© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 – 3000 - 026/20 188 Europarechtliche Spielräume für die Einführung verpflichtender Gutscheinlösungen zur Abgeltung von Rückerstattungsansprüchen von Pauschal- und Flugreisenden Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 2 Europarechtliche Spielräume für die Einführung verpflichtender Gutscheinlösungen zur Abgeltung von Rückerstattungsansprüchen von Pauschal- und Flugreisenden Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 026/20 Abschluss der Arbeit: 16.04.2020 Fachbereich: Fachbereich PE 6: Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Europarechtliche Vorgaben zu Rückerstattungsansprüchen bei Pauschal- und Flugreisen 4 2.1. Prüfungsmaßstäbe 4 2.2. Die Pauschalreise-RL 4 2.2.1. Anwendungsbereich 4 2.2.2. Vorgaben des Art. 12 Pauschalreise-RL 5 2.2.3. Grundrechtskonforme Auslegung 8 2.2.3.1. Methodische Hinweise 8 2.2.3.2. Geltungsdimension des Art. 12 Pauschalreise-RL mit Blick auf die durch Art. 16 GRCh geschützte unternehmerische Freiheit 9 2.2.3.3. Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit 10 2.2.3.3.1. Sachlicher Schutzbereich 10 2.2.3.3.2. Persönlicher Schutzbereich 10 2.2.3.4. Eingriff 10 2.2.3.5. Schranken 11 2.3. Fluggastrechte-VO 12 2.3.1. Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 8 Abs. 1 Fluggastrechte-VO 12 2.3.2. Grundrechtskonforme Auslegung 14 3. Abweichungen von unionsrechtlichen Vorgaben auf Grundlage des Art. 347 AEUV? 14 4. Ergebnisse 15 Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 4 1. Einführung An den Fachbereich Europa wurde die Frage gerichtet, ob die aktuell diskutierte verpflichtende Gutscheinlösung im Bereich der Pauschal- und Flugreisen, namentlich ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Gesetz, das den Rückerstattungsanspruch von Pauschal- und Flugreisen buchenden Verbrauchern in einen Gutschein umwandelt, eine Stundungsoption zugunsten des Unternehmers vorsieht oder nach dem anderweitig die Durchsetzbarkeit dieses Rückerstattungsanspruchs gehemmt ist, mit dem Europarecht, insb. mit der Pauschalreiserichtlinie und der Fluggastrechteverordnung , vereinbar wäre. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten1 wäre ein solches (Gesetzes-)Vorhaben mit dem Unionsrecht nur vereinbar, soweit dieses keine Regelungen vorsieht, die diesem entgegenstünden. 2. Europarechtliche Vorgaben zu Rückerstattungsansprüchen bei Pauschal- und Flugreisen 2.1. Prüfungsmaßstäbe Die erwogene Regelung eines Rückerstattungsanspruchs von Pauschal- oder Flugreisen buchenden Verbrauchern ist an den einschlägigen Vorschriften der Richtlinie (EU) 2015/2302 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen (nachfolgend: Pauschalreise-RL)2 und der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen3 (nachfolgend: Fluggastrechte-VO) zu messen. 2.2. Die Pauschalreise-RL 2.2.1. Anwendungsbereich Bindende Vorgaben lassen sich der Pauschalreise-RL nur in ihrem Anwendungsbereich entnehmen .4 Nach deren Art. 2 Abs. 1 gilt diese Richtlinie 1 So bereits EuGH, Urt. v. 5.2.1963, Rs 26/62 (Gend en Loos) und EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Rs. 6/64 (Costa/ENEL). 2 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates ABl L 326, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1585657265455&uri=CELEX:32015L2302. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl L 46, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:439cd3a7-fd3c-4da7-8bf4- b0f60600c1d6.0002.02/DOC_1&format=PDF. 4 Dazu näher Führich, Umsetzung der neuen EU-Pauschalreiserichtlinie in das BGB unter besonderer Berücksichtigung des Anwendungsbereichs, S. 2 f. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 5 für Pauschalreisen, die Reisenden von Unternehmern zum Verkauf angeboten oder verkauft werden, und für verbundene Reiseleistungen, die Reisenden von Unternehmern vermittelt wurden. Die Pauschalreise-RL gilt nicht für a) Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, die weniger als 24 Stunden dauern, es sei denn, es ist eine Übernachtung inbegriffen; b) Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, die gelegentlich und ohne Gewinnabsicht und nur einer begrenzten Gruppe von Reisenden angeboten oder vermittelt werden; c) Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, die auf der Grundlage einer allgemeinen Vereinbarung für die Organisation von Geschäftsreisen zwischen einem Unternehmer und einer anderen natürlichen oder juristischen Person, die zu Zwecken handelt, die ihrer gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können, erworben werden. Dementsprechend gelten im deutschen Reisevertragsrecht nach § 651a Abs. 5 BGB die der Pauschalreise -RL angepassten Vorschriften über Pauschalreiseverträge nicht für Verträge über Reisen , die 1. nur gelegentlich, nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung und nur einem begrenzten Personenkreis angeboten werden, 2. weniger als 24 Stunden dauern und keine Übernachtung umfassen (Tagesreisen) und deren Reisepreis 500 Euro nicht übersteigt oder 3. auf der Grundlage eines Rahmenvertrags für die Organisation von Geschäftsreisen mit einem Reisenden, der Unternehmer ist, für dessen unternehmerische Zwecke geschlossen werden. 2.2.2 Vorgaben des Art. 12 Pauschalreise-RL Im Anwendungsbereich der Pauschalreise-RL begründet Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie ein Recht des Reisenden, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen .5 Tritt der Reisende vom Pauschalreisevertrag nach diesen Vorgaben zurück, hat dieser nach Art. 12 Abs. 2 Satz 2 Pauschalreise-RL Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung. Art. 3 Ziff. 12 Pauschalreise-RL definiert die das Rücktrittsrecht nach Art. 12 Abs. 2 Pauschalreise -RL voraussetzenden unvermeidbare(n) und außergewöhnliche(n) Umstände als 5 Hervorhebung durch Verfasser. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 6 eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären; […]. Solche Umstände dürften mit Blick auf die derzeitige Corona-Pandemie bestehen. Dafür spricht auch der für die Auslegung vorstehender Bestimmungen heranzuziehende Erwägungsgrund Nr. 31 dieser Richtlinie: (31) Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr — unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen — von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.6 Art. 12 Abs. 3 Pauschalreise-RL sieht ein Kündigungsrecht des Reiseveranstalters vor. (3) Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn […] b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist7 und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.8 Für den Rücktritt des Reisenden nach Art. 12 Abs. 2 Pauschalreise-RL wie für die Beendigung des Pauschalreisevertrags durch den Reiseveranstalter nach Art. 12 Abs. 3 Pauschalreise-RL sieht Art. 12 Abs. 4 Pauschalreise-RL die gleichen Rechtsfolgen vor: Der Reiseveranstalter leistet alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen an den Reisenden . Der Reisende erhält diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags. 6 Hervorhebung durch Verfasser. 7 Vgl. Art. 3 Ziff. 12 Pauschalreise-RL. Das zu den Reisenden zuvor Ausgeführte gilt entsprechend. 8 Hervorhebung durch Verfasser. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 7 (4) Der Reiseveranstalter leistet alle Erstattungen gemäß den Absätzen 2 und 3 oder zahlt dem Reisenden gemäß Absatz 1 alle von dem Reisenden oder in seinem Namen für die Pauschalreise geleisteten Beträge abzüglich einer angemessenen Rücktrittsgebühr zurück. Der Reisende erhält diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags. Ausgehend vom Wortlaut und von der Systematik der einschlägigen Regelung der Pauschalreise- RL eröffnete diese innerhalb des Geltungsbereichs der Pauschalreise-RL den Mitgliedstaaten keine Spielräume dafür, von vorstehenden Vorgaben abweichende Regelungen im nationalen Recht vorzusehen, was bereits Art. 12 der Pauschalreise-RL als eine abschließende, ergänzender oder abweichender Umsetzung nicht zugängliche Regelung nahelegt. Dafür sprechen auch die nachfolgenden Regelungen: Zunächst zeigt der in Art. 4 Pauschalreise-RL normierte Grad der mit ihr vorgenommenen Harmonisierung , dass diese den Mitgliedstaaten keinen Freiraum für die Aufrechterhaltung oder Einführung von nationalen Rechtsvorschriften lässt, die von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichen, namentlich solche Regelungen, die strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden vorsehen. Sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt, erhalten die Mitgliedstaaten weder von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichende nationale Rechtsvorschriften aufrecht noch führen sie solche ein; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden. Art. 24 Pauschalreise-RL fordert von den Mitgliedstaaten zur praktischen Umsetzung der Richtlinie , dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, mit denen die Einhaltung dieser Richtlinie sichergestellt wird. Nach Art. 2 Abs. 3 Pauschalreise-RL lässt diese Richtlinie zwar das allgemeine nationale Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt. Im Rechtsverhältnis zu den Veranstaltern müssen die Mitgliedstaaten jedoch nach Art. 23 dieser Richtlinie die Unabdingbarkeit der den Reisenden aus dieser Richtlinie zuerkannten Rechte sicherstellen. Diese Regelungen verdeutlichen, dass die Pauschalreise-RL anders als noch die Vorgängerrichtlinie 90/314/EWG eine Vollharmonisierung vollzieht9, die den Mitgliedstaaten nur begrenzte – für die vorliegend untersuchte Fragestellung im Geltungsbereich dieser Richtlinie – ausgehend von ihrem Wortlaut und ihrer Systematik aber nicht auszumachende Ausgestaltungsspielräume lässt.10 9 Dazu näher Tonner, EuZW 2016, S. 95. 10 Vgl. dazu auch Nettesheim, Rechtsgutachten: Die Unionsrechtswidrigkeit der Begrenzung in § 651r Abs. 3 S. 3 BGB, S. 10, 12; Führich, Umsetzung der neuen EU-Pauschalreiserichtlinie in das BGB unter besonderer Berücksichtigung des Anwendungsbereichs, S. 2. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 8 Ausgehend vom Wortlaut und von der Systematik der Pauschalreise-RL und dem hiermit verfolgten Regelungsziel der Vollharmonisierung lässt diese den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich dieser Richtlinie mithin keinen erkennbaren Spielraum dafür, Reiseveranstaltern die Option zu eröffnen, statt der Rückerstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen die Reisenden mit einen Gutschein in der Höhe des Rückerstattungsanspruchs abzufinden noch die in Art. 12 Abs. 4 Pauschalreise-RL vorgegebene Frist für die vom Reiseveranstalter zu gewährende Rückerstattung zu verlängern oder die Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs zu beschränken. Die Mitgliedstaaten müssen zudem nach Art. 23 Pauschalreise-RL die Unabdingbarkeit der für die Reisenden aus dieser Richtlinie sich ergebenden Rechte im zivilrechtlichen Rechtsverhältnis zu den Veranstaltern sicherstellen. 2.2.3 Grundrechtskonforme Auslegung Soweit unter den gegebenen Umständen einer Pandemie die massenhafte Inanspruchnahme der in Art. 12 Pauschalreise-RL gewährten Rechte nicht nur in Einzelfällen die Existenz von Reiseveranstaltern bedrohte, ist zu erwägen, ob sich diesem Umstand mit einer grundrechtskonformen Auslegung der Pauschalreise-RL Rechnung tragen und sich hierauf gestützt eine Begrenzung der Rückerstattungspflicht von Reiseunternehmern – etwa in Gestalt der Gewährung eines Gutscheins oder eines Zahlungsmoratoriums – rechtfertigen ließe. 2.2.3.1. Methodische Hinweise Anknüpfend an jüngere Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH, grundrechtskonkretisierende Sekundärrechtsakte im Lichte des konkretisierenden Grundrechts auszulegen,11 ist zunächst zu prüfen, ob die Pauschalreise-RL dafür Anknüpfungspunkte bietet. Mangels jenseits dieses Bereichs vorliegender einschlägiger europäischer Rechtsprechung lässt sich allerdings nicht einschätzen, ob und in welcher Weise im Wege der grundrechtskonformen Auslegung der EuGH eine Beschränkung der Pauschalreise-RL mit Blick auf vorstehende Fragestellung vornehmen würde. Diese wäre methodisch zulässig und von der dem EuGH durch die Verträge zugewiesenen Aufgabe der Auslegung und Anwendung der Verträge umfasst. Aus der in Art. 19 Abs. 1 UA 1 S. 2 Vertrag über die Europäische Union (EUV) dem EuGH zugewiesenen Aufgabe, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge die Wahrung des Rechts zu sichern, leitet sich die Kompetenz des Gerichtshofs ab, nicht nur das geschriebene, sondern auch das ungeschriebene Recht zu konkretisieren sowie durch Rechtsfortbildung umfassend alle Quellen des Unionsrechts heranzuziehen, um Lücken des als unvollständig erkannten Unionsrechts zu schließen.12 Den Rechtsfortbildungsauftrag des EuGH, aber auch seine Grenzen hatte das BVerfG in seinem Mangold -Urteil wie folgt umschrieben: Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die 11 Dazu näher Mörsdorf, JZ 2019, S. 1066 (1067 f.). 12 Callies, NJW 2005, S. 929 (930); v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 491. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 9 Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. […] Ihr stehen insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Struktur des unionalen Staatenverbundes nicht entgegen. Vielmehr kann die - in den ihr gesetzten Grenzen wahrgenommene - Rechtsfortbildung gerade auch im supranationalen Verbund zu einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung zu den Regelungsbefugnissen des Unionsgesetzgebers beitragen. […] Rechtsfortbildung ist allerdings keine Rechtsetzung mit politischen Gestaltungsfreiräumen , sondern folgt den gesetzlich oder völkervertraglich festgelegten Vorgaben. Sie findet hier Gründe und Grenzen. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden.13 Normativer Ausgangspunkt für eine grundrechtskonforme Auslegung ist Art. 51 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Die Unionsorgane sind hiernach uneingeschränkte Verpflichtungsadressaten der GRCh. Die im Rahmen der Unionsverträge ausgeübten Hoheitsakte unterliegen der Grundrechtsbindung. Daher müssen Unionsrechtsakte in Übereinstimmung mit den Unionsgrundrechten stehen.14 Weil die Union als Normsetzer uneingeschränkt an die GRCh gebunden ist, ist das Sekundärrecht im Einklang mit den Unionsgrundrechten auszulegen.15 Aus Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh lässt sich zudem folgern, dass als Ziele von Richtlinien nicht nur die in ihr festgelegten, sondern angesichts der Grundrechtsbindung auch die Gewährleistung der Unionsgrundrechte anzusehen sind.16 Vorgaben einer Richtlinie zu ihrer Umsetzung unterliegen – zumindest in den Bereichen, in denen sie den Mitgliedstaaten keine Umsetzungsspielräume lassen – den Bindungen der Unionsgrundrechte und verpflichten die an die GRCh zumindest im Bereich der durch die Richtlinie determinierten Umsetzungsverpflichtungen gebundenen Mitgliedstaaten zu einer unionsrechtskonformen Richtlinienumsetzung. Aufgrund der derzeit wenig belastbaren Informationen zu den sich aus der fortschreitenden Pandemie für den Reisemarkt ergebenden Folgen kann an dieser Stelle nur auf Grundlage methodischer Erwägungen unter Berücksichtigung des Standes der europäischen Rechtsprechung die 13 BVerfG, Beschl. v. 6.7.2010, 2 BvR 2661/06 Rn. 62, 63; Hervorhebung v. Verf. 14 Latzel, EuZW 2015, S. 658 (662). 15 EuGH, Urt. v. 11.10.2006, Rs. C-117/06 Rn. 74 ff. 16 Teetzmann, EUR 2016, S. 90 (92). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 10 grundsätzliche Möglichkeit einer Geltungsbeschränkung dieser Richtlinie dargelegt werden ohne naturgemäß zu eindeutigen Ergebnissen kommen zu können. 2.2.3.2. Geltungsdimension des Art. 12 Pauschalreise-RL mit Blick auf die durch Art. 16 GRCh geschützte unternehmerische Freiheit Nachfolgend wird untersucht, ob Art. 12 Pauschalreise-RL in dem durch die Auslegung seines Wortlauts und der Systematik dieser Richtlinie ermittelten Reichweite der Rückerstattungspflicht mit Blick auf das Szenario einer Pandemie im vollen Umfang mit der durch Art. 16 GRCh gewährleisteten unternehmerischen Freiheit der Reiseveranstalter vereinbar wäre und, falls dies nicht der Falle wäre, auf ein grundrechtskonformes Maß zu beschränken wäre. Dazu wird nachfolgend der Schutzbereich des Art. 16 GRCh näher bestimmt (2.2.3.3), erörtert, ob die durch Art. 12 Pauschalreise-RL statuierte und entsprechend ins nationale Recht umgesetzte Rückerstattungsverpflichtung als Eingriff in den Schutzbereich anzusehen ist (2.2.3.4) und – falls dies zuträfe – untersucht, ob ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit mit Blick auf die für dieses Grundrecht bestehenden Schrankenvorbehalte gerechtfertigt wäre insb. mit Blick auf die möglicherweise ihrerseits grundrechtlich geschützte Interessenlage der die Rückerstattung verauslagter Reisekosten begehrenden Pauschalreisenden (2.2.3.5). 2.2.3.3. Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit 2.2.3.3.1. Sachlicher Schutzbereich Die unternehmerische Freiheit schützt die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit in allen ihren Ausprägungen .17 Als hiervon umfasst sieht der EuGH das Recht jedes Unternehmens, in den Grenzen seiner Verantwortlichkeit für seine eigenen Handlungen frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können18 und die Freiheit zur Ausübung einer Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit, die Vertragsfreiheit und den freien Wettbewerb.19 2.2.3.3.2. Persönlicher Schutzbereich Durch die unternehmerische Freiheit des Art. 16 GRCh geschützt sind nicht nur natürliche Personen sondern auch juristische Personen.20 2.2.3.4. Eingriff 17 Bernsdorff, in Meyer/Hölscheidt (Hrsg): Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, zu 3. 18 EuGH, Urt. v. 30.6.2016, Rs. C-134/15 (Lidl) Rn. 27; Urt. v. 27.3.2014, Rs. C-314/12 Rn. 49. 19 EuGH, Urt. v. 30.06.2016, Rs. C-134/15 (Lidl) Rn. 28. 20 Bernsdorff, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg): Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, zu 6; Schmidt, Die unternehmerische Freiheit im Unionsrecht, 2010, S. 170 ff., jeweils mit weiterführenden Hinweisen dazu, inwieweit neben Unionsbürgern auch Drittstaatsangehörige oder Staatenlose durch dieses Grundrecht geschützt sind. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 11 Art. 12 Pauschalreise-RL sieht eine Beschränkung der von Art. 15 GRCh verbürgten Vertragsfreiheit vor, indem er Reiseveranstalter daran hindert, eine von der darin statuierten Rückerstattungspflicht abweichende vertragliche Vereinbarung zu treffen. Da Richtlinien im Verhältnis zu den Bürgern, insb. Marktteilnehmern, selbst keine Rechtswirkungen erzeugen sondern nur die Mitgliedstaaten verpflichten, wird deren Rechtskreis erst mit ihrer Umsetzung in das Recht der Mitgliedstaaten betroffen.21 Ein Eingriff in ein Grundrecht der GRCh erfolgt demgemäß nicht bereits durch die Richtlinie selbst sondern erst durch deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, und dies zweifelsfrei dann, soweit diese dem umsetzungspflichtigen Regelungsgehalt der Richtlinie innerstaatliche Geltung verschaffen. Eine derartige nationale Regelung ist an den Unionsgrundrechten zu messen und verpflichtet auch die an die Unionsgrundrechte gebundenen Mitgliedstaaten zur unionsgrundrechtskonformen Auslegung eines solchen Rechtsaktes.22 Mitgliedstaaten greifen vor diesem Hintergrund in Unionsgrundrechte ein, wenn sie im Rahmen ihrer Umsetzungsverpflichtung Richtlinien in einem Umfang innerstaatlich Geltung verschaffen, die bei grundrechtskonformer Auslegung der Richtlinie den Unionsgrundrechten widerspricht. 2.2.3.5. Schranken Die unternehmerische Freiheit gilt fernerhin nicht schrankenlos, sondern wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt. Begrenzungen des Grundrechts aus Art. 16 GRCh müssen zudem die Vorgaben des Art. 52 Abs. 1 GRCh beachten . Hiernach gilt: Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.2 Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Die unternehmerische Freiheit darf hiernach auch mit Blick auf die Erfordernisse des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer Einschränkungen unterliegen. Die Ausübung dieser Beschränkungsoption kann einen verpflichtenden Charakter gewinnen und sich zu einer Beschränkungspflicht verstärken, wenn die Ansprüche der Pauschalreisenden auf (monitäre) Rückerstattung bereits entrichteter Reisekosten ihrerseits (unions-)grundrechtlichen Schutz genießen. Im Rahmen einer Auslegung der umgesetzten Pauschalreise-RL wäre dann zwischen diesem Grundrecht und der in gleicher Weise berührten unternehmerischen Freiheit der Reiseveranstalter ein angemessener Ausgleich herzustellen. Das durch Art. 17 GRCh geschützte Eigentumsrecht umfasst vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbstän- 21 Teetzmann, EUR 2016, S. 90 (92). 22 Teetzmann, EUR 2016, S. 90 (93, 105). Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 12 dige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht,23 was für notfalls gerichtlich einklagbare zivilrechtliche (Rückerstattungs-)Ansprüche von Pauschalreisenden der Fall sein dürfte. Dieses grundrechtlich geschützte Recht auf volle Rückerstattung entrichteter Reisekosten würde mit einer Regelung eingeschränkt, die diesen Anspruch dahin änderte, dass Pauschalreisende nur einen Anspruch auf einen Gutschein hätten oder dass Rückerstattungsansprüche gestundet oder deren Durchsetzung in anderer Weise gehemmt wären. Auch das durch Art. 17 GRCh geschützte Eigentumsrecht der Pauschalreisenden unterliegt nach Art. 52 Abs. 1 GRCh Einschränkungen, die den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen wie solche, die die Mitgliedstaaten unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vornehmen, etwa um massenhafte Insolvenzen zu vermeiden. Die Kollision der unternehmerischen Freiheit der Reiseveranstalter und die von einem Ausschluss einer Rückerstattung in Gestalt des vorausbezahlten Geldbetrages betroffenen vermögenswerten Rechte der Reisenden ist bei einer Neugestaltung im deutschen Reisevertragsrecht, soweit diese im Geltungsbereich die Pauschalreise-RL vorgenommen wird, dahin aufzulösen, dass zwischen beiden Grundrechten ein angemessener Ausgleich herzustellen ist. Bei einer Neuregelung des hier in Frage stehenden Rückerstattungsanspruchs im Reisevertragsrecht müsste der Gesetzgeber die durch die Pauschalreise-RL gesetzten Gestaltungsgrenzen einhalten, die durch eine Auslegung der Richtlinie zu ermitteln sind, mit der nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den hiervon betroffenen unionsrechtlich geschützten Grundrechten herzustellen ist. Dazu müssten die vom EuGH zur Auflösung einer Grundrechtskollision aufgestellten Leitlinien beachtet werden. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es im Fall mehrerer kollidierender Grundrechte Sache der Mitgliedstaaten ist, bei der Umsetzung einer Richtlinie darauf zu achten , dass sie sich auf eine Auslegung dieser Richtlinie stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den durch die Unionsrechtsordnung geschützten anwendbaren Grundrechten sicherzustellen. Ferner haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit ihr auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den genannten Grundrechten oder mit den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts , wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert…24 Daraus lassen sich ohne Kenntnis eines konkreten Gesetzesvorschlags und belastbarer Hintergrundinformationen zu den Folgen einer uneingeschränkten Rückerstattungspflicht bereits entrichteter Reisekosten für den Reisemarkt mit Blick auf die sich fortentwickelnde Pandemie, insb. für den Fortbestand und die unter den Rahmenbedingungen eines Krisenszenarios verbleibenden Handlungsoptionen der Reiseanbieter, keine Folgerungen ziehen. 23 EuGH, 22.1.2013, Rs. C‑ 283/11 Rn. 34. 24 EuGH, Urt. v. 27.3.2014, Rs. C-314/12 Rn. 46, Hervorhebung v. Verf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 13 2.3. Die Fluggastrechte-VO 2.3.1. Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 8 Abs. 1 Fluggastrechte-VO Im Geltungsbereich der Fluggastrechte-VO25 werden bei Annullierung des Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen den betroffenen Fluggästen nach Art. 5 Abs. 1 lit. a) Fluggastrechte -VO Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten. Fluggäste haben nach Art. 8 Abs. 1 lit. a) Fluggastrechte-VO im Falle der Annullierung eines Fluges Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten oder anderweitige Beförderung. Sie können nach Art. 8 Abs. 1 wählen zwischen a) — der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit — einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt, b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze. Nach dem in Art. 8 Abs. 1 lit. a) Fluggastrechte-VO Bezug genommen Art. 7 Abs. 3 dieser Verordnung erfolgt die Erstattung durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung , durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen. In Art. 2 lit. l Fluggastrechte-VO wird die Annullierung als die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, legaldefiniert. Luftfahrtunternehmen sind mithin nach der Fluggastrechte-VO im Falle einer Annullierung des Fluges zur vollständigen Rückerstattung der Flugscheinkosten innerhalb von sieben Tagen verpflichtet . Die Zahlungsfrist bestimmt sich nach der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine.26 Die Rückerstattung hat grundsätzlich in Geld auf dem üblichen Zahlungsweg (Art. 7 Abs. 3 Fluggastrechte-VO) zu erfolgen, kann aber auch mit schriftlichem Einverständnis des Fluggastes in Gestalt von Reisegutscheinen u.ä. erfolgen (Art. 8 Abs. 1 lit. a,  Art. 7 Abs. 3 Fluggastrechte-VO).27 Nach diesen klar formulierten Regelungen sind Fluggäste nicht verpflichtet, statt eines Geldanspruchs Reisegutscheine als Rückerstattung zu akzeptieren noch eine Stundung oder eine Hemmung ihres Anspruchs hinzunehmen. 25 Art. 3 Fluggastrechte-VO. 26 Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 des Rates vom 3. Juni 1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine, ABl L 124, 1. 27 Vgl. dazu auch EuGH, 12.9.2018, Rs. C-601/17 Rn. 12 f.; Engel/Hofmann, NZV 2019, S. 125. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 14 Ein Rückzahlungsanspruch besteht allerdings nicht, wenn der Fluggast einen Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten gegen seinen Reiseveranstalter hat.28 Die Kommission hat auf Grundlage der dargestellten Regelungen in ihren am 18. März 2020 veröffentlichten Leitlinien29 zu den Passagierrechten in der EU darauf verwiesen, dass Passagiere, die von der Annullierung ihrer Reise betroffen sind, zwischen der Erstattung des Fahr- bzw. Flugpreises oder einer anderweitigen Beförderung wählen können, um ihr Endziel zu einem späteren Zeitpunkt zu erreichen. Zugleich verweist die Kommission in dieser Mitteilung darauf, dass die derzeitigen Umstände als außergewöhnlich anzusehen sind, was dazu führe, dass bestimmte Rechte wie Entschädigungen bei Annullierung eines Fluges weniger als zwei Wochen vor dem Abflugdatum möglicherweise nicht geltend gemacht werden können. Der Anspruch auf vollständige Rückerstattung der Flugscheinkosten wird auch unter den gegenwärtigen Umständen nicht in Frage gestellt. 2.3.2. Grundrechtskonforme Auslegung Ob der aus vorstehenden Regelungen sich ergebende Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten auch uneingeschränkt dann besteht, wenn die Existenz der zur Rückerstattung verpflichteten Airlines infolge massenhafter Inanspruchnahme gefährdet würde, wäre im Wege der Auslegung der Fluggastrechte-VO anhand der GRCh zu klären. Hierzu wird auf die auch in diesem Kontext entsprechend Anwendung findenden Ausführungen in 2.2.3. verwiesen. Ohne Kenntnis eines konkreten Gesetzesvorschlags und belastbarer Hintergrundinformationen zu den Folgen einer uneingeschränkten Rückerstattungspflicht der Flugscheinkosten für die Airlines mit Blick auf die sich fortentwickelnde Pandemie ließen sich aus einer grundrechtskonformen Auslegung der Fluggastrechts-VO keine Folgerungen ziehen. 28 EuGH, Urt. v. 10.7.2019, Rs. C-163/18. 29 Vgl. die Pressemitteilung der Kommission „COVID-19 Kommission veröffentlicht Leitlinien zu den Passagierrechten in der EU“, abrufbar unter: file:///C:/Users/Roland/Documents/FB%20Europa/26%2020%20Fluggastrechte%20Gutscheine/COVID- 19_Kommission_ver_ffentlicht_Leitlinien_zu_den_Passagierrechten_in_der_EU%20PM.pdf , sowie „Interpretative Guidelines on EU passenger rights regulations in the context of the developing situation with Covid-19“ S. 3 Ziff. 3.2., abrufbar unter: file :///C:/Users/Roland/Documents/FB%20Europa/26%2020%20Fluggastrechte%20Gutscheine/EU%20Kom%2 0Leitlinien.pdf. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 15 3. Abweichungen von unionsrechtlichen Vorgaben auf Grundlage des Art. 347 AEUV? Art. 347 AEUV ermächtigt die Mitgliedstaaten dazu, bei Vorliegen einer der dort abschließend geregelten drei Tatbestandsvarianten einseitige, von den Vertragsbestimmungen abweichende Maßnahmen zu ergreifen.30 Diese Regelung ermöglicht den Mitgliedstaaten, in einer krisenhaften Ausnahmesituation31 zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von den unionsrechtlichen Verpflichtungen mit vorübergehenden Maßnahmen abzuweichen. Ein Tätigwerden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wäre auf Grundlage dieser Regelung nur zulässig, wenn das ordnungsgemäße Funktionieren des Staatswesens ganz oder teilweise gefährdet ist oder die Verfassungsordnung zusammenzubrechen droht. Wirtschaftliche oder soziale Krisensituationen, die solche Wirkungen nicht hervorriefen, erfüllten die Voraussetzungen der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift 32 des Art. 347 AEUV regelmäßig nicht.33 Aufgrund einer mit Art. 347 AEUV vergleichbaren Vorgängerregelung stellte der EuGH in der Rechtssache C-265/95 fest: Der betreffende Mitgliedstaat hat alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die volle, wirksame und korrekte Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Interesse aller Wirtschaftsteilnehmer sicherzustellen, sofern er nicht nachweist, daß sein Tätigwerden Folgen für die öffentliche Ordnung hätte, die er mit seinen Mitteln nicht bewältigen könnte.34 Die Voraussetzungen für ein auf Art. 347 AEUV gestütztes Abweichen von den Vorgaben des Unionsrechts dürften bzgl. der vorliegend untersuchten Fragestellung derzeit nicht erfüllt sein. 4. Ergebnisse Wortlaut, Systematik und Regelungsziele der Pauschalreise-RL und der Fluggastrechte-VO lassen keine Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten dafür erkennen, dass der Anspruch von Pauschal - und Flugreisenden auf Rückerstattung bereits entrichteter Reise- oder Ticketkosten mit einem Gutschein abgegolten werden darf, noch dafür, dass der kurzfristig zu erfüllende Rückerstattungsanspruch sich durch die Einführung einer Stundungsoption oder einer anderweitigen Hemmung seiner Durchsetzbarkeit zugunsten der Reiseanbieter oder Airlines umwandeln ließe. 30 Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 2015, Art. 347 Rn. 24. 31 Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 347 AEUV Rn. 4. 32 EuGH, Urt. v. 19.12.1968, Rs. 13/68, S. 689, Dittert, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht , 7. Aufl. 2015, Art. 347 AEUV Rn. 1. 33 EuGH, Urt. v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 Rn. 54 ff; Hummer, Das griechische Embargo, Everling-FS, 1995, S. 511 (531). 34 EuGH, Urt. v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 Rn. 56. Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 -3000 - 026/20 Seite 16 Gestaltungsspielräume hierfür eröffneten sich möglicher Weise im Wege der grundrechtskonformen Auslegung der für diese Rückerstattungsrechte einschlägigen Regelungen der Pauschalreise- RL und der Fluggastrechte-VO unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände einer Pandemie mit Blick auf die Gefahr für den Fortbestand nicht nur einzelner Reiseanbieter oder Airlines sondern ganzer Branchen infolge massenhafter Inanspruchnahme der Rückerstattungsrechte von Pauschal- und Flugreisenden. Ohne Kenntnis eines konkreten Gesetzesvorschlags und belastbarer Hintergrundinformationen zu den Folgen einer uneingeschränkten Rückerstattungspflicht ließen sich aus einer grundrechtskonformen Auslegung der Pauschalreise-RL und der Fluggastrechts -VO keine Folgerungen ziehen. Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten für die vorliegend untersuchten Ausgestaltungen des Rückerstattungsanspruchs von Pauschal- und Flugreisenden eröffnen sich nicht auf Grundlage des Art. 347 AEUV, da die dort normierten Voraussetzungen für ein Abweichen von den Vorgaben des Unionsrechts derzeit nicht erfüllt sein dürften. - Fachbereich Europa -