© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 031/20 Zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 2 Zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 031/20 Abschluss der Arbeit: 2. Juni 2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Regelfall für den Lauf der Überstellungsfrist: Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO 5 3. Überstellungsfrist und mitgliedstaatliche Aussetzung: Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III- VO 7 3.1. Zur Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO 8 3.2. Rezeption durch das BVerwG 10 3.3. Zur Übertragung auf das Vorgehen des BAMF 13 4. Andere rechtliche Optionen im Zusammenhang mit der Aussetzung der Überstellungsfrist 15 4.1. Praktische (Un-)Möglichkeit gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO 15 4.2. Analoge Anwendung des Verfahrens nach Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO 16 4.3. Geltendmachung des Art. 72 AEUV 17 5. Ergebnis 17 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung In einer Mitteilung der Kommission vom 16. April 2020 im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Umsetzung des EU-Asyl-Rechts wird darauf hingewiesen, dass mehrere Mitgliedstaaten aufgrund von Einreisebeschränkungen usw. Probleme hätten, Überstellung nach der sog. Dublin-III-Verordnung1 innerhalb der dafür vorgesehenen Frist durchzuführen mit der Folge, dass Zuständigkeitswechsel stattgefunden haben oder bevorstehen.2 Wie aus Informationen der Organisation Pro Asyl hervorgeht, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor diesem Hintergrund bis auf weiteres die Vollziehung entsprechender Abschiebungsanordnungen , die nach deutschem Recht den Überstellungen nach der Dublin-III-Verordnung zugrunde liegen, gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO ausgesetzt.3 In einem hierzu von der Organisation Pro Asyl verlinkten Schreiben des BAMF vom 26. März 2020 an eine betroffene Person heißt es insoweit: „[…] Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise sind derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher setzt das Bundesamt bis auf weiteres Ihre Dublin- Überstellung aus. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziert nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Übernahme bereit und verpflichtet wäre. Vielmehr ist der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gilt unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO kann das Bundesamt als zuständige Behörde die Durchsetzung der Überstellungsentscheidung von Amts wegen aussetzen. Erfolgt dies – wie vorliegend – aus sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägungen wird eine nach der Dublin-III-VO laufende Überstellungsfrist unterbrochen (vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18). […]“4 Der Fachbereich wird vor diesem Hintergrund um Beantwortung der Frage ersucht, ob und inwieweit „das Vorgehen des BAMF, die Fristen im Rahmen des Dublin-Verfahrens vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie auszusetzen, mit der Dublin-Verordnung vereinbar [ist]“. Hierbei sollen insbesondere die Ausführungen der Kommission in der einleitend genannten Mitteilung berücksichtigt werden, wonach keine der Bestimmungen der Dublin- 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl.EU 2013 Nr. L 180/31, letzte konsolidierte Fassung (ohne Erwägungsgründe) vom 29.6.2013. 2 Kommission, COVID-19: Guidance on the implementation of relevant EU provisions in the area of asylum and return procedures and on resettlement, C(2020) 2516 (im Folgenden: Covid-Asyl-Mitteilung), S. 7 f. 3 Pro Asyl, Praxishinweise zur aktuellen Aussetzung von Dublin-III-Überstellungen und Überstellungsfristen auf Grund der Corona-Pandemie vom 8. April 2020, S. 1. Vgl. auch die in Fn. 1 und 2 dort verlinkten Schreiben des BAMF. 4 In der Mittelung von Pro Asyl (Fn. 3) verlinktes Schreiben des BAMF. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 5 III-Verordnung unter den Umständen wie denen der Corona-Pandemie ein Abweichen von den Vorgaben des Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO erlaube, nach denen der Ablauf der Überstellungsfrist zwingend zu einem Zuständigkeitswechsel auf den ersuchenden Mitgliedstaat führe.5 Im Folgenden ist zu prüfen, ob das Vorgehen des BAMF im Lichte der Dublin-III-Verordnung rechtlich zu einer „Unterbrechung“ der Überstellungsfrist führt und welche Folgen sich hieraus ggf. für deren weiteren Lauf ergeben. Hierzu wird zunächst der in der Verordnung vorgesehene Regelfall für den Lauf der Überstellungsfrist dargestellt, der sich aus Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO und dem darin in Bezug genommenen Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO für den Fall der Einlegung eines Rechtsbehelfs ergibt (2.). Sodann ist auf die in Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO vorgesehene Aussetzungsmöglichkeit seitens der zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden einzugehen (3.). Anschließend ist zu erörtern, ob und ggf. welche anderen Optionen in der Dublin-III-Verordnung oder dem sonstigen Unionsrecht bestehen könnten, um die Aussetzung der Überstellungen aus Gründen der Corona- Pandemie zu berücksichtigen (4.). 2. Regelfall für den Lauf der Überstellungsfrist: Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO Art. 29 Dublin-III-VO ist die erste Vorschrift im als Überstellung titulierten Abschnitt VI der Verordnung und enthält laut amtlicher Überschrift die Modalitäten und Fristen. Die reguläre Dauer der Überstellungsfrist und sowie die fristauslösenden Umstände sind ihrem Absatz 1 UAbs. 1 geregelt , der Zuständigkeitswechsel nach Fristablauf in Absatz 2 Satz 1. Der Wortlautet dieser beiden Normen lautet wie folgt: „[Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1:] Die Überstellung des Antragstellers […] aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat. [Art. 29 Abs. 2 S. 1:] Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über.“ (Hervorhebung durch Verfasser) 5 Vgl. Kommission; Covid-Asyl-Mitteilung (Fn. 2), S. 8: „Where a transfer to the responsible Member State is not carried out within the applicable time limit, responsibility shifts to the Member State that requested the transfer pursuant to Article 29(2) of the Dublin Regulation. No provision of the Regulation allows to derogate from this rule in a situation such as the one resulting from the COVID-19 pandemic.“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 6 Danach beträgt die Überstellungsfrist grundsätzlich sechs Monate und der nach ihrem Ablauf erfolgende Zuständigkeitswechsel ist zwingend. Die hiervon hinsichtlich der Fristdauer bestehenden Ausnahmen in Fällen von Inhaftierung zwecks Überstellung (Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin- III-VO6), Inhaftierung und Flucht (Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO7) sind an diese Stelle nicht von Bedeutung. Vorgaben hinsichtlich der hier ebenfalls nicht weiter relevanten Berechnung aller in der Verordnung geregelten Fristen und damit auch der Überstellungsfrist enthält Art. 42 Dublin-III-VO. Als fristauslösende Umstände werden in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO zwei Ereignisse benannt: Zeitlich als erstes eintretend ist die „Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat“ im Sinne der Art. 21, 22 bzw. Art. 23, 24 Dublin-III- VO. Erst wenn diese Annahme erfolgt ist und in ihrer Folge eine Überstellungsentscheidung erlassen wird (Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG), gewinnt das zweite Ereignis an praktischer Relevanz, nämlich die „endgültig[e] Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung , wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.“ Der in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO in Bezug genommene Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO lautet wie folgt: „Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor: a) dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder b) dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder c) die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.“ 6 Siehe dazu unten unter 3.3., S. 13 f. 7 Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO lautet: „Diese [sechsmonatige] Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 7 Da einer (Anfechtungs-)Klage gegen die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG wegen § 75 AsylG keine aufschiebende Wirkung zukommt und deren Anordnung nach deutschem Verwaltungsprozessrecht nicht von Amts wegen durch die angerufenen Verwaltungsgerichte erfolgt, greift für Deutschland die Variante nach Buchst. c, hinter der sich ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Var. 1 VwGO i. V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO verbirgt. Wird von dieser Möglichkeit durch die von der Überstellung betroffenen Person Gebrauch gemacht , so geht das BVerwG davon aus, dass die mit der Annahme eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs von Rechts wegen ausgelöste Sechsmonatsfrist unterbrochen und nach endgültiger Entscheidung über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Var. 1 VwGO neu zu laufen beginnt.8 In der dem Gutachten zugrunde liegenden Konstellation geht die Aussetzung der Überstellungsentscheidung von der Behörde in Anwendung des § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin -III-VO aus und erfolgt wohl ungeachtet eines prozessualen Tätigwerdens der von der Überstellung betroffenen Person. Allein auf die behördliche Aussetzung blickend liegt jedenfalls dem Wortlaut nach kein Fall von Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO vor, der zu einer Unterbrechung und einem anschließenden Neubeginn des Fristlaufs führen könnte. 3. Überstellungsfrist und mitgliedstaatliche Aussetzung: Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO Fraglich ist daher, welche Bedeutung die behördliche Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III- VO in diesem Kontext hat. Der Artikel lautet: „Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen .“ Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die danach mögliche behördliche Aussetzung mit der durch Rechtsbehelfs bewirkten Aussetzung der Überstellung nach Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO und ihrer Wirkung auf den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO gleichzusetzen (3.1.). Hieran knüpft auch das BVerwG in einer Entscheidung, auf die sich auch das BAMF in dem oben zitierten Schreiben bezieht (3.2.).9 Ob diese Rechtsprechung des EuGH und ihre Rezeption durch das BVerwG auch das oben beschriebene Vorgehen des BAMF im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie deckt, bedarf jedoch der Erörterung (3.3.). 8 Vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Rn. 17. Von einem Weiterlaufen der (ersten) Frist bis zur Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz geht hingegen wohl Hruschka, Fristen in Dublin-Verfahren , ZAR 2018, S. 281 (284 f.) aus. 9 Siehe oben unter 1., S. 4, Fn. 4. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 8 3.1. Zur Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO In einem Vorlageverfahren, dem eine Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung nach Art. 28 Dublin-III-VO zugrunde lag, hatte der EuGH u. a. die Frage zu entscheiden, welche Rechtsfolgen eine behördliche Aussetzung der Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO für den Beginn der Überstellungsfrist nach Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin-III-VO hat.10 Die Vorschrift lautet: „Befindet sich eine Person nach diesem Artikel in Haft, so erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald diese praktisch durchführbar ist und spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat oder von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung gemäß Artikel 27 Absatz 3 keine aufschiebende Wirkung mehr hat.“ (Hervorhebung durch Verfasser ) Dieser, im Wortlaut ähnlich wie Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO formulierte Artikel, nimmt hinsichtlich des zweiten fristauslösenden Ereignisses ebenfalls nur Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO in Bezug. Im Ausgangsverfahren ging die aufschiebende Wirkung jedoch nicht auf ein prozessuales Tätigwerden der von der Inhaftierung betroffenen Person zurück, die lediglich Klage gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt hatte, sondern auf die zuständige Behörde.11 Der EuGH beantwortete auf die ihm hierzu gestellte Vorlagefrage wie folgt: „Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 28 Abs. 3 der Dublin -III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die mit dieser Bestimmung eingeführte Frist von sechs Wochen von dem Zeitpunkt an, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung keine aufschiebende Wirkung mehr hat, auch dann gilt, wenn die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht ausdrücklich von der betreffenden Person beantragt worden ist.“ (Hervorhebung durch Verfasser) Der Gerichtshof begründete dieses – über den Wortlaut des Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin-III-VO hinausgehende – Ergebnis, in dem er zunächst den Sinn und Zweck der Regelung zum Fristbeginn bei Überstellung betonte: „Solange aber ein gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegter Rechtsbehelf oder eine beantragte Überprüfung einer solchen Entscheidung aufschiebende Wirkung hat, ist es von vornherein unmöglich, die Überstellung vorzunehmen, weshalb die hierzu vorgesehene Frist in diesem Fall erst zu laufen beginnen kann, wenn grundsätzlich vereinbart ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und 10 Siehe EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 60 ff. 11 EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 17. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 9 wenn lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben, also ab dem Zeitpunkt, zu dem die aufschiebende Wirkung endet […]. […] Demnach ist der Umstand, dass einem Rechtsbehelf oder einer Überprüfung aufschiebende Wirkung zukommt, insoweit entscheidend, als er der Überstellung entgegensteht , ohne dass dem Vorliegen oder dem Nichtvorliegen eines vorherigen, von der betroffenen Person ausgehenden Antrags auf Aussetzung der Überstellungsentscheidung eine entscheidende Rolle zukäme.“12 Entscheidend ist danach für den Laufbeginn der Überstellungsfrist, dass die Überstellung ab diesem Zeitpunkt möglich ist, was nach der Konzeption der Dublin-III-Verordnung schon dann der Fall ist, wenn dem Rechtsbehelf bzw. der Überprüfung keine aufschiebende Wirkung zukommt.13 Über den Hinweis, wonach der Unionsgesetzgeber im Rahmen des Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO keine Unterscheidung zwischen den Mitgliedstaaten vorgenommen hat, nach deren Recht von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung eintritt (Buchst. a und b) und denen, deren Recht einen Antrag des Betroffenen hierfür erfordert (Buchst. c),14 gelangt der EuGH sodann zu der Feststellung , dass die Situationen, in der sich Personen nach Art. 27 Abs. 3 und nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO befinden, vergleichbar seien: „Art. 28 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung bezieht sich zwar nicht unmittelbar auf den in Art. 27 Abs. 4 dieser Verordnung vorgesehenen Fall, in dem die Aussetzung der Durchführung der Überstellung nicht kraft Gesetzes gilt oder auf einer gerichtlichen Entscheidung beruht, sondern auf einer von der zuständigen Behörde erlassenen Entscheidung. Jedoch befindet sich die betroffene Person in diesem Fall in einer Situation, die in jeder Hinsicht mit der Situation einer Person vergleichbar ist, deren 12 Siehe EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 55, 63, vgl. auch Rn. 62. 13 Anders noch nach der sog. Dublin-II-Verordnung Nr. 343/2003, die durch die Dublin-III-Verordnung aufgehoben wurde. Zu der nach alter Rechtslage einschlägigen Regelung führte der EuGH in seinem Urteil v. 29.1.2009, Rs. C-19/08 (Petrosian), Rn. 45 f. aus: „Die Frist für die Durchführung der Überstellung kann daher erst zu laufen beginnen, wenn grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und wenn lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben. Dass diese Überstellung erfolgen wird, kann nicht als sichergestellt angesehen werden, wenn ein Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats, bei dem ein Rechtsbehelf anhängig ist, über die Frage in der Sache nicht entschieden hat, sondern sich darauf beschränkt hat, zu einem Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung Stellung zu nehmen. Daraus ergibt sich, dass zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 343/2003, mit dem die Frist zur Durchführung der Überstellung festgelegt wird, diese Frist in der zweiten angeführten Konstellation nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann.“ 14 EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 64 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 10 Rechtsbehelf oder von ihr beantragter Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 der genannten Verordnung aufschiebende Wirkung zukommt.“15 (Hervorhebung durch Verfasser ) Anschließend rekurriert der Gerichtshof noch auf die praktische Wirksamkeit des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO, und zwar unter Einbeziehung des vergleichbar formulierten Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO: „Außerdem müssten Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin-III-Verordnung – in denen allein die sich aus Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung ergebende aufschiebende Wirkung angeführt ist – aufgrund ihres ähnlichen Wortlauts und des Umstands, dass beide die Ermittlung des Zeitraums zum Gegenstand haben, innerhalb dessen die Überstellung erfolgen muss, normalerweise jeweils enger ausgelegt werden. Eine solche Auslegung würde gemäß Art. 29 Abs. 1 der genannten Verordnung folglich bedeuten, dass, wenn die zuständige Behörde von der Möglichkeit nach Art. 27 Abs. 4 dieser Verordnung zugunsten einer Person Gebrauch macht, die nicht in Haft genommen worden ist, die Frist für die Durchführung der Überstellung gleichwohl ab der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat zu berechnen wäre. Diese Auslegung könnte dieser Vorschrift daher in der Praxis in weitem Maße ihre praktische Wirksamkeit nehmen, da sie nicht angewandt werden könnte, ohne dass die Gefahr bestünde, dass sie die Durchführung der Überstellung innerhalb der von der Dublin-III-Verordnung vorgegebenen Fristen behindert.“16 (Hervorhebung durch Verfasser) Unter Berücksichtigung der oben zitierten Beantwortung der auf Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin- III-VO bezogenen Vorlagefrage, wonach die Sechswochenfrist „von dem Zeitpunkt, ab dem der Rechtsbehelf oder die Überprüfung keine aufschiebende Wirkung mehr hat, auch dann gilt, wenn die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht ausdrücklich von der betreffenden Person beantragt worden ist“,17 sowie den eben zitierten Begründungserwägungen des Gerichtshofs ist davon auszugehen, dass Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO in der gleichen Weise wie Art. 28 Abs. 3 UAbs. 3 Dublin-III-VO auszulegen ist, so dass behördlichen Aussetzungen nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO auch im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO die gleiche Wirkung zukommt, wie den durch Rechtsbehelf bewirkten Aussetzungen im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO. 3.2. Rezeption durch das BVerwG Hiervon geht jedenfalls das BVerwG aus, welches unter Bezugnahme auf das oben zitierte Urteil des EuGH im Fall einer behördlichen Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO schlussfolgerte, dass eine Überstellungsfrist, „die mit [einem] Beschluss, mit dem der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen [einen] Bescheid des 15 EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 67 f. 16 EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 70 u. 71. 17 EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 73. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 11 Bundesamtes abgelehnt worden ist, neu in Lauf gesetzt worden ist, […] vor ihrem Ablauf wirksam durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO […] erneut unterbrochen [werden kann].“18 Imn dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall erließ das BAMF eine Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO auf Bitten des Bundesverfassungsgerichts, an das sich die betroffene Person nach Ablehnung ihres Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Verfassungsbeschwerde und einem Antrag auf einstweilige Anordnung gewandt hatte.19 Die Aussetzung des BAMF erging bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde oder den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung .20 In seinen weiteren Ausführungen setzte sich das BVerwG – neben den hier nicht weiter relevanten Grenzen einer Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nach deutschem Recht21 – auch mit den unionsrechtlichen Grenzen auseinander und führte dazu Folgendes aus: „bb) Unionsrecht setzt in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine behördliche Aussetzung der Vollziehung voraus, steht also § 80 Abs. 4 VwGO gerade nicht entgegen. Es setzt aber dem nach nationalem Recht (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) eröffneten weiten Handlungsspielraum durch unionsrechtliche Vorgaben (vgl. insbesondere Art. 27 und 28 Dublin III-VO) gewisse Grenzen. Diese Beschränkungen ergeben sich daraus, dass die behördliche Aussetzungsentscheidung den Antragsteller nicht nur begünstigt, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung zunächst nicht mehr erfolgen können, sondern mittelbar auch belastet, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht und so dazu führen kann, dass ein vom Antragsteller möglicherweise erstrebter Zuständigkeitsübergang nicht erfolgt; zu berücksichtigen sind auch die Belange des zuständigen Mitgliedstaats. Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III- VO). Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration ) […]. Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem 18 Vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Rn. 18 sowie die nachfolgenden Randnummern. 19 Vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Angaben zum Sachverhalt. 20 Vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Angaben zum Sachverhalt. 21 Vgl. BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Rn. 22 bis 24. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 12 jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 - Rn. 43 ff.) oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO). Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen […]; dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes […] erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Das vorliegende Verfahren gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Klärung dieser Willkür- oder Missbrauchsschwelle; sie wird aber dann überschritten sein, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.“22 (Hervorhebung durch Verfasser) Ob das BVerwG mit diesen Vorgaben die unionsrechtlichen Grenzen des behördlichen Handlungsspielraums nach § 80 Abs. 4 VwGO zutreffend bestimmt hat, dürfte erst dann abschließend feststehen, wenn der EuGH sie bestätigt. Soweit ersichtlich, liegen weitere unionsgerichtliche Entscheidungen zum Verhältnis von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO und Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO bisher nicht vor. Mit Blick auf den Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO spricht jedoch auch nach EU-Recht viel dafür, dass die von der Überstellung betroffene Person einen Rechtsbehelf eingelegt haben muss. Denn diese Bestimmung setzt voraus, dass ein solcher Rechtsbehelf eingelegt wurde. Praktische Relevanz hat die behördliche Aussetzung allerdings nur dann, wenn der Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO nicht oder nicht mehr zu einer Aussetzung der Überstellung führt, nach deutschem Recht also kein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt oder dieser durch das angerufene Gericht abgelehnt wurde. In allen anderen Fällen ist die Überstellungsfrist nämlich bereits unterbrochen. Zudem erfolgte die Aussetzung sowohl in dem Ausgangsverfahren zur EuGH-Entscheidung als auch in dem Fall, der dem BVerwG-Urteil zugrunde lag, in zeitlicher Hinsicht bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung, was ebenfalls dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO entspricht, wonach die Behörden tätig werden können, „um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.“ (Hervorhebung durch Verfasser) 22 BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Rn. 25 bis 27. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 13 3.3. Zur Übertragung auf das Vorgehen des BAMF Anders als die den Urteilen des EuGH sowie des BVerwG zugrunde liegenden Sachverhalte steht die Corona-Pandemie-bedingte behördliche Aussetzung des BAMF weder in einem gezielten Zusammenhang mit Rechtsschutzgesichtspunkten und eventuellen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung noch erfolgt sie – soweit aus dem einleitend zitierten Beispiel ersichtlich 23 – bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens. Bereits diese Gesichtspunkte lassen zumindest bei einer v. a. sachverhaltsvergleichenden Betrachtungsweise Zweifel daran aufkommen , ob das BAMF-Vorgehen unionsrechtlich auf Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO gestützt werden kann, der von seinem Wortlaut her einen solchen Konnex zumindest im Hinblick auf ein anhängiges Rechtsschutzverfahren impliziert. Da sich der EuGH in der zitierten und bislang einzigen Entscheidung zu den möglichen Grenzen einer Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Allgemeinen und in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO im Besonderen weder positiv noch negativ geäußert hat, lässt sich allerdings nicht mit Bestimmtheit ausschließen, dass Situationen wie die vorliegende von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO erfasst werden könnten und sodann im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO zu berücksichtigen wären. Betrachtet man das Corona-begründete Vorgehen des BAMF im Lichte des BVerwG-Urteils, so ist zunächst zu konstatieren, dass auch danach zumindest die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Abschiebungsanordnung eine unionsrechtliche Mindestvoraussetzung darstellt, so dass die Aussetzungen des BAMF danach jedenfalls in den Fällen ins Leere geht, in denen es an einem eingelegten Rechtsbehelf fehlt. In allen anderen Fällen eröffnen die vom BVerwG formulierten unionsrechtlichen Grenzen hingegen grundsätzlich Raum für andere Konstellationen auch ungeachtet von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung, da das Gericht davon ausgeht, dass die „Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes […] eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle [erlaubt], wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind.“24 Hiervon ausgehend käme es entscheidend darauf an, aus welchen konkreten Gründen die Dublin -Überstellungen „im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise […] derzeit nicht zu vertreten [sind]“ und deshalb ausgesetzt werden.25 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang etwa, ob hierbei der Gesundheitszustand bzw. der Schutz der Gesundheit der von der Überstellung betroffenen Person im Vordergrund steht und/oder, ob der betreffende zuständige Mitgliedstaat angesichts der mit der Corona-Pandemie verbundenen Schwierigkeiten vor zusätzlichen administrativen Belastungen, ggf. auch auf sein Ersuchen hin, bewahrt werden soll oder sich einer Überstellung sogar unter Verweis auf Einreiseverbote etc. zu dem betreffenden Zeitpunkt verweigert. Denn je nach konkretem Beweggrund kann ein legitimes Interesse der beteiligten Mitgliedstaaten an einer vorübergehenden Aussetzung der Überstellung sowie der Vermeidung des Zuständigkeitswechsels nicht ausgeschlossen und im Lichte der BVerwG-Anforderungen somit als sachlich begründet angesehen werden. Je nach Sachlage kann eine solche Aussetzung auch den Interessen 23 Siehe das in der Mittelung von Pro Asyl (Fn. 3) verlinkte Schreiben des BAMF (Fn. 4). 24 BVerwG, Urteil v. 8.1.2019 - 1 C 16/18, juris, Rn. 27. 25 So in dem in der Mitteilung von Pro Asyl (Fn. 3) verlinkten Schreiben des BAMF. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 14 der von der Überstellung betroffenen Person entsprechen. Bestünde daher über die konkrete Motivationslage des BAMF insoweit Klarheit als eine durch die Behörde vorgenommene Aussetzungen nicht „allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte“, so wäre sie nach den BVerwG-Maßstäben jedenfalls nicht als von vornherein unzulässig anzusehen. Zu berücksichtigen sind hierbei allerdings noch folgende Erwägungen. Erstens liegt der BVerwG- Perspektive eine individuelle Betrachtungsweise zugrunde, während die BAMF-Aussetzungen den Angaben der Organisation Pro Asyl zufolge eher pauschal oder zumindest präventiv erfolgt sind. Ein solcher Ansatz erscheint angesichts der vielen generellen Zweifel an einer weiten Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO i. V. m. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO als problematisch . Zweitens stellt sich die Frage, ob angesichts des zumindest auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs ggf. beschränkten Rechtschutzkonnexes in Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO und seines Wortlautes auch eine Corona-bedingte behördliche Aussetzung nicht ebenfalls bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens erfolgen muss und nicht nur – wie im einleitend dargestellten Beispiel – „bis auf weiteres“. Drittens führt eine Corona-bedingte (ggf. zulässige) Anwendung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO, die als Mindestvoraussetzung die Einlegung eines Rechtsbehelfs durch die betroffene Person erfordert, zu einem Wertungswiderspruch. Denn die danach den Behörden eröffnete Möglichkeit einer Aussetzung und damit einhergehend auch der Vermeidung eines Zuständigkeitswechsels würde nur diejenigen Personen erfassen können , die Rechtsbehelfe eingelegt haben, während dies bei Personen, die hierauf verzichtet haben, nicht der Fall wäre. Je nach konkreter Situation würde in Bezug auf Personen der letztgenannten Gruppe ein Zuständigkeitswechsel erfolgen, obgleich das legitime Interesse der Mitgliedstaaten an seiner Vermeidung das gleiche wäre. Dies verdeutlicht, dass die Auslegung des BVerwG zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO auf eine Situation wie die vorliegende nur bedingt passend erscheint, ohne sie zugleich deutlich auszuschließen . Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Corona-Pandemie-bedingte Aussetzung des BAMF zwar nicht den (Sachverhalts-)Konstellationen entspricht, die der EuGH-Entscheidung sowie dem BVerwG-Urteil zugrunde lagen, da sie keinen, dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin- III-VO nach erforderlichen Konnex zu einem Rechtsschutzverfahren des Betroffenen aufweisen. Da der Gerichtshof in seiner Entscheidung jedoch nicht auf mögliche Grenzen der Anwendung der genannten Vorschrift im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO eingegangen ist, lässt sich insbesondere bei einem nachgewiesenen legitimen und auf den Einzelfall bezogenen Interesse der beteiligten Mitgliedstaaten und ggf. auch der von der Überstellung betroffenen Person an ihrer behördlichen Aussetzung nicht ausschließen, dass diese zu einer Unterbrechung und einem anschließendem Neubeginn der Überstellungsfrist führen könnte. Im Lichte der durch das BVerwG formulierten unionsrechtlichen Grenzen einer entsprechenden Anwendung von § 80 Abs. 4 VwGO i. v. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO bestünde hierfür in formaler Hinsicht jedenfalls dann Raum, wenn die betroffene Person einen Rechtbehelf gegen die Überstellungsentscheidung eingelegt hat. Eine solche Lösung würde jedoch zu einem Wertungswiderspruch führen , da dem BAMF diese Möglichkeit bei gleicher Interessenslage bei Personen versagt bliebe, die Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 15 gegen ihre Abschiebeanordnung keinen Rechtsbehelf eingelegt haben. Eine abschließende Beurteilung lässt sich mangels einer diese Fragen aufgreifenden Rechtsprechung der Unionsgerichte nicht vornehmen. 4. Andere rechtliche Optionen im Zusammenhang mit der Aussetzung der Überstellungsfrist Ist davon auszugehen, dass das Vorgehen des BAMF über Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Lichte der EuGH- und BVerwG-Entscheidung nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO führt, stellt sich die Frage, ob nicht andere rechtliche Optionen bestehen, die eine Berücksichtigung der besonderen Umstände der Corona-Pandemie ermöglichen würden. Denn soweit Überstellungen aus Gründen der Corona-Pandemie für einen bestimmten Zeitraum tatsächlich nicht zu vertreten gewesen sind und Gründe hierfür von den Mitgliedstaaten entsprechend nachgewiesen werden, so dürfte es einem legitimen mitgliedstaatlichen Interesse entsprechen, für diesen Zeitraum die Überstellungsfrist zumindest zu unterbrechen . Zu erörtern sind zu diesem Zweck die folgenden Optionen: zunächst eine weitere, wenngleich an ein anderes Tatbestandsmerkmal im Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO anknüpfende Auslegung dieses Artikels (4.1.), die von der Kommission selbst vorgeschlagene analoge Anwendung des Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO (4.2.) und schließlich die Geltendmachung von Art. 72 AEUV (4.3.). 4.1. Praktische (Un-)Möglichkeit gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO sieht u. a. vor, dass eine Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt, „sobald dies praktisch möglich ist“. Geht man davon aus, dass Gründe vorliegen, die eine Überstellung praktisch unmöglich machen und entsprechend nachgewiesen werden, so dass ein legitimes Interesse der beteiligten Mitgliedstaaten und ggf. auch der von der Überstellung betroffenen Person an der behördlichen Aussetzung angenommen werden könnte, läge es nahe, dieses Tatbestandsmerkmal zu verneinen und das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Fristbeginn oder zumindest für den weiteren Fristablauf zu verneinen. Allerdings hat der Unionsgesetzgeber dieses Tatbestandsmerkmal vom Wortlaut her jedenfalls insoweit nicht als eigenständiges ausgestaltet, als es Fristbeginn und -dauer beeinflusst : „Die Überstellung des Antragstellers […] erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats […], sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten […].“ (Hervorhebung durch Verfasser) Ausgehend von dieser Formulierung scheint der Unionsgesetzgeber davon auszugehen, dass sich eine praktische Möglichkeit für die Überstellung innerhalb von sechs Monaten in jedem Fall ergeben wird. Eine solche Auslegung nimmt diesem Merkmal weitgehend seine praktische Wirksamkeit . Dabei handelt es sich um einen in der Rechtsprechung des EuGH anerkannten Auslegungstopos , auf welchen der EuGH etwa auch im vorliegenden Zusammenhang rekurrierte, um Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 16 die behördliche Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO mit einer durch Rechtsbehelfe bewirkten Aussetzung nach Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO im Rahmen der Anwendung des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO gleichzusetzen.26 Ob das Tatbestandsmerkmal der praktischen (Überstellungs-)Möglichkeit im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO derart eigenständig in unionsrechtlich zulässiger Weise ausgelegt werden kann, so dass es in Ausnahmefällen auch den Fristbeginn beeinflussen kann, noch dazu gegen den Wortlaut der Bestimmung, mag zweifelhaft sein, ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen . Mangels Rechtsprechung hierzu lässt sich diese Frage an dieser Stelle nicht abschließend bestimmen. Von der Kommission wurde eine solche Option in ihrer einleitend zitierten Mitteilung allerdings nicht in Betracht gezogen.27 4.2. Analoge Anwendung des Verfahrens nach Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO Die Kommission führt in der genannten Mitteilung zwar aus, dass keine Bestimmung in der Dublin -III-VO enthalten sei, wonach von dem Zuständigkeitswechsel nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO in einer Situation wie der Corona-Pandemie abgewichen werden könne. Sie verweist jedoch auf die Möglichkeit einer analogen Anwendung des Verfahrens nach Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO, welches für Familienzusammenführungen vorgesehen ist. Der hier maßgebliche Teil von Art. 17 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-VO lautet: „Der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat kann, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen , aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen […]. Die betroffenen Personen müssen dem schriftlich zustimmen.“ (Hervorhebung durch Verfasser). Die Kommission führt in Bezug auf diese Vorschrift und die Möglichkeit ihrer analogen Anwendung folgendes aus: „Considering that the specific circumstances resulting from a pandemic situation have not been foreseen by the co-legislators, it should be possible for Member States to apply such a discretionary clause, even where the objective is not to bring together family relations. Member States can agree on a bilateral and case-by-case basis that, after Dublin transfers can resume, the Member States that were responsible for applicants before the suspension will accept to become responsible again for the applicants concerned. Application of this rule would require the consent of the applicant, as required by Article 17(2).“28 26 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.9.2017, Rs. C-60/16 (Amayry), Rn. 71. Siehe dazu oben unter 3.1., S. 8 f. 27 Siehe oben Fn. 2. 28 Kommission, Covid-Asyl-Mitteilung (Fn. 2), S. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 17 Eine solche Lösung dürfte insoweit als angemessen und zulässig im Lichte des Unionsrechts angesehen werden können, als durch sie, ausgedrückt durch die Zustimmung aller beteiligten Parteien – des ersuchenden und des zuständigen Mitgliedstaates sowie der von der Überstellung betroffenen Person –, deren Interessen gewahrt bzw. nicht tangiert werden. Fraglich ist allerdings, ob sie auch von praktischer Relevanz für die betroffenen Mitgliedstaaten wäre, um den mit der Corona-Pandemie verbundenen temporären Problemen zu begegnen, wenn die Vermeidung des fristbedingten Zuständigkeitswechsels gerade nicht im Interesse der von der Überstellung betroffenen Personen läge und diese ihre Zustimmung zu einer „Verschiebung“ der Überstellung verweigern. Dessen ungeachtet liegt auch hierzu keine unionsgerichtliche Rechtsprechung vor, die eine abschließende Beurteilung der Lösung an dieser Stelle erlauben würde. 4.3. Geltendmachung des Art. 72 AEUV Sollte keine der oben erörterten rechtlichen Option eine Berücksichtigung der besonderen Umstände der Corona-Pandemie ermöglichen, könnte – quasi als ultima ratio – eine Geltendmachung von Art. 72 AEUV erwogen werden: „Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“ Nach neuerer unionsgerichtlicher Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass die eng auszulegende Vorschrift bei Vorliegen ihrer Tatbestandsmerkmale ein Abweichen von unionsrechtlichen Verpflichtungen rechtfertigt, soweit der Schutz der durch Art. 72 AEUV erfassten Rechtsgüter der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit nicht bereits durch das in Frage stehende Sekundärrecht entsprechend adressiert wird.29 Zwar enthält die Dublin-III-VO – soweit ersichtlich – zumindest ausdrücklich keine Vorschriften, die eine Abweichung von den Vorgaben zu Überstellungen aus diesen Gründen regeln. Dessen ungeachtet ist hier fraglich, ob die Corona-bedingten Aussetzungen der Überstellungen durch das BAMF aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit erfolgen bzw. die genannten Rechtsgüter in einem Umfang tangieren könnten, der nach Art. 72 AEUV eine Abweichen von den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung rechtfertigen könnte. Und soweit die Aussetzung aus Erwägungen des Gesundheitsschutzes erfolgen, ist zu beachten, dass der Schutz der Gesundheit – anders als bei den anderen vertraglich vorgesehenen Ordre-public-Klauseln wie Art. 36, 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV – als Rechtfertigungsgrund nicht von Art. 72 AEUV erfasst wird. Somit dürfte eine Berufung auf Art. 72 AEUV unabhängig von der fehlenden konkreten Begründung für die Aussetzungen seitens des BAMF kaum in Betracht kommen. 5. Ergebnis Ob und inwieweit eine Aussetzung der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO aus Gründen der Corona-Pandemie unionsrechtlich möglich ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es ist zwar im Lichte der einschlägigen EuGH-Entscheidung sowie des sie aufgreifenden BVerwG- Urteils nicht ausgeschlossen, dass eine solche Aussetzung zulässig ist und zu einer Unterbrechung und einem anschließenden Neubeginn der Überstellungsfrist führt. Gleichwohl bleiben 29 EuGH, Urt. v. 2.4.2020, verb. Rs. C-715/17, C-718-719/17 (Kommission/Polen u. a.), Rn. 139 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 031/20 Seite 18 mit Blick auf die anders gelagerten, weil an ein Rechtsschutzverfahren anknüpfenden Sachverhaltskonstellationen der Verfahren beider Gerichte zahlreiche Zweifel, ob die in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannte Möglichkeit, behördliche Aussetzungen nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO im Rahmen des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO zu berücksichtigen, auf die Corona-bedingten behördlichen Aussetzungen des BAMF übertragen werden kann bzw. für diese Konstellation passend ist. Gleiches gilt für die anderen in diesem Zusammenhang erörterten rechtlichen Optionen mit Ausnahme der von der Kommission vorgeschlagenen Lösung einer analogen Anwendung des Verfahrens nach Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO. Letztere setzt allerdings auch eine Zustimmung durch die von der Überstellung betroffene Person voraus, die in der Praxis wohl nur selten erteilt werden dürfte, wenn gerade ein Zuständigkeitswechsel angestrebt wird. Auf der anderen Seite liegt es nahe, dass im Einzelfall auf Seiten der beteiligten Mitgliedstaaten durchaus legitime Interessen bestehen können, die an sich eine vorübergehende Aussetzung der Überstellung aus Gründen der Corona-Pandemie und damit eine Vermeidung des Zuständigkeitswechsels rechtfertigen würden, so dass eine dies aufgreifende rechtliche Lösung geboten erscheint. Hierfür müssten allerdings die eine behördliche Aussetzung stützenden legitimen Gründe konkret dargelegt und nachgewiesen werden. Ein pauschaler Verweis auf die Nichtvertretbarkeit der Überstellung aufgrund der Entwicklung der Corona-Krise, wie er in dem einleitend zitierten Schreiben des BAMF gegeben wird, dürfte hierfür jedoch nicht ausreichen. Ein Verstoß gegen die Dublin-III-Verordnung muss hierdurch jedoch nicht zwingend angenommen werden, da den Aussetzungen der BAMF im Zweifel nur rein innerstaatliche Wirkungen zukommen , während die unionsrechtliche Überstellungsfrist und ihr Ablauf unberührt bleiben. – Fachbereich Europa –