© 2016 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 25/16 Die geplanten Änderungen der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Lichte des Unionsprimärrechts Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 2 Die geplanten Änderungen der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Lichte des Unionsprimärrechts Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 25/16 Abschluss der Arbeit: 7. April 2016 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Regelungshintergrund 4 2.1. Rechtslage nach geltendem Recht 5 2.1.1. Zur Verordnung Nr. 883/2004 und ihrem Regelungsansatz 5 2.1.2. Art. 67 ff. Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung von Familienleistungen 7 2.2. Die beabsichtige Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 8 2.2.1. Vorgaben im Beschluss der Staats- und Regierungschefs sowie nach der Erklärung der Kommission 8 2.2.2. Zu den möglichen Lesarten des Vorschlags 9 2.2.3. Vergleich mit derzeitiger Rechtlage 10 2.3. Exkurs: Frühere Regelungen zu Familienleistungen 10 2.3.1. Verordnung Nr. 3 11 2.3.2. Verordnung Nr. 1408/71 12 2.4. Fazit 13 3. Vereinbarkeit der beabsichtigten Änderung mit dem primären Unionsrecht 14 3.1. Legislativer Ausgestaltungsspielraum? 15 3.2. Zur Vereinbarkeit mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit 17 3.2.1. Versteckte Diskriminierung 17 3.2.2. Offene Diskriminierung 21 3.2.3. Mitgliedstaatliche Wahrnehmung der Regelungsoption und Beachtung des Diskriminierungsverbots 22 3.2.4. Zwischenergebnis 23 3.3. Zur Vereinbarkeit mit dem Verbot, sekundärrechtlich neue Unterschiede einzuführen 23 3.4. Zur Vereinbarkeit mit dem (primärrechtlichen) Exportprinzip 24 4. Rechtsschutzmöglichkeiten 26 4.1. Rechtsschutz auf nationaler Ebene 26 4.2. Direktklage vor den europäischen Gerichten 27 5. Zusammenfassung 28 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung Im Rahmen der Debatte um einen eventuellen Austritt des Vereinten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) haben sich die Staats- und Regierungschefs anlässlich des Europäischen Rates vom 18. und 19. Februar 2016 unter anderem darauf verständigt, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1 (im Folgenden: VO 883/2004) vorlegt. Danach soll bei der Ausfuhr von Leistungen für Kinder in einen anderen als den Mitgliedstaat, in dem der Arbeitnehmer wohnt, die Höhe dieser Leistungen an die Bedingungen des Mitgliedstaates, in dem das Kind wohnt, gekoppelt werden können.2 Der Fachbereich wird vor diesem Hintergrund um eine Ausarbeitung zu den zwei folgenden Fragen ersucht: ist das Änderungsvorhaben mit dem primären Unionsrecht zu vereinbaren und welche Rechtsschutzmöglichkeiten würden den Betroffenen bei Umsetzung des Änderungsvorhabens zustehen. Zur Beantwortung dieser Fragen werden zunächst die geltenden, geplanten und früheren Regelungen der EU zur Koordinierung dieser (Sozial-)Leistungen dargestellt (siehe unter 2.). Im Anschluss hieran erfolgt eine Untersuchung der beabsichtigen Änderungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Primärrecht (siehe unter 3.) und eine Darstellung der Rechtsschutzmöglichkeiten (siehe unter 4.). Die Ausarbeitung schließt mit einer Zusammenfassung (siehe unter 5.). Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die geplanten Änderungen der VO 883/2004 bisher sowohl durch die Staats- und Regierungschefs als auch durch die Kommission, die u.a. hierzu eine Erklärung abgegeben hat, nur in den wesentlichen Grundzügen vorgezeichnet sind. Nur insoweit können sie im Folgenden einer rechtlichen Bewertung unterzogen werden. Eine weitere Ausformulierung des Rechtssetzungsauftrags obliegt der Kommission und steht zudem unter dem Vorbehalt , dass das Referendum über den Verbleib des Vereinten Königreichs in der EU einen positiven Ausgang nimmt.3 2. Regelungshintergrund Um die geplanten Änderungen der VO 883/2004 einordnen zu können, wird zunächst kurz die geltende Rechtslage dargestellt (siehe unter 2.1.). Anschließend werden die Änderungen (siehe 1 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2004 Nr. L 166/1 (letzte konsolidierte Fassung online abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2004R0883:20130701:DE:PDF – letztmaliger Abruf am 07.04.16). 2 Siehe dazu den Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs über eine neue Regelung für das Vereinte Königreich innerhalb der Europäischen Union, Abschnitt D, 2. a), als Anlage I den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18./19. Februar 2016 beigefügt, S. 22 des Dokuments, sowie die darauf bezogene Erklärung der Kommission, die den Schlussfolgerungen als Anhang V, S. 33 des Dokuments , beigefügt ist, online abrufbar unter http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-1-2016- INIT/de/pdf (letztmaliger Abruf am 07.04.16). 3 Vgl. Schlussfolgerungen (o. Fn. 2), S. 1 des Dokuments (I. 4.). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 5 unter 2.2.) sowie – zum Vergleich – frühere Ausgestaltungen dieses Regelungsbereichs betrachtet (siehe unter 2.3.). 2.1. Rechtslage nach geltendem Recht Die von dem Änderungsvorhaben erfassten Leistungen für Kinder unterfallen in der Regel der Kategorie der Familienleistungen im Sinne der VO 883/2004. Das sind nach der Legaldefinition in Art. 1 Buchst. z) VO 883/2004 alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, soweit es sich nicht um Unterhaltsvorschüsse und besondere Geburts- und Adoptionshilfen nach Anhang I der VO 883/2004 handelt. Nach deutschem Recht zählt zu den Familienleistungen u. a. das Kindergeld.4 Im Folgenden werden erst die Grundzüge der VO 883/2004 dargestellt (siehe unter 2.1.1.), bevor im Anschluss die Vorschriften zur Koordinierung der Familienleistungen beschrieben werden (siehe unter 2.1.2.). 2.1.1. Zur Verordnung Nr. 883/2004 und ihrem Regelungsansatz Die VO 883/2004 ist der geltende Rechtsakt, mit dem die EU im Sinne des Art. 48 Abs. 1 AEUV die Herstellung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Selbständige auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gewährleistet.5 Im Rahmen des Rechtssetzungsauftrags des Art. 48 Abs. 1 AEUV ist das Regelungsanliegen der Verordnung nicht eine inhaltliche Angleichung oder gar Vereinheitlichung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, sondern allein deren Koordinierung.6 Obgleich 2004 erlassen, ist die VO 883/2004 erst seit Inkrafttreten der einschlägigen Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/20097 (im Folgenden: DVO 987/2009) zum 1. Mai 2010 anwendbar . Bis zu diesem Zeitpunkt galt die im Jahr 1971 erlassene Koordinierungsverordnung 1408/71 4 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.10.2010, Rs. C-16/09 (Schwemmer), Rn. 33; siehe auch BFH, Urt. v. 13.08.2002, VIII R 70/99, Leitsatz 1. Aus dem Schrifttum Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern (Hrsg.), VO (EG) Nr. 883/2004, 2012, Art. 1, Rn. 74; Schulte, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung (Teil II), ZESAR 2010, 202, 215. 5 Die Erweiterung der vormals in Art. 42 EG/Nizza enthaltenen Rechtssetzungskompetenz von Arbeitnehmern um Selbständige erfolgte erst durch den Vertrag von Lissabon, vgl. hierzu Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 57. EL, 2015, Art. 48 AEUV, Rn. 1 (wenngleich dort noch auf die Vorgängerregelung der VO 883/2004, die VO 1408/71, abgestellt wird). 6 EuGH, Rs. C-140/12 (Brey), noch nicht in amtl. Slg., Rn. 43. Allgemein zu dem im EU-Recht nicht näher definierten Begriff der Koordinierung, insbesondere in Abgrenzung zur sog. Harmonisierung, vgl. etwa Schulte, in: Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch (Fn. 16), § 33, Rn. 31; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO 883/2004 (Fn. 4), Einleitung, Rn. 2. 7 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl.EU 2009 Nr. L 284/1 (letzte konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02009R0987-20140101&qid=1457011116360&from=DE – letztmaliger Abruf am 07.04.16). Siehe zur Entstehungsgeschichte Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Einf., Rn. 38. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 6 (vgl. Art. 90 Abs. 1 VO 883/2004) 8. Entsprechend liegen bisher nur wenige Urteile des EuGH zu den Bestimmungen der VO 883/2004 vor. Das Gros der Entscheidungen ist zur Vorgängerregelung und deren Auslegung ergangen. Da beide Rechtsakte das gleiche Regelungsanliegen kennzeichnet und beide zum Teil auch gleichlautende Bestimmungen enthalten, lassen sich Urteilsaussagen sowie einschlägiges Schrifttum zum alten Recht auf den neuen Rechtsakt weitgehend übertragen. Ihr Koordinierungsanliegen erreicht die VO 883/2004 (wie auch die bis dahin geltende VO 1408/71) vor allem durch die Bestimmung des jeweils anwendbaren mitgliedstaatlichen (Sozial-) Rechts (vgl. Art. 11 ff. VO 883/2004). Hierdurch sollen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zum einen die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten vermieden werden; zum anderen soll verhindert werden, dass Personen der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil gar keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind.9 Allgemeiner formuliert geht es nach dem Rechtssetzungsauftrag in Art. 48 AEUV darum, die Nachteile, die sich aus der Wahrnehmung der wirtschaftsbezogenen Personenfreiheiten für die soziale Absicherung ergeben, zu beseitigen.10 Vorbehaltlich von Sonderregelungen bestimmen die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) bis e) VO 883/2004 enthaltenen Kollisionsnormen11, welches mitgliedstaatliche (Sozial-)Recht zur Anwendung gelangt: Danach unterliegen Arbeitnehmer und Selbständige grundsätzlich dem Recht des Mitgliedstaates, in dem sie erwerbstätig sind (Buchst. a), wirtschaftlich nicht aktive Personen dagegen überwiegend den Vorschriften des Wohnmitgliedstaates (vgl. Buchst. c und e).12 Weitere Koordinierungsinstrumente der Verordnung sind das hier relevante sog. Exportprinzip13, wonach die Leistungsgewährung nicht dadurch beeinträchtigt werden darf, dass die anspruchsberechtigte Person in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnt (vgl. allgemein Art. 7 VO 883/2004, dazu unten mehr), der Grundsatz der Sicherstellung von Anwartschaften 8 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl.EG 1971 Nr. L 149/2 (letzte konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=CONSLEG:1971R1408:20080707:DE:PDF – letztmalig am 25.03.14). Grund für das Hinausschieben der Anwendung der VO 883/2004 war, dass die Aufhebung der VO 1408/71 nicht an deren Erlass, sondern an den Zeitpunkt ihres Anwendungsbeginns geknüpft war, der wiederrum nach Art. 91 Abs. 2 VO 883/2004 an den von dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung zur VO 883/2004 abhing. 9 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.09.2013, Rs. C-140/12 (Brey), Rn. 40, mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 10 Vgl. in Bezug auf die Zusammenschau der Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie Niederlassungsfreiheit EuGH, Urt. v. 19.03.2002, verb. Rs. C-393/99 und C-394/99 (Hervein u. a.), Rn. 44 ff., insb. Rn. 47. 11 Zum Begriff siehe Schulte, in: Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl. 2012, § 33, Rn. 75. 12 Zu beiden Grundregeln finden sich in den Art. 12 ff. VO 883/2004 Ausnahmen für besondere Fallkonstellationen . 13 Siehe dazu Langer, in: Fuchs (o. Fn. 7), Art. 48 AEUV, Rn. 20. Zu dem primärrechtlich vorgegebenen Exportprinzip nach Art. 48 AEUV, siehe unten unter 3.4., S. 22 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 7 (vgl. Art. 6 VO 883/2004) sowie das auf den Anwendungsbereich der Verordnung bezogene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 4 VO 883/2004). 2.1.2. Art. 67 ff. Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung von Familienleistungen Die Koordinierungsbestimmungen für Familienleistungen finden sich in den Art. 67 ff. VO 883/2004. Flankiert werden sie von den hier nicht weiter relevanten Art. 58-61 DVO 987/2009. Nach der Grundregel des Art. 67 S. 1 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedsstaat wohnen würden. Soweit Mitgliedstaaten Leistungen für Kinder vorsehen, dürfen sie danach deren Auszahlung und Höhe nicht von dem Wohnsitz der Kinder abhängig machen.14 Ergänzt wird Art. 67 S. 1 VO 883/2004 durch die Anti-Kumulierungsvorschrift15 des Art. 68 VO 883/2004 zur Vermeidung von Doppelleistungen (vgl. Erwägungsgrund Nr. 35 der VO 883/2004).16 Notwendig ist eine entsprechende Bestimmung insbesondere deshalb, weil Mitgliedstaaten Leistungen für Kinder nach dem nationalen Recht zum Teil bereits aufgrund des Wohnsitzes gewähren. Ein Zusammentreffen von Ansprüchen gegenüber unterschiedlicher Mitgliedstaaten kann zudem dann entstehen, wenn der andere Elternteil im Wohnmitgliedstaat der Kinder erwerbstätig ist und hierüber Ansprüche vermittelt werden. Um eine mehrfache Zahlung der gleichen Leistungen zu vermeiden, bestimmt Art. 68 VO 883/2004 in zwei Schritten den für die Leistungsgewährung vorrangig zuständigen Mitgliedstaat : Im ersten Schritt wird danach differenziert, ob die Leistungen von den Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen (versicherungs- bzw. statusrechtlichen) Gründen [Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) VO 883/2004] oder aus den gleichen Gründen gewährt werden [Buchst. b)]. Im ersten Fall haben die Ansprüche, die nach dem nationalen Recht durch eine abhängige oder selbstständige Beschäftigung gewährt werden, Vorrang. An zweiter und dritter Stelle stehen Ansprüche die durch Rente oder den Wohnort ausgelöst werden. Der zweite Schritt betrifft das Zusammentreffen von Familienleistungen, die aus den gleichen Gründen gewährt werden. Für diesen Fall ordnet Art. 68 Abs. 1 Buchst. b) VO 883/2004 folgende Rangfolge an. Unter gleichrangigen Ansprüchen ist jeweils grundsätzlich der Wohnort der Kinder 14 Vgl. zur Vorgängerbestimmung in Art. 73 VO 1408/71 EuGH, Urt. v. 05.10.1995, Rs. C-321/93 (Imbernon Martínez), Rn. 21; EuGH, Urt. v. 10.10.1996, verb. Rs. C-245/94 u. C-312/94 (Hoever und Zachow), Rn. 34. Siehe auch Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO 883/2004 (Fn. 4), Art. 67 VO 883/2004, Rn. 1. Verwiesen wird insoweit auch auf das Gutachten des Fachbereichs vom 25.03.2014 (PE 6 - 3000 – 08/14) zum Thema Kürzung des Kindergeldes und EU-Recht, in dem ein vergleichbarer Vorschlag allein auf Grundlage des nationalen Rechts auf seine Vereinbarkeit mit EU-Recht untersucht wurde. 15 So Becker, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 3. Auflage 2012 (im Folgenden: Becker, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo), Art. 48 AEUV, Rn. 56. 16 Siehe zu diesem Anliegen im Kontext des Rechtssetzungsauftrags aus Art. 48 AEUV, Eichenhofer, in: Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Online-Ausgabe (im Folgenden: Hauck/Noftz), Stand: 07/15, Einführung, Rn. 161. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 8 ausschlaggebend, Art. 68 Abs. 1 lit. b) VO 883/2004. Das gilt bei der Leistung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nur, wenn an dem Wohnort der Kinder eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, andernfalls ist der Mitgliedsstaat mit der höchsten Leistung prioritär [Ziff. i)]. Auch bei Ansprüchen aufgrund des Rentenbezugs ist der Wohnort der Kinder nur ausschlaggebend, wenn nach dem Recht dieses Mitgliedsstaats auch die Rente geschuldet wird, sonst ist der Anspruch aus dem Mitgliedsstaat vorrangig, in dem die längsten Versicherungs- oder Wohnzeiten zurückgelegt worden sind [Ziff. ii)]. Nach dem Prinzip der Anti-Kumulierung ist der vorrangige Anspruch zu gewähren, Art. 68 Abs. 2 S. 1 VO 883/2004. Der nachrangige Anspruch wird hingegen ausgesetzt, Art. 68 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 VO 883/2004. Ist er jedoch höher als der vorrangige Beitrag, hat der nachrangige Mitgliedstaat den Unterschiedsbeitrag zu zahlen (Hs. 2). Dies gilt allerdings nicht für in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Kinder, wenn der Leistungsanspruch in dem nachrangigen Mitgliedstaat ausschließlich durch den Wohnsitz ausgelöst wird (S. 3).17 Für die durch das Änderungsvorhaben in Bezug genommene Konstellation des Auseinanderfallens von Beschäftigungsstaat des Arbeitnehmers und Wohnsitzstaat seiner Kinder folgt aus diesen Vorgaben ein grundsätzlicher Vorrang der Ansprüche nach dem Recht des Beschäftigungsstaates .18 Zu deren Nachrang kommt es nur, wenn der andere Elternteil einer Beschäftigung im Wohnsitzstaat der Kinder nachgeht und hierüber Ansprüche nach dem Recht dieses Mitgliedstaates begründet werden. Übersteigt der Leistungsanspruch nach dem Recht des nachrangigen Beschäftigungsstaates allerdings den des Wohnsitzstaates der Kinder, so muss der erstgenannte Mitgliedstaat den Unterschiedsbetrag zahlen. 2.2. Die beabsichtige Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 Im Hinblick auf die beabsichtigte Änderung der VO 883/2004 soll im Folgenden zunächst der konkrete Vorschlag (siehe unter 2.2.1.) und sodann mögliche Lesarten des Vorschlags betrachtet werden (siehe unter 2.2.2.). Anschließend ist zu erörtern, inwieweit die derzeitige Rechtslage von dem Vorschlag tangiert würde (siehe unter 2.2.3.). 2.2.1. Vorgaben im Beschluss der Staats- und Regierungschefs sowie nach der Erklärung der Kommission Nach den gleichlautenden Formulierungen im Beschluss der Staats- und Regierungschefs sowie in der Kommissionserklärung soll die VO 883/2004 dahingehend geändert werden, dass „die Mit- 17 Kritisch dazu Stahlberg, Neue Europäische Koordinierung sozialer Sicherheit - VO (EG) Nr. 883/2004, ASR 2010, 153-156. 18 Arbeiten beide Elternteile in jeweils anderen Mitgliedstaaten als dem Wohnsitzstaat der Kinder, so hat nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b) Ziff. I) VO 883/2004 der Beschäftigungsstaat mit der höchsten Leistung Vorrang. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 9 gliedstaaten im Hinblick auf die Ausfuhr von Leistungen für Kinder in einen anderen als den Mitgliedstaat , in dem der Arbeitnehmer wohnt, die Möglichkeit erhalten, die Höhe dieser Leistungen an die Bedingungen des Mitgliedstaats, in dem das Kind wohnt, zu koppeln“.19 Diese auch als Indexierung bezeichnete Vorgabe wird im Beschluss der Staats- und Regierungschefs um folgende Aspekte zum Anwendungsbereich und seiner Reichweite ergänzt: Sie soll „nur für neue Anträge gelten, die EU-Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat stellen. Ab dem 1. Januar 2020 können alle Mitgliedstaaten die Indexierung jedoch auch auf bestehende Ansprüche auf Leistungen für Kinder ausweiten, die bereits von EU-Arbeitnehmern exportiert wurden.“20 In der Kommissionserklärung findet sich eine Konkretisierung des Vorschlags in Bezug auf den Begriff der „Bedingungen“. Danach ist die Kommission der Auffassung, dass zu den Indexierungsbedingungen „auch der Lebensstandard und die Höhe der Leistungen für Kinder gehören, die in diesem Mitgliedstaat gelten.“21 2.2.2. Zu den möglichen Lesarten des Vorschlags An erster Stelle ist festzuhalten, dass die Indexierungsvorgabe nach den gleichlautenden Formulierungen im Beschluss und der Kommissionserklärung nur als entsprechende rechtliche Option in die VO 883/2004 eingefügt werden soll, über deren Nutzung die Mitgliedstaaten offenbar autonom entscheiden können. Das oben dargestellte, derzeit geltende (reguläre) System zur Koordinierung der Familienleistungen bliebe im Übrigen folglich unberührt. Nicht abschließend festgelegt wurde ferner, was unter den Bedingungen der Indexierung zu verstehen ist. Hierzu hat die Kommission in der Erklärung lediglich ihre Auffassung kundgetan und „auch“ auf den im Wohnmitgliedstaat der Kinder geltenden Lebensstandard sowie die Höhe der dort für Kinder gewährten Leistungen hingewiesen. Aus letzterem lässt sich schließen, dass das Zusammentreffen von Ansprüchen gegenüber verschiedenen Mitgliedstaaten sowie deren Höhe in der Optionsregelung Berücksichtigung finden würden. Offen bleibt auch – wenngleich im Ergebnis wenig wahrscheinlich –, ob die Indexierung auch dazu führen kann, dass die Leistungen über das Niveau des Beschäftigungsstaates hinaus erhöht werden müssen, wenn die Bedingungen im Wohnmitgliedstaat der Kinder dies gebieten. Eine weitere Unklarheit besteht schließlich hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs der Indexierungsoption. So wird im gleichlautenden Teil des Vorschlags der Begriff „Arbeitneh- 19 Beschluss der Staats- und Regierungschefs (o. Fn. 2), S. 22 des Dokuments; Erklärung der Kommission (o. Fn. 2), S. 33 des Dokuments. 20 Beschluss der Staats- und Regierungschefs (o. Fn. 2), S. 22 des Dokuments. Wohl der Klarstellung dient der letzte Satze des Beschlusses in diesem Punkt, wonach die Kommission nicht beabsichtigt, das „künftige System einer fakultativen Indexierung von Leistungen für Kinder auf andere Arten exportfähiger Leistungen wie Altersrenten “ auszudehnen. 21 Erklärung der Kommission (o. Fn. 2), S. 33 des Dokuments. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 10 mer“ verwendet, der mangels einer Differenzierung sowohl inländische als auch EU-ausländische Arbeitnehmer erfassen würde. Im Beschluss der Staats- und Regierungschefs ist hinsichtlich der personellen Reichweite sodann von „EU-Arbeitnehmern im Aufnahmemitgliedstaat“ die Rede, was darauf schließen lässt, dass die Option inländische Arbeitnehmer, deren Kinder in anderen Mitgliedstaaten wohnen, ausklammern würde, so dass nur EU-ausländische Arbeitnehmer von ihr betroffen wären. Die Vorgabe auf Unionsebene hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs der geplanten Indexierung ist folglich mehrdeutig. Nicht ausgeschlossen ist daher auch, dass die unionsrechtlich zu verwirklichende Option diese Frage offen lässt, so dass die mitgliedstaatliche Wahrnehmung dann auf zweiter Stufe (ebenfalls) einer gesonderten unionsrechtlichen Kontrolle unterliegen würde.22 2.2.3. Vergleich mit derzeitiger Rechtlage Vergleicht man das Indexierungsvorhaben mit der geltenden Rechtslage, so würde sie zu folgenden Änderungen führen (können): Hinsichtlich der Grundregel in Art. 67 S.1 VO 883/2004 bewirkt das Vorhaben eine Modifikation des Beschäftigungslandprinzips dahingehend, dass die Leistungshöhe in Abhängigkeit von den Bedingungen im (anderen) Wohnmitgliedstaat der Kinder reduziert wird. Es käme mithin zu einer Einschränkung des Leistungsexports ohne Änderung der bisherigen Koordinierungsregel (beispielsweise durch vollständiges Abstellen auf den Wohnmitgliedstaat der Kinder). In welcher Weise die Anti-Kumulierungsregel des Art. 68 VO 883/2004 betroffen wäre, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, da bei der Umsetzung des Rechtssetzungsauftrags durch die Kommission auch Anpassungen dieser nicht ausgeschlossen sind. Bliebe es bei der bisherigen Regelung, so hätte dies folgende Konsequenzen: Zu einer Einschränkung der zu gewährenden Leistung würde die Änderung im Fall des Zusammentreffens von Leistungen verschiedener Mitgliedstaaten führen, die aus den gleichen Gründen gewährt werden, wenn die Leistung nach dem Recht des Beschäftigungslandes des Arbeitnehmers Vorrang genießen würde. Denn auch sie würde – anders als jetzt vorgesehen – nur in Höhe der gebotenen Indexierung gezahlt. Wäre die Leistung des Beschäftigungslandes des Arbeitnehmers hingegen nachrangig, weil etwa der andere Elternteil im Wohnmitgliedstaat der Kinder erwerbstätig ist, würde wohl die Pflicht zur Zahlung eines eventuellen Unterschiedsbetrags entfallen (können), da die Indexierung sich – jedenfalls nach Kommissionauffassung – auch nach der Höhe der Leistungen im (vorrangig zuständigen ) Wohnmitgliedstaat richten würde. 2.3. Exkurs: Frühere Regelungen zu Familienleistungen Hilfreich für die Beurteilung des Änderungsvorhabens ist ein Blick in frühere Regelungen zur Koordinierung von Familienleistungen. Dies geschah erstmalig durch die Verordnung Nr. 3 über 22 Siehe dazu unten unter 3.2.3., S. 22. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 11 die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer aus dem Jahr 195823 (im Folgenden: VO Nr. 3; siehe unter 2.3.1.). Dieser Rechtsakt wurde anschließend durch die VO 1408/71 ersetzt (siehe unter 2.3.2.). 2.3.1. Verordnung Nr. 3 In der VO Nr. 3 regelten die Art. 40 ff. die Koordinierung von Familienleistungen. In sachlicher Hinsicht wurden hiervon allerdings nur sog. Familienbeihilfen umfasst. Hierbei handelte es sich nach der später in die VO 1408/71 aufgenommenen Legaldefinition um „regelmäßige Geldleistungen , die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden“.24 Keine Rolle spielte bei diesen Leistungen folglich der Aspekt des Ausgleichs von Familienlasten, der die Definition der Familienleistung im Sinne der VO 1408/17 und der VO 883/2004 prägt. Für den Fall des Auseinanderfallens von Beschäftigungsstaat und Wohnsitzstaat der Kinder sah Art. 40 Abs. 1 VO Nr. 3 vor, dass der Beschäftigte „für diese Kinder Anspruch auf Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften des [Beschäftigungsstaates hat], und zwar bis zu der Höhe der Beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften des [Wohnsitzstaates] gewährt werden.“25 Damit enthielt die ursprüngliche Koordinierungsregel ebenfalls eine gewisse, die Höhe der Leistung begrenzende Indexierung. Die alleinige Anknüpfung an die Höhe der im Wohnmitgliedstaat gezahlten Leistung erscheint dabei jedenfalls insoweit konsequent, als die von der VO Nr. 3 erfassten Familienbeihilfen der Definition nach nicht auf Ausgleich von Familienlasten zielten, sondern nur nach Maßgabe der Zahl und ggf. des Alters gewährt wurden. Entscheidungen des EuGH, in der die Rechtmäßigkeit dieser ursprünglichen Indexierungsregelung untersucht wurde, liegen – soweit ersichtlich – nicht vor. Auch lassen sich keine Literaturnachweise finden, aus denen folgt, dass ein solches Problem erörtert wurde. Hinweise auf die Zulässigkeit einer solchen Lösung lassen sich jedoch einem Urteil des Gerichtshofs entnehmen, welches die Nachfolgebestimmungen aus der VO 1408/71 zum Gegenstand hatte und sogleich dargestellt wird. 23 Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, ABl.EU 1958 Nr. 30/561 (ursprüngliche Fassung online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31958R0003&qid=1457343427609&from=DE – letztmaliger Abruf am 07.04.16). 24 Siehe dazu EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 18. 25 Hervorhebung durch Verfasser. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 12 2.3.2. Verordnung Nr. 1408/71 Die Regelungen für Familienleistungen in der VO 1408/71 ähnelten im Grundsatz denen der jetzt gelten VO 883/2004. Nach Art. 73 galt das Beschäftigungslandprinzip ohne Indexierungsvorbehalt ; für das Zusammentreffen von Ansprüchen verschiedener Mitgliedstaaten bestand in Art. 76 VO 1408/71 eine Anti-Kumulierungsvorschrift.26 In der ursprünglichen Fassung der VO 1408/71 war in Art. 73 Abs. 2 jedoch eine Sonderregelung für Frankreich getroffen worden, die später durch das eben erwähnte Urteil des EuGH in der Rechtssache Pinna für ungültig erklärt wurde.27 Nach dieser Sonderregelung galt für Arbeitnehmer , die in Frankreich beschäftigt waren, die Regelung, dass sich deren Ansprüche auf Familienbeihilfen für ihre außerhalb Frankreichs wohnenden Familienangehörigen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates richten. Nach dem damaligen Art. 75 Abs. 2 VO 1408/71 waren die Familienbeihilfen vom zuständigen Träger des Wohnmitgliedstaates zu zahlen, waren aber durch den (französischen) Beschäftigungsstaat zu erstatten. Anders als im Hinblick auf Art. 40 VO Nr. 3 lag dieser Regelung zwar keine Indexierung zugrunde, sondern vielmehr eine abweichende Koordinierung .28 Durch die Anknüpfung an die Leistung im Wohnmitgliedstaat führte sie aber zum gleichen Ergebnis, sofern dort Familienbeihilfen überhaupt gewährt wurden. Der in einem Vorabentscheidungsverfahren zu dieser Bestimmung angerufene EuGH erinnerte in seiner Urteilsbegründung zunächst an die Indexierungsregelung in Art. 40 VO Nr. 3 und stellte ihr anschließend die durch die VO 1408/71 geänderte Rechtslage gegenüber, bevor er sich der Gültigkeit der (neuen) Sonderreglung zuwandte.29 Dieses Vorgehen könnte dahingehend gedeutet werden, dass der EuGH auf eine in der Konstruktion zulässige Umsetzung des Ziels verweisen wollte, das von der verworfenen Sonderreglung verfolgt wurde, nämlich den Leistungsexport bei Familienleistungen der Höhe nach zu begrenzen. Da der Gerichtshof diese Bewertung allerdings nicht ausdrücklich zum Ausdruck gebracht hat, bleibt diese Deutung des Verweises auf Art. 40 VO Nr. 3 ungewiss. Die anschließende Ungültigkeitsfeststellung der französischen Sonderregelung stützte der EuGH sodann auf zwei Pfeiler: Zum einen stellt er unter Verweis auf das Koordinierungsanliegen der VO 1408/71 einerseits und die Unberührtheit der fortbestehenden sachlichen Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Sozialsystemen andererseits fest, dass der Unionsgesetzgeber auf Grundlage des heutigen Art. 48 AEUV „keine Unterschiede einführen darf, die zu denen hinzutreten , die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften 26 Vgl. hierzu Eichenhofer, Neue Koordination sozialer Sicherheit (VO (EG) Nrn. 883/2004, 987/2009), SGb 2010, 185, 191. 27 Siehe auch zu der damals vorgesehenen Vereinheitlichung Karpenstein, in: von der Groeben u. a., EWG-Kommentar , Band I, 3. Auflage 1983, Art. 51 EWGV, Rn. 27. 28 Die allerdings wieder durch den Umstand eingeschränkt wurde, dass die Wohnsitzstaatsleistungen der Höhe nach durch den Beschäftigungsstaat zu erstatten waren. 29 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 17 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 13 ergeben.“30 Da Art. 48 AEUV nur den Erlass koordinierender Maßnahmen erlaubt, kann sich dieses Verbot auch nur auf (zusätzliche) Unterschiede auf Ebene der Koordinierung beziehen. Zu solchen führe die für Frankreich bestehende Sonderregelung, da sie zusammen mit der Grundregel in Art. 73 Abs. 1 VO 1408/71 „zwei unterschiedliche Systeme [schafft], je nachdem, ob diese Arbeitnehmer den französischen oder den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates unterliegen . Auf diese Weise fügt [Art. 73 Abs. 1 und 2 VO 1408/71] den Unterschieden, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften selbst ergeben, einen weiteren hinzu und erschwert damit die Verwirklichung der in den Artikel [45 bis 48 AEUV] genannten Ziele.“31 Zum anderen sieht der EuGH in der Sonderregelung des Art. 73 Abs. 2 VO 1408/71 selbst eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Zwar gelte die Regelung auch für französische Arbeitnehmer.32 Das Problem der außerhalb Frankreichs ansässigen Familienangehörigen betreffe im Wesentlichen aber EU-ausländische Arbeitnehmer, daher sei das Kriterium des Wohnsitzes nicht geeignet, die durch den heutigen Art. 45 AEUV vorgeschriebene Gleichbehandlung zu gewährleisten und dürfe somit nicht im Rahmen der Koordinierung nach Art. 48 AEUV angewandt werden.33 Art. 73 Abs. 2 VO 1408/71 sei daher „insoweit ungültig, als er ausschließt , dass den Arbeitnehmern, die französischen Rechtsvorschriften unterliegen, für ihre im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnenden Familienangehörigen französische Familienleistungen gewährt werden.“34 Aspekte der Rechtfertigung erwähnt der Gerichtshof – anders als der Generalanwalt (GA) in seinen Schlussanträgen zu dieser Rechtssache35 – in diesem Zusammenhang nicht. Sie wurden von Seiten der am Rechtsstreit beteiligten Organe und Mitgliedstaaten allerdings auch nicht dezidiert vorgetragen. 2.4. Fazit Kern des Änderungsvorhabens ist die Indexierung von Familienleistungen für Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen als dem Beschäftigungsstaat wohnen. Die Höhe dieser Leistungen soll sich nach den „Bedingungen“ des Wohnmitgliedstaats richten, wobei die Kommission hierunter sowohl den dortigen Lebensstandard als auch die Höhe der dort gewährten Leistungen versteht . Dieses Vorhaben soll offenbar als mitgliedstaatliche Regelungsoption in der VO 883/2004 verankert werden, so dass die nach dieser Verordnung geltenden Koordinierungsvorgaben auf EU-Ebene im Übrigen unberührt bleiben sollen. Unklar ist die personelle Reichweite dieser Option . Nach den bisherigen Ausführungen zum Vorschlag ist offen, ob sie nur im Hinblick auf EUausländische Arbeitnehmer zur Anwendung gelangen soll oder unterschiedslos für alle und damit auch inländische Arbeitnehmer, deren familienangehörige Kinder in einem anderen als dem Beschäftigungsstaat leben. Dessen ungeachtet soll die Option zunächst nur für neue Anträge von 30 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 21. 31 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 22. 32 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 23-26. 33 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 24. 34 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 25. 35 Vgl. GA Mancini, Schlussanträge v. 21.05.1985 zu EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Nr. 7 (S. 12). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 14 Arbeitnehmer gelten und erst ab 2020 auf alle bestehenden Ansprüche ausgeweitet werden können . Der Blick auf frühere Regelungen zur Koordinierung von Familienleistungen macht deutlich, dass das Anliegen des Änderungsvorhabens, die Leistungshöhe im Fall des Exportes in einen anderen Mitgliedstaat kürzen zu können, nicht neu ist. Nach der ursprünglichen Regelung in der VO Nr. 3 war eine Begrenzung auf die Höhe der im Wohnmitgliedstaat gewährten Leistungen geltendes Recht, allerdings ohne vom EuGH verifiziert worden zu sein. Einer solchen Kontrolle wurde hingegen die ursprünglich für Frankreich geltende Sonderreglung in der VO 1408/71 unterworfen . Die dort in Abweichung von der Grundregel – Maßgeblichkeit des Beschäftigungsstaats ohne Indexierungsvorbehalt – verwandte Anknüpfung an den Wohnmitgliedstaat sah der EuGH als unzulässige versteckte Diskriminierung an. Wie vor diesem Hintergrund das Änderungsvorhaben zu beurteilen ist, wird im nachfolgenden Abschnitt erörtert. Dabei wird nur der materielle Inhalt einer Prüfung unterzogen. Der Frage, ob Änderungen des Sekundärrechts wie hier durch einen Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs sowie eine Erklärung der Kommission in formaler Hinsicht initiiert werden können, wird vorliegend nicht weiter nachgegangen. Es wird für die rechtliche Beurteilung vielmehr unterstellt, dass die entsprechenden Änderungen später in verfahrensrechtlich vorgeschriebener Weise umgesetzt werden, so dass für die weitere inhaltliche Prüfung von einem Handeln des Unionsgesetzgebers auszugehen ist. 3. Vereinbarkeit der beabsichtigten Änderung mit dem primären Unionsrecht Die Prüfung eventueller Verstöße des Unionsgesetzgebers gegen das ihn bindende Primärrecht ist (nicht nur) im Bereich des koordinierenden Sozialrechts im Vergleich zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Regelungen eher selten. Letztere werden zudem regelmäßig unmittelbar am Maßstab der VO 883/2004 geprüft, die ggf. im Lichte des Primärrechts ausgelegt wird.36 Entsprechend überschaubar sind der Rechtsprechungsbefund und die Literaturerörterungen zu Konstellationen, in denen die VO 883/2004 bzw. ihre Änderungen selbst den Prüfungsgegenstand bilden und damit zu den Grenzen, denen der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung des Rechtssetzungsauftrags aus Art. 48 AEUV unterliegt. Eines der wenigen Urteile, die zudem auch in inhaltlicher Hinsicht gewisse Parallelen aufweisen und daher vorliegend von Bedeutung sind, ist die oben erwähnte Entscheidung zu Art. 73 VO 1408/71 in der Rechtssache Pinna. Sie belegt zum einen, dass der Unionsgesetzgeber bei der Rechtssetzung nach Art. 48 AEUV jedenfalls an das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit gebunden ist, welches im Hinblick auf Arbeitnehmer Art. 45 AEUV zugrunde liegt (siehe unter 3.2.).37 Es handelt sich hierbei um ein weiteres Rechtsprechungsbeispiel für die 36 Verwiesen wird insoweit auf das Gutachten des Fachbereichs vom 25.03.2014 (PE 6 - 3000 – 08/14) zum Thema Kürzung des Kindergeldes und EU-Recht, in dem ein vergleichbarer Vorschlag allein auf Grundlage des nationalen Rechts auf seine Vereinbarkeit mit EU-Recht untersucht wurde. 37 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 23ff. Siehe dazu auch Becker, in: Schwarze/Becker /Hatje/Schoo (o. Fn. 15), Art. 48 AEUV, Rn. 19 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 15 – im Schrifttum mittlerweile nur noch vereinzelt bestrittene38 – Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten.39 Zum anderen wird in der genannten EuGH-Entscheidung die Vorgabe statuiert, wonach der Unionsgesetzgeber auf Grundlage des heutigen Art. 48 AEUV „keine Unterschiede einführen darf, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben.“40 Auch hieraus ergibt sich ein primärrechtlich verankerter Prüfungspunkt für Änderungen der VO 883/2004 durch die Unionsorgane (siehe unter 3.3.).41 Als dritte hier bei der Rechtssetzung im Rahmen des Art. 48 AEUV zu beachtende Vorgabe kommt schließlich noch das in Art. 48 Abs. 1 Buchst. b) AEUV verankerte sog. Exportprinzip in Betracht (siehe unter 3.4.). Danach soll das auf Grundlage von Art. 48 AEUV sekundärrechtlich zu errichtende System zu- und abwandernden Arbeitnehmern (und Selbstständigen) sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen u. a. die Zahlung der Leistungen an Personen sichern, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen. Bevor das Änderungsvorhaben am Maßstab dieser drei primärrechtlichen Vorgaben untersucht wird, ist schließlich zu fragen, ob und ggf. inwieweit hierbei ein (legislativer) Ausgestaltungsspielraum zu berücksichtigen ist, der den an der Rechtssetzung beteiligten Unionsorganen zukommen und als Kehrseite eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte nach sich ziehen würde (siehe unter 3.1.). 3.1. Legislativer Ausgestaltungsspielraum? Rechtliche Anknüpfungspunkte für einen solchen Spielraum bestehen in zweifacher Hinsicht: Zum einen hat der EuGH im Kontext der sozialrechtlichen Koordinierung festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber bei einem Tätigwerden auf Grundlage des Art. 48 AEUV über einen weiten Spielraum verfügt.42 In den beiden einschlägigen Rechtssachen bezog der Gerichtshof diesen 38 Vgl. Frenz, Handbuch Europa-Recht, Band 1 – Europäische Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012 (im Folgenden: Frenz, Grundfreiheiten), Rn. 333; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 5), Art. 45 AEUV, Rn. 131; Pache, Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Auflage 2014 (im Folgenden: Pache, Europarecht ), S. 34 Rn. 44. Gegen eine Bindung an die Grundfreiheiten aus dogmatischen Erwägungen unter anderem Zazoff, Der Unionsgesetzgeber als Adressat der Grundfreiheiten, 2011 39 Vgl. EuGH, Urt. v. 07.06.1988, Rs. 20/85 (Roviello), Rn. 14 ff. – ebenfalls für den Bereich der Sozialrechtskoordinierung . Für die Warenverkehrsfreiheit EuGH, Urt. v. 20.04.1978, verb. Rs. 80 u. 81/77 (SARL), Rn. 15; EuGH, Urt. v. 09.08.1994, Rs. 51/93 (Meyhui), Rn. 11. Für den freien Dienstleistungsverkehr EuGH, Urt. v. 26.10.2014, Rs. 97/09 (Schmelz), Rn. 50. 40 EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 21. 41 Bestätigt in EuGH, Urt. v. 31.05.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 29. 42 Vgl. EuGH, Urt. v. 31.05.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 29; EuGH, Urt. v. 20.04.1999, Rs. C-360/97 (Nijhuis), Rn. 30. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 16 Spielraum allerdings nur auf die Frage, ob eine Leistungskategorie in die sekundärrechtliche Koordinierung einbezogen wird oder nicht.43 Ob und inwieweit ein Spielraum auch nach Einbeziehung einer Leistung hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Koordinierung besteht, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen.44 Gegen einen (jedenfalls) weiten Spielraum streiten zwei ältere Entscheidungen. In der einen wird zwar betont, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der näheren Einzelheiten frei sei, sich für jede Lösung zu entscheiden; diese müsse aber eine „gerechtfertigte “ sein.45 In dem anderen Urteil wird darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber die Geltendmachung der den Versicherten zustehenden Ansprüche auf Sozialleistungen im Einzelnen regeln könne. Dies habe aber unter Beachtung der Vorschriften des Vertrages zu erfolgen.46 Nach diesen Urteilen kann zwar ein gesetzgeberischer Ausgestaltungsspielraum für die Koordinierung angenommen werden. Der Unionsgesetzgeber dürfte aber hinsichtlich der von ihm gewählten Lösungen einem Legitimierungs- bzw. Rechtfertigungszwang unterliegen.47 Ob auch dann noch von einer Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte ausgegangen werden kann, ist fraglich, lässt sich an dieser Stelle mangels einschlägiger Rechtsprechung jedoch nicht abschließend entscheiden . Ein weiter Beurteilungsspielraum wird dem Unionsgesetzgeber zum anderen im Zusammenhang mit seiner Bindung an die Grundfreiheiten zugestanden.48 Da Maßnahmen des Unionsgesetzgebers unionsweit gelten und für alle Wirtschaftsteilnehmer ein „level playing field“ schaffen würden , sei eine andere Beurteilung angebracht als dies im Hinblick auf Maßnahmen einzelner Mitgliedstaaten der Fall sei, die zwangsläufig zur Fragmentierung des Binnenmarktes und damit zu zwischenstaatlichen Hindernissen für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsaustausch führen.49 Es sei daher gerechtfertigt, dem Unionsgesetzgeber bei der Bestimmung des angemessenen Schutzniveaus ein weites Ermessen einzuräumen, welches auch die Unionsgerichte zu achten hätten.50 Ein vor diesem Hintergrund gebotener Spielraum könnte vorliegend im Hinblick auf den Prüfungsmaßstab des Art. 45 AEUV relevant werden. Soweit ersichtlich, wird der grundfreiheitlich gebotene Spielraum nur in Bezug auf beschränkende Maßnahmen des Unionsgesetzgebers 43 Vgl. EuGH, Urt. v. 31.05.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 29; EuGH, Urt. v. 20.04.1999, Rs. C-360/97 (Nijhuis), Rn. 28 ff. Vgl. auch Husmann, Zur Exportierbarkeit von Leistungen nach dem deutschen Unterhaltsvorschussgesetz im Lichte der VO 883/2004/EG, NZS 2013, 121 (127). 44 Vgl. Husmann (o. Fn. 43), NZS 2013, 121 (127). 45 Vgl. aus der Rechtsprechung EuGH, Urt. v. 13.07.1976, Rs. 16/76 (Triches), Rn. 15/18. 46 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.1975, Rs. 24/75 (Petroni), Rn. 20. 47 So auch Husmann (o. Fn. 43), NZS 2013, 121 (127). 48 Vgl. hierzu Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 5), Art. 45 AEUV, Rn. 132 ff.; Frenz, Grundfreiheiten (o. Fn. 38), Rn. 333 ff. 49 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 5), Art. 45 AEUV, Rn. 134. 50 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 5), Art. 45 AEUV, Rn. 135; Frenz, Grundfreiheiten (o. Fn. 38), Rn. 343. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 17 angenommen.51 Vorliegend geht es aber um das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Hinsichtlich dieses grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalts geht die für einen Spielraum streitende Begründung ins Leere, da der Unionsgesetzgeber bei einem Verstoß gegen das Verbot selbst zur Fragmentierung des Binnenmarktes beitragen würde. Auch lässt sich den Urteilen, in denen der EuGH Sekundärrecht am Maßstab der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote geprüft hat, nicht entnehmen, dass in diesen Fällen ein Spielraum bestehen soll, der einer gerichtlichen Kontrolle entgegensteht bzw. sie einschränkt.52 Im Ergebnis sprechen daher die besseren Gründe gegen die Annahme eines gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren legislativen Ausgestaltungsspielraums. Eine abschließende Einschätzung ist allerdings auch an dieser Stelle mangels ausdrücklicher Rechtsprechung nicht möglich. 3.2. Zur Vereinbarkeit mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet – unabhängig von seiner dogmatischen Verankerung in den Grundfreiheiten oder allgemein in Art. 18 Abs. 1 AEUV – nach ständiger Rechtsprechung nicht nur sog. offene Diskriminierungen unter Anknüpfung an das (verbotene) Merkmal der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung , die durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen.53 An welchem der beiden Verbotsgehalte das Änderungsvorhaben zu prüfen ist, hängt entscheidend von seiner personellen Reichweite ab. Soweit die ihr zugrunde liegende Regelungsoption sowohl EU-ausländische als auch inländische Arbeitnehmer mit Kindern erfasst, die in einem anderem als dem Beschäftigungsstaat ihren Wohnsitz haben, käme das Verbot mittelbarer Diskriminierungen in Betracht (siehe unter 3.1.1.). Würde die Indexierungsoption nur auf EU-ausländische Arbeitnehmer anwendbar, wäre sie am Maßstab der verbotenen offenen Diskriminierung zu prüfen (siehe unter 3.1.2.). Ungeachtet der unionsrechtlichen Ausgestaltung ist schließlich daran zu denken, dass auch die mitgliedstaatliche Wahrnehmung der vorgeschlagenen Regelungsoption einer unionsrechtlichen Kontrolle am Maßstab des Unionsrechts und insbesondere des Diskriminierungsverbots unterliegen würde (siehe unter 3.1.3.). 3.2.1. Versteckte Diskriminierung Geht man davon aus, dass das Änderungsvorhaben nicht an die Herkunft der betroffenen Arbeitnehmer , sondern allein an den Wohnmitgliedstaat ihrer Kinder knüpft, dann könnte darin – 51 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (o. Fn. 5), Art. 45 AEUV, Rn. 131 ff. Weniger deutlich hingegen Frenz, Grundfreiheiten (o. Fn. 38), Rn. 343. 52 Vgl. bspw. EuGH, Urt. v. 07.06.1988, Rs. 20/85 (Roviello), Rn. 14 ff.; EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 23 ff. 53 Vgl. speziell für Art. 45 AEUV: EuGH, Urt. v. 07.06.1988, Rs. 20/85 (Roviello), Rn. 14; EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 23; EuGH, Urt. v. 21.09.2000, Rs. C-124/99 (Borawitz), Rn. 24 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 18 ebenso wie in der Rechtssache Pinna – eine versteckte Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit liegen. Denn der Wohnsitz der Kinder stellt zwar ein „anderes“ Unterscheidungsmerkmal dar, welches tatsächlich aber zu dem gleichen Ergebnis führt wie eine Anknüpfung an das verbotene Merkmal der Staatsangehörigkeit: das Problem im EU-Ausland wohnender Kinder wird sich im Wesentlichen oder zumindest ganz überwiegend nur für EU-ausländische Arbeitnehmer stellen.54 Unschädlich ist insoweit, dass die Änderungsoption zunächst nur für neu gestellte Anträge gilt und erst ab 2020 auf bestehende Ansprüche ausgeweitet werden kann. Die Feststellung einer (diskriminierenden) Ungleichbehandlung setzt nicht voraus, dass alle EU- Ausländer in gleicher Weise und zur gleichen Zeit von ihr betroffen sind. Führt die Indexierung sodann zu einem Absinken der zu gewährenden Familienleistungen, so liegt der Ungleichbehandlung eine Benachteiligung zugrunde. Eine überwiegende Betroffenheit EU-ausländischer Staatsangehöriger bedeutet jedoch nicht zwangsläufig einen Verstoß gegen das Verbot der (mittelbaren) Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Obgleich der Gerichtshof in der Rechtssache Pinna nicht ausdrücklich eine Rechtfertigungsprüfung vornahm, ist jedenfalls im Hinblick auf mitgliedstaatliche Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass diese trotz Ungleichbehandlung keine verbotene (mittelbare) Diskriminierung darstellen, wenn sie „durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen gerechtfertigt sind und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird.“55 Gleiches dürfte für unionale Maßnahmen gelten, da nicht ersichtlich ist, warum die Union zwar an das (grundfreiheitliche oder allgemeine) Diskriminierungsverbot gebunden ist, sich aber nicht auf die den Mitgliedstaaten in einem solchen Fall zustehenden Rechtfertigungsoptionen berufen können soll.56 Fraglich ist jedoch, mit welcher objektiven Erwägung sich das Änderungsvorhaben einer Indexierungsoption rechtfertigen ließe. Weder im Beschluss der Staats- und Regierungschefs noch in der Erklärung der Kommission finden sich hierzu Hinweise. Dessen ungeachtet geht jedenfalls der Europäische Rat vom 18./19. Februar in seinen Schlussfolgerungen, denen der Beschluss der Staats- und Regierungschefs als Anlage beigefügt ist, davon aus, dass die dort getroffenen Vereinbarungen „mit den Verträgen voll und ganz im Einklang stehen“.57 Und auch die Staats- und Regierungschefs selbst äußern in ihrem Beschluss den Wunsch, eine „im Einklang mit den Verträgen “ stehende Lösung für das Vereinte Königreich zu finden.58 Vor diesem Hintergrund ist von der Absicht auszugehen, das Änderungsvorhaben vertragskonform auszugestalten. 54 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Rn. 24. Siehe auch EuGH, Urt. v. 21.09.2000, Rs. C-124/99 (Borawitz), Rn. 25. 55 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 21.09.2000, Rs. C-124/99 (Borawitz), Rn. 26 (mit weiteren Nachweisen). 56 Vgl. Frenz, Grundfreiheiten (o. Fn. 38), Rn. 513. 57 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18./19. Februar 2016 (o. Fn. 2), I. Nr. 2, S. 1 des Dokuments. 58 Beschluss der Staats- und Regierungschefs (o. Fn. 2), Präambel, S. 8 des Dokuments. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 19 Dabei wäre in erster Linie an einen Aspekt zu denken, der von dem Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache Pinna in Erwägung gezogen, dort aber im Ergebnis zu Recht verworfen wurde: nämlich die Beschränkung auf den Ausgleich der durch den Familien- bzw. Kindesunterhalt entstehenden (finanziellen) Lasten.59 Das Merkmal des Lastenausgleichs liegt auch der geltenden Definition des Begriffs der Familienleistung zugrunde, vgl. Art. 1 Buchst. z) VO 883/2004. Als Zweckbestimmung derartiger Leistungen ist die Erwägung des Lastenausgleichs zudem unabhängig von dem Merkmal der Staatsangehörigkeit. Allerdings müsste die Ungleichbehandlung aus Gründen des Wohnsitzes sodann in einem angemessen Verhältnis zu diesem Zweck stehen. Die Anknüpfung an den Wohnmitgliedstaat der Kinder gewährleistet lediglich in grundsätzlicher Hinsicht, dass eben die dort geltenden „Bedingungen “ zum Maßstab der im Beschäftigungsstaat zu gewährenden Leistung bestimmt werden. Entscheidend wäre sodann die weitere Ausgestaltung. Dabei dürfte zum einen von Bedeutung sein, auf welche Art und Weise die Höhe der Leistung mit Blick auf die Bedingungen im Wohnmitgliedstaat berechnet wird, so dass sie die dort bestehenden Unterhaltslasten adäquat wiederspiegelt . Hier weist das von der Kommission in ihrer Erklärung postulierte Abstellen auf die Lebensbedingungen im Wohnmitgliedstaat in eine dem Zweck entsprechende Richtung. Anders verhält es sich mit dem Verweis auf die Höhe der dort gewährten Leistungen. Denn je nach Konzeption der Familienleistungen in den Mitgliedstaaten müssen diese nicht zwangsläufig allein aus Gründen des Lastenausgleichs gewährt werden oder diesen in ihrer Höhe wiederspiegeln. Die Höhe der im Wohnmitgliedstaat gewährten Leistungen könnte im Zusammenhang mit dem Aspekt des Lastenausgleichs allenfalls für Fragen der Kumulierungsvermeidung von Bedeutung sein. Zum anderen stellt sich die Frage, ob es genügen würde, nur die Art und Weise der Berechnung der Leistungshöhe mit Blick auf den Lastenausgleichszweck angemessen auszugestalten oder, ob nicht vielmehr auch Anforderungen an die Ausgestaltung der Leistung im Beschäftigungsstaat einzuhalten wären. Zielt die ggf. zu kürzende Leistung selbst nicht nur oder nicht alleine, sondern nur im Verbund mit anderen staatlichen Gewährleistungen auf Lastenausgleich, dann stellt sich die Frage, ob es im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben als angemessen angesehen werden könnte, für im EU-Ausland lebende Kinder Abstriche hinsichtlich der Höhe bei dieser Leistung vorzunehmen, obgleich sie selbst nicht ausschließlich auf Lastenausgleich zielt bzw. zielen kann. Einschlägige Rechtsprechung zu dieser Frage liegt nicht vor. Und auch aus dem Urteil in der Rechtssache Pinna lässt sich hierzu nichts ableiten. Denn dort lässt sich der Umstand, dass das Argument des Lastenausgleichs vom Generalanwalt letztlich verworfen bzw. vom EuGH überhaupt nicht aufgegriffen wurde, auf andere Gründe zurückführen. Zwar verweist auch der Generalanwalt darauf, dass keiner der damaligen Mitgliedstaaten seine Leistungen „unmittelbar und in besonderer Weise [an] den durch den Unterhalt einer Familie verursachten Kosten [anpasst ].“60 Entscheidend dürfte aber vielmehr gewesen sein, dass die Sonderregelung ihrem Wortlaut nach bereits keine Familienleistungen betraf, sondern nur Familienbeihilfen, die nach der 59 Vgl. GA Mancini, Schlussanträge v. 21.05.1985 zu EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Nr. 7 (S. 12/13). 60 GA Mancini, Schlussanträge v. 21.05.1985 zu EuGH, Urt. v. 15.01.1986, Rs. C-41/84 (Pinna), Nr. 7 (S. 13). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 20 Legaldefinition in der VO 1408/71 ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden.61 Der Lastenausgleich hätte somit als rechtfertigender Regelungszweck gar nicht erst ins Feld geführt werden können. Darüber hinaus führte die Unterscheidung nach dem Wohnmitgliedstaat der Kinder in der Rechtssache Pinna nicht zu einer Anpassung der Leistungshöhe im Beschäftigungsstaat, sondern zu einem Anspruchswechsel, ohne dass es darauf ankam, zu welchem Zweck und in welcher Höhe die dann nach dem Recht des Wohnmitgliedstaats zu gewährenden Leistungen für Kinder bestanden. Daher lassen sich aus der Rechtssache Pinna keine zwingenden Rückschlüsse für die Möglichkeit einer Rechtfertigung der im Änderungsvorhaben geplanten Indexierung ziehen. Dies gilt zunächst in grundsätzlicher Hinsicht, ob eine solche Regelung überhaupt einer Rechtfertigung zugänglich ist. Dies dürfte jedoch mit Blick auf die dogmatische Struktur des Diskriminierungsverbots ohne weiteres zu bejahen sein. Denn insbesondere versteckte Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit können nach ständiger Rechtsprechung gerechtfertigt werden. Für den Unionsgesetzgeber dürfte insoweit nichts anderes gelten als für die Mitgliedstaaten. Blickt man weitergehend auf das Argument des Unterhaltslastenausgleichs, so stellt dies einen legitimen Zweck dar, der ungeachtet der Wohnsitzanknüpfung gerade nicht auf das verbotene Merkmal der Staatsangehörigkeit zurückgeführt werden kann. Es ist nicht ersichtlich, dass der EuGH eine solche Rechtfertigungserwägung im Lichte eines ausschließlich primärrechtlichen Prüfungsmaßstabs per se zurückweisen würde. Entscheidend bliebe folglich – wie bereits oben erwähnt – die weitere Ausgestaltung der Indexierungsregel und die Frage, ob die ihr zugrunde liegende Ungleichbehandlung mit dem verfolgten Zweck des Lastenausgleichs in einem angemessenen Verhältnis stehen würde. Da die weitere Ausgestaltung zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststeht, lässt sich an dieser Stelle somit auch keine abschließende Bewertung über das Vorliegen einer unzulässigen versteckten Diskriminierung vornehmen. Weitergehend steht auch nicht fest, auf welcher Ebene – der unionsrechtlichen oder der mitgliedstaatlichen – die weitere Ausgestaltung erfolgen wird. Nach den bisherigen Formulierungen lässt sich lediglich festhalten, dass das Indexierungsvorhaben als für die Mitgliedstaaten bestehende Regelungsoption in die VO 883/2004 eingefügt werden soll. Es besteht daher auf Unionsebene keine Notwendigkeit, das Indexierungsvorhaben sekundärrechtlich vollumfassend auszuformulieren . Mit Blick auf die geltende EU-Rechtslage, die nach Art. 67 S. 1 VO 883/2004 in Verbindung mit Art. 7 VO 883/2004 jegliche Kürzung von Familienleistungen aus Gründen des Wohnmitgliedstaates der Kinder ausschließt, könnte bereits eine allgemein formulierte Indexierungsoption den Verpflichtungen aus dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs genügen, da sie den Mitgliedstaaten überhaupt erst den Spielraum eröffnet, Indexierungsregelungen vorzusehen.62 Soweit diese Option in rechtlicher Hinsicht genügend Raum für eine unionsrechtskonforme (mit- 61 Vgl. hierzu oben unter 2.3.1., S. 11. 62 Siehe vor allem Art. 7 VO 883/2004, wonach das Verbot, Leistungen mit Blick auf den Wohnmitgliedstaat des Anspruchsinhabers zu kürzen nur insoweit gilt, als in der Verordnung nichts anderes bestimmt wird. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 21 gliedstaatliche) Ausgestaltung belassen würde, könnte sie in Anbetracht des Grundsatzes primärrechtskonformer Auslegung63 selbst nicht als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen werden . Entscheidend für die unionsrechtliche Zulässigkeit wäre dann nicht mehr die sekundärrechtliche Regelungsoption, sondern allein ihre mitgliedstaatliche Wahrnehmung bzw. Ausgestaltung im nationalen Recht (siehe sogleich unter 3.1.3.). 3.2.2. Offene Diskriminierung Würde das Änderungsvorhaben nur in Bezug auf EU-ausländische Arbeitnehmer zur Anwendung gelangen, so läge darin eine unmittelbare Anknüpfung an das verbotene Merkmal der Staatsangehörigkeit . Der Rechtsprechung lässt sich – anders als bei versteckten Diskriminierungen – nicht mit Sicherheit entnehmen, ob auch offene Diskriminierungen einer Rechtfertigung durch objektive , von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen zugänglich sind.64 Ginge man von einer Rechtfertigungsmöglichkeit aus, würde eine solche unter dem Aspekt des Unterhaltslastenausgleichs allerdings scheitern. Eine nur EU-ausländische Arbeitnehmer treffende Indexierung würde nämlich in keinem angemessenen Verhältnis zum Zweck des Lastenausgleichs stehen. Denn Leistungen für im EU-Ausland lebende Kinder inländischer Arbeitnehmer wären hiervon pauschal ausgenommen, obgleich der Zweck auch in Bezug auf diese Personengruppe eine Reduktion gebieten würde. Die Regelungsoption und das ihr zugrunde liegende Unterscheidungskriterium der Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers wären daher bereits nicht geeignet, den Zweck des Lastenausgleichs zu erfüllen. Ob in diesem Kontext andere Erwägungen zur erfolgsversprechenden Rechtfertigung einer offenen Diskriminierung herangezogen werden könnten, erscheint fraglich. Dies gilt vor allem für den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nur dem Grunde nach anerkannten Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit.65 Zunächst könnte ein solcher Einwand nur durch die Mitgliedstaaten geltend gemacht werden, nicht hingegen durch die EU selbst, so dass eine diesem Umstand entsprechende Verankerung in der Indexierungsoption notwendig wäre. Würde dies erfolgen, wäre in einem zweiten Schritt zu fragen, ob dieser Rechtfertigungsgrund auch pauschal gegen EU-Ausländer ins Feld geführt werden kann. In den bisherigen Verfahren wurde er – soweit ersichtlich – nur im Zusammenhang mit Benachteiligungen eigener Staatsangehöriger geltend gemacht.66 Ließe man 63 Siehe dazu Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 9, insb. Rn. 7 ff., 29 f. 64 Vgl. hierzu Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV 4. Auflage 2011, Art. 18 AEUV, Rn. 39, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung, wonach der EuGH in jüngeren Entscheidung auch bei offenen Diskriminierung eine Rechtfertigung prüft, sie im Ergebnis aber ablehnt. 65 Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-158/96 (Kohll), Rn. 41; EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C- 419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 83. 66 Die betroffenen Personen hatten jeweils von ihren grundfreiheitlichen Rechten Gebrauch gemacht. Vgl. EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-158/96 (Kohll), Rn. 41 (Inanspruchnahme medizinischen Dienstleistungen im EU-Ausland ); EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 83 (Wohnsitzverlegung ins EU-Ausland). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 22 dies zu, so wäre drittens zu klären, ob eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende Geltendmachung im vorliegenden Fall überhaupt möglich wäre. Neben dem Problem, das Bestehen einer erheblichen Gefährdung nachweisen zu können,67 wäre die Frage zu beantworten, ob es angemessen sein kann, dass nur EU-ausländische Arbeitnehmer mit in anderen Mitgliedstaaten wohnhaften Kindern von Kürzungen bei Familienleistungen betroffen sein sollen, obwohl sie sich über Steuern und Abgaben in der gleichen Weise an der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit im Beschäftigungsstaat beteiligen wie inländische Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Rechtfertigung mit Verweis auf eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit eher fernliegend. Würde die Regelungsoption folglich so ausgestaltet, dass von ihr nur im Hinblick auf EU-ausländische Arbeitnehmer Gebrauch gemacht werden könnte, so wäre sie mit großer Wahrscheinlichkeit wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit unzulässig . 3.2.3. Mitgliedstaatliche Wahrnehmung der Regelungsoption und Beachtung des Diskriminierungsverbots Wird die personelle Reichweite des Änderungsvorhabens im Zuge der weiteren Ausgestaltung offen gelassen oder eine Anwendung auf EU-ausländische wie inländische Arbeitnehmer zwingend angeordnet und wären die sekundärrechtlichen Vorgaben zur eigentlichen Indexierung aufgrund ihrer Allgemeinheit im Übrigen nicht von vornherein mit dem primären Unionsrecht unvereinbar , so käme es für die unionsrechtliche Zulässigkeit im Ergebnis allein auf die mitgliedstaatliche Ausgestaltung der Regelungsoption an.68 Insbesondere am Maßstab des primärrechtlich in Art. 45 AEUV verankerten Diskriminierungsverbots bzw. seiner sekundärrechtlichen Konkretisierungen v. a. in Art. 4 VO 883/2004 wären dann zu untersuchen, wie die Mitgliedstaaten die Indexierung ausgestalten. Ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Spielraum, der im Hinblick auf das Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erwogen wurde,69 stünde den Mitgliedstaaten hierbei in keinem Fall zu. Nach den obigen Ausführungen zur mittelbaren Diskriminierung und einer möglichen Rechtfertigung käme es entscheidend auf die konkrete Zwecksetzung der zu indexierenden Familienleistungen in dem betreffenden Mitgliedstaat an. Eine Indexierung bei anderweitigem Wohnmitgliedstaat der Kinder könnte dann nur gerechtfertigt werden, wenn sich die mitgliedstaatliche Regelung nach den aufgezeigten Kriterien als stimmige Verwirklichung des Lastenausgleichsgedankens darstellt. Hinsichtlich einer eventuellen Berufung auf eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit wird auf die obigen Ausführungen zur offenen Diskriminierung verwiesen. 67 Siehe hierzu EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 83. 68 Vgl. insoweit EuGH, Urt. v. 19.03.2002, verb. Rs. C-393/99 u. C-394/99 (Hervein u. a.), Rn. 62 f.; EuGH, Urt. v. 31.05.2001, Rs. C-43/99 (Leclere), Rn. 30 f. 69 Siehe dazu unten unter 3.1., S. 15 ff., wonach im konkreten Fall ein Ausgestaltungsspielraum eher abzulehnen wäre. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 23 Eine abschließende Einschätzung lässt sich an dieser Stelle jedoch nicht vornehmen, da zu diesen Fragen – unter Berücksichtigung einer grundsätzlichen sekundärrechtlichen Zulässigkeit derartiger Indexierungsoptionen – keine unionsgerichtliche Rechtsprechung vorliegt. 3.2.4. Zwischenergebnis Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht beurteilen, ob die geplante Indexierungsoption einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt. Entscheidend hierfür ist die weitere Ausgestaltung. Dies betrifft zum einen den personellen Anwendungsbereich der Option. Wird die Möglichkeit, Familienleistungen für in anderen Mitgliedstaaten wohnhafte Kinder zu indexieren, allein im Hinblick auf EU-ausländische Arbeitnehmer gewährt , läge darin eine offene Diskriminierung, die nur schwerlich – wenn überhaupt – gerechtfertigt werden könnte. Knüpfte die Indexierungsoption hingegen an den Wohnmitgliedstaat der Kinder des Arbeitnehmers , wäre zwar ebenfalls von einer überwiegenden Betroffenheit EU-ausländischer Arbeitnehmer auszugehen. Eine unzulässige versteckte Diskriminierung läge darin jedoch nur, wenn diese Ungleichbehandlung nicht durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen gerechtfertigt wäre, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit der Indexierung zulässigerweise verfolgt wird. Obgleich sich hierzu weder in dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs noch in der Erklärung der Kommission Angaben finden lassen, geht man in diesen Dokumenten ausdrücklich von einer vertragskonformen Lösung aus. Ein möglicherweise zulässiger, der Rechtfertigung dienender Zweck könnte etwa in der Erwägung gesehen werden, Leistungen nur insoweit zu gewähren, als sie aus Gründen des Ausgleichs der durch den Familien- bzw. Kinderunterhalt entstehenden (finanziellen) Lasten gerechtfertigt sind. Soweit die Lasten im Wohnmitgliedstaat der Kinder niedriger sind als im Beschäftigungsstaat des Arbeitnehmers, wäre vor diesem Hintergrund eine Kürzung geboten. Entscheidend für die rechtliche Zulässigkeit einer solchen Rechtfertigung dürfte jedoch eine angemessene Ausgestaltung der Indexierung im Übrigen sein. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass zu einer solchen oder einer vergleichbaren Konstellation – soweit ersichtlich – keine unionsgerichtliche Rechtsprechung vorliegt. Auf welcher Ebene die weitere Ausgestaltung erfolgen wird – der unionsrechtlichen oder der mitgliedstaatlichen – lässt sich dem Änderungsvorhaben nicht entnehmen. Je unbestimmter und allgemeiner die Indexierungsoption auf Unionsebene formuliert würde, desto eher wäre sie im Lichte des Grundsatzes primärrechtkonformer Auslegung als unionsrechtlich zulässig anzusehen . Der materielle Schwerpunkt einer Vereinbarkeitsprüfung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit läge dann auf der mitgliedstaatlichen Wahrnehmung bzw. Ausgestaltung der Indexierungsoption. 3.3. Zur Vereinbarkeit mit dem Verbot, sekundärrechtlich neue Unterschiede einzuführen Fraglich ist, ob das Änderungsvorhaben mit dem primärrechtlich aus Art. 48 AEUV abgeleiteten Verbot vereinbar ist, auf Ebene des Sekundärrechts keine Unterschiede einzuführen, die zu denen hinzutreten, die sich aus dem materiell unberührten Nebeneinander der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme ergeben. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 24 Greift man zur Konkretisierung dieses Verbots auf die Konstellation in der Rechtssache Pinna zurück , so erfasst das Verbot (zusätzliche bzw. neue) Unterschiede, die durch Sekundärrecht auf Ebene der Koordinierung eingeführt werden.70 Im Fall der französischen Sonderregelung wurde in Abweichung vom ansonsten geltenden Beschäftigungsstaatsprinzip die Anknüpfung an den Wohnmitgliedstaat vorgegeben. Ein solcher (zusätzlicher bzw. neuer) Unterschied auf Koordinierungsebene würde durch das Änderungsvorhaben indes gerade nicht eingeführt. Es bliebe nämlich bei der Anknüpfung an den Beschäftigungsstaat und zwar auch dann, wenn von der Regelungsoption Gebrauch gemacht würde. Letzteres würde es den Mitgliedstaaten lediglich erlauben , die Leistungshöhe auf der materiellen Sachebene an die Bedingungen im Wohnmitgliedstaat der Kinder des Arbeitnehmers anzupassen, was bisher unionsrechtlich nicht möglich ist. Die sich daraus ergebenden neuen Unterschiede würden jedoch nur die Rechtslage innerhalb einzelner Mitgliedstaaten betreffen. Sie wären dann zwar – vorbehaltlich einer mit dem Diskriminierungsverbot vereinbaren Ausgestaltung – zwar unionsrechtlich legitimiert, verblieben aber eben unterhalb der Ebene der sekundärrechtlichen Koordinierung. Ob das in der Rechtssache Pinna erstmals formulierte Verbot über die dort entschiedene Konstellation hinaus auch die unionsrechtliche Legitimierung derartiger mitgliedstaatlicher Unterschiede auf der Sachebene der Sozialrechtssysteme erfasst, lässt sich mangels weiterer Entscheidungen der Unionsgerichte zu dieser primärrechtlichen Vorgabe an dieser Stelle nicht abschließend beantworten. Nach bisheriger Rechtsprechung ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass das Änderungsvorhaben gegen dieses Verbot verstößt. 3.4. Zur Vereinbarkeit mit dem (primärrechtlichen) Exportprinzip Das in Art. 48 Abs. 1 Buchst. b) AEUV niedergelegte Exportprinzip soll den Bezug der von einem zuständigen Mitgliedstaat zu erbringenden Leistungen der sozialen Sicherheit für die Fälle sichern , in denen die Anspruchsberechtigten ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen ; insoweit dient dieses Prinzip – je nach tatbestandlicher Konstellation – der Gewährleistung der Arbeitnehmer- und der allgemeinen Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV bzw. Art. 21 Abs. 1 AEUV.71 Das Exportprinzip erfasst in sachlicher Hinsicht grundsätzlich alle Geldleistungen der sozialen Sicherheit und damit auch Familienleistungen, soweit sie als Geldleistungen gewährt werden.72 In personeller Hinsicht gilt das Exportprinzip nicht nur im Hinblick auf Arbeitnehmer, sondern auch für deren Familienangehörige.73 70 Siehe oben unter 2.3.2., S. 12 f. 71 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 78. Siehe auch Otting, in: Hauck/Noftz (o. Fn. 16), Stand: 02/12, Art. 7, Rn. 1 f. 72 Vgl. Otting, in: Hauck/Noftz (o. Fn. 16), Stand: 02/12, Art. 7, Rn. 9, 18; Dern, in: in: Schreiber/Wunder/Dern, VO 883/2004 (Fn. 4), Art. 7, Rn. 5. 73 Vgl. Otting, in: Hauck/Noftz (o. Fn. 16), Stand: 02/12, Art. 7, Rn. 1. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 25 Vor diesem Hintergrund führt das Änderungsvorhaben mit der Indexierungsoption zu einer Einschränkung des Exports von (Familien-)Leistungen für Kinder mit Wohnsitz in einem anderem als dem Beschäftigungsstaat des Arbeitnehmers. Fraglich ist, ob eine solche Änderung mit dem primärrechtlichen Gehalt des Exportprinzips vereinbar wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat der Unionsgesetzgeber bei dem Erlass von Maßnahmen nach Art. 48 AEUV das Exportprinzip zwar zu beachten; es steht ihm aber auch frei, von diesem Grundsatz abzuweichen.74 Deutlich wird dies bereits an der allgemeinen sekundärrechtlichen Konkretisierung dieses Prinzips in Art. 7 VO 883/2004, wonach Wohnortklauseln und eine sich daraus ergebende Einwirkung auf Leistungen der sozialen Sicherheit nur dann unzulässig sind, sofern in der Verordnung nichts anderes bestimmt ist. Allerdings bedarf der Unionsgesetzgeber für sekundärrechtliche Einschränkungen des Exportprinzips einer Rechtfertigung .75 Anerkannt ist dabei insbesondere die Einschränkung der Exportierbarkeit von Leistungen, „die eng an das soziale Umfeld gebunden sind [und daher] legitimerweise von den Voraussetzungen eines Wohnsitzes im Staat des zuständigen Trägers abhängig gemacht werden [können].“76 Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof etwa die Einschränkung der Exportierbarkeit von Leistungen bei Arbeitslosigkeit für zulässig gehalten.77 Auch Familienleistungen können diese Einschränkungsvoraussetzung dem Grunde nach erfüllen und daher von dem Wohnsitz abhängig gemacht werden. Das ergibt sich aus der Rechtssache Lenoir.78 Dort stand die Verweigerung bestimmter Familienleistungen für Rentner im Raum. Die auf Grundlage des ehemaligen Art. 77 Abs. 2 Buchst. a) VO 1408/71 bestehende Pflicht zur Gewährung von Familienleistungen unabhängig vom Wohnort des Rentners und seiner Kinder bestand allerdings nur in Bezug auf Familienleistungen in Gestalt von Familienbeihilfen, also solchen Leistungen, die die Zahl und ggf. das Alter der Familienangehörigen als ausschließliche Tatbestandsmerkmale verwenden.79 In Bezug auf andere Arten von Familienleistungen stellte der EuGH fest, dass „[a]ndersartige oder von anderen Voraussetzungen abhängige Leistungen, wie zum Beispiele eine, die zur Deckung durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlaßter Kosten bestimmt ist, […] hingegen meist eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort des Betroffenen gebunden [sind].“80 74 Vgl. EuGH, Urt. v. 05.05.1983, Rs. 139/82 (Piscitello), Rn. 16; EuGH, Urt. v. 24.02.1987, verb. Rs. 379/85, 380/85, 381/85 u. 93/86 (Giletti u. a.), Rn. 16; EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 41. 75 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 80 f. Siehe auch Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, VO 883/2004 (Fn. 4), Art. 7, Rn. 9; Otting, in: Hauck/Noftz (o. Fn. 16), Stand: 02/12, Art. 7, Rn. 1b ff. 76 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.12.2007, verb. Rs. C-396/05, C-419/05 u- C-450/05 (Habelt u. a.), Rn. 81; EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Rs. C-20/96 (Snares), Rn. 42; EuGH, Urt. v. 27.09.1998, Rs. 313/86 (Lenoir), Rn. 16. 77 Siehe hierzu Otting, in: Hauck/Noftz (o. Fn. 16), Stand: 02/12, Art. 7, Rn. 16, zu Art. 63 VO 883/2004, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 78 EuGH, Urt. v. 27.09.1998, Rs. 313/86 (Lenoir). 79 EuGH, Urt. v. 27.09.1998, Rs. 313/86 (Lenoir), Rn. 10 f., 16. 80 EuGH, Urt. v. 27.09.1998, Rs. 313/86 (Lenoir), Rn. 16. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 26 Hieraus kann der Schluss gezogen werden, dass eine Beschränkung des Exportes von Familienleistungen sekundärrechtlich immer dann zulässig ist, wenn die hiervon betroffenen Familienleistungen eng an das soziale Umfeld des Betroffenen gebunden sind. In einem solchen Fall ist jedenfalls ein gänzlicher Leistungsausschluss möglich. Ob auch eine bloße Kürzung der betreffenden Leistungen in Betracht kommt, lässt sich der Rechtsprechung – soweit ersichtlich – hingegen nicht entnehmen. Ob hier ein Erst-Recht-Schluss angebracht ist, ist offen. Gegen einen solchen ließe sich einwenden, dass eine Kürzungsmöglichkeit das Bestehen einer engen Bindung relativiert und somit die Notwendigkeit ihres Bestehens mit Blick auf die Leistung gänzlich in Frage stellt. Auf der anderen Seite könnte der Zweck der betreffenden Leistungen allgemein auf Situationen zielen, die zwar vom sozialen Umfeld in dem zuständigen Staat geprägt sind, sich aber ebenso in anderen Mitgliedstaaten ereignen und daher einen zumindest hinsichtlich der Höhe der Leistung angepassten Export gebieten. So etwa hinsichtlich von Leistungen, die dem Ausgleich von Unterhaltslasten dienen – diesbezüglich kann auf die obigen und insoweit inhaltlich parallel gelagerten Ausführungen zur mittelbaren Diskriminierung verwiesen werden. Eine abschließende Entscheidung dieser Frage ist hier mangels Rechtsprechung jedoch nicht möglich. Im Folgenden soll jedoch unterstellt werden, dass Ausnahmen vom Exportprinzip auch in Gestalt von Leistungskürzungen zulässig wären. Blickt man vor diesem Hintergrund auf die dem Änderungsvorhaben zugrunde liegende Indexierungsoption , so hängt ihre Vereinbarkeit mit dem primärrechtlich verankerten Exportprinzip davon ab, dass nur solche Leistungen für Kinder mit Wohnsitz in anderen als dem Beschäftigungsstaat erfasst werden, die eng an das soziale Umfeld des Kindes anknüpfen. Andere Leistungen für Kinder, insbesondere solche, die den Charakter von Familienbeihilfen annehmen, dürften im Lichte der Rechtssache Lenoir hinsichtlich ihrer Exportierbarkeit hingegen keinen Einschränkungen unterworfen werden. Den bisherigen Ausführungen zum Änderungsvorhaben lassen sich keine Konkretisierungen hinsichtlich der Art der erfassten Leistungen für Kinder entnehmen, so dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Feststellung getroffen werden kann, ob die Indexierungsoption mit dem primärrechtlichen Exportprinzip als vereinbar anzusehen ist. Entscheidend dürfte die weitere Ausgestaltung sein und die Frage, auf welcher Ebene sie vorgenommen wird – auf der unionsrechtlichen oder auf der mitgliedstaatlichen. 4. Rechtsschutzmöglichkeiten Im Rahmen der Rechtsschutzmöglichkeiten für Betroffene ist zwischen Rechtsschutz auf nationaler Ebene mit Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV einerseits (siehe unter 4.1.) und einem direkten Vorgehen vor Unionsgerichten andererseits (siehe unter 4.2.) zu unterscheiden. 4.1. Rechtsschutz auf nationaler Ebene Sofern die VO 883/2004 infolge des Änderungsvorhabens um eine entsprechende Indexierungsoption ergänzt wird, Mitgliedstaaten von ihr anschließend Gebrauch machen und es im Einzelfall zu Kürzungen von Leistungen für Kinder kommt, haben die betroffenen Arbeitnehmer in der Regel die Möglichkeit, hiergegen mit den jeweiligen nationalen Rechtsbehelfen vorzugehen. Für die Situation in Deutschland wird insoweit auf das Gutachten des Fachbereichs vom Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 27 25.03.2014 (PE 6 - 3000 – 08/14) zum Thema Kürzung des Kindergeldes und EU-Recht verwiesen .81 Im Rahmen der sich daraus ergebenden Streitigkeiten vor nationalen Gerichten besteht für diese das Recht – und für letztinstanzliche Gerichte sogar die Pflicht – sich mit Fragen nach der Auslegung und Gültigkeit des insoweit anwendbaren Unionsrechts an den EuGH zu wenden, vgl. Art. 267 AEUV. Vorliegend könnte das angerufene nationale Gericht dem EuGH Fragen sowohl nach der Auslegung und Gültigkeit der in die VO 883/2004 einzuführenden Indexierungsoption stellen als auch nach der Auslegung des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Umsetzung der Indexierungsoption. Stellt der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Ungültigkeit der Indexierungsoption wegen Unvereinbarkeit mit dem Unionsprimärrecht fest, so entfaltet das Urteil Rechtswirkungen über den Einzelfall hinaus und verpflichtet alle Behörden und Gerichte in der EU, die betreffende Bestimmung als ungültig anzusehen.82 Damit würde auch die unionsrechtliche Rechtsgrundlage für eine Indexierung der Familienleistungen entfallen. Die mitgliedstaatliche Umsetzung wäre dann am Maßstab der sonstigen Unionsbestimmungen zu überprüfen und ggf. unangewendet zu lassen. Gleiches würde gelten, wenn nur die mitgliedstaatliche Umsetzung gegen Unionsrecht, insbesondere das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit verstoßen würde. 4.2. Direktklage vor den europäischen Gerichten Rechtsschutz unmittelbar vor den europäischen Gerichten83 besteht nur im Verfahren der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV. Natürliche und juristische Personen können Rechtsakte der EU – im vorliegenden Fall die in die VO 883/2004 einzufügende Indexierungsoption – nur unter den in Art. 263 Abs. 4 AEUV bestehenden Bedingungen angreifen. Da es sich bei der VO 883/2004 und ihrer Änderung um eine Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV und damit um eine abstrakt-generelle Maßnahme handeln würde, könnten Einzelne nur unter der Voraussetzung klagen, dass die Indexierungsoption sie entweder unmittelbar und individuell betrifft (Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV) oder es sich dabei um einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter handelt, der sie (nur) unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht (Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV). In beiden Konstellationen würde eine Nichtigkeitsklage bereits an dem Fehlen einer unmittelbaren Betroffenheit scheitern. Denn diese setzt entweder voraus , dass die angegriffene Maßnahme selbst und nicht erst eine in ihrer Folge hinzutretende 81 Vgl. S. 22 f. (5. Rechtsschutzmöglichkeiten Betroffener). 82 Siehe dazu Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 57. EL August 2015, Art. 267 AEUV, Rn. 107. 83 Bei Direktklagen nach Art. 263 AEUV ist nach Art. 256 Abs. 1 AEUV der EuG die zuständige Instanz. Siehe dazu Dittert, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht 7. Auflage 2015 (im Folgenden: von der Groeben/Schwarze/Hatje), Art. 256 AEUV, Rn. 9. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 28 Maßnahme in den Interessenskreis des Klägers eingreift.84 Eine unmittelbare Betroffenheit wird darüber hinaus auch dann angenommen, wenn zwar eine weitere Umsetzung erforderlich ist, diese jedoch zwingend ergehen muss und zur Interessensbeeinträchtigung führen wird oder mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersehbar ist, dass und in welcher Weise die Umsetzung in den Interessenskreis der Betroffenen eingreifen wird.85 Vorliegend dürften die Voraussetzungen der unmittelbaren Betroffenheit weder in der einen noch in der anderen Variante erfüllt sein. Denn erstens steht die Indexierungsoption im Ermessen der Mitgliedstaaten und bedarf zweitens einer zweifachen Umsetzung: erst auf abstrakt-genereller Ebene in mitgliedstaatliche Gesetze und anschließend noch der exekutiven Konkretisierung im Einzelfall durch Verwaltungsentscheidung. Eine Direktklage nach Art. 263 AEUV natürlicher und juristischer Personen vor europäischen Gerichten scheidet daher aus. 5. Zusammenfassung Kern des Änderungsvorhabens ist die Indexierung von Familienleistungen für Arbeitnehmer, deren Kinder in einem anderen als dem Beschäftigungsstaat wohnen. Die Höhe dieser Leistungen soll sich nach den „Bedingungen“ des Wohnmitgliedstaats richten. Diese Änderung soll offenbar als mitgliedstaatliche Regelungsoption in der VO 883/2004 verankert werden, so dass die nach dieser Verordnung geltenden Koordinierungsvorgaben auf EU-Ebene im Übrigen unberührt bleiben werden. Die Vereinbarkeit der geplanten Indexierungsoption mit EU-Recht lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilen. Dies gilt sowohl hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen das primärrechtlich verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als auch gegen das Art. 48 Abs. 1 Buchst. b) AEUV zugrunde liegende Exportprinzip. Entscheidend für die rechtliche Beurteilung dürfte die weitere Ausgestaltung der Indexierungsoption sein. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass zu einer solchen oder einer vergleichbaren Konstellation – soweit ersichtlich – keine unionsgerichtliche Rechtsprechung vorliegt , die (in der Vorausschau) eine abschließende Beurteilung erlauben würde. Hinsichtlich der weiteren Ausgestaltung stellt sich zunächst die Frage nach dem personellen Anwendungsbereich der Indexierungsoption. Eine Beschränkung auf EU-ausländische Arbeitnehmer und deren in anderen Mitgliedstaaten wohnhafte Kinder dürfte kaum zu rechtfertigen und daher als unzulässige offene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anzusehen sein. Bei Anknüpfung an den Wohnmitgliedstaat der Kinder und einer bloß überwiegenden Betroffenheit von EU-ausländischen Arbeitnehmern hinge die unionsrechtliche Zulässigkeit entscheidend von der Rechtfertigung einer solchen (versteckten) Ungleichbehandlung ab. Obgleich sich hierzu weder in dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs noch in der Erklärung der Kommission Angaben finden lassen, geht man in diesen Dokumenten ausdrücklich von einer vertragskonformen Lösung aus. Ein solche könnte etwa darin liegen, die Indexierungsoption mit dem Gedanken 84 Vgl. zum Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit, Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (o. Fn. 83), Art. 263 AEUV, Rn. 60 ff. 85 Siehe dazu Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 455, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 25/16 Seite 29 eines Ausgleichs von (finanziellen) Lasten, die durch den Familien- bzw. Kinderunterhalt entstanden sind, zu rechtfertigen. Wären die Unterhaltslasten in dem Wohnmitgliedstaat der Kinder des Arbeitnehmers geringer als im leistungsgewährenden Beschäftigungsstaat, könnte eine Absenkung der Familienleistungen als systemgerecht angesehen werden. Entscheidend für die unionsrechtliche Zulässigkeit eines solchen Rechtfertigungsansatzes dürfte jedoch eine angemessene Ausgestaltung der Indexierung im Übrigen sein, die bisher nicht absehbar ist. Dem Änderungsvorhaben lässt sich zudem nicht entnehmen, ob die weitere Ausgestaltung auf unionsrechtlicher oder nur mitgliedstaatlicher Ebene vorgenommen werden wird. Je unbestimmter und allgemeiner die Indexierungsoption auf Unionsebene formuliert würde, desto eher wäre sie im Lichte des Grundsatzes primärrechtkonformer Auslegung als unionsrechtlich zulässig anzusehen. Der materielle Schwerpunkt einer Vereinbarkeitsprüfung mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit läge dann auf der mitgliedstaatlichen Wahrnehmung bzw. Ausgestaltung der Indexierungsoption. Die weitere Ausgestaltung ist sodann auch für die Vereinbarkeit mit dem primärrechtlichen Exportprinzip entscheidend. Dieses steht einer Einschränkung der Mitnahme von Familienleistungen in andere Mitgliedstaaten nicht per se entgegen. Gerechtfertigt sind derartige Maßnahmen nach der Rechtsprechung der Unionsgerichte insbesondere dann, wenn die betreffende Leistung eng an das soziale Umfeld des leistungsgewährenden Mitgliedstaates gebunden ist. Dies kann auch für Familienleistungen für Kinder anzunehmen sein. Es käme folglich auf die von der Indexierungsoption erfassten Leistungen im Konkreten an sowie auf die Frage, ob dies bereits auf Ebene des Unionsrechts oder erst bei mitgliedstaatlicher Umsetzung festgelegt würde. Letzteres würde auch hier über den Schwerpunkt der materiellen Vereinbarkeitsprüfung entscheiden und den Adressaten der einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben bestimmen. Unionsrechtlicher Rechtsschutz Einzelner gegen eine rechtsverbindliche Umsetzung des Änderungsvorhabens bestünde über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Gerichte der Mitgliedstaaten, die mit nationalen Streitigkeiten über eventuelle Kürzungen von Familienleistungen befasst würden, können bzw. – im Fall letztinstanzlicher Verfahren – müssen dem EuGH Fragen nach der Gültigkeit und Auslegung des für den jeweiligen Fall entscheidungserheblichen Unionsrechts vorlegen. In diesem Rahmen ließe sich sowohl die Gültigkeit der Indexierungsoption überprüfen als auch das Diskriminierungsverbot sowie das Exportprinzip im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Umsetzung auslegen. – Fachbereich Europa –