© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 028/20 Zur Vereinbarkeit der Finanzierung des SURE-Instruments in Form von Garantien der Mitgliedstaaten mit Art. 125 AEUV (sog. „Nichtbeistandsklausel “ bzw. „Bail-out-Verbot“) Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Grundsätzliche Anwendbarkeit der Nichtbeistandsklausel 10 2.3. Prüfung 10 2.3.1. Bedingungen des finanziellen Beistands 10 2.3.2. Spezielle Voraussetzungen nach dem Pringle-Urteil 12 2.3.3. Übertragbarkeit dieser speziellen Voraussetzungen auf eine Finanzhilfe nach Art. 122 Abs. 2 AEUV? 12 3. Ergebnis 14 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 4 1. Einleitung Am 20. Mai 2020 ist die „Verordnung (EU) 2020/672 des Rates vom 19. Mai 2020 zur Schaffung eines Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE) im Anschluss an den COVID‐19‐Ausbruch“ in Kraft getreten (nachfolgend SURE-VO).1 Der Fachbereich ist um Auskunft gebeten worden, ob die Finanzierung des SURE-Instruments in Form von Garantien der Mitgliedstaaten mit Art. 125 Abs. 1 AEUV (sog. Nichtbeistandsklausel bzw. Bail-out-Verbot) vereinbar ist. In der nachfolgenden Ausarbeitung werden zunächst die Funktionsweise des SURE-Instruments und ihre Rechtgrundlage dargestellt (2.1.). Im Anschluss an einige Vorüberlegungen zum Prüfungsgegenstand sowie zum Prüfungsmaßstab (2.2.) erfolgt die Prüfung, ob der mithilfe des SURE-Instruments gewährte finanzielle Beistand mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar ist (2.3.). Das Ergebnis wird unter 3. zusammengefasst. 2. Vereinbarkeit des SURE-Instruments mit Art. 125 AEUV 2.1. Überblick 2.1.1. Funktionsweise des SURE-Instruments Das mit der SURE-VO geschaffene Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage dient dazu, die Folgen des COVID-19-Ausbruchs und die sozioökonomischen Auswirkungen einzudämmen (Art. 1 Abs. 1). In der SURE-VO werden „die Bedingungen und Verfahren festgelegt, nach denen die Union finanziellen Beistand leisten kann gegenüber einem Mitgliedstaat, der von einer durch den COVID- 19-Ausbruch verursachten gravierenden wirtschaftlichen Störung betroffen oder von dieser ernstlich bedroht ist, in erster Linie für die Finanzierung von Kurzarbeitsregelungen oder ähnlichen Maßnahmen, die auf den Schutz von Beschäftigten und Selbstständigen abzielen und damit Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste verringern, sowie ergänzend für die Finanzierung bestimmter gesundheitsbezogener Maßnahmen, insbesondere am Arbeitsplatz“ (Art. 1 Abs. 2). Der finanzielle Beistand der Union erfolgt in Form eines Darlehens an den betreffenden Mitgliedstaat (Art. 4). Die Darlehenskonditionen werden zwischen dem begünstigten Mitgliedstaat und der Kommission vereinbart (Art. 8 Abs. 2). Die für die Gewährung der Darlehen erforderlichen Mittel nimmt die Kommission im Namen der Union an den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten auf (Art. 4). Der finanzielle Beistand ist für alle Mitgliedstaaten zusammengenommen auf 100 Mrd. Euro begrenzt (Art. 5). 1 Verordnung (EU) 2020/672 des Rates vom 19. Mai 2020 zur Schaffung eines Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE) im Anschluss an den COVID‐19‐Ausbruch. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 5 Mit Blick auf die für die Finanzierung des Instruments erforderliche Mittelaufnahme der Union sieht die SURE-VO in ihrem Art. 11 vor, dass die „Mitgliedstaaten […] zu dem Instrument beitragen [können], indem sie das von der Union eingegangene Risiko durch eine Rückgarantie absichern “. Die mitgliedstaatlichen Garantien sichern somit das Risiko für den Haushalt der Union ab, das sich aus der Verpflichtung der Union zur Rückzahlung der aufgenommenen Mittel ergibt. Wenngleich die Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift nicht zur Gewährung einer solchen Garantie verpflichtet sind, ergibt sich aus Art. 12 SURE-VO, dass das Instrument erst ab dem Zeitpunkt zur Verfügung steht, zu dem alle Mitgliedstaaten Garantien in einem bestimmten Umfang gleistet haben. 2.1.2. Rechtsgrundlage Die SURE-VO stützt sich auf Art. 122 AEUV, eine Vorschrift der internen Politiken und Maßnahmen der Union im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik (Dritter Teil, Titel VIII des AEUV). Die Vorschrift ermächtigt die Union zum einen, über die der Wirtschaftslage angemessene Maßnahmen zu beschließen, insbesondere bei gravierenden Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren (Abs. 1). Zum anderen kann die Union einem aufgrund von außergewöhnlichen Ereignissen von Schwierigkeiten betroffenen Mitgliedstaat einen finanziellen Beistand gewähren (Abs. 2): „Artikel 122 (1) Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich , auftreten. (2) Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen , die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Der Präsident des Rates unterrichtet das Europäische Parlament über den Beschluss.“ (Unterstreichung hinzugefügt) Aus dem Kommissionsvorschlag2 geht hervor, dass sich die SURE-VO sowohl auf Abs. 1, als auch Abs. 2 dieser Vorschrift stützt. Das System freiwilliger Garantien der Mitgliedstaaten beruhe auf Art. 122 Abs. 1 AEUV und die Organisation und Verwaltung der Darlehensregelung stütze sich auf Art. 122 Abs. 2 AEUV. 2 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Schaffung eines Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in der durch den COVID-19-Ausbruch verursachten Krise (SURE), COM(2020) 139 final. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 6 2.2. Vorüberlegungen 2.2.1. Zum Prüfungsgegenstand Der Auftrag zielt auf die Frage, ob die Finanzierung des SURE-Instruments in Form von Garantien der Mitgliedstaaten mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar ist.3 Aus dieser Perspektive sollen somit die Garantien als Maßnahme der Mitgliedstaaten unmittelbar am Maßstab des Bail-out-Verbots überprüft werden. Dies ist zwar grundsätzlich möglich, weil sich Art. 125 Abs. 1 AEUV nicht nur an die Union (Satz 1), sondern auch an die Mitgliedstaaten richtet (Satz 2) und vorsieht , dass diese nicht für Verbindlichkeiten u.a. von Einrichtungen des öffentlichen Rechts von Mitgliedstaaten haften und nicht für derartige Verbindlichkeiten eintreten: „Artikel 125 (1) Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften , sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen , der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlichrechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.“ Bei der Überprüfung der in Art. 11 SURE-VO vorgesehenen (freiwilligen) Garantien der Mitgliedstaaten wäre allerdings zu berücksichtigen, dass diese Garantien nicht die Rückzahlung der von den begünstigten Mitgliedstaaten erhaltenen Darlehen an die Union, sondern „das von der Union eingegangene Risiko“ (Art. 11) im Hinblick auf die Verpflichtung zur Rückzahlung der von ihr an den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten aufgenommenen Mittel absichern. Formal betrachtet , unterfällt eine solche Garantie zugunsten der Union nicht der Regelung des Art. 125 Abs. 1 AEUV, welche nur eine Haftung bzw. ein Eintreten für die Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten ausschließt. Insoweit erscheint es zweifelhaft, die Prüfung eines möglichen Verstoßes gegen Art. 125 Abs. 1 AEUV unmittelbar auf die Garantien der Mitgliedstaaten zu beziehen. Allenfalls ließe sich erwägen , den aufgrund der SURE-VO formal als Darlehen der Union konstruierten finanziellen Beistand unter Zugrundelegung einer wirtschaftlichen Betrachtung als finanziellen Beistand der Mitgliedstaaten zu werten, soweit man darauf abstellt, dass der Beistand durch die Garantien der 3 Der Auftrag bezieht sich hingegen nicht auf die Frage, ob die in diesem Zusammenhang geplante Anleiheaufnahme der Union mit Unionsrecht vereinbar ist, für welche es im Übrigen auch nicht auf einen Vereinbarkeit mit Art. 125 Abs. 1 AEUV, sondern darauf ankäme, ob dies von der im SURE-VO-Entwurf angeführten Rechtsgrundlage des Art. 122 Abs. 1 AEUV gedeckt wäre. Näher hierzu siehe Ruffert, Are we SURE?, 5.4.2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/are-we-sure/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 7 Mitgliedstaaten überhaupt erst ermöglicht und durch die Union lediglich vermittelt wird, und ihn als solchen am Maßstab des Art. 125 Abs. 1 AEUV zu messen.4 Es ist allerdings nicht ersichtlich, aus welchem Grund eine solche wertende Betrachtungsweise vorliegend erforderlich sein sollte. Denn, wie bereits aufgezeigt, gilt die Nichtbeistandsklausel des Art. 125 Abs. 1 AEUV grundsätzlich auch für die Union, so dass die nach der SURE-VO vorgesehene Gewährung von Darlehen durch die Union auch als solche an den Anforderungen dieser Vertragsbestimmung gemessen werden kann. Soweit sich dieser finanzielle Beistand der Union als mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar bzw. unvereinbar erweisen sollte, könnte für den in diesem Zusammenhang geleisteten Beitrag der Mitgliedstaaten wohl nichts anderes gelten. Gegen eine unmittelbare Überprüfung der zugunsten der Union von den Mitgliedstaaten zu leistenden Garantien spricht zudem, dass es für ihre Vereinbarkeit mit Art. 125 Abs. 1 AEUV in der Sache ohnehin maßgeblich auf die Bedingungen der von der Union an die betreffenden Mitgliedstaaten gewährten Darlehen und nicht auf die Bedingungen der mitgliedstaatlichen Garantien ankommen dürfte (siehe unter 2.2.2. und 2.3.). Eine von den Bedingungen der Darlehensgewährung losgelöste unmittelbare Prüfung der Vereinbarkeit der Garantien der Mitgliedstaaten am Maßstab des Art. 125 Abs.1 AEUV dürfte somit auch unter Zugrundlegung einer wirtschaftlichen Betrachtung ausscheiden. Es ist somit für die Prüfung, ob der den Mitgliedstaaten aufgrund der SURE-VO zu gewährende finanzielle Beistand mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar ist, nicht auf die Garantien der Mitgliedstaaten , sondern auf die von der Union gewährten Darlehen abzustellen. 2.2.2. Zum Prüfungsmaßstab Nach dem Wortlaut der sog. Nichtbeistandsklausel in Art. 125 Abs. 1 AEUV ist eine Haftung der Union für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates sowie ein Eintreten für derartige Verbindlichkeiten ausgeschlossen. Auch wenn die Gewährung eines Darlehens an einen Mitgliedstaat, wie in der SURE-VO vorgesehen , formal gesehen keine Haftung und kein Eintreten für dessen Verbindlichkeiten darstellt, ist im Lichte der Rechtsprechung des EuGH nicht von vornherein auszuschließen, dass auch ein Darlehen zu einem Verstoß gegen die Nichtbestandsklausel führen kann. In der Rechtssache Pringle hat der EuGH festgestellt, dass die Klausel in Art. 125 Abs. 1 AEUV „nicht jede Form der finanziellen Unterstützung“ untersagt.5 Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie es „der Union und den Mitgliedstaaten verbietet, finanziellen Beistand zu leisten, der zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben“.6 Hiervon ausgehend sah er die im ESM-Vertrag für Mitgliedstaaten mit (drohenden) schwerwiegenden Finanzierungsproblemen vorgesehenen Finanzhilfen, die 4 Näher zu eine solchen wirtschaftlichen Betrachtung, siehe Ohler, in: Siekmann, Kommentar zur Europäischen Währungsunion, 2013, Art. 125, Rn. 11. 5 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 130. 6 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 136. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 8 in Form von Kreditlinien oder Darlehen gewährt werden, lediglich aufgrund der an sie geknüpften strengen Auflagen als mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar an.7 2.2.2.1. Verhältnis von Art. 122 und 125 AEUV Da es in der Rechtssache Pringle um die Vereinbarkeit des ESM-Vertrags als einer Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten mit Art. 125 Abs. 1 AEUV ging, wird in dem Urteil nicht deutlich, inwieweit die Nichtbeistandsklausel auch auf Maßnahmen der Union anwendbar ist, die insbesondere auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 2 AEUV erlassen wurden. Nach einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum führe die Vorschrift des Art. 122 Abs. 2 AEUV, indem sie bestimmte Finanzhilfen durch die Union explizit zulässt, zu einer Durchbrechung des Verbots in Art. 125 Abs. 1 AEUV und stelle insoweit eine speziellere Norm und damit zugleich eine Ausnahme dar.8 Als Ausnahmevorschrift sei Art. 122 Abs. 2 AEUV allerdings eng und aus systematischen Gründen derart auszulegen, dass der Normzweck des von ihr eingeschränkten Bail-out-Verbots sich weiter verwirklichen lasse9 bzw. verhindert werde, dass der finanzielle Beistand einen Bail-out-Effekt zeitige.10 Diese Auffassung dürfte wohl darauf hinauslaufen, dass die Union insbesondere im Hinblick auf die nach Art. 122 Abs. 2 AEUV vorzusehenden „bestimmten Bedingungen“, unter denen der finanzielle Beistand nur gewährt werden darf, das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend auszuüben hat, dass der finanzielle Beistand möglichst nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Einem solchen Verständnis von Art. 122 Abs. 2 AEUV als Ausnahme vom Bail-out-Verbot in Art. 125 AEUV wird entgegengehalten,11 dass der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache Pringle wohl davon ausgeht, dass Art. 122 AEUV gerade keine Ausnahme darstelle. Die entsprechende Passage im Urteil lautet: „131 Diese Auslegung von Art. 125 AEUV wird durch die übrigen Bestimmungen des Kapitels des AEU-Vertrags über die Wirtschaftspolitik und insbesondere durch die Art. 122 AEUV und 123 AEUV bestätigt. Zum einen sieht nämlich Art. 122 Abs. 2 AEUV vor, dass die Union einem Mitgliedstaat, der aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, punktuellen 7 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 137 ff. 8 So z.B. Häde, in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 125 AEUV, Rn. 12; Art. 122 AEUV, Rn. 16; Ohler , in: Siekmann, Kommentar zur Europäischen Währungsunion, 2013, Art. 125, Rn. 18; Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 125 AEUV, Rn. 9; offengelassen bei Smulders/Keppenne, in: von der Groeben /Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 122 AEUV, Rn. 19; dagegen Herrmann /Dausinger, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 122, Rn. 5. 9 Hentschlemann, EuR 2011, 282 (298), dort mwN. 10 Kämmerer, in: Siekmann, Kommentar zur Europäischen Währungsunion, 2013, Art. 122, Rn. 51 11 Calliess, NVwZ 2013, 97 (103). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 9 finanziellen Beistand leisten kann. Würde Art. 125 AEUV jede finanzielle Unterstützung der Union oder der Mitgliedstaaten für einen anderen Mitgliedstaat verbieten, hätte in Art. 122 AEUV klargestellt werden müssen, dass er eine Ausnahme von Art. 125 AEUV darstellt.“12 (Unterstreichung hinzugefügt) Die Feststellung, dass Art. 122 AEUV mangels Klarstellung keine Ausnahme von Art. 125 AEUV darstellt, liefert allerdings keine eindeutige (positive) Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis der beiden Vorschriften zu verstehen ist. Fernliegend erschiene die Annahme, der EuGH habe mit dieser Feststellung die Zuständigkeit der Union für die Gewährung eines finanziellen Beistands bei Notlagen beschneiden wollen. Dem EuGH ging es in der Rechtssache Pringle wohl lediglich darum, zu begründen, weshalb der Verbotstatbestand des Art. 125 Abs. 1 AEUV nicht so weit auszulegen ist, dass es zu seiner (sachgerechten) Begrenzung (stets) auf die Geltung expliziter Ausnahmen ankäme. In diesem Sinne gelangt der EuGH in der Rechtssache Pringle zu dem Schluss, dass das Verbot vielmehr von vornherein im Lichte seines Ziels auf Formen des finanziellen Bestands zu begrenzen ist, die zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben.13 Hiervon ausgehend, ist den Zielen des Art. 122 Abs. 2 AEUV wohl jedenfalls innerhalb der teleologisch zu bestimmenden Nichtbeistandsklausel Rechnung zu tragen. Umgekehrt wäre aus der normhierarchischen Gleichrangigkeit der Vorschriften aber wohl auch zu schließen, dass ebenso Art. 122 Abs. 2 AEUV in einer Weise auszulegen ist, durch die der Normzweck des Art. 125 Abs. 1 AEUV möglichst nicht beeinträchtigt wird. In diese Richtung gehen diejenigen Ansichten im Schrifttum, welche beide Vorschriften als Teil des Gesamtgefüges der Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungsunion betrachten und diese somit in einem gegenseitigen Wechsel- anstatt in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis sehen .14 Calliess deutet Art. 122 Abs. 2 AEUV insoweit „als Rechtsgrundlage für Handlungen der auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruhenden EU, die ihre Grenzen in Art. 125 AEUV finden“15. Der hiernach herzustellende Ausgleich zwischen den Zielen der beiden Vorschriften dürfte wohl ebenfalls darauf hinauslaufen, dass der Unionsgesetzgeber das ihm bei der Ausgestaltung der Bedingungen des zu gewährenden finanziellen Beistands zukommende Ermessen dahingehend auszuüben hat, dass der finanzielle Beistand möglichst nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. 12 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 131. 13 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 136. 14 So auch Herrmann/Dausinger, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 125, Rn. 17. 15 Calliess, in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 62, „Das europäische Solidaritätsprinzip und die Krise des Euro – Von der Rechtsgemeinschaft zur Solidaritätsgemeinschaft?“, S. 42, abrufbar unter: https://www.jura.fu-berlin.de/forschung/europarecht/bob/berliner_online_beitraege/Paper62-Calliess/Paper62-- -Das-europaeische-Solidaritaetsprinzip-und-die-Krise-des-Euro---Von-der-Rechtsgemeinschaft-zur-Solidaritaetsgemeinschaft .pdf Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 10 2.2.2.2. Grundsätzliche Anwendbarkeit der Nichtbeistandsklausel Im Ergebnis zeigt sich somit, dass ein finanzieller Beistand nach Art. 122 Abs. 2 AEUV ungeachtet der dogmatischen Konstruktion grundsätzlich nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 125 Abs. 1 AEUV gewährt werden darf. Hierbei ist allerdings den Zielen des Art. 122 Abs. 2 AEUV Rechnung zu tragen, welcher die Gewährung eines finanziellen Beistands durch die Union in Notsituationen ausdrücklich erlaubt. Demzufolge hat der Unionsgesetzgeber das ihm nach Art. 122 Abs. 2 AEUV eingeräumte Ermessen zur Festlegung der vorzusehenden „bestimmten Bedingungen“ dahingehend auszuüben, dass der finanzielle Beistand möglichst nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Für die Auflösung eines sich hierbei im Einzelfall ergebenden Zielkonfliktes dürfte dem Ermessen des Unionsgesetzgebers bei der Einschätzung, in welchem Umfang er einen finanziellen Beistand in Anbetracht der konkret zu bewältigenden Notlage für erforderlich und welche Bedingungen er insoweit für angemessen erachtet, entscheidende Bedeutung zukommen. Eine abschließende Beantwortung dieser sich aus dem bislang nicht eindeutig geklärten Verhältnisses von Art. 125 Abs. 1 und Art. 122 Abs. 2 AEUV ergebenden Fragen durch den EuGH steht allerdings noch aus. 2.3. Prüfung Im Lichte der vorstehenden Überlegungen ist zu prüfen, inwieweit durch die in der SURE-VO festgelegten Bedingungen des finanziellen Beistands sichergestellt ist, dass die zu gewährenden Darlehen möglichst nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Hierfür sind zunächst die Bedingungen des finanziellen Beistands nach der SURE-VO darzustellen (2.3.1.). Sodann ist auf die im Pringle-Urteil des EuGH formulierten speziellen Voraussetzungen einzugehen, bei deren Vorliegen davon auszugehen ist, dass eine Finanzhilfe nicht gegen Art. 125 Abs. 1 AEUV verstößt (2.3.2.). Schließlich ist zu fragen, inwieweit diese speziellen Voraussetzungen auf einen finanziellen Beistand der Union nach Art. 122 Abs. 2 AEUV in Form von zweckgebundenen Darlehen zu übertragen sind (2.3.3.). 2.3.1. Bedingungen des finanziellen Beistands Der finanzielle Beistand der Union erfolgt in Form von Darlehen an den betreffenden Mitgliedstaat , wobei sich aus der SURE-VO insbesondere folgende inhaltliche Bedingungen ergeben: Zunächst kann ein Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 SURE-VO die Union nur dann um einen finanziellen Beistand ersuchen, „wenn seine tatsächlichen und möglicherweise auch seine geplanten öffentlichen Ausgaben seit dem 1. Februar 2020 aufgrund nationaler Maßnahmen, die unmittelbar mit Kurzarbeitsregelungen und ähnlichen Maßnahmen zur Bewältigung der sozioökonomischen Auswirkungen der durch den COVID-19-Ausbruch bedingten Ausnahmesituation in Verbindung stehen, unvermittelt und heftig angestiegen sind“. Nach Art. 3 Abs. 2 SURE-VO Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 11 „nutzen [die begünstigten Mitgliedstaaten] den finanziellen Beistand in erster Linie für ihre nationalen Kurzarbeitsregelungen oder ähnliche Maßnahmen sowie gegebenenfalls zur Unterstützung einschlägiger gesundheitsbezogener Maßnahmen“ (Zweckbindung). Zwar ließe sich die einschränkende Formulierung dieser Vorschrift, wonach die begünstigen Mitgliedstaaten den finanzielle Beistand lediglich in erster Linie für die dort genannten Zwecke nutzen , möglicherweise als Lockerung der Zweckbindung deuten. Dagegen spricht allerdings in systematischer Hinsicht die Vorschrift in Art. 1 Abs. 2 SURE-VO, deren Wortlaut verdeutlicht, dass sich diese Einschränkung nicht auf den einem Mitgliedstaat gewährten finanziellen Beistand insgesamt bezieht, sondern lediglich auf den für Kurzarbeitsregelungen oder ähnliche Maßnahmen im Verhältnis zu dem für gesundheitsbezogene Maßnahmen vorgesehenen Anteil des finanziellen Beistands. Hiernach ist der finanzielle Beistand in erster Linie für Kurzarbeitsregelungen oder ähnliche Maßnahmen und lediglich ergänzend für gesundheitsbezogene Maßnahmen zu nutzen: „Artikel 1 Gegenstand und Anwendungsbereich (1) […] (2) In dieser Verordnung werden die Bedingungen und Verfahren festgelegt, nach denen die Union finanziellen Beistand leisten kann gegenüber einem Mitgliedstaat, der von einer durch den COVID‐19‐Ausbruch verursachten gravierenden wirtschaftlichen Störung betroffen oder von dieser ernstlich bedroht ist, in erster Linie für die Finanzierung von Kurzarbeitsregelungen oder ähnlichen Maßnahmen, die auf den Schutz von Beschäftigten und Selbstständigen abzielen und damit Arbeitslosigkeit und Einkommensverluste verringern, sowie ergänzend für die Finanzierung bestimmter gesundheitsbezogener Maßnahmen, insbesondere am Arbeitsplatz.“ (Hervorhebung hinzugefügt) Darüber hinaus sind die in Art. 6 Abs. 3 Buchst. a genannten Darlehenskonditionen festzulegen, namentlich: „die Höhe des Darlehens, die maximale durchschnittliche Laufzeit, die Preisformel, die maximale Zahl der Tranchen, den Zeitraum der Verfügbarkeit sowie die sonstigen für die Gewährung des finanziellen Beistands notwendigen detaillierten Regeln“. Dazu gehören allgemein sämtliche der Union im Zusammenhang mit dem finanziellen Beistand entstehenden Kosten, wie sich aus der Verweisung auf Art. 220 Abs. 5 Buchst. e Verordnung 2018/1046 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union16 in Art. 8 Abs. 2 SURE-VO ergibt, wozu somit wohl insbesondere die Kosten der Aufnahme der Mittel an den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstituten zählen (also u.a. die von der Union in diesem Zusammenhang zu entrichtenden Zinsen ). 16 Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 12 2.3.2. Spezielle Voraussetzungen nach dem Pringle-Urteil In der erwähnten Rechtssache Pringle hatte der EuGH bereits Gelegenheit, sich zur Vereinbarkeit von Finanzhilfen, die u.a. in der Form von Darlehen gewährt werden, mit Art. 125 Abs. 1 AEUV zu äußern. Darin benennt der EuGH zwei spezielle Voraussetzungen, bei deren Vorliegen davon auszugehen ist, dass eine Finanzhilfe nicht gegen Art. 125 Abs. 1 AEUV verstößt. Dies sei der Fall, wenn der Mitgliedstaat für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt (Haftbarbleiben) und die an die Finanzhilfe geknüpften Auflagen geeignet sind, ihn zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen (Anreizwirkung für eine solide Haushaltspolitik). Das Vorliegen der ersten Voraussetzung, dass der begünstigte Mitgliedstaat für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt, begründet der EuGH in der Rechtssache Pringle damit, dass die nach dem ESM-Vertrag vorgesehene Finanzhilfe im Form einer Kreditlinie oder in Form von Darlehen gewährt wird, was auf die Entstehung einer neuen Schuld gegenüber dem ESM hinausläuft, die vom Empfängermitgliedstaat zurückgezahlt werden muss.17 Darüber hinaus weist der EuGH darauf hin, dass nach den einschlägigen Vorschriften des ESM- Vertrags der zurückzuzahlende Betrag um eine angemessene Marge erhöht wird.18 Auch die Regelungen des ESM-Vertrags über den revidierten erhöhten Kapitalabruf für den Fall, dass ein ESM- Mitglied die erforderliche Einzahlung nicht vornimmt, führten nicht zu einer Haftung oder einem Eintreten der übrigen Mitgliedstaaten für die Schuld des säumigen Mitgliedstaats des ESM, weil dieser zur Einzahlung seines Kapitalanteils verpflichtet bleibt.19 Die zweite Voraussetzung, wonach die einem Mitgliedstaat gewährte Finanzhilfe an Auflagen zu knüpfen ist, die geeignet sind, ihn zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen, sieht der EuGH in der Rechtssache Pringle mit folgender Begründung als erfüllt an: Zum einen sehe „der ESM- Vertrag nicht vor, dass eine Stabilitätshilfe gewährt wird, sobald ein Mitgliedstaat, dessen Währung der Euro ist, Schwierigkeiten hat, sich auf dem Markt zu finanzieren“, vielmehr könne „den Mitgliedern des ESM, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, nämlich nur dann eine Stabilitätshilfe gewährt werden, wenn eine solche Hilfe zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist, und ihre Gewährung unterliegt strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen“, welche nach dem ESM-Vertrag „die Form eines makroökonomischen Anpassungsprogramms haben können“.20 2.3.3. Übertragbarkeit dieser speziellen Voraussetzungen auf eine Finanzhilfe nach Art. 122 Abs. 2 AEUV? Hinsichtlich der ersten Voraussetzung des Haftbarbleibens ist vorliegend festzustellen, dass die nach der SURE-VO vorgesehene Gewährung von Darlehen zum Entstehen einer neuen Schuld 17 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 139. 18 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 139. 19 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 144-146. 20 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 142, 143, 111. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 13 gegenüber der Union führt. Darüber hinaus hat der Mitgliedstaat sämtliche der Union im Zusammenhang mit einer Maßnahme des finanziellen Beistands entstehenden Kosten zu tragen, weshalb davon auszugehen ist, dass sich der zurückzuzahlende Betrag um eine entsprechende Marge erhöht. Auch die Regelungen zum zusätzlichen Abruf von Garantien für den Fall, dass ein Mitgliedstaat einem Abruf nicht rechtzeitig nachkommt, sehen ausdrücklich das Fortbestehen der Verpflichtungen des säumigen Mitgliedstaats sowie die Rückerstattung zusätzlicher Beiträge an die anderen Mitgliedstaaten vor (Art. 11 Abs. 4 SURE-VO). Diese Voraussetzung wäre somit auch im Hinblick auf die SURE-VO als erfüllt anzusehen. Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung der Bindung der Finanzhilfe an Auflagen zur Gewährleistung einer Anreizwirkung für eine solide Haushaltspolitik ist allerdings festzustellen, dass die nach der SURE-VO insoweit vorgesehenen Bedingungen sich im Kern auf eine Zweckbindung mit Blick auf die Verwendung der Darlehen beschränken, von der als solches wohl kein eigenständiger (positiver) Anreiz ausgehen dürfte, den begünstigten Mitgliedstaat allgemein zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen. Die SURE-VO sieht keine Möglichkeit vor, die Gewährung des Darlehens etwa an allgemeine wirtschaftspolitische Auflagen zu knüpfen, wie dies etwa auch bei einem Darlehen nach der Verordnung Nr. 407/2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM-Verordnung)21 in ihrem Art. 3 Abs. 3-8 vorgesehen ist, die ebenfalls auf der Grundlage des Art. 122 Abs. 2 AEUV erlassen wurde. Allerdings erscheint es fraglich, ob diese vom EuGH in seinem Urteil der Rechtssache Pringle erkennbar in Bezug auf den ESM formulierte Anforderung auf eine Finanzhilfe, wie in der SURE- VO vorgesehen, zu übertragen ist. Denn in grundlegenden Punkten unterscheidet sich die Finanzhilfe gemäß der SURE-VO sowohl von Finanzhilfen nach dem ESM-Vertrag, als auch von Finanzhilfen nach der EFSM-Verordnung. Anders als beim ESM und EFSM dürfen die SURE- Darlehen nur für einen bestimmten Zweck verwendet werden, und zwar zur Finanzierung von Ausgaben, die der Abmilderung der unmittelbaren wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitsbezogenen Auswirkungen der durch den COVID-19-Ausbruch bedingten Ausnahmesituation als einem „außergewöhnlichen Ereignis“ im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV dienen. Das SURE-Instrument bezieht sich somit von vornherein nicht auf die gesamte Haushaltspolitik eines Mitgliedstaates , sondern beschränkt sich darauf, einen konkreten, durch den COVID-19-Ausbruch ausgelösten Finanzbedarf zu decken.22 Durch die sich daraus ergebenden sachlichen und zeitlichen Beschränkungen trägt die SURE-VO dem Umstand Rechnung, dass nach der Rechtsprechung die Vorschrift in Art. 122 Abs. 2 AEUV der Union lediglich die Befugnis verleiht, einem Mitgliedstaat, der sich in einer akuten Notsituation befindet, einen „punktuellen finanziellen Beistand“ zu gewähren.23 Bereits aufgrund dieser Beschränkungen dürfte die (offenbar der SURE-VO zugrundeliegende legislative) Einschätzung vertretbar erscheinen, dass der mit der SURE-VO ermöglichte punktuelle finanzielle Beistand zur 21 Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus . 22 Zu dieser Erwägung siehe auch Ruffert, „Are we SURE?”, 5.4.2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog .de/are-we-sure/. 23 EuGH, Rs. C‑370/12, Pringle, Rn. 65, 104, 131; EuGH, Rs. C-589/15 P, Anagnostakis, Rn. 75. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 14 Bewältigung einer spezifischen Notsituation nicht geeignet ist, den Anreiz für eine solide Haushaltspolitik in einer Weise zu beeinträchtigen, die ein Gegensteuern in Form von allgemeinen wirtschaftspolitischen Auflagen als geboten erscheinen lassen würde. Im Unterschied zu den auf Dauer angelegten Mechanismen zur Bereitstellung von Finanzhilfen ohne Zweckbindung dürfte es somit für die Vereinbarkeit des SURE-Instruments mit Art. 125 Abs. 1 AEUV nicht darauf ankommen , dass über die vorgesehene Zweckbindung hinaus durch entsprechende wirtschaftspolitischen Auflagen ein eigenständiger (positiver) Anreiz für eine solide Haushaltspolitik gesetzt wird. Für eine solche in der Sache an die Besonderheiten einer (auf akute Notsituationen ausgerichteten ) Finanzhilfe nach Art. 122 Abs. 2 AEUV angepasste Auslegung des Art. 125 Abs. 1 AEUV spricht letztlich auch die aufgezeigte Diskussion zum dogmatischen Verhältnis zwischen diesen beiden Vorschriften. Für die Befürworter eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses wäre die Auflösung eines (etwaigen) Spannungsverhältnisses zugunsten von Art. 122 Abs. 2 AEUV wohl als zwingend anzusehen. Aber auch ausgehend von einer Art gegenseitigem Wechselverhältnis wären die Ziele des Art. 122 Abs. 2 AEUV bei der Auslegung des Art. 125 Abs. 1 AEUV wohl maßgeblich zu berücksichtigen. Im Ergebnis dürfte somit davon auszugehen sein, dass die vom EuGH mit Blick auf einen ständigen Finanzierungsmechanismus wie den ESM formulierten speziellen Voraussetzung der Gewährleistung einer (positiven) Anreizwirkung für eine solide Haushaltspolitik nicht auf einen finanziellen Beistand der Union nach Art. 122 Abs. 2 AEUV in Form von zweckgebundenen Darlehen zu übertragen ist. Vielmehr ist eine auf Art. 122 Abs. 2 AEUV gestützte Finanzhilfe bereits dann als mit Art. 125 Abs. 1 AEUV vereinbar anzusehen, wenn sie zu keiner Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Dies dürfte bei den mit der SURE-VO vorgesehenen Hilfen zur Deckung eines durch den COVID- 19-Ausbruch ausgelösten Finanzbedarfs wohl der Fall sein. 3. Ergebnis Für die Prüfung der Vereinbarkeit der Finanzierung des SURE-Instruments in Form von Garantien der Mitgliedstaaten mit Art. 125 Abs. 1 AEUV ist nicht auf die Garantien der Mitgliedstaaten, sondern auf die von der Union zu gewährenden Darlehen abzustellen. Ungeachtet der aufgrund der Rechtsprechung des EuGH verbleibenden Unklarheiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen Art. 125 Abs. 1 und Art. 122 abs. 2 AEUV dürfte wohl davon auszugehen sein, dass ein finanzieller Beistand nach Art. 122 Abs. 2 AEUV grundsätzlich nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 125 Abs. 1 AEUV gewährt werden darf. Hierbei ist allerdings den Zielen des Art. 122 Abs. 2 AEUV Rechnung zu tragen, welcher die Gewährung eines finanziellen Beistands durch die Union in Notsituationen ausdrücklich erlaubt. Demzufolge hat der Unionsgesetzgeber das ihm nach Art. 122 Abs. 2 AEUV eingeräumte Ermessen zur Festlegung der vorzusehenden „bestimmten Bedingungen“ dahingehend auszuüben, dass der finanzielle Beistand möglichst nicht zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führt, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Da sich das SURE-Instrument im Grundsatz darauf beschränkt, einen konkreten, durch den COVID-19-Ausbruch ausgelösten Finanzbedarf zu decken, dürfte im Ergebnis davon auszugehen sein, dass die mit der SURE-VO vorgesehenen zweckgebundenen Darlehen zu keiner mit Art. 125 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 028/20 Seite 15 Abs. 1 AEUV unvereinbaren Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Insoweit kann für den hierzu geleisteten Beitrag der Mitgliedstaaten in Form von Garantien zugunsten der Union auch unter Zugrundelegung einer wirtschaftlichen Betrachtung nichts anderes gelten. Diesem Ergebnis liegt die Einschätzung zugrunde, dass die vom EuGH in der Rechtssache Pringle mit Blick auf einen ständigen Finanzierungsmechanismus wie den ESM formulierte spezielle Voraussetzung der Gewährleistung einer (positiven) Anreizwirkung für eine solide Haushaltspolitik wohl nicht auf einen finanziellen Beistand der Union nach Art. 122 Abs. 2 AEUV in Form von zweckgebundenen Darlehen zu übertragen ist. Eine abschließende Klärung dieser Frage durch den EuGH steht allerdings, soweit ersichtlich, aus. – Fachbereich Europa –