© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 034/20 Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Ausfuhrbeschränkungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie mit den Binnenmarktvorschriften der Europäischen Union Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 2 Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Ausfuhrbeschränkungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie mit den Binnenmarktvorschriften der Europäischen Union Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 034/20 Abschluss der Arbeit: 22.06.2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Ausfuhrverbote mit den unionsrechtlichen Binnenmarktvorschriften 4 2.1. Verbot mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen gemäß Art. 35 AEUV 4 2.2. Ausnahmen des Verbots von Ausfuhrbeschränkungen gemäß Art. 36 AEUV 5 2.2.1. Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Art. 36 Satz 1 AEUV 5 2.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV 7 2.2.2.1. Anforderungen an die Darlegung des Rechtfertigungsgrundes 8 2.2.2.2. Geeignetheit 8 2.2.2.3. Erforderlichkeit 8 2.2.2.4. Angemessenheit 9 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist vor dem Hintergrund von zeitweisen Ausfuhrverboten medizinischer Schutzausrüstung durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU bzw. Union) im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie1 beauftragt worden, zu prüfen, inwieweit mitgliedstaatliche Ausfuhrverbote für medizinischer Schutzausrüstung aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat der EU mit den unionsrechtlichen Binnenmarktvorschriften vereinbar sind. 2. Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Ausfuhrverbote mit den unionsrechtlichen Binnenmarktvorschriften Nachfolgend sollen die Vorgaben der binnenmarktrechtlichen Warenverkehrsfreiheit, Art. 28 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) im Hinblick ein Ausfuhrverbot medizinischer Schutzausrüstung aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat der EU im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie dargestellt werden. Unionsrechtlicher Anknüpfungspunkt ist insoweit das in Art. 35 AEUV niedergelegte Verbot mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen. Aufgrund der vielfältigen Maßnahmen der verschiedenen Mitgliedstaaten sollen im Folgenden allein die unionsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe dargestellt werden. 2.1. Verbot mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen gemäß Art. 35 AEUV Art. 35 AEUV verbietet Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten.2 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist Art. 35 AEUV unmittelbar anwendbar3 und begründet subjektive Rechte.4 Ferner soll nach Ansicht des EuGH Art. 35 AEUV seinem Sinn und Zweck nach eine Privilegierung inländischer Produkte durch Ausfuhrbestimmungen verhindern.5 In der Literatur wird hingegen vertreten, dass Art. 35 AEUV auch Beschränkungen erfassen soll, die in- und ausländische 1 Vgl. hierzu den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Beschränkung des Exports medizinischer Schutzausrüstung zur Bekämpfung von Covid 19“, Az. WD 5 – 3000 – 044/20. 2 Beschränkungen der Warenausfuhr in Drittländer wären nach Ansicht in der Literatur dagegen als Teil der Handelspolitik gemäß Art. 207 AEUV zu beurteilen, Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 35 AEUV, Rn. 1. 3 EuGH, Urteil vom 29.11.1978, Rs. 83/78 (Pigs Marketing Board/Raymond Redmond), Slg. 1978, 2348, Rn. 66 f.. 4 EuGH, Urteil vom 9.6.1992, Rs. C-47/90 (Éts. Delhaize frères & Cie „Le Lion“ SA/Promalvin SA), Slg. 1992, I-3704, Rn. 28 f.. 5 EuGH, Urteil vom 8.11.1979, Rs. 15/79 (P.B. Groenveld BV/Produktschap voor Vee en Vlees), Slg. 1979, 3410, Rn. 7: „Diese Bestimmung [jetzt: Art. 35 AEUV] bezieht sich auf nationale Maßnahmen, die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaats und seinen Außenhandel schaffen, so daß die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt. […]“; praktisch denkbar wäre insoweit nach Ansicht in der Literatur eine Deckung der innerstaatlichen Nachfrage allein durch nationale Anbieter, vgl. hierzu Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 35 AEUV, Rn. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 5 Waren in gleicher Weise treffen.6 Ein Ausfuhrverbot von Waren fällt dabei als eine absolute mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 35 AEUV.7 Im Übrigen stellt nach der Rechtsprechung des EuGH ebenso die Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung i. S. v. Art. 35 AEUV dar.8 Ein erforderlicher grenzüberschreitender Sachverhalt9 ist bei einem Ausfuhrverbot medizinischer Schutzausrüstung aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat gegeben. 2.2. Ausnahmen des Verbots von Ausfuhrbeschränkungen gemäß Art. 36 AEUV Ausnahmen des in Art. 35 AEUV geregelten Verbots mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen sind in Art. 36 Satz 1 AEUV niedergelegt. Gemäß Art. 36 Satz 1 AEUV steht Art. 35 AEUV Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit , zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Verbote oder Beschränkungen der Ausfuhr von Waren dürfen jedoch gemäß Art. 36 Satz 2 AEUV weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Ausnahmetatbestände des Art. 36 AEUV eng auszulegen , um Beschränkungen auf das erforderliche Maß zu begrenzen.10 2.2.1. Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Art. 36 Satz 1 AEUV In Betracht kommt eine Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Ausfuhrverbote für medizinische Schutzausrüstung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen. Nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich beim Gesundheits- und Lebensschutz um das vorrangigste 6 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 35 AEUV, Rn. 1. 7 Vgl. EuGH, Urteil vom 23.11.1978, Rs. 7/78 (Thompson u. a.), Slg. 1978, 2247, 2275; siehe dazu Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrechts, 7. Auflage 2015, Art. 35 AEUV, Rn. 10; Haltern /Janson, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 35 AEUV, Rn. 7; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 69. EL Februar 2020, Art. 35 AEUV, Rn. 5. 8 EuGH, Urteil vom 23.5.1996, Rs. C-5/94 (The Queen/Ministry of Agriculture, Fisheries and Food), Slg. 1996, I-2604, Rn. 17; siehe dazu Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrechts, 7. Auflage 2015, Art. 35 AEUV, Rn. 10. 9 Vgl. hierzu Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrechts, 7. Auflage 2015, Art. 35 AEUV, Rn. 8. 10 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 17.6.1981, Rs. 113/80 (Kommission/Irland), Slg. 1981, I-1626, Rn. 7; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 6 Schutzgut des Art. 36 AEUV, wobei es Sache der Mitgliedstaaten sein soll, in den durch die Unionsverträge (EUV/AEUV) gesetzten Grenzen zu bestimmen, welchen Schutzumfang sie gewähren wollen.11 Nach einer Ansicht in der Literatur muss die Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen grundsätzlich von den im Handelsverkehr befindlichen Waren selbst ausgehen.12 Allerdings hat der EuGH in seiner Entscheidung zur Rechtssache Evans anerkannt, dass der Schutz der Gesundheit auch durch Gefahren im Hinblick auf die Gewährleistung einer stabilen Versorgung eines Mitgliedstaates mit medizinischen Stoffen betroffen sein kann.13 In der Rechtssache Evans ging es u. a. um die Frage, ob eine nationale Praxis, nach der die Genehmigung für die Einfuhr von medizinischen Suchtstoffen aus einem anderen Mitgliedstaat verweigert wird, unter die Ausnahme des (nunmehr) Art. 36 AEUV fällt, wenn sie mit dem Erfordernis gerechtfertigt wird, die Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen Herstellers dieser Suchtstoffe im Mitgliedstaat und damit die Zuverlässigkeit der Versorgung mit diesen Suchtstoffen für wichtige medizinische Zwecke in diesem Mitgliedstaat zu gewährleisten.14 Hierzu hat der EuGH konkret ausgeführt: „36 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes betrifft diese Bestimmung Maßnahmen nichtwirtschaftlicher Art (vgl. Urteil vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984, 523). Eine Maßnahme, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr beschränkt , kann daher nicht mit dem Bestreben eines Mitgliedstaats gerechtfertigt werden, das Überleben eines Unternehmens zu sichern. 37 Dagegen kann das Erfordernis, die regelmäßige Versorgung des Landes für wichtige medizinische Zwecke sicherzustellen, eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs im Rahmen von Artikel 36 des Vertrages rechtfertigen, da dieses Ziel unter den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen fällt. 38 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß eine nationale Regelung oder Praxis nicht unter die Ausnahme gemäß Artikel 36 des Vertrages fällt, wenn die Gesundheit und das Leben von 11 Vgl. EuGH, Urteil vom 20.5.1976, Rs. 104/75 (De Peijper), Slg. 1976, 613, Rn. 14/18; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 13; siehe dazu auch Kingreen, EUV/AEUV, 5. Auflage 2018, Art. 34-36, Rn. 199. 12 Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 15. 13 EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 37, 38; vgl. hierzu auch Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 60. 14 EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 14. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 7 Menschen genauso wirksam durch Maßnahmen geschützt werden können, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken (vgl. u. a. Urteil vom 20. Mai 1976 in der Rechtssache 104/75, De Peijper, Slg. 1976, 613, Randnr. 17).“ 15 [Hervorhebung durch den Bearbeiter] Überträgt man diese Rechtsprechung des EuGH auf den Fall eines Ausfuhrverbots medizinischer Schutzgüter von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, wäre eine Rechtfertigung im Hinblick auf den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen i. S. v. Art. 36 Satz 1 AEUV grundsätzlich denkbar, soweit ein entsprechendes Ausfuhrverbot der Sicherstellung der ausreichenden Versorgung für medizinische Zwecke dient.16 Eine abschließende Entscheidung hierüber obliegt jedoch dem EuGH. Erkennt man den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen als Rechtfertigungsgrund für ein Ausfuhrverbot medizinischer Schutzgüter im Rahmen der Covid-19- Pandemie an, wäre eine weitere Voraussetzung für die Rechtfertigung eines solchen Ausfuhrverbots dessen Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 36 Satz 2 AEUV. 2.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV Art. 36 Satz 2 AEUV regelt, dass Maßnahmen, die gegen die Vorgaben des Art. 35 AEUV verstoßen, dann nicht gerechtfertigt werden können, wenn sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Hieraus folgt nach der Rechtsprechung des EuGH, dass Maßnahmen , die nach Art. 36 Satz 1 AEUV gerechtfertigt werden sollen, verhältnismäßig sein müssen.17 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des rechtmäßig verfolgten Ziels zu gewährleisten, ohne darüber hinauszugehen , was hierzu erforderlich ist.18 Für den Fall eines Ausfuhrverbots würde dies im Grundsatz bedeuten, dass dieses in seiner konkreten Ausgestaltung das mildeste Mittel zur Erreichung des 15 EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 37, 38. 16 Vgl. EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 39. Soweit die in Art. 36 Satz 1 AEUV aufgeführten Rechtfertigungsgründe nicht zur Anwendung kämen, wäre auch an eine Rechtfertigung anhand des vom EuGH anerkannten ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes der sog. „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ zu denken, vgl. hierzu exemplarisch die Darstellung von Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2018, Art. 34-36 AEUV, Rn. 80 ff., 210 ff.. 17 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 44 ff.; EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 37, 38, siehe auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 50. 18 EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-331/88 (The Queen/The Minister of Agriculture, Fisheries and Food u. a.), Slg. 1990, I-4057 Rn. 13. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 8 rechtmäßig verfolgen Ziels – dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen – darstellen muss. 2.2.2.1. Anforderungen an die Darlegung des Rechtfertigungsgrundes Der EuGH setzt hohe Anforderungen an die Darlegung des Rechtfertigungsgrundes. Im Hinblick auf eine drohende Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen ist daher regelmäßig ein konkreter Nachweis durch die Vorlage entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse erforderlich .19 Bloße Behauptungen bzw. Vermutungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH dagegen nicht ausreichend.20 In einzelnen Fällen hat der EuGH unter Verweis auf das Vorsorgeprinzip den Hinweis auf mögliche Gefahren bzw. Risiken berücksichtigt.21 2.2.2.2. Geeignetheit Ein Ausfuhrverbot ist zunächst dann geeignet, wenn es für das Erreichen des verfolgten Rechtfertigungsgrundes – dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen – tatsächlich förderlich ist. Der EuGH legt hinsichtlich der Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen an, sondern gewährt den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung der Eignung einer Maßnahme vielmehr einen Prognosespielraum.22 Verlangt wird allerdings, dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.23 Ein Ausfuhrverbot medizinischer Schutzausrüstung stellt insoweit zumindest sicher, dass die vorhandenen Bestände im Inland verbleiben . 2.2.2.3. Erforderlichkeit Bejaht man die Geeignetheit eines Ausfuhrverbots auf mitgliedstaatlicher Ebene, wäre in der Folge dessen Erforderlichkeit zu prüfen. Diese fehlt im Grundsatz, wenn der Zweck mit einem 19 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 14.7.1994, Rs. C-17/93 (Van der Veldt), Slg. 1994, I-3553, Rn. 17 ff.; vgl. hierzu auch Haltern, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 36 AEUV, Rn. 42. 20 EuGH, Urteil vom 25.5.1993, Rs. C-228/91 (Kommission/Italien), Slg. 1993, I-2738, Rn. 28 ff.; vgl. hierzu auch Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 69. EL Februar 2020, Art. 36 AEUV, Rn. 23. 21 Vgl. EuGH, Urteil vom 11.7.2000, Rs. C-473/98 (Kemikalieinspektionen/Toolex Alpha AB), Slg. 2000, I-5702, Rn. 40 ff.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 14 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 22 Vgl. EuGH, Urteil vom 15.9.1994, Rs. C-293/93 (Houtwipper), Slg. 1994, I-4262, Rn. 22. 23 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 49 f., vgl. auch Müller -Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 129. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 9 genauso wirksamen Mittel erreicht werden kann, der den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränkt.24 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies insbesondere, wenn der Mitgliedstaat zwischen verschiedenen zur Erreichung desselben Ziels geeigneten Mitteln zur Verfügung hat.25 Diesen Grundsatz hat der EuGH auch in der Rechtssache Evans bestätigt, indem er ausgeführt hat, dass das Erfordernis der Sicherstellung einer regelmäßigen Versorgung eines Landes mit medizinischen Suchtstoffen für wichtige medizinische Zwecke, eine Behinderung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs im Rahmen von Art. 36 AEUV nur dann rechtfertigen kann, wenn die Gesundheit und das Leben von Menschen nicht genauso wirksam durch Maßnahmen geschützt werden können, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken .26 Insoweit sollen nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache De Peijper reine Praktikabilitäts- bzw. Kostenerwägungen unberücksichtigt bleiben. Konkret hat der EuGH in der Rechtssache De Peijper ausgeführt: „Insbesondere kann Artikel 36 nicht zur Rechtfertigung — selbst an sich zweckmäßiger — Regelungen oder Praktiken geltend gemacht werden, deren beschränkende Elemente ihre Ursache im wesentlichen in dem Bestreben finden, die Belastung der Verwaltung oder die öffentlichen Ausgaben zu vermindern, es sei denn, daß ohne diese Regelungen oder Praktiken diese Belastung oder diese Ausgaben deutlich die Grenzen dessen überschreiten, was vernünftigerweise verlangt werden kann.“27 Im Rahmen der Erforderlichkeit wäre daher zu prüfen, inwieweit der notwendige Gesundheitsschutz auch ohne die Anordnung eines allgemeinen Ausfuhrverbots medizinischer Schutzgüter, als die stärkste Form einer mengenmäßigen Ausfuhrbeschränkung, erreicht werden kann. Zu berücksichtigen wäre in diesem Zusammenhang aber auch, dass die Covid-19-Pandemie im Zeitpunkt der Ergreifung der mitgliedstaatlichen Maßnahmen ein außerordentliches und in seinen Folgen nicht vorhersehbares Ereignis darstellte. Im Hinblick auf die Erforderlichkeit eines Ausfuhrverbotes wäre im Einzelfall als milderes Mittel an die Möglichkeit von bedingten Ausfuhrgenehmigungen sowie einer konkreten Befristung eines Ausfuhrverbots zu denken. 2.2.2.4. Angemessenheit Letztlich müsste ein Ausfuhrverbot im engeren Sinne angemessen sein. Zu prüfen wäre insoweit die konkrete Zweck-Mittel-Relation. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung führt der EuGH eine Güterabwägung durch, im Rahmen derer er die abstrakte Gewichtigkeit des betroffenen 24 EuGH, Urteil vom 11.5.1989, Rs. 25/88 (Wurmser u. a.), Slg. 1989, 1124, Rn. 13. 25 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 28. 26 EuGH, Urteil vom 28.3.1995, Rs. C-324/93 (The Queen/Secretary of State for the Home Department), Slg. 1995, I-596, Rn. 37-39. 27 EuGH, Urteil vom 20.5.1976, Rs. 104/75 (De Peijper), Slg. 1976, 613, Rn. 14/18. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 034/20 Seite 10 Schutzgutes, die Intensität der konkreten Bedrohung sowie die Besonderheiten des Falles einfließen lässt.28 Ziel dieser Abwägung ist die Feststellung, ob ein in Art. 36 Satz 1 AEUV bestimmter Rechtfertigungsgrund die Maßgaben des freien Warenverkehrs überwiegt.29 In der Literatur wird insoweit auch von der Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen der Warenverkehrsfreiheit sowie den Binnenmarktzielen gesprochen.30 Eine abschließende Entscheidung über die Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Ausfuhrverbote von medizinischer Schutzausrüstung im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie mit den binnenmarktrechtlichen Vorgaben obliegt dem EuGH. – Fachbereich Europa – 28 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 29 Vgl. dazu grundlegend EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral-AG, Köln/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 14. 30 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56.