© 2017 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 25/17 FIJAIT und das Unionsrecht Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot? Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 2 FIJAIT und das Unionsrecht Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot? Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 25/17 Abschluss der Arbeit: 23.6.2017 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Inhalt des Doppelbestrafungsverbot 4 3. Anwendbarkeit der Grundrechtecharta 4 3.1. Durchführung von Unionsrecht 4 3.2. Unionsrechtliche Vorgaben für Strafregister 5 3.3. Unionsrechtliche Vorgaben zum Datenschutz 6 3.3.1. Richtlinie 95/46/EG 6 3.3.2. Rahmenbeschluss 2008/977/JI 7 3.3.3. Richtlinie (EU) 2016/680 7 3.3.4. Konsequenz der datenschutzrechtlichen Vorgaben 8 3.4. Zwischenergebnis 9 4. Vereinbarkeit mit Art. 50 der Grundrechtecharta 9 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 4 1. Fragestellung FIJAIT ist ein französisches automatisiertes Strafregister für terroristische Straftaten. Personen, die im FIJAIT registriert sind, sind verpflichtet, alle drei Monate ihre Anschrift nachzuweisen, Adressänderungen innerhalb von höchstens zwei Wochen mitzuteilen und Reisen ins Ausland bzw. Reisen nach Frankreich, sofern es sich um eine im Ausland wohnhafte Person handelt, spätestens zwei Wochen vor der Reise mitzuteilen. Der Fachbereich wird um Beantwortung der Frage ersucht, ob es sich bei der Speicherung in FIJAIT und den sich daraus ergebenden Pflichten um eine Doppelbestrafung handelt. 2. Inhalt des Doppelbestrafungsverbot Nach Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GrCh)1 darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden. Art. 50 GrCh erfasst Fälle der Doppelbestrafung innerhalb eines Staates und innerhalb der Union sowie die transnationale Doppelbestrafung durch zwei oder mehrere Mitgliedstaaten bzw. durch einen Mitgliedstaat und die Union.2 Im französischen Recht ist das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 368 der Strafprozessordnung (Code de procédure pénale) festgehalten: „Aucune personne acquittée légalement ne peut plus être reprise ou accusée à raison des mêmes faits, même sous une qualification différente.“3 3. Anwendbarkeit der Grundrechtecharta Die GrCh gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 GrCh für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Es wird im Folgenden geprüft, ob die Einrichtung eines automatisierten nationalen Strafregisters für terroristische Straftaten, wie FIJAIT, eine Durchführung von Unionsrecht darstellt. 3.1. Durchführung von Unionsrecht Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) legt den Begriff der „Durchführung von Unionsrecht “ in der Regel weit aus und nimmt eine Bindung der Mitgliedstaaten an, wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist.4 Voraussetzung dafür ist jedoch nach seiner jüngeren Rechtsprechung, dass zwischen der nationalen Regelung und dem Unionsrecht ein hinreichender Zusammenhang besteht, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2010, C 83/391, abrufbar unter http://eur-lex.europa .eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2010:083:0389:0403:de:PDF. 2 Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 50 GrCh, Rn. 1. 3 https://www.legifrance.gouv.fr/affichCodeArticle.do?idArticle=LEGIARTI000006576330&cidTexte=LE- GITEXT000006071154. 4 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.02.2013, C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn. 19 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 5 sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.5 Es ist daher nach der Rechtsprechung des EuGH zu prüfen, „ob mit der fraglichen nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“6 Unionsrecht wird somit immer dann durchgeführt, wenn die Mitgliedstaaten europäisches Sekundärrecht umsetzen oder anwenden, und zwar nach Ansicht des EuGH auch dann, wenn ihnen der betreffende Unionsrechtsakt Spielräume gewährt.7 3.2. Unionsrechtliche Vorgaben für Strafregister Im Folgenden ist zu prüfen, ob das Unionsrecht materielle Vorgaben für Strafregister auf Ebene der Mitgliedstaaten enthält, sodass die Einrichtung eines derartigen Registers eine Durchführung von Unionsrecht darstellt bzw. durch Unionsrecht beeinflusst wird. Der Rahmenbeschluss 2009/315/JI8 regelt den Informationsaustausch aus den Strafregistern zwischen den Mitgliedstaaten, enthält aber gemäß seinem Erwägungsgrund 16 keine Harmonisierungsvorgaben zur Einrichtung dieser nationalen Strafregister. Mit dem Beschluss 2009/316/JI9 ist das Europäische Strafregistersystem (ECRIS) eingerichtet worden. Gemäß Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2009/316/JI handelt es sich bei ECRIS um ein dezentrales Informationstechnologiesystem , das auf den Strafregisterdatenbanken der Mitgliedstaaten beruht. Auch ECRIS zielt gemäß Erwägungsgrund 10 des Beschlusses 2009/316/JI nicht auf eine Harmonisierung der nationalen Strafregistersysteme ab. Der Beschluss 2005/671/JI enthält Vorgaben für die Übermittlung von Informationen über terroristische Straftaten an Eurojust, Europol und die Mitgliedstaaten.10 Er enthält jedoch keine Vorgaben zur Einrichtung oder Ausgestaltung nationaler Strafregister für terroristische Straftaten. Weitere Sekundärrechtsakte mit Vorgaben zu Strafregistern, insbesondere Strafregistern für terroristische Straftaten, sind nicht ersichtlich. 5 EuGH, Urt. v. 6.3.2014, C-206/13 – Siragusa, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 10.7.2014, C-198/13 – Hernandez, Rn. 34. 6 EuGH, Urt. v. 6.3.2014, C-206/13 – Siragusa, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 10.7.2014, C-198/13 – Hernandez, Rn. 37. 7 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 51 GrCh, Rn. 20a mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-411/10 – N.S., Rn. 66 f. 8 Rahmenbeschluss 2009/315/JI des Rates vom 26. Februar 2009 über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. 2009, L 93/23, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009F0315&from=DE. 9 Beschluss 2009/361/JI vom 6. April 2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) gemäß Artikel 11 des Rahmenbeschlusses 2009/315/JI, ABl. 2009, L 93/33, abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:093:0033:0048:DE:PDF. 10 Beschluss 2005/671/JI des Rates vom 20. September 2005 über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit betreffend terroristische Straftaten, ABl. 2005, L 253/22, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02005D0671-20170420&from=DE. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 6 Die unionsrechtlichen Regelungen zum Informationsaustausch zwischen Strafregistern enthalten keine Vorgaben für nationale Strafregister für terroristische Straftaten und können in Bezug auf FIJAIT mithin keine Anwendbarkeit der GrCh begründen.11 3.3. Unionsrechtliche Vorgaben zum Datenschutz Da Strafregister datenschutzrechtliche Fragen aufwerfen, ist zu prüfen, ob es auf Unionsebene diesbezügliche Vorgaben gibt, welche für die Einrichtung eines nationalen Strafregisters spezifisch sind bzw. diese beeinflussen können. Die EU hat Regelungen zum Datenschutz erlassen. Die Richtlinie 95/46/EG12 und der Rahmenbeschluss 2008/977/JI13 legen die wesentlichen Anforderungen der Datenverarbeitung fest. Sie werden mit Wirkung vom 25. Mai 2018 bzw. 6. Mai 2018 durch die Datenschutz-Grundverordnung14 und die Richtlinie (EU) 2016/68015 aufgehoben und ersetzt. 3.3.1. Richtlinie 95/46/EG Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46/EG nimmt die Datenverarbeitung betreffend die öffentliche Sicherheit , die Sicherheit des Staates und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich von ihrem Anwendungsbereich aus. Die Richtlinie 95/46/EG findet daher auf FIJAIT keine Anwendung , denn die Einrichtung von FIJAIT dient dem Ziel die Gefahr von Wiederholungstaten 11 So auch das BVerfG zum deutschen Antiterrordateigesetz: BVerfGE 133, 277 (315) („[…] ist die Einrichtung und Ausgestaltung der Antiterrordatei nicht durch Unionsrecht determiniert. Insbesondere gibt es keine unionsrechtliche Bestimmung, die die Bundesrepublik Deutschland zur Einrichtung einer solchen Datei verpflichtet, sie daran hindert oder ihr diesbezüglich inhaltliche Vorgaben macht. Das Antiterrordateigesetz verfolgt vielmehr innerstaatlich bestimmte Ziele, die das Funktionieren unionsrechtlich geordneter Rechtsbeziehungen nur mittelbar beeinflussen können, was für eine Prüfung am Maßstab unionsrechtlicher Grundrechtsverbürgungen nicht genügt“). 12 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl 1995, L 281/31, konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:01995L0046-20031120&from=EN. 13 Rahmenbeschluss 2008/977/JI des Rates vom 27. November 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden, ABl. 2008, L 350/60, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2008:350:0060:0071:de:PDF. 14 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. 2016, L 119/1, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016R0679&from=DE. 15 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016, L 119/89, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016L0680&from=DE. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 7 zu begrenzen und die Fahndung nach Straftätern im Zusammenhang mit Terrorismus zu erleichtern . Sie betrifft damit die öffentliche Sicherheit wie auch den Bereich des Strafrechts.16 Da die Richtlinie 95/46/EG auf FIJAIT keine Anwendung findet, kann sie diesbezüglich auch keine Anwendung der GrCh begründen. 3.3.2. Rahmenbeschluss 2008/977/JI Der Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI beschränkt sich ausweislich seines Erwägungsgrunds 7 auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, die zwischen Mitgliedstaaten weitergegeben oder bereitgestellt werden. Somit enthält auch der Rahmenbeschluss keine Vorgaben , die im Rahmen von FIJAIT zu beachten wären und damit eine Anwendbarkeit der GrCh begründen könnten. 3.3.3. Richtlinie (EU) 2016/680 Die Datenschutz-Grundverordnung findet auf die Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung gemäß ihrem Erwägungsgrund 19 ebenfalls keine Anwendung. Der freie Verkehr dieser Daten ist aber in der Richtlinie (EU) 2016/680 geregelt, die bis zum 6. Mai 2018 von den Mitgliedstaaten umzusetzen ist. Die Richtlinie (EU) 2016/680 enthält Vorgaben zur Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung . Sie ist im Gegensatz zum Rahmenbeschluss 2008/977/JI nicht auf Datenverarbeitungen zwischen den Mitgliedstaaten beschränkt.17 Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 3 findet die Richtlinie jedoch keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, die im Rahmen einer nicht unter das Unionsrecht fallenden Tätigkeit erfolgt. Tätigkeiten von Agenturen oder Stellen , die mit Fragen der nationalen Sicherheit befasst sind, und Tätigkeiten, welche die nationale Sicherheit betreffen, werden gemäß Erwägungsgrund 14 der Richtlinie nicht als Tätigkeiten betrachtet , die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Es ist fraglich, ob FIJAIT die nationale Sicherheit betrifft und deswegen nicht den Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/680 unterliegt . Der Begriff der nationalen Sicherheit ist im Unionsrecht enger als jener der öffentlichen Sicherheit und betrifft die Sicherheit des Staates selbst.18 Die Verhinderung terroristischer Straftaten könnte in den speziellen Bereich der nationalen Sicherheit fallen, sodass FIJAIT nicht von den Vorgaben der Richtlinie erfasst wird. 16 So zum Antiterrordateigesetz auch: BVerfGE 133, 277 (315). 17 Weinhold/Johannes, Europäischer Datenschutz in Strafverfolgung und Gefahrenabwehr, DVBl. 2016, S. 1501. 18 Obwexer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 45; von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, 51. EL, Stand: September 2013, Art. 4 EUV, Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 8 Die Richtlinie (EU) 2016/680 ist – soweit ersichtlich – in Frankreich noch nicht umgesetzt worden .19 Es ist daher zu prüfen, ob eine Richtlinie, die bereits in Kraft getreten, aber noch nicht vom Mitgliedstaat in nationales Recht umgesetzt worden ist, vor Ablauf der Umsetzungsfrist überhaupt eine Bindung des Mitgliedstaates nach Art. 51 GrCh an die Grundrechtecharta begründen kann. Soweit ersichtlich, gibt es diesbezüglich noch keine Urteile des EuGH. Der EuGH hat jedoch entschieden, dass eine Richtlinie vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist keinen gemeinschaftsrechtlichen Bezug begründen kann, der eine Anwendung von europäischen Grundsätzen, wie dem Verbot der Altersdiskriminierung, begründen kann.20 Auch die Richtlinie (EU) 2016/680 kann vor ihrer Umsetzung keine Durchführung von Unionsrecht im Sinne des Art. 51 GrCh begründen . 3.3.4. Konsequenz der datenschutzrechtlichen Vorgaben Wenn das europäische Sekundärrecht Vorgaben zum Datenschutz enthielte, die im Rahmen des Strafregisters FIJAIT zu beachten wären, wäre dennoch fraglich, ob derartige Datenschutzvorgaben auf Unionsebene für die Einrichtung eines nationalen Strafregisters wie FIJAIT im Sinne der EuGH-Rechtsprechung spezifisch sind bzw. diese beeinflussen und damit eine Anwendbarkeit der Grundrechtecharta gemäß Art. 51 GrCh begründen könnten. In der Rechtssache Akerberg Fransson hat der EuGH eine Durchführung von Unionsrecht allein aufgrund der Tatsache angenommen, dass „durch […] Anwendung [der nationalen Rechtsvorschriften ] ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll.“ Die Tatsache , dass „die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden“ vermochten dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen.21 Diesem Urteil zufolge würde es für eine Anwendung der GrCh genügen, dass es einen Anknüpfungspunkt bzw. Zusammenhang zwischen dem nationalen Recht und Unionsrecht gibt.22 Dieser könnte in Bezug auf FIJAIT in den datenschutzrechtlichen Vorgaben auf Unionsebene liegen. Allerdings hat der EuGH in der jüngeren Rechtsprechung betont, dass zwischen der nationalen Regelung und dem Unionsrecht ein hinreichender Zusammenhang bestehen muss, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann.23 Das europäische Datenschutzrecht könnte zwar zukünftig die datenschutzrechtlichen Aspekte nationaler Strafregister beeinflussen, die Einrichtung eines Strafregisters dient aber nicht der Durchführung von Datenschutzvorschriften der EU. Datenschutzvorgaben sind nicht spezifisch für den Bereich der Strafregister. Die Zielrichtungen der Regelungen unterscheiden sich, denn 19 https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000033380305&dateTexte=&fastReq Id=1498203278&fastPos=1&oldAction=rechExpTransposition. 20 EuGH, Urt. v. 23.9.2008, C‑427/06 – Bartsch, Rn. 25. 21 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-617/10 – Åkerberg Fransson, Rn. 28. 22 Zu diesem Ergebnis kommt Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 51 GrCh, Rn. 30b. 23 EuGH, Urt. v. 6.3.2014, C-206/13 – Siragusa, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 10.7.2014, C-198/13 – Hernandez, Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 9 die europäischen Datenschutzregelungen dienen dem Datenschutz, FIJAIT der Terrorismusbekämpfung . Aufgrund der datenschutzrechtlichen Komponente von Strafregistern kann ein hinreichender Zusammenhang jedoch, insbesondere auch im Hinblick auf das Urteil in der Rechtssache Akerberg Fransson, nicht abschließend verneint werden. Die Rechtsprechung des EuGH erlaubt insoweit keine abschließende Wertung. 3.4. Zwischenergebnis Die sekundärrechtlichen Regelungen zum Informationsaustausch zwischen Strafregistern enthalten keine Vorgaben für die Einrichtung eines nationalen Strafregisters wie FIJAIT, und die Vorgaben zum Datenschutz auf Unionsebene finden auf FIJAIT momentan keine Anwendung, sodass die Grundrechtecharta auf FIJAIT nicht anwendbar ist. 4. Vereinbarkeit mit Art. 50 der Grundrechtecharta Dennoch soll im Folgenden kurz untersucht werden, ob eine Speicherung von Daten in FIJAIT in Kombination mit der vorangehenden Verurteilung wegen einer terroristischen Straftat gegen das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 50 GrCh verstößt. In den Erläuterungen zur Grundrechtecharta24 wird in Bezug auf Art. 50 GrCh darauf hingewiesen , dass die Regel des Verbots der Doppelbestrafung sich auf gleichartige Sanktionen, in diesem Fall durch ein Strafgericht verhängte Strafen, bezieht. Es gibt mehrere Entscheidungen des EuGH zu der Frage, ob eine bestimmte Sanktion eine gleichartige Sanktion i.S.d. Art. 50 GrCh darstellt. Ob eine Sanktion einen strafrechtlichen Charakter hat, hängt im Fall von Sanktionen im Agrarbereich laut EuGH von der Art der vorgeworfenen Verstöße und dem Ziel der verhängten Sanktion ab.25 In der Rechtssache Bonda führte der EuGH aus, „dass die verwaltungsrechtlichen Sanktionen zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik Bestandteil der Beihilferegelungen sind, einen eigenen Zweck haben und unabhängig von etwaigen strafrechtlichen Sanktionen angewandt werden können, wenn und soweit sie diesen nicht gleichgestellt werden können.“26 Er kam zu dem Ergebnis, dass kein strafrechtlicher Charakter vorläge. Die strafrechtliche Natur von Steuerzuschlägen hängt nach Ansicht des EuGH von der rechtlichen Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, der Art der Zuwiderhandlung und der Art und dem Schweregrad der angedrohten Sanktion ab.27 24 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, Abl. 2007, C 303/17, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUri- Serv/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:de:PDF. 25 Schlussanträge der GAin Kokott v. 15.12.2011, C-489/10 – Bonda, Rn. 32 ff. unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 11.7.2002, C-210/00 – Käserei Champignon Hofmeister, Rn. 36 ff. und EuGH, Urt. v. 27.10.1992, C-240/90 – Deutschland/Kommission, Rn. 25 ff. 26 EuGH, Urt. v. 5.6.2012, C‑489/10 – Bonda, Rn. 35. 27 EuGH. Urt. v. 26.2.2013, C‑617/10 – Åkerberg Fransson, Rn. 35. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 10 Zum strafrechtlichen Charakter einer Registrierung in einem Strafregister hat sich der EuGH bisher nicht geäußert. Nach Ansicht von Jarass werden primär restitutive oder primär präventive Maßnahmen bzw. Vollstreckungsmaßnahmen nicht vom Doppelbestrafungsverbot der Grundrechtecharta erfasst.28 Für diese Annahme spricht auch die bisherige Rechtsprechung des EuGH, in der auf den Schweregrad bzw. das Ziel der jeweiligen Sanktion abgehoben wird. Ziel der Registrierung in FIJAIT ist nicht die repressive Sanktionierung eines Verbrechens, sondern die präventive Verhinderung weiterer Straftaten. FIJAIT soll den mit der Terrorismusbekämpfung befassten Stellen ein Instrument an die Hand geben, mit dem der Gefahr von Wiederholungstaten entgegengetreten und die Fahndung nach Straftätern im Zusammenhang mit Terrorismus erleichtert werden kann. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die Rechtsprechung des EGMR zu der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) prägt nach Art. 52 Abs. 3 GrCh die Auslegung der entsprechenden Rechte aus der GrCh.29 In der Rechtssache Gardel entschied der EGMR über den Strafcharakter einer Registrierung im französischen automatisierten Strafregister für Sexualstraftäter (FIJAIS – Fichier judiciaire national automatisé des auteurs d’infractions sexuelles).30 Personen, die im FIJAIS registriert sind, sind verpflichtet, alle sechs bzw. zwölf Monate ihre Anschrift nachzuweisen und Adressänderungen innerhalb von höchstens 15 Tagen mitzuteilen. Auf eine Klage, diese Regelung verstoße im Hinblick auf die Registrierung von Sexualstraftätern, die bereits vor der gesetzlichen Einführung von FIJAIS strafrechtlich verurteilt worden waren, gegen das Rückwirkungsverbot , führte der EGMR aus, es handele sich bei der Registrierung und den damit verbundenen Auflagen nicht um eine Strafe i.S.d. Rückwirkungsverbots. Der EGMR benutzte dabei ähnliche Bewertungskriterien wie der EuGH in der Rechtssache Bonda und betonte insbesondere die Tatsache, dass das Ziel des Strafregisters die Verhinderung von Wiederholungstaten sei.31 Die Sachlagen von FIJAIS und FIJAIT ähneln sich, sodass die Wertung, wonach eine Registrierung in einem speziellen Strafregister verbunden mit Meldeauflagen keine Strafe darstellt, vorliegend von Interesse ist. Allerdings ist zu bedenken, dass das betroffene Grundrecht in der Rechtssache 28 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 50 GrCh, Rn. 8. 29 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 52 GrCh, Rn. 56. 30 EGMR, Urt. v. 17.3.2010, 16428/06 – Gardel. 31 EGMR, Urt. v. 17.3.2010, 16428/06 – Gardel, Rn. 41 ff. („In the present case the Court notes first of all that the applicant’s placement on the Sex Offenders Register was indeed the result of his conviction on 30 October 2003, since placement on the register is automatic in the case of persons who, like the applicant, have been sentenced to a prison term of over five years for a sexual offence. […] the Court considers that the main aim of that obligation was to prevent reoffending. In that regard, it considers that the fact that a convicted offender’s address is known to the police or gendarmerie and the judicial authorities by virtue of his or her inclusion in the Sex Offenders Register constitutes a deterrent and facilitates police investigations. The obligation arising out of placement on the register therefore has a preventive and deterrent purpose and cannot be considered to be punitive in nature or as constituting a sanction. […] Lastly, as regards the severity of the measure, the Court reiterates that this is not decisive in itself […]. It considers, in any event, that the obligation to provide proof of address every six months and to declare any change of address within fifteen days at the latest, albeit for a period of thirty years, is not sufficiently severe to amount to a “penalty”. In the light of all these considerations, the Court is of the view that placement on the Sex Offenders Register and the obligations arising out of it do not amount to a “penalty” within the meaning of Article 7 § 1 of the Convention and should be considered as a preventive measure […].”). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/17 Seite 11 Gardel (das Rückwirkungsverbot aus Art. 7 EMRK) ein anderes Recht ist als das vorliegend zu prüfende Doppelbestrafungsverbot, welches in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK enthalten ist. Das Urteil des EGMR ist für den EuGH insofern höchstens mittelbar von Bedeutung. Im Ergebnis sprechen gute Gründe für die Annahme, dass der Eintrag in ein Strafregister wie FI- JAIT und die damit verbundenen Auflagen keine durch ein Strafgericht verhängte Strafe i.S.d. Art. 50 GrCh darstellen und somit nicht gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen. – Fachbereich Europa –