© 2018 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 34/18 Parlamentarische Zustimmungserfordernisse bei der Umsetzung des Vorschlags COM(2017) 827 final zur Errichtung eines Europäischen Währungsfonds Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fragestellung In der Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 21/18 hat der Fachbereich u.a. das Erfordernis einer vorherigen Zustimmung des Bundestages durch Gesetz (Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. § 8 IntVG) zur Zustimmung oder Enthaltung das deutschen Vertreters im Rat bei der Beschlussfassung über den auf Art. 352 AEUV gestützten Vorschlag zur Errichtung eines Europäischen Währungsfonds (vgl. COM(2017) 827 final) eingehend abgehandelt. Ohne ein solches Gesetz muss der deutsche Vertreter im Rat den Vorschlag zum Erlass von Vorschriften, die auf Art. 352 AEUV gestützt werden, ablehnen. Im Hinblick auf die Bestimmung der erforderlichen Mehrheit für die Festlegung des Integrationsprogramms durch Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. § 8 IntVG wird in der o.g. Ausarbeitung ausgeführt: „Vor dem Hintergrund der nicht abschließend geklärten Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG, einem diesbezüglichen Einschätzungsspielraum des Integrationsgesetzgebers und der fehlenden Festlegung des Gesetzgebers bei seiner Zustimmung zum ESMV kann vorliegend keine abschließende Bewertung getroffen werden, ob die Zustimmung gemäß Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. § 8 IntVG auf Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG gestützt werden muss. Dies erfordert eine eingehendere Untersuchung, die vorliegend aufgrund der begrenzten Bearbeitungszeit nicht geleistet werden kann.“ Vor diesem Hintergrund wird der Fachbereich nunmehr um Konkretisierung der Antwort ersucht , ob die Zustimmung gemäß Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. § 8 IntVG mit einfacher Mehrheit oder gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG mit Zweidrittelmehrheit erfolgen muss. 2. Anwendung Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG Den folgenden Ausführungen liegen die in der Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 21/18 dargelegten Maßstäbe zugrunde, wonach ein Stufenverhältnis zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 2 und S. 3 GG besteht . Demnach unterliegt eine Übertragung von Hoheitsrechten nach bzw. im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG nur beim Vorliegen qualifizierender Voraussetzungen dem Erfordernis verfassungsändernder Mehrheiten. Ausgehend von den Erwägungen in der Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 05/18, wonach bei einer Umsetzung des Vorschlags COM(2017) 827 final die gegenwärtig in Kapitel 1 und 4 des Titels VIII AEUV angelegten Koordinierungszuständigkeiten der EU für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten materiell um Entscheidungs- und Vollzugszuständigkeiten betreffend die Gewährung von Stabilitätshilfen erweitert würden, ist vorliegend davon auszugehen , dass jedenfalls eine Zustimmung gemäß dem „Grundfall“ des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zur zustimmungsgesetzlichen Festlegung des entsprechenden Integrationsprogramms erforderlich ist. 3. Anwendung Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG Vorliegend stellt sich die Frage, ob die qualifizierten Voraussetzungen gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG für das Erfordernis einer verfassungsändernden Mehrheit gemäß Art. 79 Abs. 2 GG vorliegen. Wie in der eingangs genannten Ausarbeitung ausgeführt, ist das dafür entscheidende Kriterium der Verfassungsrelevanz in der Wissenschaft umstritten und verfassungsgerichtlich nicht abschließend geklärt. Insbesondere war die Frage der Verfassungsrelevanz im Sinne des Art. 23 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 34/18 Seite 4 Abs. 1 S. 3 GG nicht Gegenstand der Entscheidungen des BVerfG zu den Maßnahmen im Rahmen der europäischen Staatsschuldenkrise. Folgt man der u.a. auf die Eurocontrol-Entscheidung des BVerfG1 und das Verständnis der Hoheitsrechtsübertragung in Art. 24 Abs. 1 GG gestützten Auffassung, wonach das Zustimmungserfordernis gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG jedenfalls bei solchen Hoheitsrechtsübertragungen Anwendung findet, die zu Maßnahmen der EU mit Durchgriffswirkung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ermächtigen,2 so läge – ausgehend von der o.g. Auffassung , dass mit der Errichtung des EWF weitere Zuständigkeiten mit potenzieller Durchgriffswirkung auf die Union übertragen werden – die Annahme nahe, dass das parlamentarische Zustimmungsgesetz den Mehrheitserfordernissen gemäß Art. 79 Abs. 2 GG unterliegt. Folgt man hingegen mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG und entsprechenden Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur der Auffassung, dass nicht jede Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU den Mehrheitserfordernissen des Art. 79 Abs. 2 GG unterliegt, so stellt sich vorliegend die Frage, ob durch die vorgeschlagene EWF-Verordnung das Grundgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG „seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird“. Für das Erfordernis einer verfassungsändernden Mehrheit wird in der Literatur als entscheidend angesehen, ob die Hoheitsrechtsübertragung unmittelbar oder mittelbar zu einer Inhaltsänderung des Grundgesetzes führt, ohne dass es auf das Gewicht dieser Inhaltsänderung für das Verfassungsgefüge ankäme.3 Die Auffassung verweist auf den Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG und den Umstand, dass dessen Tatbestandsmerkmale gerade nicht an den Begriff der Übertragung von Hoheitsrechten anknüpfen , sondern vielmehr auf eine materielle Verfassungsänderung abzielen. Die Vertragsänderung oder vergleichbare Regelung muss also letztlich wie ein innerstaatliches Gesetz mit dem Inhalt des Grundgesetzes abgeglichen werden.4 Zudem entspreche dieses Verständnis auch in systematischer Hinsicht der Rationalität der Freistellung vom Gebot der Verfassungstextänderung, die darin liegt, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG auf Art. 79 Abs. 2 und 3 GG, aber nicht auf Art. 79 Abs. 1 GG verweist. Für ein Zustimmungserfordernis gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zur EWF-Verordnung erscheint zunächst der Umstand erwägenswert, ob durch die Errichtung des EWF und die projektierten Regelungen über Kapitalabrufe (Art. 9 EWF-Satzung) und die Pflicht zur Einzahlung des abgerufenen Kapitals (Art. 8 EWF-Satzung) die finanzverfassungsrechtlichen Regelungen überlagert werden . Zwar erscheint nicht ausgeschlossen, dass die mit EWF-Kapitalabrufen verbundenen Finanzierungserfordernisse im gegenwärtigen System der Bundesfinanzverfassung effektiv verwirklicht 1 BVerfGE 58, 1. 2 Vgl. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 23, Rn. 72; Uerpmann-Wittzack, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 52 f. 3 Vgl. BT-Drs. 12/3896, S. 18 f.; 12/6000, S. 28 sowie Lorz/Sauer, Verfassungsändernde Mehrheiten für die Stabilisierung des Euro?, EuR 2012, S. 682 ff.; Hölscheidt/Rohleder, Vom Anfang und Ende des Fiskalvertrags, DVBl. 2012, S. 806 (808); Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), SK-Lissabon, 2. Aufl. 2018, § 7 Rn. 46; Ketterer, Zustimmungserfordernisse beim Europäischen Stabilitätsmechanismus, 2016, S. 357 ff. 4 Vgl. Rathke, Legitimation der Änderung und Fortentwicklung des Primärrechts, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2. Aufl. 2018, § 7, Rn. 46; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 23, Rn. 31; Ketterer, Zustimmungserfordernis beim Europäischen Stabilitätsmechanismus , 2016, S. 190. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 34/18 Seite 5 werden können, so dass mit der Zustimmung zur EWF-Verordnung nicht zwingend eine Änderung des Grundgesetzes verbunden ist. Jedoch erscheint auch nicht ausgeschlossen, dass die EWF-Verordnung und die in der EWF-Satzung vorgesehenen haushaltsrelevanten Befugnisse der EWF-Organe und des Rates verfassungsändernde Wirkungen auf haushalts- und finanzverfassungsrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes zeitigen können. Dies betrifft beispielsweise die Regelungen zur Feststellung des Haushaltsplans (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG), zur Kreditaufnahme (Art. 115 Abs. 1 1. Alt. GG) und der Verpflichtung zum Haushaltsausgleich (Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 i.V.m. Art. 143d GG). Diesbezüglich ist zunächst zu berücksichtigen, dass die EWF-Verordnung als Sekundärrecht im Gegensatz zum völkervertraglichen ESM-Vertrag am Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht teilhat, der grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht gilt.5 Dieser Anwendungsvorrang würde sich auch auf eine sekundärrechtlich normierte Pflicht zur Einzahlung des abgerufenen Kapitals erstrecken.6 Mit Blick auf die von Verfassung wegen notwendige Vermeidung einer Stimmrechtsaussetzung infolge der fehlenden Einzahlung von Kapital (Art. 4 Abs. 8 EWF-Satzung) obliegt dem Haushaltsgesetzgeber auch weiterhin die Pflicht, sowohl die einzuzahlenden Kapitalanteile als auch das abrufbare Kapital im Haushalt bereitzustellen und sicherzustellen, dass die abrufbaren Kapitalanteile jederzeit vollständig und fristgerecht eingezahlt werden können.7 Vor diesem Hintergrund erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Haushaltsgesetzgeber in die Situation des bloßen Nachvollzugs der Beschlüsse der EWF-Gremien ohne eigenständige Entscheidungsspielräume geraten kann. In diesem Rahmen ist jedoch zu bedenken, dass die Bundesrepublik Deutschland auch im Rahmen der regulären EWF-Verfahren über eine Vetoposition verfügt , über die sich – entsprechend der gegenwärtigen Ausgestaltung durch das ESMFinG – auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages effektiv verwirklichen kann. Dementsprechend erscheint erwägenswert, ob eine mögliche verfassungsändernde Wirkung insbesondere der Regelungen zum EWF-Kapitalabruf durch die verfassungskonforme Ausgestaltung der Begleitgesetzgebung zum EWF relativiert würde. Ein weiterer Aspekt, der im Hinblick auf das Erfordernis einer verfassungsändernden Mehrheit erwägenswert sein könnte, betrifft die Frage, ob durch die unionsrechtliche Errichtung des EWF das primärrechtlich verankerte Prinzip der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte relativiert wird. In diesem Fall ließe sich argumentieren, dass hierdurch das dem Integrationsprogramm zugrundeliegende Verständnis der Wirtschafts- und Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft verlassen und damit eine erneute politische Entscheidung erforderlich wird.8 4. Folgerungen Aufgrund der offenen Maßstäbe für das Vorliegen einer verfassungsändernden Wirkung gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG lässt sich aus hiesiger Sicht nicht abschließend feststellen, ob die Zustimmung zur unionsrechtlichen Errichtung eines Europäischen Währungsfonds mit einfacher oder mit verfassungsändernder Mehrheit erfolgen muss. Die vorstehend dargestellten Aspekte lassen 5 Vgl. BVerfGE 129, 78 (100). 6 Vgl. Ketterer, Zustimmungserfordernis beim Europäischen Stabilitätsmechanismus, 2016, S. 191; Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23, Rn. 14. 7 Vgl. BVerfGE 132, 195 (263 ff.); 135, 317 (331 ff.). 8 Vgl. BVerfGE 89, 155 (207). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 34/18 Seite 6 darauf schließen, dass eine Zustimmung mit verfassungsändernder Mehrheit zumindest erwägenswert erscheint. Jedoch ist auch insoweit zu berücksichtigen, dass der Integrationsgesetzgeber bei seiner Entscheidung bezüglich der erforderlichen Mehrheiten über einen Wertungs- und Einschätzungsspielraum verfügt, der beispielsweise in seiner Zustimmung zum ESM-Vertrag zum Ausdruck gekommen ist. In diesem Zustimmungsverfahren hat der Haushaltsausschuss empfohlen , das Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag „vorsorglich zur Vermeidung eventueller verfassungsrechtlicher Risiken“9 mit verfassungsändernden Mehrheiten zu beschließen. Hierbei verweist der Bericht des Haushaltsausschusses darauf, dass es die damaligen Koalitionsfraktionen „[u]nbeschadet einer endgültigen rechtlichen Einordnung im Sinne des Artikels 79 des Grundgesetzes “ für angemessen hielten, „dass ein Beschluss der ESM-Ratifizierungsgesetze mit Zweidrittelmehrheit erfolgen sollte“.10 – Fachbereich Europa – 9 BT-Drs. 17/10172, S. 8. 10 BT-Drs. 17/10172, S. 6.