© 2017 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - /17 Durchfahrtsverbot für LKW am Grenzübergang Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 2 Durchfahrtsverbot für LKW am Grenzübergang Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 26/17 Abschluss der Arbeit: 12 .5.2017 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Warenverkehrsfreiheit 4 2.1. Eingriff 4 2.2. Rechtfertigung 5 2.2.1. Legitimes Ziel 6 2.2.2. Verhältnismäßigkeit 6 2.2.2.1. Geeignetheit 6 2.2.2.2. Erforderlichkeit 7 2.2.2.3. Angemessenheit 8 2.2.3. Nicht-diskriminierend 9 3. Dienstleistungsfreiheit 9 4. Fazit 10 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung Der Fachbereich ist um Auskunft ersucht worden, ob ein Durchfahrtsverbot für LKW auf dem Stück einer Bundesfernstraße, das durch einen Ort führt, welcher 5 km von einem Grenzübergang entfernt liegt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Ein solches Durchfahrtsverbot für LKW ist mangels einschlägigen Sekundärrechts am europäischen Primärrecht zu messen. Dabei ist insbesondere zu überlegen, ob Durchfahrtsverbote für LKW die Warenverkehrsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit beschränken und deswegen möglicherweise mit dem Unionsrecht unvereinbar sind. Diesbezüglich sind insbesondere die Urteile des Gerichtshofs der EU (EuGH) in zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich aufgrund sektoraler Fahrverbote für LKW auf der Inntalautobahn von Interesse. 2. Warenverkehrsfreiheit 2.1. Eingriff Eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit durch eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung gemäß Art. 34 AEUV ist nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH „jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern.“1 Der EuGH hat einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit auch bei einer Behinderung der Freiheit der Warendurchfuhr angenommen. Er hat diesbezüglich in ständiger Rechtsprechung entschieden : „Der Warenverkehr könnte aber nicht vollkommen frei sein, wenn die Mitgliedstaaten die Durchfuhr der Waren in irgendeiner Weise be- oder verhindern könnten. Deshalb ist als Folge der Zollunion und im gegenseitigen Interesse der Mitgliedstaaten das Bestehen eines allgemeinen Grundsatzes der Freiheit der Warendurchfuhr innerhalb der Gemeinschaft anzuerkennen.“2 In einem anderen Urteil hat er betont, „angesichts der grundlegenden Bedeutung des freien Warenverkehrs im System der Gemeinschaft und insbesondere für das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes“ sei jeder Mitgliedstaat verpflichtet, „den freien Warenverkehr in seinem Gebiet zu gewährleisten, indem er die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen ergreift, um gegen Beeinträchtigungen durch Handlungen von Privatpersonen einzuschreiten, unabhängig davon, ob diese Handlungen die Einfuhr, die Ausfuhr oder die bloße Durchfuhr von Waren betreffen.“3 Der EuGH hat eine Beschränkung der Warendurchfuhr durch sektorale Fahrverbote für LKW, die bestimmte bahnaffine Güter transportieren,4 und die Erhebung von Durchfuhrabgaben oder 1 EuGH, Urt. v. 11.7.1974, Rs. 8/74 – Dassonville, Rn. 5 2 EuGH, Urt. v. 16.3.1983, Rs. 266/81 – Siot, Rn. 16; s. dazu auch: EuGH, Urt. v. 14.10.1991, Rs. C-367/89 – Richardt, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 15.11.2005, Rs. C-320/03 – Kommission/Österreich, Rn. 65. 3 EuGH, Urt. v. 12.6.2003, Rs. C-112/00 – Schmidberger/Österreich, Rn. 60 (Hervorhebung durch die Bearbeiterin ). 4 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 116. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 5 Durchfuhrbelastungen5 festgestellt.6 Der EuGH hat im Fall des sektoralen Fahrverbots für LKW auf der Inntalautobahn ausgeführt, dass die Existenz von Ausweichstrecken nicht geeignet sei, eine Beschränkung des freien Warenverkehrs auszuschließen. In dem Vertragsverletzungsverfahren , das dem EuGH vorlag, war der für LKW gesperrte Autobahnabschnitt einer der wichtigsten Verbindungswege zwischen Süddeutschland und Norditalien. Da das Fahrverbot die betreffenden Unternehmen zwang, nach wirtschaftlich vertretbaren Ersatzlösungen für den Transport zu suchen, war es geeignet, den Warenverkehr zwischen dem nördlichen Europa und Norditalien erheblich zu beeinträchtigen, so der EuGH.7 Aufgrund dieser Entscheidungen ist es denkbar, dass in dem Durchfahrtsverbot für LKW auf einer Straße zu einem Grenzübergang eine Beschränkung der Warendurchfuhr und damit ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV liegen könnten. Die Sperrung einer Strecke zu einem Grenzübergang und die dadurch bedingte Notwendigkeit für Transportunternehmen, Ersatzlösungen zu finden, könnten die Warendurchfuhr und damit den Warenverkehr beeinträchtigen . Es ist jedoch zu bedenken, dass sich das vom EuGH beurteilte Fahrverbot für LKW in Österreich auf eine der „wichtigsten terrestrischen Verbindungswege zwischen Süddeutschland und Norditalien“ bezog.8 Es ist daher ebenso möglich, dass ein Fahrverbot auf einer für den Güterverkehr weniger bedeutsamen Straße zu einem Grenzübergang keine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellt. Sofern es sich bei der betreffenden Straße um eine stark von LKW frequentierte Bundesfernstraße handelt, die direkt zu einem Grenzübergang führt, gibt es jedoch Argumente für die Annahme eines Eingriffs. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass je wichtiger die Ortsdurchfahrt für den grenzüberschreitenden Warenverkehr und die Warendurchfuhr ist und je weniger vertretbare Alternativstrecken den Transportunternehmen bei einer Sperrung der Ortsdurchfahrt zur Verfügung stehen, desto eher stellt ein Durchfahrtsverbot für LKW einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit dar. Mangels weitergehender Informationen zu den tatsächlichen Gegebenheiten ist eine abschließende Bewertung vorliegend nicht möglich. 2.2. Rechtfertigung Wenn ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit vorliegen sollte, kann er gemäß Art. 36 AEUV mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie durch ungeschriebene Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden.9 Ein solcher legitimer Grund kann eine nationale Eingriffsmaßnahme rechtfertigen, wenn diese zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet ist, das angestrebte Ziel nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die 5 EuGH, Urt. v. 16.3.1983, Rs. 266/81 – Siot, Rn. 23. 6 S. dazu auch: Epiney/Heuck/Schleiss, in: Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, EL 33, Stand: September 2013, L. Verkehrsrecht , Rn. 177, FN. 398. 7 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 116. 8 EuGH, 9 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 34-36 AEUV, Rn. 80. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 6 den Warenverkehr innerhalb der EU weniger stark beschränken und die Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel steht (Verhältnismäßigkeit).10 Zudem dürfen die nationalen Maßnahmen nach Art. 36 Satz 2 AEUV kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung sein. 2.2.1. Legitimes Ziel Nach Art. 36 AEUV können Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit von Menschen gerechtfertigt werden. Der EuGH hat den Gesundheitsschutz im Hinblick auf die LKW-Fahrverbote auf der Inntalautobahn als Mittel zur Emissionsminderung von Kraftfahrzeugen geprüft und als legitimes Ziel anerkannt, welches einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit grundsätzlich rechtfertigen kann.11 Ein weiteres legitimes Ziel, dem ein Durchfahrtsverbot potentiell dienen kann, ist der Umweltschutz . Der Umweltschutz ist zwar nicht in Art. 36 AEUV als Rechtfertigungsgrund normiert, er ist aber vom EuGH in ständiger Rechtsprechung als ungeschriebener Rechtsfertigungsgrund für Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit anerkannt worden.12 Auch im Rahmen des EuGH-Verfahrens über das sektorale Fahrverbot für LKW auf der Inntalautobahn wurde der Umweltschutz als mögliche Rechtfertigung des festgestellten Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit geprüft.13 2.2.2. Verhältnismäßigkeit 2.2.2.1. Geeignetheit Das Durchfahrtsverbot für LKW müsste geeignet sein, das legitime Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu fördern. Dafür muss das Durchfahrtsverbot dazu dienen diese Ziele in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.14 Der EuGH hat zum sektoralen Fahrverbot für LKW auf der Inntalautobahn festgestellt, dass dieses Verbot geeignet sei, die Verwirklichung des Umweltschutzziels zu gewährleisten.15 Fraglich ist aber, ob ein Durchfahrtsverbot für LKW auf einer durch einen Ort führenden Bundesfernstraße zu einem Grenzübergang geeignet ist, kohärent und systematisch den Umwelt- und Gesundheitsschutz zu fördern. Es ist zu überlegen, ob eine solche Maßnahme zu Ausweichfahrten 10 EuGH, Urt. v. 19.10.2016, Rs. C-148/15 – Deutsche Parkinson Vereinigung, Rn. 34 m.w.N.; Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 AEUV, Rn. 64 ff. 11 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 119 ff. 12 EuGH, Urt. v. 20.9.1988, Rs. 302/86 – Kommission/Dänemark, Rn. 8. 13 EuGH, Urt. v. 15.11.2005, Rs. C-320/03 – Kommission/Österreich, Rn. 85; EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 138. 14 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 133. 15 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 138. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 7 der LKW auf Straßen, an denen weniger Menschen wohnen, oder zu Fahrten durch andere, nahe gelegene Ortschaften führen würde. Wäre letzteres der Fall, würde das Durchfahrtsverbot zwar dem Schutz der Umwelt und der Gesundheit der Bürger des betroffenen Orts am gesperrten Streckenabschnitt dienen, aber dafür zur Belastung der Gesundheit der Anwohner von Ortschaften und der Umwelt an den Alternativstrecken zum Grenzübergang führen.16 In einem solchen Fall wäre das Durchfahrtsverbot nicht dazu geeignet, einen umfassenden Schutz der Umwelt und menschlichen Gesundheit in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, sondern nur den Schutz der Umwelt und der Gesundheit der Anwohner der vom Durchfahrtsverbot betroffenen Ortschaft. In der wissenschaftlichen Literatur wird in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass der EuGH aufgrund der gesonderten Prüfung einzelner Beschränkungen die Beurteilung der Kohärenz nur auf diese einzelne Beschränkung beziehe, und nicht etwa auf die Gesamtregelung in einem bestimmten Sachgebiet.17 Nach dieser Ansicht würde es für die Annahme der Geeignetheit genügen, wenn das Durchfahrtsverbot die Umwelt und die Anwohner der betroffenen Ortsdurchfahrt kohärent und systematisch vor Gesundheitsschäden schützt. Mangels entsprechenden Entscheidungen des EuGH zu den Anforderungen eines kohärenten und systematischen Vorgehens, lässt sich nicht abschließend feststellen, ob ein einzelnes Durchfahrtsverbot geeignet im Sinne des Unionsrechts ist. 2.2.2.2. Erforderlichkeit Hohe Anforderungen stellt der EuGH an die Erforderlichkeit von nationalen Maßnahmen, welche mit legitimen Zielen wie dem Gesundheits- oder Umweltschutz gerechtfertigt werden sollen. In den zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich beschäftigte sich der EuGH mit der Erforderlichkeit des nationalen Fahrverbots auf bestimmten Streckenabschnitten der Inntalautobahn für LKW, die bahnaffine Güter transportieren. 2005 entschied der EuGH, es sei nicht schlüssig dargelegt worden, „dass die österreichischen Behörden bei der Ausarbeitung der streitigen Verordnung hinreichend untersucht hätten, ob das Ziel der Verringerung der Schadstoffemissionen nicht auch durch andere, den freien Verkehr weniger beschränkende Maßnahmen erreicht werden könnte […].“18 2011 kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, Österreich habe nicht ausreichend dargelegt und bewiesen, dass nur ein sektorales Fahrverbot das Ziel der Schadstoffreduzierung zum Schutze der Umwelt und Gesundheit fördere und andere, weniger massiv in die Warenverkehrsfreiheit eingreifende Maßnahmen, wie eine ständige Geschwindigkeitsbegrenzung, dieses Ziel weniger gut erreichen helfen.19 16 S. zu dieser Problematik auch: Paternoster, Verkehrsbeschränkungen zur Verringerung der innerstädtischen Feinstaubbelastung, 2010, S. 112. 17 Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten – Ausgehend von der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts im Glücksspielbereich, EuZW 2008, S. 522 (523), a.A.: Becker, in: Schwarze, EU- Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 AEUV, Rn. 65. 18 EuGH, Urt. v. 15.11.2005, Rs. C-320/03 – Kommission/Österreich, Rn. 89. 19 EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-28/09 – Kommission/Österreich, Rn. 140 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 8 Die Änderungen Österreichs am sektoralen Fahrverbot haben die Kommission 2017 dazu bewegt, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich einzustellen. In der Pressemitteilung der Kommission hierzu steht: „Die Kommission hat heute beschlossen, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich einzustellen, das die nationalen Rechtsvorschriften betraf, die das Befahren der A12 auf einem Streckenabschnitt im Inntal durch bestimmte Lastkraftwagen untersagten . In einem Aufforderungsschreiben, das sie im Juli 2016 an Österreich richtete, hatte die Kommission argumentiert, dass diese Maßnahme in der Praxis die Freiheit der Warendurchfuhr und damit auch den freien Warenverkehr behindern könnte (Artikel 34 AEUV). Österreich ist zwar gemäß der Luftqualitätsrichtlinie (Richtlinie 2008/50/EG) verpflichtet, Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung im Inntal einzuführen, die Kommission war jedoch der Ansicht, dass weniger restriktive Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels zur Verfügung standen. Daraufhin änderte Österreich im Oktober 2016 die entsprechende Rechtsvorschrift. Die Kommission begrüßt diese Änderung und kann daher nun das Vertragsverletzungsverfahren einstellen.“20 Mögliche Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Gesundheit, die weniger stark in die Warenverkehrsfreiheit eingreifen, als Durchfahrtsverbote, sind bauliche Lärmschutzmaßnahmen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die Kommission hat im Rahmen der ersten Entscheidung zum sektoralen Fahrverbot auf der Inntalautobahn ein schrittweises Fahrverbot für die verschiedenen EURO-Schadstoffklassen von LKW, das Ökopunktesystem, die Beschränkung des Schwerlastverkehrs zu Spitzenverkehrszeiten, ein Nachtfahrverbot für diese Fahrzeuge, die Einführung von Mautsystemen nach Maßgabe der Schadstoffemissionen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen als mögliche Alternativen zu einem Fahrverbot aufgeführt.21 Es lässt sich vorliegend nicht abschließend bewerten, wann ein Durchfahrtsverbot für LKW nach den vom EuGH festgestellten Maßstäben erforderlich ist und wann andere Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit und Umwelt genügen . In jedem Fall muss der Mitgliedstaat seine Abwägungen darlegen und erklären können, wieso er sich für eine Maßnahme entschieden hat, die stärker als alternative Maßnahmen in die Warenverkehrsfreiheit eingreift. 2.2.2.3. Angemessenheit Der Grundsatz der Angemessenheit gibt vor, dass die Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit in einem angemessen Verhältnis zu dem mit der Beeinträchtigung verfolgten Ziel stehen muss.22 Der EuGH kontrolliert die Angemessenheit einer nationalen Maßnahme zumeist im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung. Der Grundsatz der Angemessenheit hat dabei in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH eine deutlich geringere Bedeutung gehabt als die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit.23 Mangels einschlägiger Rechtsprechung ist diesbezüglich keine abschließende Feststellung möglich. 20 Kommission, Factsheet – Vertragsverletzungsverfahren im Februar: wichtigste Beschlüsse, 15.2.2017,. abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-17-234_de.htm. 21 EuGH, Urt. v. 15.11.2005, Rs. C-320/03 – Kommission/Österreich, Rn. 46. 22 Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 AEUV, Rn. 74. 23 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 34-36 AEUV, Rn. 98. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 9 2.2.3. Nicht-diskriminierend Durch legitime Zwecke gerechtfertigte Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit dürfen nach Art. 36 Satz 2 AEUV weder eine willkürliche Diskriminierung noch eine verschleierte Handelsbeschränkung zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Art. 36 Satz 2 AEUV soll verhindern, dass auf die Rechtfertigungsgründe des Art. 36 Satz 1 AEUV gestützte Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels missbraucht und zur Diskriminierung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten oder zum mittelbaren Schutz bestimmter nationaler Produktionen verwandt werden.24 In der Literatur wird ausgeführt, dass eine willkürliche Diskriminierung vorliegt, wenn sie durch keine anerkennenswerten sachlichen Erfordernisse begründet ist25 und eine verschleierte Beschränkung gegeben ist, wenn der betreffende Mitgliedstaat durch vorgeschobene Gründe protektionistische Ziele verfolgt.26 Beides ist bei der Sperrung einer Ortsdurchfahrt für LKW zum Schutz der Anwohner vor Lärm und Abgasbelästigung nicht erkennbar. 3. Dienstleistungsfreiheit Gemäß Art. 58 Abs. 1 AEUV gelten für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs die Bestimmungen des Titels über den Verkehr. Der EuGH hat diesbezüglich ausgeführt, dass die Anwendung der Dienstleistungsfreiheit durch die Verwirklichung der gemeinsamen Verkehrspolitik mit Sekundärrechtsakten erreicht werden muss27 und die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV im Verkehrssektor nicht unmittelbar wirksam ist.28 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV nicht als Prüfungsmaßstab gewählt werden, wenn keine sekundärrechtlichen Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Verkehrspolitik getroffen worden sind.29 Auch in den zwei oben bereits diskutierten Entscheidungen zum sektoralen Fahrverbot für LKW in Österreich hat der EuGH allein auf die Warenverkehrsfreiheit abgestellt und keinen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit geprüft. Es ist davon auszugehen, dass Durchfahrtsverbote für LKW auf Unionsebene allein an der Warenverkehrsfreiheit zu messen sind. Wenn ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit durch Betriebsbeschränkungen bejaht werden würde, würden die oben dargestellten Erwägungen zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit im Wesentlichen übertragbar sein. 24 EuGH, Urt. v. 14.12.1979, Rs. 34/79 – Henn und Darby, Rn. 21 25 Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 166; Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 AEUV, Rn. 83. 26 Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 55. EGL, Stand: Januar 2015,Art. 36 AEUV, Rn. 53; Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 36 AEUV, Rn. 84. 27 EuGH, Urt. v. 22.5.1985, Rs. 13/83 – Parlament/Rat, Rn. 62. 28 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 43. EGL, Stand: März 2011, Art. 58 AEUV, Rn. 1. 29 EuGH, Urt. v. 22. 12. 2010, Rs. C-338/09 – Yellow Cab, Rn. 30 ff; s. dazu auch die Schlussanträge des GA Villalón , C-338/09 – Yellow Cab, Rn. 19 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 26/17 Seite 10 4. Fazit Wie auch von der Generaldirektion Energie und Verkehr der Europäischen Kommission 2005 in einem ähnlich gelagerten Fall als unverbindliche Rechtsansicht mitgeteilt,30 ist Voraussetzung für eine unionsrechtskonforme Ausgestaltung eines Durchfahrtsverbots für LKW, sofern dies als Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit qualifiziert, die Verfolgung eines legitimen Ziels, wie beispielsweise der Schutz der Umwelt als einem zwingenden Allgemeininteresse. Das Durchfahrtsverbot muss verhältnismäßig sein, indem es eine geeignete und erforderliche Maßnahme zur Erreichung diese Ziels darstellt, und darf darüber hinaus nicht diskriminierend sein. – Fachbereich Europa – 30 Das Schreiben der Generealdirektion liegt der Bearbeiterin vor.