.4.2014 (verb. Rs. C-473/13, C-514/14 und C-474/13), (Fn. 8) ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 10.