© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 32/15 Unionsrechtliche Anforderungen an eine europäische Vorabprüfung von Finanzmarktprodukten Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 2 Unionsrechtliche Anforderungen an eine europäische Vorabprüfung von Finanzmarktprodukten Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 32/15 Abschluss der Arbeit: 18. Mai 2015 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Rahmenbedingungen für die Einführung eines „Finanz- TÜV“ 6 2.1. Der Begriff des „Finanz-TÜV“ 6 2.2. Unionsrechtliche Prämissen bei der Einführung eines „Finanz- TÜV“ 7 2.2.1. Europäischer Rahmen 7 2.2.2. Primärrechtliche Grundlage zur Einführung eines „Finanz-TÜV“ 7 2.2.3. Grundfreiheitliche und grundrechtliche Grenzen 8 3. Prämissen der Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ im Hinblick auf Haftungsfragen 8 3.1. Unionsrechtliche Grundsätze der Amtshaftung 9 3.1.1. Verstoß gegen eine drittschützende Unionsrechtsnorm 10 3.1.2. Hinreichend qualifizierter Rechtsverstoß 10 3.1.3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang 12 3.2. Haftungsrechtliche Ausgestaltung der Finanzmarktaufsicht 12 3.3. Folgerungen für die Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ 14 3.3.1. Haftung bei einem Schaden durch ein zugelassenes Finanzmarktprodukt aufgrund einer fehlerhaften „Finanz-TÜV- Prüfung“ 14 3.3.1.1. Verstoß gegen eine drittschützende Unionsrechtsnorm 14 3.3.1.2. Vermeidung einer drittschützenden Ausgestaltung 14 3.3.1.3. Unionsrechtliches Erfordernis eines Individualschutzes bei fehlerhafter Aufsicht 15 3.3.1.3.1. EuGH, Rs. C-222/02 (Paul) 15 3.3.1.3.2. Vorsorgeprinzip/Untermaßverbot 17 3.3.1.4. Hinreichend qualifizierter Rechtsverstoß 19 3.3.2. Haftung bei einem Schaden infolge der Nichtzulassung eines Finanzmarktprodukts 19 3.3.2.1. Verstoß gegen eine Schutznorm 19 3.3.2.1.1. Eingriff in individualschützende Normen 20 3.3.2.1.2. Rechtfertigung im Rahmen der allgemeinen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit 21 3.3.2.2. Zusammenfassung 21 4. Ausgestaltung eines sog. Finanz-TÜV im Hinblick auf eine mögliche Umgehung 21 4.1. Umgehung des sachlichen Anwendungsbereichs 21 4.2. Umgehung des räumlichen Anwendungsbereichs 22 5. Haftungsfragen bei einer obligatorischen Zulassungsprüfung durch die ESMA 22 5.1. Gegenwärtige Aufsichtsbefugnisse der ESMA 23 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 4 5.2. Maßstäbe für die Übertragung von Aufgaben auf die ESMA 24 5.3. Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage 24 5.4. „Finanz-TÜV“ als zulässige Aufgabe der ESMA 25 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 5 1. Einleitung Die der Ausarbeitung zugrundeliegende Fragestellung geht von der Annahme aus, dass der europäische Binnenmarkt, der für Finanzmarktprodukte mit dem sog. europäischen Pass eine besondere Ausprägung gefunden hat, ein unionsweit einheitliches Zulassungsverfahren für Finanzmarktprodukte (sog. „Finanz-TÜV“) erfordert, um eine Umgehung entsprechender Regulierungen auf nationaler Ebene zu verhindern. Im Hinblick auf die Einrichtung eines solchen Zulassungsverfahrens auf europäischer Ebene und angesichts der in Umsetzung befindlichen, einschlägigen Finanzmarktvorschriften1 wird der Fachbereich um die Beantwortung von Fragen gebeten, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Der erste Fragenkomplex betrifft die grundsätzlichen Prämissen für die Einrichtung eines „Finanz -TÜV“ auf europäischer Ebene, d.h. wie ein „Finanz-TÜV“ auf europäischer Ebene rechtlich sicher ausgestaltet sein müsste (hierzu 2.), um insbesondere Haftungs- und Umgehungsproblemen auszuweichen (hierzu 3. und 4.). Hierbei geht die Ausarbeitung einerseits auf Parallelen zu entsprechenden Haftungsfragen im deutschen Recht sowie darauf ein, welche Implikationen sich hieraus ergeben und wie entsprechende Haftungsrisiken mit europäischen oder national verankerten Mechanismen aufgefangen werden könnten. Der zweite Fragenkomplex betrifft die Wahrnehmung der Aufgaben eines „Finanz-TÜV“ durch die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde2 (englisch: European Securities and Markets Authority, im Folgenden: ESMA). Hierbei wird zunächst die Frage erörtert, welche Haftungsfragen sich stellen würden, wenn die ESMA durch eine entsprechende Änderung der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 mit dem Mandat ausgestattet würde, eine solche Vorabprüfung vorzunehmen (hierzu 5.). In diesem Kontext geht die Ausarbeitung auf die Frage ein, ob und welche Haftungsfragen sich aus einer Ausweitung des Mandats für die ESMA hin zu einer obligatorischen Zulassungspflicht für Finanzmarktprodukte ergeben, die über die bestehenden Rechtsvorschriften insbesondere des Art. 69 Verordnung (EU) Nr. 1095/20103 und der Art. 39 ff. Verordnung (EU) Nr. 600/20144 hinausgehen. Hierbei erörtert die Ausarbeitung die Frage, ob sich unabhängig von der Einführung einer obligatorischen Zulassungsprüfung auch durch die derzeit bereits mögliche Vorabintervention der ESMA ähnliche Haftungsrisiken ergeben. 1 Insbesondere die Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, ABl. L 201/1, abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1431506870055&uri=CELEX:02012R0648-20140702 und die Verordnung (EU) Nr. 600/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012, ABl. L 173/84, abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0600&from=DE. 2 Errichtet durch die Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. L 331/84, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010R1095&from=DE. 3 Außervertragliche Haftung der ESMA. 4 Maßnahmen der zuständigen Behörden zur Produktüberwachung und Produktintervention. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 6 2. Rahmenbedingungen für die Einführung eines „Finanz-TÜV“ 2.1. Der Begriff des „Finanz-TÜV“ Das europäische Finanzmarktrecht dient der materiellen Harmonisierung der Finanzmarktaufsicht in den Mitgliedstaaten. Es beruht insbesondere auf dem Herkunftslandprinzip und der Pflicht der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung von aufsichtsbehördlichen Zulassungsentscheidungen und anderen Aufsichtsmaßnahmen. Nach dem Herkunftslandprinzip obliegt dem Mitgliedstaat, in dem ein Finanzinstitut sowohl seinen satzungsmäßigen Sitz als auch seine Hauptverwaltung hat, die laufende Beaufsichtigung dieses Instituts. Die anderen Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Zulassung und die weiteren Aufsichtsmaßnahmen anzuerkennen und dementsprechend auf die Anwendung und den Vollzug ihres eigenen Rechts zu verzichten. Aufgrund der Zulassungs- und sonstigen Aufsichtsentscheidungen des betreffenden Mitgliedstaates sind dem Institut innerhalb der Union alle grenzüberschreitenden Tätigkeiten erlaubt, die durch die Zulassung des Herkunftsmitgliedstaates abgedeckt und von den sekundärrechtlichen Harmonisierungen umfasst sind.5 Diese auch als „europäischer Pass“ bezeichnete Gewährleistung dient der Verwirklichung eines integrierten Marktes für Banken und Finanzkonglomerate und soll insbesondere aufsichtsrechtliche Doppelkontrollen verhindern. Überträgt man die Prinzipien des europäischen Finanzmarktrechts auf die Zulassung und Kontrolle von Finanzmarktprodukten6, so ist der Begriff eines „Finanz-TÜV“ für Finanzmarktprodukte für die nachfolgenden Ausführungen dahingehend zu verstehen, dass er auf die Etablierung eines unionsweit einheitlichen Zulassungs- und Aufsichtssystems abzielt, das auf Mindeststandards und Risikoklassen beruht.7 Vergleichbar mit den harmonisierten Zulassungsvoraussetzungen für Finanzinstitute könnte ein „Finanz-TÜV“ auf einen präventiven Schutz abzielen, damit nur bestimmten Kriterien entsprechende Finanzmarktprodukte in der EU auf den Markt kommen . Mangels weitergehender Vorgaben zur Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ muss bei der folgenden Darstellung die für das unionsrechtliche Bestimmtheitsgebot8 zentrale Frage außer Betracht bleiben, welche Produkte der Aufsichtspflicht unterfallen und inwieweit zwischen erlaubnisfreien und erlaubnisbedürftigen Produkten unterschieden wird. In diesem Kontext muss auch dahinstehen , ob ein „Finanz-TÜV“ als ein grundsätzliches Verbot von einer bestimmten Kategorie 5 Vgl. dementsprechend bspw. Art. 6 Abs. 3 RL 2004/39/EG und Art. 15 RL 2009/138/EG sowie ergänzend Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Merkblatt - Hinweise zur Erlaubnispflicht nach § 32 Abs. 1 KWG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 und Abs. 1a KWG von grenzüberschreitend betriebenen Bankgeschäften und/oder grenzüberschreitend erbrachten Finanzdienstleistungen, 2005, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/mb_050401_grenzueberschreitend.html. 6 Die folgenden Ausführungen gehen von einem Begriff des Finanzmarktprodukts im Sinne der in Anhang I Abschnitt C der Richtlinie 2004/39/EG genannten Instrumente aus. 7 Vgl. dementsprechend BT-Drs. 18/769, S. 3. 8 Vgl. hierzu EuGH, Rs. 169/80 (Gondrand Frères), Rn. 17; EuGH, Rs. C-221/97 P (Aloys Schröder u.a.), Rn. 41; EuG, Rs. T-43/02 (Jungbunzlauer), Rn. 41 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 7 von Finanzmarktprodukten mit Erlaubnisvorbehalt oder umgekehrt als eine grundsätzliche Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt ausgestaltet sein soll. Zudem muss offen bleiben, ob ein Emittent beim Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen Anspruch auf Zulassung seines Finanzprodukts durch die zulässige Behörde sowie entsprechende Rechtsbehelfsmöglichkeiten hat.9 Mit Blick auf die zentrale Bedeutung des Bestimmtheitsgebots für die Intensität, mit der ein Aufsichtsrecht in Gestalt einer Zulassungs- oder Erlaubnispflicht in grundrechtlich und grundfreiheitlich geschützte Freiheiten eingreifen kann, können die folgenden Ausführungen potenzielle Haftungskonstellationen daher nur in ihren Grundzügen darstellen. 2.2. Unionsrechtliche Prämissen bei der Einführung eines „Finanz-TÜV“ 2.2.1. Europäischer Rahmen Eine obligatorische Vorabprüfung von Finanzmarktprodukten betrifft den integrierten Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen und den hierbei bestehenden grenzüberschreitenden Produktwettbewerb . Diese Marktintegration verwirklicht sich in der Garantie des freien Markteintritts und -austritts sowie der grundfreiheitlich garantierten Beseitigung von Diskriminierungen. Auch wenn regulatorische Maßnahmen nicht primär dem Wettbewerb im Binnenmarkt dienen, so führt die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Regeln durch europäisches Sekundärrecht zu einer Angleichung der Wettbewerbsbedingungen im europäischen Binnenmarkt.10 2.2.2. Primärrechtliche Grundlage zur Einführung eines „Finanz-TÜV“ Sofern ein „Finanz-TÜV“ im Schwerpunkt die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten betrifft, könnte seine Einrichtung auf die entsprechende Kompetenz zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß Art. 53 Abs. 1 AEUV gestützt werden, wobei in diesem Fall lediglich eine Harmonisierung durch Richtlinien möglich ist. Sofern ein „Finanz-TÜV“ insbesondere die Konvergenz der Finanzaufsicht hinsichtlich der Förderung von Transparenz, Einfachheit und Fairness auf den Wertpapiermärkten für die Verbraucher von Finanzprodukten und -dienstleistungen betrifft, so könnte sich eine entsprechende Regelung auf die primärrechtliche Grundlage des Art. 114 AEUV stützen.11 9 Vgl. hierzu beispielsweise Art. 52 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. L 145/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32004L0039&qid=1430397933284&from=DE. 10 Vgl. hierzu im Überblick Europäische Kommission, European Financial Stability and Integration Review vom 27. April 2015, SWD(2015) 98 endg., abrufbar unter http://ec.europa.eu/finance/financial-analysis /docs/efsir/150427-efsir-2014_en.pdf sowie Europäische Zentralbank, Financial Integration in Europe, April 2014, abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/other/financialintegrationineurope201404en.pdf. 11 Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-217/04 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 44 ff.; Michel, Die neue Europäische Bankenaufsichtsbehörde, DÖV 2011, S. 728 (729 ff.). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 8 2.2.3. Grundfreiheitliche und grundrechtliche Grenzen Regulatorische Anforderungen an die Zulassung von Finanzmarktprodukten stellen grundsätzlich Beschränkungen der Grundfreiheiten dar, zu deren Schutz auch der Unionsgesetzgeber verpflichtet ist.12 Im Hinblick auf die Eigenschaft eines Finanzmarktprodukts lässt sich das grenzüberschreitende Angebot von Finanzmarktprodukten und die hierauf bezogenen Leistungen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV zuordnen; zudem unterliegen die zu übertragenden Vermögenswerte der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 ff. AEUV.13 Die mit einem „Finanz-TÜV“ einhergehenden Beschränkungen der Grundfreiheiten lasen sich ungeachtet der speziellen, grundfreiheitsspezifischen Rechtfertigungsgründe grundsätzlich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen. Hierzu zählen insbesondere der Anleger - und Verbraucherschutz,14 die Integrität des Finanzsektors15 und die Stabilität des Finanzsystems 16. Zudem muss die Etablierung eines „Finanz-TÜV“ durch den europäischen Gesetzgeber die in der Grundrechtecharta (GRCh) normierten Unionsgrundrechte sowie die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wahren. 3. Prämissen der Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ im Hinblick auf Haftungsfragen Ein „Finanz-TÜV“ würde das europäische System der Finanzmarktaufsicht produktbezogen ergänzen . Anknüpfungspunkt für Haftungsansprüche bei der Durchführung eines „Finanz-TÜV“ auf EU-Ebene wären die unionsrechtlichen Grundsätze der Staatshaftung (hierzu 3.1.). Mit Blick auf die vielfältigen, der politischen Prärogative obliegenden Möglichkeiten der Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ lassen sich die Lösungen der haftungsrechtlichen Ausgestaltung der gegenwärtigen Finanzmarktaufsicht aufgrund der vergleichbaren Fragestellungen induktiv heranziehen (hierzu 3.2.). Eine Gesamtschau beider Elemente ermöglicht Schlussfolgerungen für eine haftungsrechtliche Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ (hierzu 3.3.). 12 Zur Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundfreiheiten vgl. Zazoff, Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011, S. 71 ff., Kingreen/Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts , EuR 1998, S. 263 (281) sowie Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S. 30 ff.; zur Beschränkung der Grundfreiheiten vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 16. März 2006 zu EuGH, Rs. C-452/04 (Fidum Finanz), Rn. 114 ff. 13 Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 56 AEUV, Rn. 28 f. 14 EuGH, Rs. C- 222/95 (Parodi), Rn. 22. 15 EuGH, Rs. C-384/93 (Alpine Investments), Rn. 44. 16 Vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 16. März 2006 zu EuGH, Rs. C-452/04 (Fidum Finanz ), Rn. 127 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 9 3.1. Unionsrechtliche Grundsätze der Amtshaftung Diese Ausarbeitung geht von der Prämisse aus, dass ein „Finanz-TÜV“ auf Unionsebene eingerichtet werden soll. Aufgrund der mit der Durchführung eines „Finanz-TÜV“ einhergehenden Ausübung der Amtstätigkeit eines Unionsorgans17 fänden dementsprechend für eine potenzielle Haftung – und unbeschadet der spezielleren Eigenhaftung einer sekundärrechtlich begründeten Einrichtung18 – die unionsrechtlichen Grundsätze der Amtshaftung gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV Anwendung, die in Art. 41 Abs. 3 GRCh auch eine unionsgrundrechtliche Ausprägung erfahren und in Art. 268 AEUV prozessrechtlich abgesichert werden. Im Hinblick auf die Prämissen dieser Ausarbeitung geht die folgende Darstellung nicht auf die Möglichkeit einer unionsrechtlichen Staatshaftung der Mitgliedstaaten für den Fall ein, dass ein „Finanz-TÜV“ auf unionsrechtlicher Grundlage durch die Mitgliedstaaten wahrgenommen werden soll.19 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union20 den durch ihre Organe in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Hiervon ist jede Amtstätigkeit erfasst, d.h. sowohl administrative , legislative und judikative Handlungen21, wie rechtliche und tatsächliche22, sowie aktive Handlungen und Unterlassen bei einer entsprechenden Rechtspflicht zum Handeln.23 Eine außervertragliche Haftung der EU wegen eines rechtswidrigen Verhaltens ihrer Organe entsteht 17 Vgl. EuGH, Rs. C-234/02 P (Lamberts), Rn. 59; EuG, Rs. T-124/04 (Ouariachi), Rn. 18; EuGH, Rs. C-370/89 (SGEEM), Rn. 12 ff.; EuGH, Rs. 24/79 (Oberthür), Rn. 8 ff. 18 Vgl. diesbezüglich beispielsweise Art. 101 Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission, ABl. L396/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006R1907&qid=1430743408287&from=DE. 19 Für die hierbei geltenden Grundsätze vgl. Frenz/Götzkes, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, JA 2009, S. 759 ff.; Dörr, Neues zum unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, WM 2010, S. 961 ff. sowie die Ausarbeitung „Überlegungen zur Schaffung eines „Finanz-TÜV“, Haftungsfragen und Rückholung nicht-zulassungsfähiger Finanzinstrumente“, WD 3 – 3000 – 219/14. 20 Zu der Frage, ob das handelnde Unionsorgan selbst oder die Union bei Ersatzansprüchen passivlegitimiert ist vgl. von Bogdandy/Jacobs, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 54. EL 2014, Art. 340 AEUV, Rn. 43 ff. 21 Vgl. EuGH, Rs. 5/71 (Schöppenstedt), Rn. 11; EuGH, Rs. C-282/05 P (Holcim), Rn. 48 f. 22 Vgl. EuGH, Rs. C-282/05 P (Holcim), Rn. 47; EuGH, Rs. 9/69 (Sayag/Leduc), Rn. 11. 23 Vgl. EuGH, Rs. C-370/89 (SGEEM), Rn. 14; EuGH, Rs. 24/79 (Oberthür), Rn. 8 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 10 insbesondere dann, wenn das dem Unionsorgan vorgeworfene Verhalten rechtswidrig ist24 bzw. einen hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß bewirkt, die verletzte Rechtsvorschrift bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, ein Schaden eingetreten ist und zwischen der Handlung des Organs und dem behaupteten Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.25 3.1.1. Verstoß gegen eine drittschützende Unionsrechtsnorm Ein Amtshaftungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die verletzte europarechtliche Vorschrift bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Sie darf demnach nicht nur den Schutz der Allgemeinheit zum Gegenstand haben, sondern muss auch dem Schutz der individuellen Interessen des Geschädigten dienen. Für die Anerkennung eines solchen Schutznormcharakters kann es ausreichen, dass die verletzte Norm, die primär allgemeinen Interessen gewidmet ist, auch mittelbar die individuellen Interessen schützen soll.26 Als Schutznormen anerkannt sind insbesondere die Grundrechte und Grundfreiheiten, die Diskriminierungsverbote sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. Ob eine sekundärrechtliche Bestimmung dem Einzelnen Rechte verleiht oder den Schutz Einzelner bezweckt, ist jeweils durch Auslegung der relevanten Bestimmungen zu ermitteln.27 3.1.2. Hinreichend qualifizierter Rechtsverstoß Als selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im Rechtsschutzsystem der EU ist der Haftungsanspruch aus Art. 340 Abs. 2 AEUV nicht – wie beispielsweise die Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen (Art. 263, 265 AEUV) – auf die Ahndung jedweder rechtswidriger Handlungen gerichtet .28 Vielmehr muss die Rechtswidrigkeit der Handlung in einem „hinreichend qualifizierten Verstoß gegen die Rechtsnorm bestehen, der bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen“29. 24 Ergänzend ist anzumerken, dass eine Haftung der Union oder ihrer Organe auch für den Fall eines rechtmäßigen Unionshandels diskutiert wird. Ein solcher Haftungsanspruch wird insbesondere dann angenommen, wenn der ein Schaden außergewöhnlich bzw. besonders ist und ein Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und dem Verhalten der Unionsorgane besteht, vgl. hierzu EuGH, Rs. C-237/98 P (Dorsch consult), Rn. 19; EuGH, Rs. T383/00 (Bemglow), Rn. 174; zuletzt jedoch ablehnend gegenüber einer Haftung für rechtmäßiges Handeln EuGH, Rs. C-120/06 P (FIAMM), Rn. 167, vgl. hierzu Haack, Luxemburg locuta, causa finita: Außervertragliche Haftung der EG für rechtmäßiges Verhalten nach Art. 288 Abs. 2 EGV (= Art. 340 Abs. 2 AEUV) ade?, EuR 2009, S. 667 ff. 25 St. Rspr., vgl. EuGH, Rs. 175/84 (Krohn Import-Export/Kommission), Rn. 32; EuGH, C-224/01 (Köbler), Rn. 51 ff.; EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur und Factortame), Rn. 55 ff.; EuGH, Rs. C-352/98 P (Bergaderm), Rn. 34 ff.; EuGH, Rs. C-103/11 P (Kommission/Systran und Systran Luxembourg), Rn. 60; EuGH, Rs. C-392/93 (British Telecommunications); EuGH, verb. Rs. C-178/94, C-179/94 und C-188/94 bis C-190/94 (Dillenkofer u. a.); EuGH, verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 (Denkavit u. a.). 26 Vgl. Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 340 AEUV, Rn. 20. 27 EuGH, Rs. C-152/88 (Sofrimport), Rn. 26. 28 Vgl. EuGH, Rs. 281/82 (Unifrex/Rat und Kommission), Rn. 11; EuGH, verb. Rs. 197/80 u.a. (Ludwigshafener Walzmühle Erling u. a./Rat und Kommission); EuG, Rs. T-341/07 (Sison III), Rn. 32; EuG, Rs. T-351/03 (Schneider Electric/Kommission), Rn. 125. 29 EuGH, Rs. C-352/98 P (Bergaderm), Rn. 42. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 11 Diese normimmanente Beschränkung dient dem Zweck, dass die Organe der EU bei normativen oder wirtschaftlichen Entscheidungen sowie im Rahmen ihrer Verwaltungszuständigkeit im Sinne des Allgemeininteresses und mit einem weiten Ermessensspielraum handeln können, ohne zugleich stets einem Haftungsrisiko ausgesetzt zu sein.30 Vor diesem Hintergrund muss der Verstoß hinreichend qualifiziert sein. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das handelnde Unionsorgan die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat.31 Entscheidend für einen hinreichend qualifizierten Verstoß ist demnach nicht allein der allgemeine oder einzelfallbezogene Charakter des betroffenen Rechtsaktes,32 sondern der Gestaltungsspielraum des handelnden Organs.33 Soweit das handelnde Organ über einen nur geringen oder auf Null reduzierten Gestaltungs- und Wertungsspielraum verfügt, kann bereits die bloße Verletzung für die Annahme eines qualifizierten Verstoßes ausreichen, sofern den Rechtsverstoß eine durchschnittlich umsichtige und sorgfältige Verwaltung unter ähnlichen Umständen nicht begangen hätte.34 Darüber hinaus sind insbesondere die Komplexität des zu regelnden Sachverhalts, die Schwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften sowie das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Bestimmungen zu berücksichtigen.35 So lässt sich bei einem weiten Handlungs- und Beurteilungsspielraum ein Rechtsirrtum beispielsweise dann entschuldigen, wenn der Fehler auf Erwägungen beruht, die nicht völlig von der Hand zu weisen sind.36 30 Vgl. EuGH, verb. Rs. 83/76 und 94/76 (HNL), Rn. 5; EuG, Rs. T-341/07 (Sison III), Rn. 34. 31 EuGH, Rs. C-352/98 P (Bergaderm und Goupil/Kommission), Rn. 41 f.; EuGH, Rs. C-312/00 P (Kommission /Camar und Tico), Rn. 53 f.; EuGH, Rs. C-472/00 P (Kommission/Fresh Marine), Rn. 25 f.; EuGH, Rs. C-173/03 (Traghetti del Mediterraneo), Rn. 30 ff.; EuGH, Rs. C-198/03 P (Kommission/CEVA und Pfizer), Rn. 63 ff.; für eine dementsprechende Amtshaftung der Mitgliedstaaten vgl. EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du pêcheur und Factortame), Rn. 51; EuGH, Rs. C-224/01 (Köbler), Rn. 31 ff. 32 So noch EuGH, Rs. 5/71 (Schöppenstedt), Rn. 11; mit Blick auf die Bedeutung der Anzahl und die Abgrenzbarkeit des betroffenen Personenkreises sowie den Grad des finanziellen Schadens ergeben sich Parallelen zu der Sonderopfertheorie des deutschen Rechts der Entschädigungen für Eigentumsbeeinträchtigungen, vgl. hierzu BGHZ 6, 270, Rn. 33 sowie BVerfGE 58, 300 (324). 33 EuGH, verb. Rs. C-104/89 und C-37/90 (Mulder u.a.), Rn. 16 f.; EuGH, Rs. C-472/00 P (Kommission/Fresh Marine ), Rn. 27. 34 EuGH, Rs. C-446/04 (Test Claimants in the FII Group Litigation), Rn. 212; EuGH, Rs. C-5/94 (Lomas), Rn. 28; EuG, Rs. T-42/06 (Gollnisch), Rn. 93; EuGH, verb. Rs. C-178/94, C-179/94 u.a. (Dillenkofer u.a.), Rn. 25 ff.; EuG, Rs. T-429/05 (Artegodan/Kommission), Rn. 62. 35 Vgl. EuGH, Rs. C-352/98 P (Bergaderm), Rn. 40; EuGH, Rs. C-312/00 P (Kommission/Camar und Tico), Rn. 52; EuGH, Rs. C-198/03 P (Kommission/CEVA und Pfizer), Rn. 62; EuGH, Rs. C-282/05 P (Holcim [Deutschland ]/Kommission), Rn. 50; EuGH, Rs. C-440/07 P (Kommission/Schneider Electric), Rn. 161. 36 Vgl. EuGH, Rs. C-392/93 (British Telecom), Rn. 43; EuG, verb. Rs. T-198/95 u.a. (Comafrica und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission), Rn. 138, 149; EuG, Rs. T-364/03 (Medici Grimm/Rat), Rn. 79, 87. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 12 3.1.3. Unmittelbarer Kausalzusammenhang Gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV muss der Schaden durch die Amtstätigkeit verursacht worden sein. Dementsprechend muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen eine unionsrechtliche Pflicht und dem entstandenen Schaden bestehen.37 3.2. Haftungsrechtliche Ausgestaltung der Finanzmarktaufsicht Das System der Finanzmarktaufsicht dient zwar grundsätzlich dem Kunden-38 bzw. Verbraucherschutz .39 Jedoch ist der Kundenschutz40 primär institutionell und nicht individuell angelegt: Regulierung und Aufsicht zielen darauf ab, die Vermögensinteressen der Kunden im Ganzen, nicht aber das Interesse einzelner Kunden zu schützen.41 Die Finanzmarktaufsicht soll das Vertrauen der Kunden in die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems und die Solidität der Geschäftspartner sicherstellen.42 Die derzeitigen Regelungen des Sekundärrechts sehen gleichwohl nicht vor, dass 37 EuGH, Rs. C-472/00 P (Kommission/Fresh Marine), Rn. 25; EuGH, Rs. C-440/07 P (Kommission/Schneider Electric), Rn. 191 ff. 38 Vgl. 5. Erwägungsgrund Richtlinie 2006/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. L 177/1, abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006L0048&qid=1430385141432&from=DE; 16. Erwägungsgrund Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009L0138&qid=1430385426697&from=DE. 39 Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/78/EG der Kommission, ABl. L 331/12, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010R1093&qid=1430385633529&from=DE; Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung ), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/79/EG der Kommission, ABl. L 331/48, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010R1094&qid=1430385627604&from=DE; Art. 9 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. L 331/84, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010R1095&qid=1430385716490&from=DE; 15. Erwägungsgrund Verordnung (EU) Nr. 1093/2010; 14. Erwägungsgrund Verordnung (EU) Nr. 1094/2010; 15. Erwägungsgrund Verordnung (EU) Nr. 1095/2010. 40 Im Folgenden findet vereinfachend der Begriff des Kundenschutzes Anwendung. 41 Vgl. dementsprechend zur Versicherungsaufsicht BVerfGE 114, 1 (44 ff.); 114, 73 (100 f.). 42 Vgl. dementsprechend Art. 3 Verordnung (EU) Nr. 1092/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Finanzaufsicht der Europäischen Union auf Makroebene und zur Errichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, ABl. L 331/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010R1092&qid=1430395789983&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 13 den Kunden Amtshaftungsansprüche gegenüber den (nationalen) Aufsichtsbehörden zustehen, wenn die Behörden ihre Aufsichtspflichten unvollständig oder fehlerhaft nachgekommen sind.43 Denn auch wenn das entsprechende Sekundärrecht auch den Schutz der Einleger bezweckt, so folgt aus diesem Umstand nicht zwingend, dass hierdurch subjektive Rechte zugunsten der Kunden geschaffen werden sollten. Auch die europäischen Aufsichtsbehörden unterliegen dadurch keiner Amtshaftung, dass sie explizit nur im öffentlichen Interesse tätig werden.44 Dies lässt sich einerseits auf die Erwägung zurückführen , dass eine Aufsichtseinrichtung bereits durch ihre begrenzten Ressourcen nicht alle vermögensrelevanten Entscheidungen der beaufsichtigten Institute überwachen kann. Zudem könnte eine umfassende Aufsicht mit der Ausübung der (unions-)grundrechtlich geschützten unternehmerischen Freiheit konfligieren, die nicht durch staatliches oder unionsrechtliches Handeln in jedem Detail determiniert werden kann.45 Die primär systemschützende Funktion der Finanzmarktaufsicht verdeutlicht auch ein Vergleich mit europäischen Regelungen, die primär auf den Kundenschutz abstellen. Dies betrifft insbesondere die Regelungen zur Einlagensicherung46 und zur Anlegerentschädigung47 sowie ihre Umsetzungen in den Mitgliedstaaten48. Sie verpflichten die betreffenden Institute, Sicherungssysteme abzuschließen, die im Falle der Insolvenz eines Instituts Leistungen an die Begünstigten erbringen . Hierdurch dienen beide Richtlinien zwar auch einem institutionellen Schutz der Märkte.49 Im Gegensatz zu den Mechanismen der Finanzmarktaufsicht vermitteln sie primär subjektive Rechte und lassen sich damit als Korrelat zur fehlenden Amtshaftung der Mitgliedstaaten und 43 Vgl. EuGH, Rs. C-222/02 (Paul u.a.), Rn. 40 ff. 44 Art. 1 Abs. 5 Verordnung (EU) Nr. 1093/2010; Art. 1 Abs. 6 Verordnung (EU) Nr. 1094/2010; Art. 1 Abs. 5 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 45 Vgl. hierzu Triantafyllou, Zur Verantwortung des Staates für die Geldwirtschaft, EuR 2010, S. 585 (589). 46 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme , ABl. L 135/5, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31994L0019&qid=1430394788138&from=DE. 47 Richtlinie 97/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. März 1997 über Systeme für die Entschädigung der Anleger, ABl. L 84/22, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31997L0009&qid=1430394801890&from=DE. 48 Einlagensicherungs- und Anlegerentschäftigungsgesetz, BGBl. I 1842. 49 Vgl. 4. Erwägungsgrund Richtlinie 94/19/EG. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 14 der EU für Fehler der Aufsichtsbehörden verstehen.50 Entschädigungseinrichtungen und Einlagensicherungsfonds sind zudem – im Gegensatz beispielsweise zum deutschen Finanzmarktstabilisierungsfonds – keine staatlichen Garantieinstitute.51 3.3. Folgerungen für die Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ Vor dem Hintergrund der unionsrechtlichen Grundsätze der Amtshaftung und angesichts der unbestimmten Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ geht die folgende Darstellung von der Annahme aus, dass der „Finanz-TÜV“ als aufsichtsrechtliches Zulassungsverfahren für Finanzmarktprodukte in Form von Genehmigungsvorbehalten und Verboten ausgestaltet sein soll. Hierauf aufbauend ergeben sich insbesondere zwei potenzielle Haftungskonstellationen aus Sicht des Kunden eines Finanzmarktprodukts einerseits (hierzu 3.3.1.) sowie aus Sicht des Emittenten eines Finanzmarktprodukts andererseits (hierzu 3.3.2.). 3.3.1. Haftung bei einem Schaden durch ein zugelassenes Finanzmarktprodukt aufgrund einer fehlerhaften „Finanz-TÜV-Prüfung“ 3.3.1.1. Verstoß gegen eine drittschützende Unionsrechtsnorm Ein Haftungsfall könnte zunächst daraus resultieren, dass ein Finanzmarktprodukt aufgrund einer fehlerhaften „Finanz-TÜV-Prüfung“ für den Markt zugelassen wird und die Käufer dieses Produkts beispielsweise durch dessen Wertverlust einen Schaden erleiden. Eine aus einer fehlerhaften Finanzproduktaufsicht folgende Amtshaftung setzt zunächst voraus, dass sich der betroffene Kunde eines Finanzprodukts bezüglich der Aufsicht auf die Verletzung einer drittschützenden Norm berufen kann. Insofern müsste eine Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“, die entsprechend der dieser Ausarbeitung zugrundeliegenden Fragestellung auf einen Haftungsausschluss abzielt, insbesondere den Schutzzweck der normativen Grundlagen des „Finanz-TÜV“ in den Blick nehmen. 3.3.1.2. Vermeidung einer drittschützenden Ausgestaltung Insofern erscheint ein Vergleich mit der Rechtsentwicklung des Kreditmarktaufsichtrechts in Deutschland aufschlussreich: Auf Grundlage der früheren Formulierung des Kreditwesengesetzes (KWG)52 hat der Bundesgerichtshof (BGH) in zwei Verfahren im Anschluss an die Insolvenz von Kreditinstituten mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des KWG den Charakter verschiedener Normen des KWG als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB und die polizeiliche Funktion der Bankenaufsicht anerkannt, dass die Bankenaufsicht auch den Interessen der individuellen 50 Vgl. Triantafyllou, Zur Verantwortung des Staates für die Geldwirtschaft, EuR 2010, S. 585 (590). 51 Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes v. 17. Oktober 2008, BGBl. I 1982, vgl. hierzu die Entscheidungen der Kommission über Garantieregelung für Banken in Deutschland vom 27. Oktober 2008, abrufbar unter http://www.fmsa.de/export/sites/standard/downloads/rechtsgrundlagen /20081027_eu_schreiben.pdf. 52 Gesetz über das Kreditwesen (Kreditwesengesetz - KWG) vom 10. Juli 1961, BGBl. I S. 881. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 15 Bankgläubiger diene.53 Dementsprechend sei es möglich, dass Einleger hinsichtlich des Schutzzwecks der Norm die fehlerhafte Beaufsichtigung einer Bank vor Gericht im Hinblick auf Schadensersatz rügt. Um eine drohende Amtshaftung auszuschließen, hat der Bundesgesetzgeber die Bestimmungen des KWG dahingehend präzisiert, dass die Bank- und Versicherungsaufsicht ausschließlich im allgemeinen Interesse ausgeübt wird.54 Mit Blick auf die Unterscheidung zwischen allgemeinem und drittschützendem privaten Interesse hat der Bundesgesetzgeber die Normen des KWG als allgemeine Interesse stützende Normen unter Ausschluss jeder individuellen Legitimation festgelegt.55 Vor diesem Hintergrund könnte eine Möglichkeit, einen auf EU-Ebene einzurichtenden „Finanz- TÜV“ gegen Haftungsansprüche bei einer fehlerhaften Finanzmarktproduktaufsicht abzuschirmen , darin bestehen, dass ein individualschützender Normzweck dergestalt explizit ausgeschlossen wird, dass auch aus einer weiten gerichtlichen Auslegung der Norm kein Haftungsanspruch resultieren kann. 3.3.1.3. Unionsrechtliches Erfordernis eines Individualschutzes bei fehlerhafter Aufsicht Mit Blick auf die in der Literatur geäußerten Bedenken56 gegen den allgemeinen Ausschluss eines individualschützenden Normzwecks stellt sich die Frage, ob sich diese und mithin die Notwendigkeit eines Individualschutzes bei der Einrichtung eines europäischen Aufsicht- und Zulassungssystems für Finanzmarktprodukte auch aus dem Unionsrecht ergeben. 3.3.1.3.1. EuGH, Rs. C-222/02 (Paul) Bei der Einrichtung eines „Finanz-TÜV“ könnten mit Blick auf den für eine Haftung erforderlichen Schutznormcharakter die Erwägungen des EuGH in seiner Entscheidung in der Rs. C-222/02 (Paul) für den Bereich der Bankenaufsicht Berücksichtigung finden. In dem Verfahren hatten die 53 BGH, Urteil v. 12. Juli 1979, Az. III ZR 154/77 (Wetterstein), BGHZ 74, 144; BGH, Urteil v. 9. Juli 1979, Az. II ZR 118/77 (Herstatt), BGHZ 75, 120; vgl. hierzu Schwark, Individualansprüche Privater aus wirtschaftsrechtlichen Gesetzen, JZ 1979, S. 670 ff.; Starke, Drittschutzwirkung der Bankenaufsicht und ihre Konsequenzen, Wertpapiermitteilungen 1979, S. 1402 f.; Kümper, Risikoverteilung im Staatshaftungsrecht : am Beispiel amtshaftungsrechtlicher Gefahrvermeidungspflichten bei fehlerhafter Planung, Genehmigung und Aufsicht, 2011, S. 67 ff. 54 § 6 Abs. 3 KWG in der Fassung des Vierzehnten Gesetz zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes vom 29. März 1983, BGBl. I 377: „Das Bundesaufsichtsamt nimmt die ihm nach diesem Gesetz und nach anderen Gesetzen zugewiesenen Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahr.“ Vgl. hierzu den Wortlaut des am 23. April 2015 (BT-PlPr 18/100, S. 9520B) beschlossene Kleinanlegerschutzgesetz: „(1a) Die Bundesanstalt ist innerhalb ihres gesetzlichen Auftrags auch dem Schutz der kollektiven Verbraucherinteressen verpflichtet.“ sowie hierzu BT-Drs. 18/3994, S. 37. 55 Zur Diskussion hierzu vgl. Habscheid, Staatshaftung für fehlende Bankenaufsicht, 1988, S. 22 ff.; Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 351 ff. 56 Vgl. hierzu im Überblick Rohlfing, Wirtschaftsaufsicht und amtshaftungsrechtlicher Drittschutz, WM 2005, S. 311 (313 ff.); Thiele, Finanzaufsicht, 2014, S. 348 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 16 Kläger im Hauptsacheverfahren vor dem Hintergrund des auf der Richtlinie 94/19/EG57 gründenden Einlagensicherungssystems sowie im Hinblick auf die Bankenaufsichtsrichtlinien, deren Begründungserwägungen sich auch auf den Einlegerschutz beziehen, die Zulässigkeit der Beschränkung des Schutzzwecks der Bankenaufsicht auf das allgemeine Interesse bezweifelt.58 Der EuGH hat in diesem Verfahren jedoch einen dahingehenden Anspruch abgelehnt, dass die zuständigen Behörden im Interesse der Einleger Aufsichtsmaßnahmen treffen.59 Der EuGH sah die Koordinierung der nationalen Vorschriften zur Haftung der nationalen Behörden gegenüber den Einlegern im Falle einer unzureichenden Beaufsichtigung mit Blick auf den Normzweck des betreffenden Sekundärrechts als nicht notwendig an: Die Richtlinie 94/19/EG solle den Einlegern nur garantieren , dass das Kreditinstitut, bei dem sie ihre Einlagen tätigen, einem Einlagensicherungssystem angehört, so dass der hierfür entscheidende Art. 3 Abs. 2 bis 5 94/19/EG nur der Errichtung und dem Funktionieren des Einlagensicherungssystems diene. Er verleihe den Einlegern jedoch keinen Anspruch darauf, dass die zuständigen Behörden in ihrem Interesse Aufsichtsmaßnahmen treffen und steht somit keiner nationalen Regelung entgegen, wonach die nationalen Behörden ihre Aufsicht nur im öffentlichen Interesse wahrnehmen. Dies gelte entsprechend für die sekundärrechtlichen Vorschriften über die Aufsicht über die Kreditinstitute.60 Die Zielrichtung der Richtlinie liege in der erforderlichen Harmonisierung, um zu einer gegenseitigen Anerkennung der Zulassung und der Aufsichtssysteme zu gelangen, die die Gewährung einer einzelnen Zulassung für die gesamte Union und die Anwendung des Grundsatzes der Kontrolle durch den Herkunftsmitgliedstaat erlaubt.61 Dementsprechend beschränkten sich die Bestimmungen der Richtlinien auf das, was hierfür wesentlich, notwendig und ausreichend ist. Sofern das Einlagensicherungs - und Aufsichtssystem auch dem Schutz der Einleger diene, so folgt hieraus nicht zwingend , dass die Richtlinien Rechte zugunsten der Einleger für den Fall schaffen sollen, dass ihre 57 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 1994 über Einlagensicherungssysteme , ABl. L 135/5, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31994L0019&qid=1431198962307&from=DE. 58 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 11 ff. 59 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 30 ff., vgl. hierzu Häde, Keine Haftung für mangelhafte Bankenaufsicht – Zum Urteil des EuGH vom 12.10.2004 in der Rs. C-222/02, EuZW 2005, S. 39 ff. 60 Erste Richtlinie 77/780/EWG des Rates vom 12. Dezember 1977 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, ABl. L 322/30, Richtlinie 89/299/EWG des Rates vom 17. April 1989 über die Eigenmittel von Kreditinstituten, ABl. L 124/16 und Zweite Richtlinie 89/646/EWG des Rates vom 15. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute und zur Änderung der Richtlinie 77/780/EWG, ABl. L 386/1. Die für das Verfahren relevanten Richtlinien wurden ersetzt durch die Richtlinie 95/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 1995 zur Änderung der Richtlinien 77/780/EWG und 89/646/EWG betreffend Kreditinstitute, der Richtlinien 73/239/EWG und 92/49/EWG betreffend Schadenversicherungen, der Richtlinien 79/267/EWG und 92/96/EWG betreffend Lebensversicherungen, der Richtlinie 93/22/EWG betreffend Wertpapierfirmen sowie der Richtlinie 85/611/EWG betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) zwecks verstärkter Beaufsichtigung dieser Finanzunternehmen , ABl. L 168/7. 61 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 42 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 17 Einlagen aufgrund einer unzureichenden Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden nicht verfügbar sind.62 Vor diesem Hintergrund könnten die betreffenden Richtlinien nicht dahingehend ausgelegt werden , dass sie den Einlegern Rechte für den Fall gewähren, dass ihre Einlagen aufgrund einer unzureichenden Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden nicht verfügbar sind.63 Vorbehaltlich eines eigenständigen Haftungsanspruchs infolge einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung64 ergeben sich aus den sekundärrechtlichen Vorgaben, soweit diese den Erlass von Aufsichtsmaßnahmen vorsehen, keine weitergehenden Anforderungen an die Ausgestaltung der nationalen Haftungsvorschriften. Es stünde daher nicht im Widerspruch zu den sekundärrechtlichen Vorgaben , wenn die nationalen Aufsichtsbehörden ihre Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrnehmen und somit ein Anspruch des Einzelnen auf Ersatz des Schadens ausgeschlossen ist, der durch eine unzureichende Aufsicht dieser Behörden entstanden ist.65 Im Hinblick auf den Ausschluss von Individualansprüchen anerkennt der EuGH, dass dies auf Erwägungen im Zusammenhang mit der Komplexität der Bankenaufsicht beruht, in deren Rahmen die Behörden verpflichtet sind, eine Vielzahl von Interessen zu schützen, darunter insbesondere dasjenige an der Stabilität des Finanzsystems.66 Ergänzend bleibt jedoch anzumerken, dass das Ergebnis, wonach den Einlegern im Fall der Nichtverfügbarkeit ihrer Einlagen aufgrund einer unzureichenden Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden keine Rechte gewährt werden, nach Ansicht des EuGH dadurch bedingt wird, dass die in der Richtlinie 94/19 vorgesehene Entschädigung der Einleger gewährleistet ist.67 3.3.1.3.2. Vorsorgeprinzip/Untermaßverbot Ein zwingender Schluss auf die Unzulässigkeit der Vermeidung eines drittschützenden Normcharakters ergibt sich auch nicht aus der Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht insbesondere für das unionsrechtlich garantierte Eigentumsgrundrecht.68 Zunächst enthalten die Unionsverträge keine konkrete Pflicht zur Rechtsetzung, die der Unionsgesetzgeber nur unzureichend erfüllen könnte. Im Hinblick auf die mit einem europäischen „Finanz-TÜV“ angestrebte Vereinheitlichung der Aufsicht über Finanzmarktprodukte besteht ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des (europäischen) Gesetzgebers. 62 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 40. 63 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 46. 64 Grundlegend hierzu vgl. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und 9/90 (Francovich). 65 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 46. 66 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 44. 67 EuGH, Rs. 222/02 (Paul), Rn. 50. 68 Vgl. Suerbaum, Die Schutzpflichtdimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 2003, S. 390 (408 ff.); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 23 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 18 Für ein unionsrechtliches Gebot, im Rahmen eines „Finanz-TÜV“ auf EU-Ebene einen Individualschutz für fehlerhafte Aufsicht vorzusehen, könnte das unionsrechtliche Vorsorgeprinzip und eine entsprechende Schutzpflicht des Unionsgesetzgebers herangezogen werden.69 Insbesondere wenn ein europäischer „Finanz-TÜV“ in Form einer sekundärrechtlichen Harmonisierung der nationalen Aufsichtssysteme ausgestaltet werden sollte, fände das Vorsorgeprinzip eine primärrechtliche Grundlage in der Schutzniveauklausel des Art. 114 Abs. 3 AEUV. Jedoch erscheint auch vor diesem Hintergrund die Annahme, dass ohne einen drittschützenden Charakter das unionsgrundrechtlich gebotene Mindestmaß eines unionsrechtlichen Schutzes unterschritten würde (Untermaßverbot),70 aus hiesiger Sicht nicht zwingend. Ruffert argumentiert mit Blick auf den Umstand, dass nach § 4 Abs. 4 FinDAG71 die Aufsichtspflicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin) nicht drittschützend und nicht haftungsauslösend sein soll, dass es zwar mit Blick auf den Grundsatz impossibilium nulla obligato keinen sozialstaatlichen oder grundrechtlichen Anspruch auf Systemrettung geben könne, aber zumindest einen haftungsbewehrten 72 Anspruch auf effektive Aufsicht.73 Wendete man diese Erwägungen auf die Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ auf Unionsebene an, so könnte dies darauf schließen lassen, dass sich zwar die unterstellte ökonomische Unmöglichkeit einer umfassenden Aufsicht durch Haftungsbegrenzungen ausgleichen ließe, ein völliger Haftungsausschluss jedoch ein gebotenes Mindestmaß unterschreiten würde. Diese Annahme erscheint aus hiesiger Sicht jedoch nicht zwingend. Ihr ließe sich beispielsweise entgegenhalten, dass eine Beschränkung des Aufsichtszwecks eines „Finanz-TÜV“ auf das Gemeinwohlinteresse nicht das Fehlen jeglicher Aufsicht bedeuten würde und auch bei einem entsprechenden Haftungsausschluss das – auch der politischen Prärogative entsprechende – Mindestmaß zur effektiven Sicherung der in Betracht kommenden Schutzgüter erreicht werden könnte.74 Insbesondere vor dem Hintergrund der sekundärrechtlichen Informations- und Transparenzpflichten für Anbieter von Finanzmarktprodukten erscheint aus hiesiger Sicht bereits fraglich, ob man mit Blick auf die privatautonome Entscheidung der Kunden für ein Finanzmarktprodukt bereits von der 69 Für eine schutzpflichtkonforme Auslegung des Sekundärrechts vgl. EuGH, Rs. C-13/94 (P./S.), Rn. 18 ff.; für eine Schutzpflicht der Mitgliedstaaten für die Grundfreiheiten vgl. EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich ), Rn. 31 ff.; vgl. hierzu Kainer, Grundfreiheiten und staatliche Schutzpflichten, JuS 2000, S. 431 ff.; Kühling, Staatliche Handlungspflichten zum Sicherung der Grundfreiheiten, NJW 1999, S. 403 ff. 70 Vgl. Ruffert, Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Finanzmarktkrise, NJW 2093 (2094 f.); zum Begriff des Übermaßverbots im deutschen Recht vgl. Canaris, AcP 184 (1984), 201, 222; BVerfGE 88, 203 (254) mit Verweis auf Isensee, Handbuch des Staatsrechts Band V, 1992, § 111, Rn. 165. 71 Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz vom 22. April 2002, BGBl. I S. 1310, zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 42 des Gesetzes vom 1. April 2015, BGBl. I S. 434. 72 Mitteilung der Kommission die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM(2000) 1 endg., abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52000DC0001&qid=1431201013345&from=DE. 73 Ruffert, Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Finanzmarktkrise, NJW 2093 (2095). 74 Vgl. in diese Richtung EuGH, verb. Rs. C-326/86 und C-66/88 (Francesconi/Kommission), Rn. 10 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 19 erforderlichen Beeinträchtigung eines unionsrechtlich garantierten Schutzgutes durch den Emittenten eines unsoliden Finanzmarktprodukts ausgehen kann, die im Dreiecksverhältnis zwischen dem Kunden als Träger des gefährdeten Schutzgutes, dem Emittenten als privaten Störer und der EU als Adressatin einer unionsgrundrechtlichen oder grundfreiheitlichen Schutzpflicht eine entsprechende Handlungspflicht auszulösen vermag. Zudem ergäben sich bei der Annahme einer entsprechenden Schutzpflicht Fragen im Hinblick auf eine daraus resultierende, implizite Kompetenzverlagerung zugunsten der Union sowie hinsichtlich einer unmittelbaren Drittwirkung von Grundfreiheiten, die ohne einen konkreten Rechtsetzungsvorschlag jedoch nicht abschließend bewertet werden können. 3.3.1.4. Hinreichend qualifizierter Rechtsverstoß Angesichts der Komplexität der Prüfung von Finanzmarktprodukten und der damit notwendig verbundenen Prognoseentscheidung des Unionsgesetzgebers ließe sich argumentieren, dass der wirtschaftliche Misserfolg eines Finanzmarktprodukts, der trotz einer Vorabprüfung des Produkts eintritt, nicht über die Grenzen der wirtschaftlichen Risiken hinausgeht, die – vergleichbar dem Institut der Verkehrssicherungspflicht und unter Berücksichtigung der weiteren Vorgaben des europäischen Finanzaufsichtssystems75 – mit einem Erwerb von Finanzmarktprodukten einhergeht .76 Insofern ließe sich erwägen, dass die Union mit einem Genehmigungs- oder Zulassungserfordernis eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Belange der Kunden von Finanzmarktprodukten übernimmt, die über die Verantwortung hinausgeht, die der Aufsicht nach dem System des Finanzmarktaufsichtsrechts allgemein zukommt, beispielsweise entsprechend der Wahrung der Belange der Gesamtheit der Versicherten und der Versicherungsunternehmen im Rahmen der Missstandsaufsicht.77 Hierbei dürfte zudem zu berücksichtigen sein, dass es sich bei einer staatlichen Aufsicht um eine Tätigkeit mit begrenzten Mitteln handelt, die keine völlige Sicherheit im Hinblick auf die Solidität der beaufsichtigten Finanzmarktprodukte bieten kann. 3.3.2. Haftung bei einem Schaden infolge der Nichtzulassung eines Finanzmarktprodukts Umgekehrt könnte sich eine Haftungskonstellation auch daraus ergeben, dass ein Finanzmarktprodukt infolge einer „Finanz-TÜV-Prüfung“ nicht zugelassen wird, obgleich die Zulassungsvoraussetzungen vorlagen. In diesem Fall ließe sich die Annahme eines Schadens auf die Eingriffe in die Grundrechte und Grundfreiheiten des Emittenten des Finanzmarktprodukts stützen. 3.3.2.1. Verstoß gegen eine Schutznorm Mit Blick auf die gegenwärtige Ausgestaltung der europäischen Finanzaufsicht und das dieser Ausarbeitung zugrundeliegende Verständnis eines „Finanz-TÜV“ zielt dessen Schutzzweck primär auf die Stabilität des Finanzmarkts sowie die Anlegerinteressen insgesamt ab. Regelungen 75 Vgl. hierzu Lehmann/Manger-Nestler, Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem, ZBB 2011, S. 2 (20 ff.). 76 Vgl. Pietzcker, Mitverantwortung des Staates, Verantwortung des Bürgers, JZ 1985, S. 209 ff. 77 BVerfGE 114, 1 (43 f.) Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 20 betreffend die Interessen der Emittenten von Finanzmarktprodukten bestehen demgegenüber primär in Form von Rechtsschutzgewährleistungen und der Absicherung eines diskriminierungsfreien Zugangs.78 Mit Blick auf die Konstellation der Nichtzulassung eines Finanzmarktprodukts setzt ein Amtshaftungsanspruch zunächst voraus, dass die verletzte europarechtliche Vorschrift bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Insofern kommen insbesondere Eingriffe in die Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte des Emittenten sowie eine mögliche Rechtfertigung im Rahmen der allgemeinen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Betracht. 3.3.2.1.1. Eingriff in individualschützende Normen Das Verbot der Zulassung eines Finanzmarktprodukts aufgrund von regulatorischen Anforderungen eines europäischen „Finanz-TÜV“ stellt grundsätzlich eine Beschränkung der Grundfreiheiten des Emittenten dar, zu deren Schutz auch der Unionsgesetzgeber verpflichtet ist.79 Im Hinblick auf die Eigenschaft eines Finanzmarktprodukts lässt sich das grenzüberschreitende Angebot von Finanzmarktprodukten und die hierauf bezogenen Leistungen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV zuordnen; zudem unterliegen die zu übertragenden Vermögenswerte der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 ff. AEUV.80 Darüber hinaus dienen auch die Unionsgrundrechte dem Schutz des Einzelnen. Als Abwehrrechte zielen die Unionsgrundrechte auf das Unterlassen hoheitlicher Eingriffe in die durch die jeweiligen Schutzbereiche definierten Grundrechte ab. Als solche bilden sie einen Schutzraum um das Individuum, in dem die prinzipiell unbegrenzte Freiheitsgewährleistung einer grundsätzlich begrenzten, rechtfertigungsbedürftigen hoheitlichen Befugnis zu Eingriffen gegenübersteht.81 Vor diesem Hintergrund kann das Verbot der Zulassung eines Finanzmarktprodukts je nach der konkreten Fallgestaltung insbesondere einen Eingriff in die unionsgrundrechtlichen Gewährleistungen der Berufsfreiheit (Art. 15 GRCh), der unternehmerischen Freiheit82 (Art. 16 GRCh) und des Eigentums83 (Art. 17 GRCh) darstellen. 78 Vgl. beispielsweise Art. 35 ff. Verordnung (EU) Nr. 600/2014. 79 Zur Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundfreiheiten vgl. Zazoff, Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011, S. 71 ff., Kingreen/Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts , EuR 1998, S. 263 (281) sowie Schwemer Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, 1995, S. 30 ff.; zur Beschränkung der Grundfreiheiten vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 16. März 2006 zu EuGH, Rs. C-452/04 (Fidum Finanz), Rn. 114 ff. 80 Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 56 AEUV, Rn. 28 f. 81 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 51 GRCh, Rn. 23 ff. 82 Vgl. EuG, Rs. T-16/04 (Acelor), Rn. 153 ff. 83 Vgl. EuGH, Rs. 281/84 (Zuckerfabrik Bedburg), Rn. 25 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 21 3.3.2.1.2. Rechtfertigung im Rahmen der allgemeinen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit Beschränkungen der Grundfreiheiten können nach Maßgabe der geschriebenen und ungeschriebenen Ausnahmebereiche gerechtfertigt sein. Entsprechendes gilt für Eingriffe in die vorgenannten Unionsgrundrechte. Diesbezüglich ist beispielsweise zu berücksichtigen, dass im Binnenmarkt kein schützenswertes Vertrauen besteht, nicht aus markt- oder strukturpolitischen Gründen Beschränkungen unterworfen zu werden.84 Zudem müssen Eingriffe insgesamt verhältnismäßig sein und dürfen einerseits nicht übermäßig weit gehen (Übermaßverbot), andererseits darf der geschuldete Schutz der Grundfreiheiten ein Untermaß nicht unterschreiten (Untermaßverbot).85 Im Hinblick auf die allgemeinen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit kann sich beispielsweise ein Anhörungsrecht für den betroffenen Emittenten ergeben, d.h. das Recht, vor Erlass der Entscheidung über die Unvereinbarkeit eines Finanzmarktprodukts mit den unionsrechtlichen Vorgaben angehört zu werden und so die Möglichkeit zu erhalten, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Einschätzung der Unionsrechtswidrigkeit eines Finanzmarktprodukts zu verringern oder auszuräumen.86 Ohne eine dementsprechende Gewährleistung von Verteidigungsrechten des Emittenten kann sich ein Eingriff in eine individualschützende Norm als unverhältnismäßig und mithin als eine hinreichend qualifizierte Verletzung im Sinne des Art. 340 Abs. 2 AEUV darstellen. 3.3.2.2. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund, dass das Verbot der Zulassung eines Finanzmarktprodukts aufgrund von regulatorischen Anforderungen eines europäischen „Finanz-TÜV“ grundsätzlich einen Eingriff in die subjektiven Rechte des Emittenten darstellt, müsste bei der Ausgestaltung eines „Finanz- TÜV“ im Hinblick auf potentielle Haftungsfragen jedenfalls Beachtung finden, dass der Eingriff aus anerkannten Gründen gerechtfertigt ist und sich insbesondere als verhältnismäßig darstellt. 4. Ausgestaltung eines sog. Finanz-TÜV im Hinblick auf eine mögliche Umgehung 4.1. Umgehung des sachlichen Anwendungsbereichs In Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“ insbesondere im Hinblick auf den Kreis der aufsichts- bzw. zulassungspflichtigen Finanzmarktprodukte besteht potenziell die Möglichkeit, dass Emittenten ihre Finanzmarktprodukte so strukturieren bzw. ausgestalten, dass diese nicht unter das Aufsichtsrecht fallen.87 84 Vgl. EuGH, Rs. T 1/96 (Böcker-Lensing), Rn. 41 ff. 85 Vgl. EuGH, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), Rn. 32; EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Rn. 57. 86 Vgl. beispielsweise dementsprechend EuG, Rs. T-351/03 (Schneider Electric/Kommission), Rn. 155 ff. 87 Für die parallele Fragestellung des sog. Schattenbankensystems vgl. Financial Stability Board, Shadow Banking: Scoping the Issues, 2011, abrufbar unter http://www.financialstabilityboard.org/wp-content/uploads /r_110412a.pdf; Europäische Kommission, Grünbuch Schattenbankwesen vom 19. März 2012, KOM(2012) endg., abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/bank/docs/shadow/green-paper_de.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 22 4.2. Umgehung des räumlichen Anwendungsbereichs Grundsätzlich erstreckt sich der sachliche Anwendungsbereich von Sekundärrecht nur auf den Geltungsbereich des Unionsrechts. Dementsprechend dürfte im Hinblick auf eine potenzielle Umgehung eines „Finanz-TÜV“ im politischen Verfahren insbesondere die Frage zu klären sein, ob das entsprechende Zulassungsverfahren generelle Voraussetzung für den Handel mit Finanzmarktprodukten in der EU ist und dementsprechend auch nicht in der EU emittierte Finanzmarktprodukte für ihre Handelbarkeit in der EU zunächst ein entsprechendes Zulassungsverfahren durchlaufen müssen, bevor sie im europäischen Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden dürfen. Entsprechend den sekundärrechtlichen Regelungen betreffend die Verwalter von Alternativen Investmentfonds (Alternative Investment Fund Managers, AIFM) könnte eine Handlungsalternative darin bestehen, dass sich eine unionsrechtliche Regelung – ungeachtet etwaiger Folgefragen des Freihandelsrechts – über die Zulassung von Finanzmarktprodukten auch auf entsprechende Produkte aus Drittstaaten erstreckt.88 5. Haftungsfragen bei einer obligatorischen Zulassungsprüfung durch die ESMA Der zweite Fragekomplex betrifft die potenzielle Haftung der ESMA für den Fall, dass ihr die Aufgaben eines „Finanz-TÜV“ übertragen würden. Die Haftung der ESMA richtet sich nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen der unionsrechtlichen Amtshaftung und ist abhängig von der konkreten Ausgestaltung eines „Finanz-TÜV“. Hierzu ist zunächst anzumerken, dass keine weiteren Anhaltspunkte für die konkreten Aufgaben und Befugnisse vorliegen, die der ESMA im Rahmen eines „Finanz-TÜV“ obliegen sollen, was wiederum Voraussetzung für eine Prüfung potenzieller Haftungsfragen bei einer Aufgabenwahrnehmung durch die ESMA ist. So könnte beispielsweise die ESMA neben der Befugnis zu einer Standardsetzung unmittelbare Entscheidungsbefugnisse oder eine supranationale Aufsicht über die nationalen Aufsichtsbehörden haben, d.h. unmittelbar Finanzmarktprodukte zulassen oder sicherstellen, dass die nationalen Aufsichtsbehörden die einheitlichen Aufsichtsregeln einhalten .89 Die vielfältigen Möglichkeiten für eine Einbindung von europäischen Agenturen in ein europäisches Zulassungsverfahren verdeutlichen beispielsweise die Beteiligung der Europäischen 88 Vgl. 4. Erwägungsgrund und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2003/41/EG und 2009/65/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009 und (EU) Nr. 1095/2010, ABl. L 174/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32011L0061&from=DE. 89 Vgl. dementsprechend die Empfehlungen im De La Rosier-Bericht an den Europäischen Rat, Schlussfolgerungen vom 19. Juni 2009. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 23 Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority) bei der Zulassung von gentechnisch veränderte Organismen90 sowie die Rolle der Europäischen Chemikalienagentur (European Chemicals Agency) bei der Zulassung von Chemikalien in der EU,91 wobei diesen Agenturen aufgrund der vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung in der EU im Wesentlichen lediglich unterstützende Aufgaben, nicht aber Letztentscheidungsbefugnisse über die Zulassung an sich zukommen. Eine potenzielle Haftung der ESMA im Rahmen eines „Finanz-TÜV“ kann jedoch erst entstehen, wenn ihr überhaupt die entsprechenden Befugnisse übertragen werden können. Dementsprechend wird im Folgenden der Frage nachgegangen, ob bzw. in welchem Rahmen der ESMA zulässigerweise die Aufgaben eines „Finanz-TÜV“ übertragen werden können. 5.1. Gegenwärtige Aufsichtsbefugnisse der ESMA Die ESMA wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 errichtet und gehört gemäß Art. 1 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 1092/2010 zum Europäischen Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision − ESFS), dessen Aufgabe die Sicherstellung der Aufsicht über das Finanzsystem der Europäischen Union ist. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 sieht vor, dass die ESMA „im Rahmen der ihr durch diese Verordnung übertragenen Befugnisse und innerhalb des Anwendungsbereichs … aller … verbindlichen Rechtsakte der Union [handelt], die der [ESMA] Aufgaben übertragen“. Zu den in den Art. 8 und 9 der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 festgelegten Aufgaben und Befugnisse der ESMA gehört der Erlass von Beschlüssen, die an die zuständigen nationalen Behörden und die Finanzmarktteilnehmer gerichtet sind. So kann die ESMA gemäß Art. 9 Abs. 5 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 bestimmte Finanztätigkeiten, durch die das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des Finanzsystems in der Union als Ganzes oder in Teilen gefährdet wird, in den Fällen und unter den Bedingungen, die in den in Artikel 1 Absatz 2 genannten Gesetzgebungsakten festgelegt sind, beziehungsweise erforderlichenfalls im Krisenfall nach Maßgabe des Artikels 18 und unter den darin festgelegten Bedingungen vorübergehend verbieten oder beschränken. Zudem kann die ESMA auch überprüfen, ob es notwendig ist, bestimmte Arten von Finanztätigkeiten zu verbieten oder zu beschränken, und, 90 Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003R1829&from=DE, die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates, ABl. L 106/1, abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02001L0018-20080321&qid=1431206064891&from=DE sowie für das Verfahren im Überblick http://www.efsa.europa.eu/de/gmotopics/docs/gmoauthorisation.pdf. 91 Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung , Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Agentur für chemische Stoffe, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission , ABl. L 396/1, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:02006R1907-20150323&qid=1431205516295&from=DE. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 24 sollte dies notwendig sein, die Kommission informieren, um den Erlass eines solchen Verbots oder einer solchen Beschränkung zu erleichtern. Die Aufgaben der ESMA werden u.a. ergänzt durch die auf Art. 114 AEUV gestützte Verordnung Nr. 236/201292. Gemäß Art. 28 dieser Verordnung kann die ESMA in bestimmten Ausnahmesituationen und subsidiär gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden Eingriffsbefugnisse im Hinblick auf bestimmte Finanzmarktprodukte auch unmittelbar gegenüber den Finanzmarktteilnehmern ausüben.93 5.2. Maßstäbe für die Übertragung von Aufgaben auf die ESMA Mit Blick auf die Gewaltenteilung in der Union sind bei einer Übertragung von Aufgaben auf eine Agentur insbesondere die vom EuGH in seinem Urteil in der Rs. 9/56 (Meroni/Hohe Behörde) entwickelten Grundsätze zu beachten. Danach kann sich eine Übertragung von Befugnissen sehr verschieden auswirken. Handelt es sich dabei um genau umgrenzte Ausführungsbefugnisse, so unterliegt deren Ausübung einer strengen Kontrolle im Hinblick auf die Beachtung objektiver Tatbestandsmerkmale, die von der übertragenden Behörde festgesetzt werden; „handelt es sich dagegen um Befugnisse, die nach freiem Ermessen auszuüben sind und die einen weiten Ermessensspielraum voraussetzen, so ermöglichen sie, je nach der Art ihrer Ausübung, die Verwirklichung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik“94. Während die erste Variante der Delegation nicht geeignet ist, die Ausübung der übertragenen Befugnisse wesentlich zu beeinflussen, bringt die zweite Variante eine tatsächliche Verlagerung der Verantwortung mit sich, indem an die Stelle des Ermessens der übertragenden Behörde das Ermessen derjenigen Stelle tritt, der die Befugnisse übertragen worden sind. Mit anderen Worten darf einer Agentur demnach keine Ermessensfreiheit eingeräumt werden, die weitreichende Ermessensentscheidungen ermöglicht. In der Rs. 58/84 (Romano) hat der EuGH zudem festgestellt, dass eine Agentur nicht ermächtigt werden kann, „Rechtsakte mit normativem Charakter“ zu erlassen.95 5.3. Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage Entsprechend den Durchsetzungsmaßnahmen im Rahmen der Verordnung Nr. 236/2012 könnte die Übertragung von Befugnissen eines „Finanz-TÜV“ auf die ESMA, der diese zum Erlass von Einzelfallbeschlüssen ermächtigt, die an natürliche oder juristische Personen gerichtet sind, eine 92 Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. L 86/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal -content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012R0236&qid=1431207638561&from=DE. 93 Vgl. hierzu Kämmerer, Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem. (ESFS) - Modell für eine europäisierte Verwaltungsarchitektur?, NVwZ 2011, S. 1281 (1285 f.); Hitzer/Hauser, ESMA – Ein Statusbericht, BKR 2015, S. 52 (56 ff.). 94 Rs. 9/56 (Meroni/Hohe Behörde), Slg. 1958, 11, 43. 95 Vgl. hierzu Orator, Die unionsrechtliche Zulässigkeit von Eingriffsbefugnissen der ESMA im Bereich von Leerverkäufen , EuZW 2013, S. 852 ff.; Walla, Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) als Akteur bei der Regulierung der Kapitalmärkte Europas – Grundlagen, erste Erfahrungen und Ausblick, BKR 2012, S. 265 ff. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 32/15 Seite 25 primärrechtliche Grundlage in Art. 114 AEUV finden. Ein auf Art. 114 AEUV gestützter Rechtsakt muss einerseits Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten umfassen und zum anderen die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Im Hinblick auf das Merkmal „Maßnahmen zur Angleichung“ kann der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Auswahl der Angleichungstechnik angesichts des ihm für Maßnahmen im Sinne von Art. 114 AEUV eingeräumten Ermessens Befugnisse auf eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union übertragen, die der Verwirklichung der angestrebten Harmonisierung dienen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die zu ergreifenden Maßnahmen ein spezifisches technisches Fachwissen und die Reaktionsfähigkeit einer solchen Stelle voraussetzen .96 Zudem umfasst das Merkmal „Maßnahmen zur Angleichung“ auch die Befugnis des Unionsgesetzgebers , Maßnahmen hinsichtlich eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Produktkategorie und gegebenenfalls auch Einzelmaßnahmen hinsichtlich dieser Produkte vorzuschreiben , wobei die Maßnahmen nicht zwingend gegen einen Mitgliedstaat, sondern auch gegenüber natürlichen oder juristischen Personen ergriffen werden können.97 Hierfür ist es – entsprechend den Erwägungen in der Verordnung Nr. 236/2012 – zweckmäßig, für die entsprechenden Vorschriften die Form einer Verordnung zu wählen, um der ESMA die Befugnis zur Verhängung eigener Maßnahmen auf dem Gebiet des „Finanz-TÜV“ zu übertragen und um sicherzustellen , dass Vorschriften, mit denen private Akteure direkt verpflichtet werden, in der gesamten Union einheitlich angewandt werden.98 5.4. „Finanz-TÜV“ als zulässige Aufgabe der ESMA Vor diesem Hintergrund stellt sich insbesondere die – mangels eines konkreten Regelungsvorhabens nicht abschließend zu bewertende – Frage nach der zulässigen Weite des Ermessens der ESMA bei Wahrnehmung ihrer Aufsichtsbefugnisse, da die ESMA im Rahmen ihrer Aufsicht potenziell in Konflikten zwischen kollidierenden öffentlichen Interessen vermitteln, Werturteile abgeben oder komplexe finanzielle Bewertungen vornehmen müsste. Dementsprechend müsste sichergestellt sein, dass sie ihre Bewertungen anhand fester, genau eingegrenzter und objektiv überprüfbarer Kriterien sowie aufgrund einer technisch-fachlichen Analyse, nicht aber aufgrund von wirtschaftspolitischen Erwägungen erlässt.99 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass es nach Maßgabe der vorstehenden Bedingungen grundsätzlich möglich erscheint, der ESMA Funktionen eines „Finanz-TÜV“ zu übertragen. - Fachbereich Europa - 96 EuGH, Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 105; EuGH, Rs. C-217/04 (Vereinigtes Königreich /Parlament und Rat), Rn. 44; EuGH, Rs. C-66/04 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 45. 97 EuGH, Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 106 ff.; EuGH, Rs. C-359/92 (Deutschland /Rat), Rn. 37. 98 EuGH, Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 110. 99 Vgl. dementsprechend EuGH, Rs. C-270/12 (Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat), Rn. 53.