© 2021 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 023/21 Vereinbarkeit einer nationalen verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung von tierischen Produkten mit dem Unionsrecht Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 2 Vereinbarkeit einer nationalen verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung von tierischen Produkten mit dem Unionsrecht Aktenzeichen: PE 6 - 3000 - 023/21 Abschluss der Arbeit: 30.04.2021 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verpflichtende Haltungsformkennzeichnung 4 2.1. Vorgaben der LMIV 4 2.2. Gemeinsames Marktordnungsrecht 7 2.3. Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV 8 2.3.1. Eingriff 8 2.3.2. Rechtfertigung des Eingriffs 10 2.3.2.1. Ungeschriebener Rechtsfertigungsgrund des Verbraucherschutzes 10 2.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV 11 2.3.2.2.1. Geeignetheit 11 2.3.2.2.2. Erforderlichkeit 12 2.3.2.2.3. Angemessenheit 13 2.4. Unionsgrundrechte 13 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wurde beauftragt, zu prüfen, ob die Einführung einer nationalen verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung von tierischen Produkten nach dem Vorbild der Eierkennzeichnung in Deutschland mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Für die Zwecke dieser Untersuchung soll unter einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung die Kennzeichnung von Produkten tierischen Ursprungs verstanden werden, aus der sich die Haltungsbedingungen – anhand verschiedener Stufen – der verarbeiteten Nutztiere erkennen lassen. Die Haltungsformkennzeichnung selbst soll jedoch keine solchen Haltungsbedingungen festlegen. Die Einführung der Haltungsformkennzeichnung soll aufgrund einer mitgliedstaatlichen Maßnahme (bspw. aufgrund eines Bundesgesetzes) erfolgen. 2. Verpflichtende Haltungsformkennzeichnung Es ist zu prüfen, ob eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Hierzu ist zunächst auf die Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 über die Kennzeichnung von Lebensmitteln (LMIV)1 einzugehen (Ziff. 2.1.). Ferner sind die Vorgaben des Marktordnungsrechts zu berücksichtigen (Ziff. 2.2.). Im Anschluss ist zu prüfen, ob eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) darstellt (Ziff. 2.3.). Denkbar wäre auch ein Eingriff in die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) (Ziff. 2.4.). 2.1. Vorgaben der LMIV Die LMIV legt gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 allgemeine Grundsätze, Anforderungen und Zuständigkeiten für die Information über Lebensmittel und insbesondere für die Kennzeichnung von Lebensmitteln fest und gilt gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 für alle Lebensmittel, die für den Endverbraucher bestimmt sind. 1 VERORDNUNG (EU) Nr. 1169/2011 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Ric htlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (Text von Bedeutung für den EWR) (ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 18), konsolidierte Fassung vom 01.01.2018. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 5 Konkrete Vorschriften über Kennzeichnungspflichten finden sich in den Art. 9 bis Art. 35 LMIV. Verpflichtende Vorschriften für vorverpackte Lebensmittel2 beziehen sich gemäß Art. 9 Abs. 1 LMIV auf die Bezeichnung des Lebensmittels (lit. a)); die verwandten Zutaten (lit. b – e)); die Nettofüllmenge des Lebensmittels (lit. f)); das Mindesthaltbarkeitsdatum oder das Verbrauchsdatum; Aufbewahrungs- und Verwendungsanweisungen (lit. g)); der Name oder die Firma und die Anschrift des Lebensmittelunternehmers (lit. h)); ggf. das Ursprungsland oder der Herkunftsort (lit. i)); eine Gebrauchsanleitung, falls es schwierig wäre, das Lebensmittel ohne eine solche angemessen zu verwenden (lit. j)); für Getränke mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent die Angabe des vorhandenen Alkoholgehalts in Volumenprozent (lit. k)); eine Nährwertdeklaration (lit. l)).3 Weitere verpflichtende Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln finden sich in Art. 10 LMIV. Kennzeichnungspflichten, die sich ausdrücklich auf die Haltungsbedingungen von Tieren beziehen, sind dagegen in der LMIV nicht ersichtlich . Für nicht vorverpackte Lebensmittel trifft Art. 44 LMIV ergänzende Regelungen. Danach sind bei nicht vorverpackten Lebensmitteln allein die Angaben gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c) LMIV verpflichtend , Art. 44 lit. a) LMIV. Die anderen Angaben gemäß den Art. 9 und 10 LMVI sollen dagegen gemäß Art. 44 lit. b) LMIV nicht verpflichtend sein, es sei denn, die Mitgliedstaaten erlassen entsprechende nationale Vorschriften. Im Hinblick auf einzelstaatliche Maßnahmen finden sich Vorgaben im Kapitel VI der LMIV. Gemäß Art. 38 Abs. 1 LMIV dürfen die Mitgliedstaaten in Bezug auf die speziell durch die LMIV harmonisierten Aspekte einzelstaatliche Vorschriften weder erlassen noch aufrechterhalten, es sei denn, dies ist nach dem Unionsrecht zulässig. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten unbeschadet des Art. 39 LMIV einzelstaatliche Vorschriften zu Aspekten erlassen, die nicht speziell durch die LMIV harmonisiert sind, sofern diese Vorschriften den freien Verkehr der Waren, die dieser Verordnung entsprechen, nicht unterbinden, behindern oder einschränken, Art. 38 Abs. 2 LMIV.4 Ferner sieht Art. 39 Abs. 1 LMIV vor, dass ergänzend zu den in Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 LMIV genannten verpflichtenden Angaben die Mitgliedstaaten nach dem Verfahren des Art. 45 LMIV 2 Die Definition eines vorverpackten Lebensmittels findet sich in Art. 2 Abs. 2 lit. e) LMIV: „vorverpacktes Lebensmittel “ jede Verkaufseinheit, die als solche an den Endverbraucher und an Anbieter von Gemeinschaftsverpflegung abgegeben werden soll und die aus einem Lebensmittel und der Verpackung besteht, in die das Lebensmittel vor dem Feilbieten verpackt worden ist, gleichviel, ob die Verpackung es ganz oder teilweise umschließt, jedoch auf solche Weise, dass der Inhalt nicht verändert werden kann, ohne dass die Verpackung geöffnet werden muss oder eine Veränderung erfährt; Lebensmittel, die auf Wunsch des Verbrauchers am Verkaufsort verpackt oder im Hinblick auf ihren unmittelbaren Verkauf vorverpackt werden, werden von dem Begriff „vorverpacktes Lebensmittel“ nicht erfasst;“ ; zur Abgrenzung siehe Kraus, in: Stein/Kraus, Lebensmittelrechts-Handbuch , 41. EL Juli 2020, II. C. 1., Rn. 78 ff.. 3 Vgl. zu den einzelnen Kennzeichnungspflichten auch die Ausführungen von Kraus, in: Stein/Kraus, Lebensmittelrechts -Handbuch, 41. EL Juli 2020, II. C. 1., Rn. 78 ff.; Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 9 LMIV, Rn. 18 ff.; ferner Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 9 LMIV, Rn. 4 ff.; Lippert, ZLR 2020, 589, 594 f.. 4 Vgl. hierzu Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 38 LMIV, Rn. 11-14; ferner Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 9 LMIV, Rn. 8. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 6 Vorschriften erlassen können, die zusätzliche Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln vorschreiben, die aus Gründen a) des Schutzes der öffentlichen Gesundheit; b) des Verbraucherschutzes; c) der Betrugsvorbeugung; d) des Schutzes von gewerblichen und kommerziellen Eigentumsrechten, Herkunftsbezeichnungen, eingetragenen Ursprungsbezeichnungen sowie vor unlauterem Wettbewerb. gerechtfertigt sind. Nach Ansicht in der Literatur ist Art. 39 LMIV weit auszulegen, so dass die Einführung einer nationalen verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung allein im Rahmen dieser Vorschrift erfolgen kann.5 Für die Einführung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung scheint von den genannten Gründen des Art. 39 Abs. 1 LMIV der Rückgriff auf den (tierwohlorientierten) Verbraucherschutz denkbar, zumal die sog. tierschutzrechtliche Querschnittsklausel des Art. 13 AEUV vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei der Auslegung von Sekundärrecht berücksichtigt wird.6 In der Literatur wird betont, dass entsprechende nationale Maßnahmen im Einklang mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 ff. AEUV stehen müssen.7 Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV und insbesondere auf den Umstand, dass der Verbraucherschutz in Art. 36 Satz 1 AEUV nicht ausdrücklich aufgeführt wird, weisen Stimmen in der Literatur auf die hohen Anforderungen hin, nach denen für einen Rückgriff auf Art. 39 Abs. 1 LMIV besonders gravierende Gründe des Verbraucherschutzes vorliegen müssen.8 Aufgrund der vorgenannten Ausführungen wird die Einführung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung daher durch die LMIV nicht vollständig ausgeschlossen.9 Eine Entscheidung hierüber obliegt nach Einführung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung dem EuGH. In formeller Sicht ist das in Art. 45 LMIV beschriebene Verfahren zu wahren, das insbesondere eine Vorlagepflicht bei der Kommission und deren Recht zur Stellungnahme bzw. bei ablehnender Stellungnahme der Kommission ein sich anschließendes Prüfverfahren gemäß Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 182/201110 vorsieht.11 5 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 6 Gundel, ZLR 2016, 750, 757; ferner Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 13 AEUV, Rn. 6. 7 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 8 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 9 Siehe im Ergebnis auch Gundel, ZLR 2016, 750, 757. 10 VERORDNUNG (EU) Nr. 182/2011 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren (Abl. EU 2011, L 55/13). 11 Vgl. hierzu die Ausführungen von Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 45 LMIV sowie Meisterernst , in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 177. EL Juli 2020, Art. 45 LMIV; Gundel, ZLR 2016, 750, 757 ff.. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 7 2.2. Gemeinsames Marktordnungsrecht Eine Grenze für die Einführung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung könnte sich ferner aus der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (GMO)12 ergeben.13 In Art. 84 – 88 GMO finden sich Regelungen zu sog. fakultativen vorbehaltenen Angaben. Gemäß Art. 84 GMO wird eine Regelung für fakultative vorbehaltene Angaben nach Sektoren oder Erzeugnissen eingeführt, mit der es den Erzeugern von Agrarerzeugnissen mit wertsteigernden Merkmalen oder Eigenschaften erleichtert werden soll, diese Merkmale oder Eigenschaften auf dem Binnenmarkt bekanntzumachen, und mit der insbesondere spezifische Vermarktungsnormen gefördert und ergänzt werden sollen.14 Die Befugnis zum Erlass derartiger fakultativer Angaben kommt gemäß Art. 86 GMO der Europäischen Kommission zu. Gemäß Art. 88 Abs. 1 GMO kann eine fakultative vorbehaltene Angabe nur für die Beschreibung von Erzeugnissen verwendet werden, die mit den geltenden Verwendungsbedingungen im Einklang stehen. Mit der Verordnung (EG) Nr. 543/2008 (VO 543/2008)15 hat die Kommission im Fleischsektor im Hinblick auf Geflügelfleisch konkrete Vorgaben gemacht.16 Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO 543/2008 dürfen zur Angabe der Haltungsform nur die unter Art. 11 Abs. 1 lit. a) - e) VO 543/2008 sowie in Anhang IV der VO 543/2008 aufgeführten Begriffe in den anderen Sprachen der Gemeinschaft verwendet werden, und dies nur, sofern die in Anhang V VO 543/2008 genannten Bedingungen erfüllt sind.17 Gemäß Art. 11 Abs. 1 Satz 2 VO 543/2008 können die vorgenannten abschließenden Angaben um Hinweise auf die Besonderheiten der jeweiligen Haltungsform ergänzt werden .18 Die genannten Kennzeichnungspflichten gelten gemäß Art. 11 Abs. 3 VO 543/2008 unbeschadet der einzelstaatlichen technischen Maßnahmen, die über die Mindestanforderungen gemäß Anhang V VO 543/2008 hinausgehen und nur auf die Erzeuger des betreffenden Mitgliedstaats anzuwenden sind, sofern diese Maßnahmen mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und mit den 12 VERORDNUNG (EU) Nr. 1308/2013 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. EU L 347 vom 20.12.2013, S. 671) konsolidierte Fassung vom 29.12.2020. 13 Gundel, ZLR 2016, 750, 760; ferner Lippert, ZLR 2020, 589, 590 f.. 14 Vgl. hierzu Lippert, ZLR 2020, 589, 590 f.. 15 VERORDNUNG (EG) Nr. 543/2008 DER KOMMISSION vom 16. Juni 2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch (ABl. L 157 vom 17.6.2008, S. 46) konsolidierte Fassung vom 01.07.2013; vgl. hierzu Gundel, ZLR 2016, 750, 760 f.. 16 Vgl. hierzu ausführlich Lippert, ZLR 2020, 589, 595 ff.; ferner Gundel, ZLR 2016, 750, 760 f.. 17 Vgl. Art. 11 Abs. VO 543/2008: „a) „Gefüttert mit … % …“ b) „extensive Bodenhaltung“ c) „Freilandhaltung“ d) „Bäuerliche Freilandhaltung“ e) „Bäuerliche Freilandhaltung — Unbegrenzter Auslauf“.“; vgl. hierzu Lippert, ZLR 2020, 589, 595 ff.. 18 Vgl. hierzu Lippert, ZLR 2020, 589, 596. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 8 gemeinsamen Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch in Einklang stehen.19 Nach Ansicht in der Literatur dürften davon jedoch allein Verschärfungen der Haltungsbedingungen, nicht jedoch abweichende Kennzeichnungsvorgaben erfasst sein.20 Damit wäre nach Literaturansicht die Kennzeichnung von Geflügelfleisch abschließend sekundärrechtlich geregelt.21 Weitere verbindliche Kennzeichnungspflichten zur Haltungsform hat der Europäische Gesetzgeber im Hinblick auf Hühnereier eingeführt.22 Im Bereich Geflügelfleisch und Eier sind nach Literaturansicht somit eigenständige nationale Haltungsformkennzeichnungen, die die in den vorgenannten Verordnungen verwendeten Begriffe bzw. die entsprechenden Anforderungen nicht erfüllen , unzulässig.23 Eine abschließende Entscheidung dieser Frage obliegt dem EuGH. 2.3. Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV Soweit nationale Haltungsformkennzeichnungen sekundärrechtlich möglich sind, müssten diese zudem mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 ff. AEUV vereinbar sein. 2.3.1. Eingriff Gemäß Art. 34 AEUV sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Im Hinblick auf eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung kommt die Prüfung einer Maßnahme gleicher Wirkung i. S. d. Art. 34 AEUV in Betracht. Das Verbot des Art. 34 AEUV erfasst nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich jede Maßnahme der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, die Einfuhren zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (sog. Dassonville-Formel).24 19 Vgl. hierzu Lippert, ZLR 2020, 589, 596 f.. 20 Gundel, ZLR 2016, 750, 760; siehe hierzu ferner Lippert, ZLR 2020, 589, 599 f.. 21 Gundel, ZLR 2016, 750, 760 f.; ferner Lippert, ZLR 2020, 589, 599 f.. 22 Siehe Art. 12 Abs. 2 VERORDNUNG (EG) Nr. 589/2008 DER KOMMISSION vom 23. Juni 2008 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates hinsichtlich der Vermarktungsnormen für Eier (ABl. L 163 vom 24.6.2008, S. 6), konsolidierte Fassung vom 25.11.2017; vgl. hierzu Lippert, ZLR 2020, 589, 600. 23 Nach Ansicht von Lippert, ZLR 2020, 589, 599 f. soll dies auch unabhängig davon gelten, ob die Kennzeichnungspflicht durch privatwirtschaftliche Marktteilnehmer oder aufgrund staatlicher Regelung, freiwillig oder verpflichtend eingeführt wird. 24 Grundsätzlich EuGH, Urteil vom 11.7.1974, Rs. 8/74 (Dassonville), Slg. 1974, 838; ferner EuGH, Urteil vom 11.09.2008, Rs. C-141/07 (Kommission/Deutschland), ECLI:EU:C:2008:492, Rn. 28; siehe hierzu die Ausführungen von Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 34 AEUV, Rn. 62. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 9 Eine Fortführung der Dassonville-Formel nahm der EuGH in seiner sog. Cassis-de-Dijon-Entscheidung vor, in der er festhielt, dass Maßnahmen, die nicht zwischen inländischen und ausländischen Waren unterscheiden, ebenso einen Eingriff Art. 34 AEUV darstellen können.25 Dies wäre bei einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung der Fall, sofern diese gleichermaßen inländische wie ausländische Waren betrifft. Kennzeichnungspflichten unterfallen nach der Rechtsprechung des EuGH dem Verbot des Art. 34 AEUV, wenn diese unterschiedslos gelten, aber Waren betreffen, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurden.26 Eingriffe in Art. 34 AEUV können auch dann bestehen, wenn auf dem Etikett oder der Verpackung zusätzlich Angaben angebracht werden müssen, denen eine potenziell einfuhrhemmende Wirkung zukommt.27 Diese einfuhrhemmende Wirkung kann insbesondere durch Anpassungskosten für die Produkte entstehen, die dann ggf. die entsprechenden Produkte verteuern .28 Daneben können die mit den Kennzeichnungspflichten einhergehenden Informationen Kaufentscheidungen der Verbraucher beeinflussen.29 Eine Einschränkung der vorab dargestellten Rechtsprechung erfolgte durch den EuGH in der verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard).30 Ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV soll danach nicht vorliegen, wenn die Anwendung nationaler Bestimmungen , die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Die Keck-Rechtsprechung betritt Verkaufsmodalitäten, wie bspw. nationale Ladenschlussvorgaben.31 Eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung haftet 25 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 15; vgl. hierzu die Ausführungen von Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 43. 26 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 18.10.2012, Rs. C-385/10 (Elenca Srl/Ministero dell´Interno); ECLI:EU:C:2012:634, Rn. 23 f.; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 59; ferner Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 110 f.. 27 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 20.06.1991, Rs. C-39/90 (Denkavit Futtermittel GmbH/Land Baden-Württemberg), Slg. I-3099, Rn. 17; siehe dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 59 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 28 EuGH, Urteil vom 2.2.1994, Rs. C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb e.V./Clinique Laboratories SNC u. a.), Slg. 1994, I-330, Rn. 19; Gundel, ZLR 2016, 750, 752. 29 Zu den Einzelheiten siehe Gundel, ZLR 2016, 750, 752 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 24.11.1982, Rs. 249/81 (Kommission/Irland), Slg. 1982, 4006. 30 Zu diesen Kriterien vgl. EuGH, Urteil vom 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. I-6126, Rn. 16; vgl. hierzu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 47. 31 Vgl. bspw. EuGH, Urteil vom 2.6.1994, verb. Rs. C-401/92 und C-402/92 (Tankstation ´t Heukske vof u. a.), Slg. I-2227, Rn. 12 ff.; siehe hierzu auch Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34-36 AEUV, Rn. 171. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 10 als Bezeichnungsvorgabe jedoch dem Produkt selbst an.32 Insofern handelt sich bei einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung um eine produktbezogene Vorgabe, die daher nicht in den Anwendungsbereich der Keck-Rechtsprechung des EuGH unterfällt.33 2.3.2. Rechtfertigung des Eingriffs Unterschiedslos wirkende Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV können über Art. 36 Satz 1 AEUV hinaus aufgrund ungeschriebener Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt sein. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Cassis-de-Dijon kommt eine Rechtfertigung unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen aufgrund sog. zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses in Betracht.34 2.3.2.1. Ungeschriebener Rechtsfertigungsgrund des Verbraucherschutzes In der bereits genannten Cassis-de-Dijon-Entscheidung hat der EuGH festgehalten, dass insbesondere der Verbraucherschutz ein sog. zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung eines unterschiedslos geltenden Eingriffes in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV darstellen kann.35 Inhaltlich zielt der Verbraucherschutz nach der Rechtsprechung des EuGH auf die Verhinderung der Irreführung36 eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“.37 Eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung müsste daher der Verhinderung der Irreführung von Verbrauchern durch sachgerechte Information dienen, um sich auf den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des Verbraucherschutzes berufen zu können. Ferner muss es sich insoweit nach der Rechtsprechung des EuGH um Gründe nicht-wirtschaftlicher Art handeln.38 32 Vgl. hierzu die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 34 AEUV, Rn. 50. 33 Vgl. Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 48. 34 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Becker , in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 43, differenzierend Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 34 AEUV, Rn. 196 f.. 35 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 8; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 45. 36 EuGH, Urteil vom 2.2.1994, Rs. C-315/92 (Verband Sozialer Wettbewerb e.V./Clinique Laboratories SNC u. a.), Slg. 1994, I-330, Rn. 15; dazu Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 36 AEUV, Rn. 45; ferner Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 71. EL August 2020, Art. 36 AEUV, Rn. 113. 37 EuGH, Urteil vom 16.7.1998, Rs. C-210/96 (Gut Springenheide GmbH u. a./Oberkreisdirektor des Kreises Steinfurt ), Slg. I-4681, Rn. 31; vgl. hierzu Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34-36 AEUV, Rn. 212. 38 Vgl. EuGH, Urteil vom 28.4.1998, Rs. C-120/95 (Decker/Caisse de maladie des employés privés) Slg. 1998, I-1871, Rn. 39, siehe dazu Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 49. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 11 Wie bereits erörtert wurde, wird in der Literatur insoweit auf die hohen Anforderungen hingewiesen , nach denen besonders gravierende Gründe des Verbraucherschutzes für eine Rechtfertigung von Eingriffen in die Warenverkehrsfreiheit vorliegen müssten.39 Andere Stimmen in der Literatur verweisen ferner darauf, dass Kennzeichnungspflichten, die eine negative Wirkung entfalten können, sich nur schwerlich mit dem Verbraucherschutz rechtfertigen ließen.40 2.3.2.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 36 Satz 2 AEUV Art. 36 Satz 2 AEUV regelt, dass Maßnahmen, die gegen die Vorgaben des Art. 34 AEUV verstoßen, dann nicht gerechtfertigt werden können, wenn sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Hieraus folgt nach der Rechtsprechung des EuGH, dass Maßnahmen , die nach Art. 36 Satz 1 AEUV gerechtfertigt werden sollen, verhältnismäßig sein müssen.41 Dies gilt auch im Falle des Berufens auf die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses .42 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gegenständliche Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des rechtmäßig verfolgten Ziels zu gewährleisten, ohne darüber hinauszugehen , was hierzu erforderlich ist.43 Für den Fall einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung würde dies im Grundsatz bedeuten, dass dieses in seiner konkreten Ausgestaltung das mildeste Mittel zur Erreichung des rechtmäßig verfolgen Ziels – der Gewährung (tierwohlorientierten ) Verbraucherschutzes – darstellen muss. 2.3.2.2.1. Geeignetheit Eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung ist zunächst dann geeignet, wenn sie für das Erreichen des verfolgten Rechtfertigungsgrundes – der Gewährung (tierwohlorientierten) Verbraucherschutzes – tatsächlich förderlich ist. Der EuGH stellt an die Geeignetheit einer Maßnahme keine hohen Anforderungen, sondern gewährt den Mitgliedstaaten bei der Einschätzung 39 Grube, in: Voit/Grube, LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 39 LMIV, Rn. 11 f.; Meisterernst, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht , 177. EL Juli 2020, Art. 39 LMIV, Rn. 10. 40 Gundel, ZLR 2016, 750, 753. 41 EuGH, Urteil vom 12.3.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 44 ff.; siehe auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 50. 42 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AG/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 8 ff.; siehe auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 50. 43 EuGH, Urteil vom 13.11.1990, Rs. C-331/88 (The Queen/The Minister of Agriculture, Fisheries and Food) , Slg. 1990, I-4057 Rn. 13; vgl. hierzu die Ausführungen von Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 34 AEUV, Rn. 43. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 12 der Eignung einer Maßnahme vielmehr einen Prognosespielraum.44 Verlangt wird allerdings, dass die nationale Regelung das Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.45 Grundsätzlich könnte eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung möglicherweise bestehende Informationsdefizite des Verbrauchers hinsichtlich der Haltungsform des verarbeiteten Nutztieres entgegenwirken. Dies kann an dieser Stelle aber nicht abschließend bewertet werden. 2.3.2.2.2. Erforderlichkeit Bejaht man die Geeignetheit einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung auf mitgliedstaatlicher Ebene, wäre in der Folge deren Erforderlichkeit zu prüfen. Diese fehlt im Grundsatz, wenn der Zweck mit einem genauso wirksamen Mittel erreicht werden kann, der den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränkt.46 Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies insbesondere , wenn der Mitgliedstaat zwischen verschiedenen zur Erreichung desselben Ziels geeigneten Mitteln zur Verfügung hat.47 Zunächst stellt eine Kennzeichnungspflicht ein milderes Mittel im Vergleich zu einem Verkaufsverbot dar.48 Ob die Kennzeichnung einer bestimmten Haltungsform zur Verhinderung einer Irreführung des Verbrauchers ein zwingendes Erfordernis darstellt, kann hier nicht abschließend bewertet werden.49 Es lässt sich bereits nicht abschließend bewerten, ob insoweit ein Informationsdefizit der Verbraucher besteht. Als milderes Mittel käme möglicherweise eine freiwillige Kennzeichnung in Betracht. Dagegen wird jedoch in der Literatur argumentiert, dass diese die eigentlich beabsichtigte Wirkung der Etablierung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung nicht in ausreichendem Maße hervorrufe.50 Eine abschließende Entscheidung über die Erforderlichkeit obläge nach Einführung einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung dem EuGH. 44 Vgl. EuGH, Urteil vom 15.9.1994, Rs. C-293/93 (Houtwipper), Slg. 1994, I-4262, Rn. 22; siehe dazu Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 53. 45 EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Rs. C-28/09 (Kommission/Österreich), ECLI:EU:C:2011:854, Rn. 126, 133 ff.; vgl. auch Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 129. 46 EuGH, Urteil vom 11.5.1989, Rs. 25/88 (Wurmser u. a.), Slg. 1989, 1124, Rn. 13. 47 EuGH, Urteil vom 12.03.1987, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1262, Rn. 28. 48 Müller-Graf, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage 2015, Art. 36 AEUV, Rn. 114. 49 Der EuGH hat konkrete Grenzen der Erforderlichkeit von Kennzeichnungspflichten gemäß Art. 34 AEUV in der Entscheidung EuGH, Urteil vom 26.10.1995, Rs. C-51/94 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1995, I-3617, Rn. 37 aufgezeigt. Danach widerspräche die Verpflichtung einer zusätzlichen Angabe eines Zusatzstoffes Art. 34 AEUV, wenn dieser Zusatzstoff bereits im Verzeichnis der Zutaten aufgeführt ist. 50 Gundel, ZLR 2016, 750, 754. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 13 2.3.2.2.3. Angemessenheit Letztlich müsste eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung im engeren Sinne angemessen sein. Zu prüfen wäre insoweit die konkrete Zweck-Mittel-Relation. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung führt der EuGH eine Güterabwägung durch, im Rahmen derer er die abstrakte Gewichtigkeit des betroffenen Schutzgutes, die Intensität der konkreten Bedrohung sowie die Besonderheiten des Falles einfließen lässt.51 Ziel dieser Abwägung ist die Feststellung, ob ein Rechtfertigungsgrund die Maßgaben des freien Warenverkehrs überwiegt.52 In der Literatur wird insoweit auch von der Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen der Warenverkehrsfreiheit sowie den anderen Zielen des AEUV gesprochen.53 Zu berücksichtigen wäre nach der Rechtsprechung des EuGH insoweit auch das Vorliegen von Übergangsfristen, die den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit zur Anpassung gibt.54 Nach Ansicht in der Literatur wäre die Rechtfertigung einer verpflichtenden Regelung für alle auf dem deutschen Markt vertriebenen Produkte aus Gründen des Verbraucherschutzes denkbar, soweit diese eine sog. Gleichwertigkeitsprüfung bei nur geringfügigen Abweichungen vorsähe.55 Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die geringste Kennzeichnungsstufe an nationalen Mindestanforderungen orientieren könnte, die ggf. über Mindestanforderungen der EU bzw. des Herkunftslandes hinausgehen könnten. In diesem Fall könnte es Importwaren verweigert werden, die geringste Kennzeichnungsstufe tragen zu dürfen.56 Daher müsste nach Ansicht in der Literatur zumindest eine Kennzeichnungsstufe existieren, die den unionsrechtlichen Mindeststandard berücksichtigt.57 Die Angemessenheit einer verbindlichen Haltungsformkennzeichnung hängt im Ergebnis von deren konkreter Ausgestaltung ab. Eine abschließende Entscheidung über die Vereinbarkeit einer verpflichtenden Haltungsformkennzeichnung mit der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV obliegt dann dem EuGH. 2.4. Unionsgrundrechte Neben einem Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV könnte eine verpflichtende Haltungsformkennzeichnung in das Recht der unternehmerischen Freiheit gemäß 51 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 52 Vgl. dazu grundlegend EuGH, Urteil vom 20.2.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral-AG, Köln/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 650, Rn. 14. 53 Vgl. die Ausführungen von Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 36 AEUV, Rn. 56. 54 EuGH, Urteil vom 14.12.2004, Rs. C-463/01 (Kommission/Deutschland), Slg. 2004, I-11734, Rn. 79 f.. 55 Gundel, ZLR 2016, 750, 767. 56 Gundel, ZLR 2016, 750, 767 f.. 57 Nach Gundel, ZLR 2016, 750, 768 f., wäre folgende Formulierung denkbar: „Entspricht deutschen bzw. EU-Tierschutz -Mindeststandards“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 023/21 Seite 14 Art. 16 GRCh eingreifen.58 Nach Ansicht in der Literatur kommt jedoch Art. 16 GRCh bei grenzüberschreitenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen gegenüber Art. 34 AEUV keine eigenständige Bedeutung zu.59 Dagegen käme Art. 16 GRCh lediglich als Prüfungsmaßstab für mitgliedstaatliche Maßnahmen in Betracht, die reine Inlandsfälle betreffen und gleichzeitig in den Anwendungsbereich der GRCh gemäß Art. 51 GRCh fallen.60 Grundsätzlich gelten die Regelungen der GRCh gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 GRCh gegenüber den Mitgliedstaaten allein bei der Durchführung des Unionsrechts. Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Mitgliedstaaten daher bei der Durchführung von Primärrecht bzw. europäischen Rechtsakten (insb. Verordnungen, Richtlinien , Beschlüssen gemäß Art. 288 AEUV) die Erfordernisse des europäischen Grundrechtsschutzes zu beachten (sog. „agency-situation“).61 Nach Ansicht in der Literatur wäre der Anwendungsbereich der GRCh gemäß Art. 51 Abs. GRCh bei nationalen Haltungsformkennzeichnungen eröffnet, soweit die LMIV auf die innerstaatliche Produktion anwendbar ist.62 Die Kommission könne danach bei einer Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit der LMIV gemäß Art. 45 LMIV keine Regelung als vertragskonform bewerten, die im Widerspruch zum Recht der unternehmerischen Freiheit stünde.63 Eine eigenständige Prüfung der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 GRCh sei damit nur in Bezug auf eine Ausgestaltung erforderlich, die die inländische Produktion stärker belastet als eingeführte Ware. In allen anderen Fällen würden die Wirkungen der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 34 AEUV im Gewicht die unternehmerische Freiheit überlagern und sich daher eine eigenständige Prüfung von Art. 16 GRCh erübrigen. Eine abschließende Entscheidung dieser Frage obliegt dem EuGH. – Fachbereich Europa – 58 Vgl. EuGH, Urteil vom 8.10.1986, Rs. 234/85 (Franz Keller), Slg. 1986, 2909, Rn. 8 ff.; Gundel, ZLR 2016, 750, 755. 59 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 60 Vgl. Gundel, ZLR 2016, 750, 756 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 26.2.2013, Rs. C-617/10 (Aklagare/Akerberg Fransson) ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 21. 61 EuGH; Urteil vom 13.07.1989, Rs. 5/88 (Wachauf/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1989, 2633, Rn. 17 ff.; EuGH, Urteil vom 13.04.2000, Rs. C-292/97 (Kjell Karlsson u. a.), Slg. 2000, I-2760, Rn. 35 ff.; vgl. dazu Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage 2019, Art. 51 GRC, Rn. 39. 62 Gundel, ZLR 2016, 750, 756. 63 Gundel, ZLR 2016, 750, 756.