© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 024/19 Das Vorsorgeprinzip in der Rechtsprechung der EU-Gerichte Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 024/19 Seite 2 Das Vorsorgeprinzip in der Rechtsprechung der EU-Gerichte Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 024/19 Abschluss der Arbeit: 19.03.2019 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 024/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Erläuterungen zur Rechtsprechungsanalyse 4 2.1. Nichtigkeitsklagen 4 2.2. Vertragsverletzungsverfahren 5 2.3. Vorabentscheidungsverfahren 5 3. Fazit zur Rechtsprechungsanalyse 6 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 024/19 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa ist um eine Analyse der Rechtsprechung der EU-Gerichte zum Vorsorgeprinzip ersucht worden. Hierfür wurden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sowie des Gerichts der EU (EuG) der letzten 20 Jahre untersucht. Im Folgenden wird zunächst das Vorgehen bei der Rechtsprechungsanalyse sowie deren Aufbereitung erläutert (2.). Mit einem kurzen Fazit zum Vorsorgeprinzip und seiner Bedeutung in der Rechtsprechung schließt die Ausarbeitung (3.). Die einschlägige Urteilsübersicht findet sich in drei separaten Anhängen, die der Ausarbeitung beigefügt sind. 2. Erläuterungen zur Rechtsprechungsanalyse Im Fokus der Rechtsprechungsanalyse stehen abgeschlossene und laufende Verfahren, in denen die EU-Gerichte eine materielle Prüfung des Vorsorgeprinzips vorgenommen haben. Dabei bedeutet materielle Prüfung, dass das Prinzip entweder bei der Prüfung der Gültigkeit und Auslegung von Sekundärrecht oder bei der Überprüfung nationaler Maßnahmen am Maßstab von Primäroder Sekundärrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz der Union heranzogen wurde (oder voraussichtlich werden wird). Keine Berücksichtigung haben hingegen solche Urteile gefunden, in denen das Vorsorgeprinzip zwar erwähnt wurde, eine Prüfung in der Sache durch die Gerichte aber letztlich nicht erfolgte. Bei der Darstellung der Analyseergebnisse wird zunächst nach den verschiedenen Verfahrensarten differenziert, in denen das Vorsorgeprinzip Gegenstand materieller Prüfung gewesen ist: Nichtigkeitsklagen (2.1. sowie Anhang I), Vertragsverletzungsverfahren (2.2. sowie Anhang II) und Vorabentscheidungsverfahren (2.3. sowie Anhang III). Die dort erfassten Urteile werden – zum Teil verfahrensspezifisch – jeweils nach folgenden Kriterien analysiert: Prüfungsgegenstand und -maßstab, Verfahrensbeteiligte, Argumentation des Klägers , Verfahrensstand und Ergebnis. Die Urteilsaussagen zum Vorsorgeprinzip finden sich jeweils in der gesonderten Rubrik „Zum Vorsorgeprinzip“. Es ist darauf hinzuweisen, dass in den deutschen Fassungen der Urteile, die der Analyse zugrunde lagen, sowohl der Begriff „Vorsorgegrundsatz“ als auch der Terminus „Vorsorgeprinzip“ verwendet werden, ohne dass ein Bedeutungsunterschied erkennbar ist.1 Grund hierfür dürfte wohl allein die mangelnde Begriffskohärenz bei der Übersetzung aus dem Französischen, der Arbeitssprache des Gerichts, sein, da das Prinzip dort einheitlich als „le principe de précaution“ bezeichnet wird. 2.1. Nichtigkeitsklagen Gegenstand von Nichtigkeitsklagen gemäß Art. 263 AEUV sind Handlungen der EU-Organe und damit sekundäres Unionsrecht. Dieses wird auf seine Vereinbarkeit mit dem Primärrecht der 1 In den Urteilsanalysen wird jeweils der im Urteil verwandte Begriff wiedergegeben. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 024/19 Seite 5 Union bzw. – im Fall gestufter Rechtssetzung auf EU-Ebene – mit dem jeweils höherrangigen Sekundärrecht überprüft. Die seitens der Kläger – in der Regel Mitgliedstaaten oder Private (Unternehmen) – erhobenen Vorwürfe zielen in diesen Verfahren zumeist auf einen Verstoß der EU-Maßnahme gegen das Vorsorgeprinzip . Dieses ist in den einschlägigen Urteilen zum Teil eigenständiger Prüfungsmaßstab, zum Teil wird es in Verbindung mit konkretisierenden Vorschriften des Sekundärrechts herangezogen . Je nach Klagegegenstand (Gesetzgebungsakt des Europäischen Parlaments und Rates oder verwaltungsähnliche Maßnahmen, zumeist der Kommission) und teils auch nach Kläger (Mitgliedstaaten oder Private) sind entweder der EuGH oder das EuG – letzteres erstinstanzlich – zuständig (siehe im Einzelnen Art. 256 AEUV in Verbindung mit Art. 51 Satzung des Gerichtshofs). Soweit gegen Urteile des EuG Rechtsmittel zum EuGH eingelegt wurden, wird darauf hingewiesen, und es werden eventuelle Auswirkungen auf das Vorsorgeprinzip in seiner Behandlung durch das EuG dargestellt. 2.2. Vertragsverletzungsverfahren Gegenstand von Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV, für die ausschließlich der EuGH zuständig ist, sind mitgliedstaatliche Maßnahmen und ihre Vereinbarkeit mit dem EU- Recht. Dabei geht es zum einen um nationale Maßnahmen, die das Unionsrecht (wie insbesondere die Warenverkehrsfreiheit) einschränken und von den Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung auch auf das Vorsorgeprinzip gestützt werden. Hier steht regelmäßig die Frage im Raum, ob die zuständigen nationalen Behörden das Vorsorgeprinzip rechtsfehlerfrei angewendet haben. Zum anderen geht es um nationale Maßnahmen, die gegen das Vorsorgeprinzip konkretisierendes Sekundärrecht verstoßen haben sollen (z. B. die sog. Habitatrichtlinie). 2.3. Vorabentscheidungsverfahren Durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUB als ein in den nationalen Rechtsstreit integriertes Zwischenverfahren werden die nationalen Gerichte berechtigt und verpflichtet, bei Fragen zur Auslegung der Verträge und zur Gültigkeit und Auslegung von Handlungen der Unionsorgane den – hier ebenfalls ausschließlich zuständigen – EuGH zu befassen. In Bezug auf das Vorsorgeprinzip stehen dabei Gültigkeitsfragen in Bezug auf das Sekundärrecht im Vordergrund. Diese Konstellation entspricht im Grundsatz der Situation einer Nichtigkeitsklage . Die in diesem Kontext selteneren Auslegungsfragen werden von nationalen Gerichten hingegen in Konstellationen gestellt, in denen es um die Vereinbarkeit von nationalen Maßnahmen mit dem Unionsrecht geht. Hier steht also letztlich – ebenso wie im Vertragsverletzungsverfahren – die Einhaltung des bzw. den Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip durch die Mitgliedstaaten im Vordergrund. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 024/19 Seite 6 3. Fazit zur Rechtsprechungsanalyse Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Vorsorgeprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz der Union verstanden wird, der im Laufe der Jahre zunehmend Erwähnung gefunden hat und von den EU-Gerichten intensiver geprüft wird. Praktische Relevanz kommt dem Prinzip dabei vor allem im Sekundärrecht zu – etwa im Lebensmittel- oder im Umwelt- bzw. Naturschutzrecht .2 Betrachtet man die einschlägigen Rechtsakte unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtsgrundlagen , so handelt es sich bisher oftmals um Maßnahmen, die vor allem auf die heute in Art. 43 AEUV (Landwirtschaft), in Art. 114 AEUV (Rechtangleichung im Binnenmarkt) und Art. 175 AEUV (Umwelt) geregelten Rechtssetzungszuständigkeiten gestützt wurden, wobei die genannten Bestimmungen zum Teil auch zusammen herangezogen werden. In funktionaler Hinsicht dient das Vorsorgeprinzip oftmals als Ermächtigungsgrundlage für präventive Schutzmaßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene zur Sicherung insbesondere der Gesundheit und der Umwelt. Im Fall nationaler Schutzmaßnahmen, die mit Unionsrecht kollidieren , konkretisiert es den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem die nationalen Maßnahmen jeweils genügen müssen (etwa im Fall der Kollision mit der Warenverkehrsfreiheit). Daneben ist das Vorsorgeprinzip als Auslegungsprämisse für das Sekundärrecht von Bedeutung.3 Von Bedeutung ist in rechtlicher Hinsicht schließlich, dass die EU-Gerichte ihre Kontrollbefugnis in Bezug auf die rechtsfehlerfreie Anwendung des Vorsorgeprinzips wegen der damit oft einhergehenden komplexen Beurteilungen auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränken. – Fachbereich Europa – 2 Thematische Bereiche im Einzelnen: Regelungen zur Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, zu genetisch veränderten Organismen in Lebensmitteln und Umwelt, zu Nahrungsergänzungsmitteln und Kennzeichnungspflichten , zur Zulassung von Humanarzneimittel, zur Prävention vor Tierseuchen und zum Verkauf von Tabakerzeugnisse sowie zum Schutz der Artenvielfalt, zur Erhaltung von Naturschutzgebieten und zur Verhinderung der Luftverschmutzung. 3 Siehe weiterführend zur Bewertung der Rechtsprechung zum Vorsorgeprinzip: Landmann/Rohmer/Epiney, UmweltR, 87. EL Juli 2018, Art. 191 AEUV, Rn. 31 f.