© 2020 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 – 023/20 Grenzschließungen im Lichte des EU-Asylrechts Ausarbeitung Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 2 Grenzschließungen im Lichte des EU-Asylrechts Aktenzeichen: PE 6 - 3000 – 023/20 Abschluss der Arbeit: 24. April 2020 Fachbereich: PE 6: Fachbereich Europa Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie 5 2.1. Auf der türkischen Seite der Grenze 5 2.1.1. Auslegung des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie („an der Grenze“) 6 2.1.1.1. Wortlaut 6 2.1.1.2. Systematik 6 2.1.1.3. Zweck 8 2.1.1.4. Primärrechtskonforme Auslegung nach Maßgabe des Art. 78 Abs. 1 AEUV 9 2.1.1.5. Zwischenergebnis 10 2.1.2. Unionsrechtliche Vorgaben für die Schließung einer Grenzübergangsstelle im Einzelfall 11 2.1.2.1. Schengener Grenzkodex 11 2.1.2.2. Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV 11 2.1.2.3. Grundrechtecharta? 13 2.1.3. Zusammenfassung und Ergebnis 14 2.2. Auf der griechischen Seite der Grenze 15 2.2.1. Keine Ausnahme für „Verfahren an der Grenze“ nach Art. 43 AsylVerfRL 15 2.2.2. Keine vorläufigen Maßnahmen nach Art. 78 Abs. 3 AEUV 15 2.2.3. Abweichung von der Asylverfahrensrichtlinie auf der Grundlage von Art. 72 AEUV? 16 2.2.3.1. Möglichkeit eines Rückgriffs auf Art. 72 AEUV 18 2.2.3.1.1. Zu den von Griechenland geltend gemachten Gründen 19 2.2.3.1.2. Die „spezifischen Bedingungen“ der Asylverfahrensrichtlinie 19 2.2.3.2. Vereinbarkeit einer Abweichung von der Asylverfahrensrichtlinie mit den tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV 22 2.2.4. Zusammenfassung und Ergebnis 25 3. Unionsrechtliche Berichtspflichten im Zusammenhang mit Frontex-Einsätzen 26 Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 4 1. Einleitung Nach der Ankündigung der türkischen Regierung im Februar, die Grenze zur EU zu öffnen, kamen tausende Menschen zur türkisch-griechischen Grenze nahe des von griechischer Seite geschlossenen Grenzübergangs Parzakulele/Kastanies.1 In den folgenden Tagen setzte die griechische Polizei laut Medienberichten schwere Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Personen am Übertritt zu hindern, nachdem diese zuvor Steine und andere Gegenstände auf die Bereitschaftspolizei geschleudert hatten.2 Auch von türkischer Seite seien Tränen- und Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei geschossen worden.3 Angeblich sollen Personen, die die griechische Seite der Grenze erreicht haben, von griechischen Grenzschützern festgenommen und auf die türkische Seite der Grenze zurückgedrängt worden sein.4 Die griechische Regierung begründet die Grenzschließung damit, es handele sich um einen massenhaften Zustrom von bereits seit längerer Zeit in der Türkei lebenden Menschen, der durch die türkische Regierung gesteuert und koordiniert würde; die Türkei instrumentalisiere verzweifelte Menschen zur Verfolgung geopolitischer Ziele.5 Der Präsident des Europäischen Rates und die Präsidentin der Europäischen Kommission brachten im Rahmen eines Besuchs in dem griechischen Grenzort Kastanies ihre Unterstützung für die Maßnahmen der griechischen Regierung zum Ausdruck (Griechenland sei der „Europäische Schild“).6 Auf der griechischen Seite der Grenze kamen Grenzschutzbeamte verschiedener Mitgliedstaaten im Rahmen eines Frontex-Soforteinsatzes zu Grenzsicherungszwecken zum Einsatz (sog. rapid border intervention).7 1 SZ vom 1.3.2020, Türkei lässt Zehntausende Migranten Richtung EU durch, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche .de/politik/konflikte-tuerkei-laesst-zehntausende-migranten-richtung-eu-durch-dpa.urn-newsml-dpacom -20090101-200301-99-138810. 2 SZ vom 1.3.2020, Türkei lässt Zehntausende Migranten Richtung EU durch, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche .de/politik/konflikte-tuerkei-laesst-zehntausende-migranten-richtung-eu-durch-dpa.urn-newsml-dpacom -20090101-200301-99-138810. 3 Zeit Online vom 7.3.2020, Rauchbomben und Tränengas an griechisch-türkischer Grenze, abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten. 4 Hierauf verweist der VN-Sonderbeauftragte für die Rechte von Migranten in einer Erklärung vom 23.3.2020: “Migrants who managed to cross the border were allegedly intercepted by Greek border guards, detained, stripped, confiscated of belongings and pushed back to Turkey”, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25736&LangID=E. 5 Näher hierzu mit Nachweisen unter 2.2.3.1.1. 6 SZ vom 3.3.2020, EU-Spitze dankt Griechenland: "Europäischer Schild", abrufbar unter: https://www.sueddeutsche .de/politik/eu-eu-spitze-dankt-griechenland-europaeischer-schild-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101- 200303-99-163084; siehe auch „Statements by Prime Minister Kyriakos Mitsotakis in Kastanies, Evros, following his visit with the heads of the EU institutions at the Greek-Turkish border“ vom 3.3.2020, abrufbar unter: https://primeminister.gr/en/2020/03/03/23458. 7 Frontex, Pressemitteilung vom 13.3.2020, abrufbar unter: https://frontex.europa.eu/media-centre/news-release /frontex-launches-rapid-border-intervention-on-greek-land-border-J7k21h. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 5 Ende März wurde das von den an der Grenze campierenden Menschen errichtete Lager von türkischen Sicherheitskräften aufgelöst, und die Menschen wurden in das Landesinnere verbracht.8 Eine Ausarbeitung des Fachbereichs WD 2 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages befasst sich mit der Vereinbarkeit der betreffenden Maßnahmen der griechischen Behörden an der Grenze insbesondere mit dem Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls zur EMRK sowie mit dem Refoulementverbot nach Art. 33 GFK und Art. 3 EMRK (WD 2 – 3000 – 028/20). Die vorliegende Ausarbeitung behandelt zum einen die Frage der Anwendbarkeit des EU-Asylrechts , insbesondere der Asylverfahrensrichtlinie9, auf die Personen bzw. Schutzsuchenden an der türkisch-griechischen Grenze (2.). Hierbei wird auch auf die explizite Frage der Auftraggeberin eingegangen, ob sich Griechenland bei der Aussetzung des Asylrechts auf Art. 78 Abs. 3 AEUV berufen könne. Zum anderen wird die Frage geprüft, inwieweit sich deutsche Beamte im Rahmen von Einsätzen der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex in anderen EU-Mitgliedstaaten oder Drittstaaten an Einsätzen und Maßnahmen beteiligen dürfen, die gegen die Zurückweisungsverbote des internationalen , europäischen und EU-Rechts verstoßen, bzw. welche unionsrechtlichen Handlungsoder Berichtspflichten ihnen in einem solchen Fall obliegen (3.). 2. Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie Der räumliche Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie ist nach ihrem Art. 3 Abs. 1 beschränkt auf „Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet — einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen — der Mitgliedstaaten gestellt werden “. Für die weitere Prüfung ist somit danach zu unterscheiden, ob sich die betreffenden Personen noch auf der türkischen Seite der geschlossenen Grenze befinden (2.1.1.) oder ob sie bereits das griechische Hoheitsgebiet erreicht haben (2.1.2.). Im ersten Fall stellt sich insbesondere die Frage, ob sich die Personen bereits „an der Grenze“ eines Mitgliedstaats gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL befinden. Im zweiten Fall ist ausgehend von der räumlichen Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf die im griechischen Hoheitsgebiet gestellten Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen, ob das Unionsrecht in besonderen Situationen eine Abweichung von den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie erlaubt. 2.1. Auf der türkischen Seite der Grenze Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren sich auf die Frage der Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie auf Schutzsuchende, die sich auf der türkischen Seite der Grenze befinden. Denn soweit die betreffenden Personen nach diesen Bestimmungen bereits durch das Erreichen der Grenze einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens hätten, würde dies auch zur 8 Tagesschau vom 27.3.2020, Türkei räumt Flüchtlingscamp, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland /fluechtlinge-griechenland-tuerkei-103.html. 9 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 6 Anwendung weitere Vorschriften des EU-Asylrechts führen, insbesondere in Bezug auf die Bestimmung des für die Prüfung zuständigen Mitgliedstaats nach der Dublin-III-Verordnung10 und die zu gewährleistenden Aufnahmebedingungen gemäß der Aufnahmerichtlinie.11 Auf sonstige Bestimmungen des Unionsrechts, u.a. des Schengener Grenzkodex12 (SGK) und des Primärrechts, ist hierbei nur insoweit einzugehen, als diese im Zusammenhang mit der Asylverfahrensrichtlinie Bedeutung erlangen. Die Vereinbarkeit von Maßnahmen der griechischen Behörden zur Grenzsicherung nach dem Schengener Grenzkodex als solche sind dagegen nicht Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 2.1.1. Auslegung des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie („an der Grenze“) Für Schutzsuchende auf der türkischen Seite der geschlossenen Grenze stellt sich die Frage, ob sich diese „an der Grenze“ eines Mitgliedstaats gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL befinden und somit einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens nach den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie haben. Soweit ersichtlich, hatte der EuGH bislang noch keine Gelegenheit, diesen Begriff verbindlich auszulegen. 2.1.1.1. Wortlaut Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch käme durchaus ein weites Verständnis des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie in Betracht, wonach „an der Grenze“ jeden Punkt in unmittelbarer Nähe des Grenzverlaufs eines Mitgliedstaats auch außerhalb seines Hoheitsgebiets einschließt. 2.1.1.2. Systematik In systematischer Hinsicht liegt hingegen eine engere Sichtweise nahe. Verschiedene Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie lassen erkennen, dass sich die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie in derartigen Fällen „an der Grenze“ in erster Linie auf die spezielle Situation an Grenzübergangsstellen beziehen. Ausdrücklich bezieht sich etwa die Verpflichtung zu Informations- und Beratungsleistungen nach Art. 8 AsylVerfRL auf „Grenzübergangsstellen“. Ferner deuten die Art. 43 Abs. 2, Art. 6 der AsylVerfRL darauf hin, dass mit dem Begriff „an der 10 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung). 11 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. 12 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 7 Grenze“ die Orte gemeint sind, an denen die zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden eine Entscheidung über die Einreise einer Person treffen. Besonders deutlich kommt dies auch in der 38. Begründungserwägung der Asylverfahrensrichtlinie zum Ausdruck: „(38) Viele Anträge auf internationalen Schutz werden an der Grenze oder in Transitzonen eines Mitgliedstaats gestellt, bevor eine Entscheidung über die Einreise des Antragstellers vorliegt. Die Mitgliedstaaten sollten Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit und/oder Begründetheit von Anträgen vorsehen können, die es ermöglichen, unter genau festgelegten Umständen an Ort und Stelle über solche Anträge zu entscheiden.“ (Unterstreichung hinzugefügt ) Aus dem Schengener Grenzkodex wiederum ergibt sich, dass die Entscheidung über die Einreise in den Schengenraum an den „Grenzübergangsstellen“ getroffen wird. Denn nach Art. 5 Abs. 1 SGK dürfen die Außengrenzen „nur an den Grenzübergangsstellen“ überschritten werden, sofern der Mitgliedstaat von den fakultativen Ausnahmen des Absatzes 2 keinen Gebrauch gemacht hat. Dort sind folglich die in Art. 8 SGK geregelten Grenzübertrittskontrollen durchzuführen. Sofern die hierbei zu überprüfenden Voraussetzungen der Einreise in den Schengenraum nicht vorliegen , wird (dort) die Einreise verweigert (Art. 14 SGK „Einreiseverweigerung“). Die „Grenzübergangsstellen “ werden nicht durch die Union, sondern gemäß Art. 2 Nr. 8 SGK von den zuständigen Behörden in den einzelnen Mitgliedstaaten für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassen (näher hierzu unter 2.1.1.3.). Im Lichte dieser Bestimmungen über die individuelle Einreiseverweigerung, in denen möglicherweise Zweifel aufkommen könnten, ob eine Person in rechtlicher Hinsicht das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats erreicht hat, erscheint die Regelung in Art. 3 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie über ihre Geltung auch „an der Grenze“ als punktuelle Klarstellung bzw. Ergänzung des Begriffs im „Hoheitsgebiet“ mit Blick auf die spezielle Situation an Grenzübergangsstellen. Dieses Verständnis wird schließlich auch durch den Satzbau des Art. 3 AsylVerfRL bestätigt, in welcher der Hinweis auf die Geltung der Asylverfahrensrichtlinie „einschließlich an der Grenze oder in Transitzonen“ als Einschub in Gedankenstrichen hinter dem Begriff „im Hoheitsgebiet“ erfolgt („Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet — einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen — der Mitgliedstaaten gestellt werden “). Aufgrund der erkennbar großen Bedeutung und möglichen Konsequenzen einer Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie für die Mitgliedstaaten erschiene es wenig naheliegend anzunehmen, dass durch diesen Einschub eine Antragstellung an jedem beliebigen Punkt des Grenzverlaufs der Mitgliedstaaten auch exterritorial ermöglicht werden sollte. Denn im Lichte der konkreten Gewährleistungen der Asylverfahrensrichtlinie hätte dies insbesondere zur Folge, dass den Antragstellern bis zur Entscheidung über ihren Antrag der Aufenthalt in dem jeweiligen Mitgliedstaat zu gestatten wäre (Art. 9 AsylVerfRL). Für ein derart weitreichendes Verständnis liefert jedenfalls der seinerzeitige Vorschlag der Kommission keine Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 8 Anhaltspunkte. Allenfalls sind ihm gewisse Hinweise für die Annahme zu entnehmen, dass hiermit in erster Linie solche Orte erfasst werden sollten, an denen sich üblicherweise Asylsuchende an die zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden wenden.13 Unter Berücksichtigung dieser Systematik ist somit davon auszugehen, dass der Begriff „an der Grenze“ gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL nicht jeden Punkt in unmittelbarer Nähe des gesamten Grenzverlaufs eines Mitgliedstaats erfasst, sondern in erster Linie die von den zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Orte des Grenzübertritts (sog. „Grenzübergangsstelle“). 2.1.1.3. Zweck Auch wenn es nach den bisherigen Überlegungen naheliegt, den Begriff „an der Grenze“ in erster Linie auf Grenzübergangsstellen im Sinne des Schengener Grenzkodex zu beschränken, stellt sich die Frage, ob eine strikte Zugrundelegung dieser Auslegung in bestimmten Situationen möglicherweise den grundlegenden Zielen der Asylverfahrensrichtlinie unzureichend Rechnung tragen könnte. Das aufgezeigte Begriffsverständnis hat grundsätzlich zur Folge, dass die Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie „an der Grenze“ von einer einzelstaatlichen Entscheidung abhängig gemacht wird. Im Hinblick auf die Zulassung bestimmter Orte für den Grenzübertritt begegnet dieser Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten in asylverfahrensrechtlicher Hinsicht keinerlei Bedenken. Im Hinblick auf die Schließung einer vormals zugelassenen Grenzübergangsstelle ist jedoch festzustellen, dass damit ein zunächst jedenfalls abstrakt-generell bestehendes Recht auf Zugang zum Asylverfahren an diesem Ort durch eine einseitige mitgliedstaatliche Maßnahme kurzfristig beseitigt werden kann, indem sie diesen Ort dem räumlichen Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie entzieht. Allgemein ist davon auszugehen, dass die Gefahr einer Vereitelung der grundlegenden Ziele der Asylverfahrensrichtlinie durch Einzelmaßnahmen der Mitgliedstaaten, die im Vorfeld ihres eigentlichen Anwendungsbereichs ansetzen, nicht das bisherige Auslegungsergebnis in Bezug auf den Begriff „an der Grenze“ als solches in Frage stellt. Aus unionsrechtlicher Sicht stellt sich vielmehr die Frage, ob eine grundsätzlich von den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer eigenen Zuständigkeiten zu treffende Entscheidung – hier über die Festlegung der für den Grenzübertritt zugelassenen Orte, einschließlich der Entscheidung über Schließung einer bestimmten Grenzübergangsstelle im Einzelfall – überhaupt unionsrechtlichen Anforderungen unterliegt. Hierfür kommen unterschiedliche Ansätze, wie etwa das Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV, in Betracht (näher hierzu unter 2.1.2.). 13 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, KOM(2000) 578 endg.: „Daher sollten die Stellen, an die sich aller Wahrscheinlichkeit nach Asylsuchende an den Grenzen oder im Gebiet eines Mitgliedstaates wenden, in der Lage sein, dieser Verpflichtung nachzukommen.“ Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 9 2.1.1.4. Primärrechtskonforme Auslegung nach Maßgabe des Art. 78 Abs. 1 AEUV Mit Blick auf Art. 78 Abs. 1 AEUV, wonach die Union ihre Politik u.a. im Bereich Asyl unter Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu entwickeln hat, wäre im Rahmen einer primärrechtskonformen Auslegung von Art. 3 AsylVerfRL grundsätzlich auch ein weiteres Auslegungsergebnis denkbar. Zwar ist nach den einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen der Grundsatz der Nichtzurückweisung auch an der Grenze zu wahren.14 Allerdings wird diese Aussage in der Diskussion nicht in der Weise spezifiziert, dass damit tatsächlich jeder beliebige Punkt in der Nähe des Grenzverlaufs eines Staates außerhalb des staatlichen Hoheitsgebiets, etwa entlang eines Grenzzauns oder eines Grenzflusses, erfasst sein soll. Die Frage der exterritorialen Anwendbarkeit des Zurückweisungsverbots wird vielmehr primär unter dem Gesichtspunkt einer von dem betreffenden Staat ausgeübten effektiven Kontrolle über die Schutzsuchenden diskutiert.15 Dementsprechend bezieht sich die Diskussion zur Frage der Geltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung an der Grenze (mehr oder weniger deutlich) in erster Linie auf die typischen Fälle, in denen eine Person eine Grenzübergangsstelle erreicht – etwa an der Landgrenze, auf einem Flughafen oder im Transitbereich – und dort im Rahmen einer Grenzübertrittskontrolle gegenüber den Grenzbeamten um Schutz nachsucht. Jedenfalls findet sich, soweit ersichtlich, kein expliziter Hinweis, dass dies per se auch all jene Orte einschließe, die nicht (noch nicht oder nicht mehr) für den regulären Grenzübertritt zugelassen sind, wenn sich die betreffenden Personen noch außerhalb des Hoheitsgebiet des Staates befinden.16 Im Hinblick auf die Frage, wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist, bei denen ein Staat den Zugang zu seinem Territorium durch Schließung einer Grenzübergangsstelle im Einzelfall faktisch verhindert, wird in der Diskussion zunächst darauf hingewiesen, dass sich ein Staat nicht durch Abriegelung seiner Grenzen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen könne.17 Dieser Gefahr trägt das Unionsrecht im Rahmen von Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV Rechnung (näher hierzu unter 2.1.2.2.), so dass jedenfalls insoweit keine pauschale Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie unter dem Gesichtspunkt der primärrechtskonformen Auslegung nach Maßgabe des Art. 78 Abs. 1 AEUV angezeigt ist. 14 Vgl. Ausarbeitung des Fachbereichs WD 2 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000 – 028/20, S. 12. 15 Siehe etwa UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, 2007, Rn. 43: “[…] As with non-refoulement obligations under international human rights law, the decisive criterion is not whether such persons are on the State’s territory, but rather, whether they come within the effective control and authority of that State”. 16 Vgl. Ausarbeitung des Fachbereichs WD 2 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000 – 028/20, S. 12. 17 Pertsch/Püschmann, First Order, then Humanity, 25.3.2020 auf Verfassungsblog: “States cannot circumvent their international obligations by fortifying and abandoning their borders for the sole purpose of preventing access to procedures”, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/first-order-then-humanity/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 10 Unklar ist in diesem Zusammenhang die mögliche Bedeutung einer positiven Verpflichtung zur Schaffung regulärer Einreisemöglichkeiten. Einen Begründungsansatz könnten insoweit die Ausführungen des EGMR in seinem Urteil vom 13.2.2020 in der Rechtssache N.D. und N.T. gegen Spanien18 liefern, in welcher er die Praxis sog. „heißer Abschiebungen“ in bestimmten Situationen gebilligt hatte und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Bestehens von legalen Zugangsmöglichkeiten hingewiesen hat. Ob diese Ausführung indes als Anerkennung einer eigenständigen positiven Verpflichtung zu werten ist, ist bislang nicht abschließend geklärt.19 Völlig unklar ist in diesem Zusammenhang indes, ob ein Verstoß gegen eine solche Verpflichtung ungeachtet des in diesem Zusammenhang allgemein anzuerkennenden Beurteilungsspielraums20 der Mitgliedstaaten zwangsläufig zur Folge hätte, dass die Schließung eines Grenzübergangs als unbeachtlich anzusehen wäre. Ferner ist zu bedenken, dass ein solches Ergebnis im Kontext der Asylverfahrensrichtlinie wohl auf eine Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats hinausliefe, die Personen in ihr Hoheitsgebiet zu verbringen, was der EGMR in seinem Urteil vom 13.2.2020 in der Rechtssache N.D. und N.T. gegen Spanien jedoch ausdrücklich ausschließt: “221. The Court stresses that the Convention is intended to guarantee to those within its jurisdiction not rights that are theoretical and illusory, but rights that are practical and effective (see paragraph 171 above). This does not, however, imply a general duty for a Contracting State under Article 4 Protocol No. 4 to bring persons who are under the jurisdiction of another State within its own jurisdiction.” (Unterstreichung hinzugefügt) In Anbetracht dieser Unklarheiten erscheint es eher fernliegend anzunehmen, dass eine solche positive Verpflichtung das bisherige Auslegungsergebnis einer Beschränkung des Begriffs „an der Grenze“ gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL in erster Linie auf die von den Mitgliedstaaten festzulegenden Grenzübergangsstellen ganz grundsätzlich in Frage stellen könnte. 2.1.1.5. Zwischenergebnis Nach den vorstehenden Ausführungen bezieht sich der Begriff „an der Grenze“ gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL in erster Linie auf die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Nr. 8 SGK bestimmten Grenzübergangsstellen. Wie jedoch bereits festgestellt, hat dieses Begriffsverständnis grundsätzlich zur Folge, dass die Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie „an der Grenze“ von einer einzelstaatlichen Entscheidung abhängig gemacht wird. Hiernach könnte ein Mitgliedstaat durch Schließung einer vormals zugelassenen Grenzübergangsstelle ein zunächst jedenfalls abstrakt-generell bestehendes 18 EGMR, BeschwerdeNrn. 8675/15 and 8697/15, N.D. und N.T. gegen Spanien, Rn. 232. 19 Offengelassen bei Thym, A Restrictionist Revolution?, 17.2.2020 auf Verfassungsblog: „Is it a freestanding positive obligation, which flows in particular from Article 3 ECHR and which people in third countries can rely upon? Or is it, simply, an ancillary consideration guiding the application of the ‘own conduct’ requirement? […]”, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/a-restrictionist-revolution/. Befürwortend dagegen in Ausarbeitung des Fachbereichs WD 2 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000 – 028/20, S. 14. 20 Allgemein hierzu Krieger, ZaöRV 2014, 187 (209). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 11 Recht auf Zugang zum Asylverfahren an diesem Ort durch eine einseitige mitgliedstaatliche Maßnahme kurzfristig beseitigen, indem er durch die Schließung diesen Ort dem räumlichen Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie entzieht. Es stellt sich somit die Frage, ob die Entscheidung eines Mitgliedsstaats über die Schließung einer bestimmten Grenzübergangsstelle im Einzelfall, besonderen unionsrechtlichen Anforderungen unterliegt. Hierfür ist zunächst näher auf die einschlägigen Vorgaben des Schengener Grenzkodex einzugehen (2.1.2.1.). Im Anschluss ist zu fragen, ob eine solche Entscheidung gegen das Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen kann (2.1.2.2.). Auch eine Anwendung der Grundrechtcharta ist in Betracht zu ziehen (2.1.2.3.). Zur Klarstellung sei angemerkt, dass sich diese Frage von vornherein nicht für Personen stellt, die die Grenzübergangsstelle noch vor ihrer Schließung erreicht haben. In ihrem konkreten Fall hat sich der Anspruch auf Zugang zum Asylverfahren gemäß der Richtlinie individualisiert und kann somit auch nicht durch eine Grenzschließung rückwirkend beseitigt werden, sofern nicht eine Abweichung insbesondere nach Maßgabe von Art. 72 AEUV möglich wäre (näher hierzu unter 2.2.). 2.1.2. Unionsrechtliche Vorgaben für die Schließung einer Grenzübergangsstelle im Einzelfall 2.1.2.1. Schengener Grenzkodex Der Schengener Grenzkodex formuliert keine expliziten formellen oder materiellen Anforderungen für die Festlegung der „Grenzübergangsstellen“ gemäß Art. 2 Nr. 8 SGK durch die Mitgliedstaaten . Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 5 Abs. 2 SGK, wonach die Mitgliedstaaten der Kommission gemäß Art. 39 SGK die Liste ihrer Grenzübergangsstellen übermitteln. Nicht zuletzt an den übrigen in Art. 39 SGK genannten Mitteilungspflichten (u.a. statistische Daten) wird deutlich, dass die Übermittlung der Liste der Grenzübergangsstellen wohl lediglich Informationszwecken dient und somit nicht als konstitutive Voraussetzung für die mitgliedstaatliche Festlegung der für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Orte angesehen werden kann. Nichts anderes kann für Mitteilungen in Bezug auf Änderung etwa infolge der Schließung einer bestehenden Grenzübergangsstelle gelten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass nach den genannten Bestimmungen des Schengener Grenzkodex die Entscheidung über die Zulassung eines bestimmten Ortes für den Grenzübertritt wohl nur mit genereller Wirkung erfolgen kann. Dies ist daraus zu schließen, dass sich die Entscheidung über die Zulassung nach Art. 2 Nr. 8 SGK lediglich auf den betreffenden Ort bezieht, ohne dass etwa die Möglichkeit vorgesehen wäre, das Überschreiten der Außengrenze an der Grenzübergangsstelle einem bestimmten Personenkreis vorzubehalten und die Zulassung in dieser Hinsicht zu beschränken. Eine solche Beschränkung wäre unionsrechtlich wohl als unbeachtlich einzustufen. Es ist allerdings auch nichts darüber bekannt, dass Griechenland die fragliche Grenzübergangsstelle etwa nur für Schutzsuchende geschlossen hätte. 2.1.2.2. Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV Allgemein könnten mitgliedstaatliche Maßnahmen zur Vereitelung des Ziels einer Richtlinie gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen. Nach Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 12 UAbs. 3 dieser Vorschrift unterstützen die Mitgliedstaaten die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgaben „und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“. Unter Verweis auf dieses sog. Beeinträchtigungsverbot hat der EuGH etwa eine zeitliche Vorwirkung von Richtlinien in der Weise anerkannt, dass die Mitgliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist „keine Vorschriften erlassen [dürfen], die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen“21. Allerdings ist völlig ungeklärt , ob dieser Ansatz auf den räumlichen Anwendungsbereich einer Richtlinie übertragen werden kann, ohne letztlich den räumlichen Anwendungsbereich der Richtlinie als solchen zu erweitern, wenn dieser wie hier an eine Vorbedingung des einzelstaatlichen Rechts geknüpft ist (hier die Zulassung eines bestimmten Ortes für den Grenzübertritt). Denn in dem zitierten Urteil hat der EuGH deutlich gemacht, dass die zeitliche Vorwirkung nicht darin besteht, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anwendung der Richtlinienvorgaben vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu begründen,22 was letztlich einer Vorverlegung der Umsetzungsfrist und damit einer Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie gleichgekommen wäre. Es solle vielmehr lediglich sichergestellt werden, dass das Ziel der Richtlinie fristgerecht erreicht werden könne. In diesem Punkt unterscheidet sich ein ausschließlich auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV gestützter Ansatz von denjenigen Fällen, bei denen der EuGH innerhalb des bereits eröffneten Anwendungsbereichs einer Richtlinie von den Mitgliedstaaten eine Verwirklichung der Richtlinienziele nach dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit einfordert.23 Ungeachtet der Frage einer generellen Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung zur zeitlichen Vorwirkung von Richtlinien, ist jedoch grundsätzlich auch im Hinblick auf den räumlichen Anwendungsbereich einer Richtlinie davon auszugehen, dass der EuGH jedenfalls in Extremfällen einen Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV annehmen würde. Zu denken wäre etwa an eine mitgliedstaatliche Praxis der wiederholten kurzfristigen Öffnung und Schließung von Grenzübergangsstellen, um dadurch gezielt einzelne Schutzsuchende ohne besonderen Anlass vom Erreichen des grundsätzlich geöffneten Grenzübergangs abzuhalten. Eine solche Praxis wäre kaum mit den grundlegenden Zielen der Asylverfahrensrichtlinie als vereinbar anzusehen. Ob ein Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV auch in weniger eindeutigen Fällen wie dem vorliegenden anzunehmen ist, in welcher der betreffende Mitgliedstaat die Schließung einer Grenzübergangsstelle maßgeblich mit dem besonderen Umstand begründet, dass der Zustrom von Menschen von dem Nachbarstaat aus geopolitischen Erwägungen gesteuert und koordiniert würde, ist nicht eindeutig zu beantworten. Zunächst wäre hierbei wohl maßgeblich das Vorliegen von Gründen zu berücksichtigen, die eine Berufung auf die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten „für die Aufrechterhaltung 21 EuGH, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie. 22 EuGH, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Rn. 44, 48. 23 Vgl. EuGH, Rs. C‑329/11, Achughbabian, Rn. 33. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 13 der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ nach Art. 72 AEUV rechtfertigen (hierzu näher unter 2.2.3.). Lediglich sofern dies nicht der Fall ist, wäre wohl von besonderer Bedeutung, in welcher Weise die Grenzschließung erfolgt, also wie der betreffende Mitgliedstaat die Personen am Erreichen seines Hoheitsgebiets hindert, da jedenfalls die Ausübung effektiver (physischer) Kontrolle aus völkerrechtlichen Sicht zur exterritorialen Anwendbarkeit des Grundsatzes der Nichtzurückweisung führen würde.24 Schließlich wäre wohl allgemein davon auszugehen , dass ein solcher auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV gestützter Ansatz aus Gründen der Rechtssicherheit auf eindeutige Fälle zu beschränken wäre, weil er in der Sache letztlich doch auf eine Erweiterung des vom Unionsgesetzgeber festgelegten räumlichen Anwendungsbereichs der Asylverfahrensrichtlinie hinausliefe. Mangels einschlägiger Rechtsprechung des EuGH ist aber letztlich nicht eindeutig festzustellen, auf welche Kriterien hierbei abzustellen wäre, weshalb eine abschließende Bewertung vorliegend ausscheidet. 2.1.2.3. Grundrechtecharta? Mit Rücksicht auf die vorstehenden Ausführungen stellt sich die Frage einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta (GRC) nur insoweit, als sich die Maßnahme nicht bereits als Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV darstellt. Insoweit erscheint es fraglich, ob eine Entscheidung der Mitgliedstaaten über die Schließung einer Grenzübergangsstelle überhaupt als Durchführung des Unionsrechts nach Art. 51 Abs. 1 GRC zu betrachten ist und somit unionseinheitlich an den Gewährleistungen der Grundrechtecharta zu messen ist. Zwar legt der EuGH bei der Anwendung von Art. 51 Abs. 1 GRC auf mitgliedstaatliche Maßnahmen grundsätzlich einen weiten Ansatz zugrunde.25 Allerdings ist hiernach wohl jedenfalls zu verlangen, dass die mitgliedstaatliche Maßnahme dazu dient, einer im Unionsrecht vorgesehenen allgemeinen Verpflichtung (etwa zur Festlegung geeigneter Maßnahmen zur Ahndung von gegen die Interessen der Union gerichteter Verhaltensweisen) nachzukommen.26 Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt und ist die in Rede stehende Situation somit nicht vom Unionsrecht geregelt, so ist die Grundrechtecharta nach der Rechtsprechung nicht anwendbar.27 Dies bedeutet zum einen , dass eine eigenständige Anwendung der Grundrechtecharta außerhalb des Anwendungsbereichs des einschlägigen Unionsrechts ausscheiden muss. Zum anderen ist davon auszugehen, dass sich ein beschränkter Anwendungsbereich der einschlägigen Unionsbestimmungen nicht unter Verweis auf die Grundrechtecharta erweitern lässt. Denn außerhalb ihres Anwendungsbereichs entfaltet die Grundrechtecharta keine Wirkungen. Insoweit wäre der Grundrechtsschutz nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts zu beurteilen. Auch die Beachtung weitergehender 24 Vgl. Ausarbeitung des Fachbereichs Europa, PE 6 - 3000 - 073/19, S. 22 ff. 25 Vgl. EuGH, Wachauf, Rs. 5/88, Rn. 19-22; vgl. aus jüngerer Rechtsprechung, EuGH, verb. Rs. C‑411/10 und C‑493/10, N.S. u.a., Rn. 64 ff. 26 Vgl. EuGH, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, Rn. 17 ff., 26 ff.; EuGH, Rs. C‑418/11, Texdata Software, Rn. 70-75. 27 Vgl. nur EuGH, Rs. C-638/16, X und X, Rn. 45, 49; EuGH, Rs. C-87/12, Ymeraga, Rn. 42 f.; EuGH, Rs. C‑40/11, Iida, Rn. 80 f. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 14 völkerrechtlicher Vorgaben wäre von den Mitgliedstaaten insoweit außerhalb des Unionsrechts zu gewährleisten. Es wurde bereits festgestellt, dass der Schengener Grenzkodex keine formellen oder materiellen Anforderungen für die Festlegung der „Grenzübergangsstellen“ gemäß Art. 2 Nr. 8 SGK durch die Mitgliedstaaten aufstellt (2.1.2.1.). Auch ist die Zulassung (bzw. Schließung) von Grenzübergangsstellen durch die Mitgliedstaaten nach dem Schengener Grenzkodex nicht ausdrücklich als unionsrechtliche Verpflichtung vorgesehen. Dies erklärt sich wohl bereits daraus, dass diese Frage aufgrund der höchst unterschiedlichen tatsächlichen Gegebenheiten und Erfordernisse innerhalb der verschiedenen Mitgliedstaaten, etwa im Hinblick auf ihre jeweilige geografische Lage oder wirtschaftliche Verflechtung, kaum einer unionseinheitlichen Regelung zugänglich wäre. Ferner besteht hierzu aus unionsrechtlicher Sicht auch überhaupt kein Bedürfnis, da davon auszugehen ist, dass die Mitgliedstaaten aus eigenem Interesse den Grenzübertritt grundsätzlich ermöglichen wollen. Zwar mag es zutreffen, dass die Vorschriften des Schengener Grenzkodex über die Vornahme von Grenzkontrollen die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung an überhaupt irgendeinem Ort der Schengenaußengrenze voraussetzt.28 Allerdings erklärt sich daraus nicht das spezifische Unionsinteresse, welches die Begründung einer eigenständigen unionsrechtlichen Verpflichtung zur Offenhaltung bestimmter Grenzübergangsstellen erklären würde, soweit ihre Schließung nicht als Beeinträchtigung der grundlegenden Ziele der Asylverfahrensrichtlinie gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV zu erfassen ist. Im Ergebnis ist somit nicht ersichtlich, unter welchem Gesichtspunkt die Entscheidung zur Schließung einer Grenzübergangsstelle, soweit sie nicht gegen das Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV verstößt, als Durchführung des Unionsrechts gemäß Art. 51 Abs.1 GRC angesehen werden kann. 2.1.3. Zusammenfassung und Ergebnis Der Begriff „an der Grenze“ gemäß Art. 3 Abs. 1 AsylVerfRL bezieht sich in erster Linie auf die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Nr. 8 SGK zugelassenen Grenzübergangsstellen. Dieses Begriffsverständnis hat zwar grundsätzlich zur Folge, dass die (räumliche) Anwendbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie „an der Grenze“ von einer einzelstaatlichen Entscheidung abhängig gemacht wird. Allerdings haben die Mitgliedstaaten bei ihrer Entscheidung über die Schließung einer Grenzübergangsstelle insbesondere das Beeinträchtigungsverbot nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV zu beachten. Demzufolge haben die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. Hierfür dürfte es maßgeblich darauf ankommen, ob Gründe vorliegen, die eine Berufung auf die Wahrnehmung mitgliedstaatlicher 28 Diese Rechtsansicht äußerte der EGMR beiläufig in seiner Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien EGMR (BeschwerdeNrn. 8675/15 and 8697/15) zu der Vorgängervorschrift des Art. 5 Abs. 1 SGK in Art. 4 der durch den Schengener Grenzkodex aufgehobenen Verordnung Nr. 562/2006: “209 […]. The implementation of Article 4(1) of the Code, which provides that external borders may be crossed only at border crossing points and during the fixed opening hours, presupposes the existence of a sufficient number of such crossing points. In the absence of appropriate arrangements, the resulting possibility for States to refuse entry to their territory is liable to render ineffective all the Convention provisions designed to protect individuals who face a genuine risk of persecution ” (Unterstreichung hinzugefügt). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 15 Zuständigkeiten „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ nach Art. 72 AEUV rechtfertigen, was unter 2.2.3. näher zu untersuchen ist. Bereits aus diesem Grund ist eine abschließende Bewertung an dieser Stelle nicht möglich. Soweit die Schließung einer Grenzübergangsstelle im Einzelfall nicht als Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV anzusehen ist, dürfte eine darüber hinausgehende Anwendung der Grundrechtecharta gemäß Art. 51 Abs.1 GRC ausscheiden. 2.2. Auf der griechischen Seite der Grenze Auf diejenigen Personen, die das griechische Hoheitsgebiet erreicht haben und einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, findet die Asylverfahrensrichtlinie bereits nach dem Wortlaut ihres Art. 3 Abs. 1 grundsätzlich Anwendung („im Hoheitsgebiet […] der Mitgliedstaaten“). 2.2.1. Keine Ausnahme für „Verfahren an der Grenze“ nach Art. 43 AsylVerfRL Eine Ausnahme von der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie ergibt sich nicht allein daraus, dass eine Person in Verbindung mit einem irregulären Überschreiten der Grenze aufgegriffen und unmittelbar zurückgeführt wird. Zwar ist in Art. 43 AsylVerfRL vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten über Anträge, die an der Grenze oder in Transitzonen gestellt werden, in einem besonderen Verfahren entscheiden dürfen. Hiernach kann ein Antrag auf internationalen Schutz etwa als unzulässig betrachtet werden, wenn der Antragsteller aus einem Staat kommt, der als „erster Asylstaat“ oder „sicherer Drittstaat “ betrachtet wird (Art. 43 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 33 Abs. 2 Buchst. b und c AsylVerfRL). Doch auch im Falle der Anwendung eines Grenzverfahrens wäre eine sofortige Rückführung von Personen, ohne ihr die Gelegenheit zur Äußerung zu geben (Art. 34 AsylVerfRL) und ohne Gewährleistungen eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung (Art. 46 I lit. a ii. und iii AsylVerfRL), nicht erlaubt. Somit bedarf es auch keiner Klärung, ob die Voraussetzungen des Art. 38 Abs. 1 AsylVerfRL für die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats im Falle der Türkei erfüllt sind.29 2.2.2. Keine vorläufigen Maßnahmen nach Art. 78 Abs. 3 AEUV Die Vorschrift in Art. 78 Abs. 3 AEUV verleiht der Union die Kompetenz zum Erlass vorläufiger Maßnahmen im Falle einer durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen ausgelösten Notlage. Die Vorschrift lautet: „(3) Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“ 29 Zur Diskussion Nestler/Ziebritzki, NVwZ 2020, 129. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 16 Nach der Rechtsprechung des EuGH können derartige Maßnahmen grundsätzlich auch „von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten abweichen“.30 Der Rat verfügt über „ein weites Ermessen bei der Wahl der Maßnahmen, die getroffen werden können, um rasch und wirksam auf eine konkrete Notlage sowie auf etwaige Entwicklungen, die sie durchlaufen könnte, zu reagieren“.31 In Bezug auf die hier zu beurteilenden Situation an der griechisch-türkischen Grenze hat der Rat, soweit ersichtlich, jedoch keine Maßnahmen gemäß dieser Vorschrift ergriffen. Als Grundlage für einzelstaatliche Maßnahmen zur Abweichung von bestehenden Bestimmungen des Sekundärrechts dürfte diese Vorschrift nach ihrem eindeutigen Charakter als Kompetenzgrundlage für Maßnahmen der Union aber nicht in Betracht kommen.32 2.2.3. Abweichung von der Asylverfahrensrichtlinie auf der Grundlage von Art. 72 AEUV? Nach Art. 72 AEUV berühren die Art. 67 bis 89 AEUV (AEUV-Titel über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - RFSR) nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit . In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte der EuGH lediglich im Zusammenhang mit der Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach dem Schengener Grenzkodex auf diese Vertragsbestimmung allgemein Bezug genommen und festgestellt, dass sowohl Art. 72 AEUV als auch die einschlägige Vorschrift im Schengener Grenzkodex (ihr jetziger Art. 23 Buchst. a) „bestätigt, dass die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berührt hat“.33 Auf dieser Grundlage bestanden diversen Unklarheiten in Bezug auf die Anwendung und Reichweite von Art. 72 AEUV.34 In einem aktuellen Urteil hat der EuGH grundlegend zur Bedeutung von Art. 72 AEUV Stellung genommen und ist dabei insbesondere auf die Frage eingegangen, ob diese Vertragsbestimmung 30 EuGH, verb. Rs. C‑643/15 und C‑647/15, Slowakei/Rat, Rn. 78. 31 EuGH, verb. Rs. C‑643/15 und C‑647/15, Slowakei/Rat, Rn. 133. 32 So auch Pertsch/Püschmann, First Order, then Humanity, 25.3.2020 auf Verfassungsblog, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/first-order-then-humanity/; Lehnert, Die Herrschaft des Rechts an der EU-Außengrenze ?, 4.3.2020 auf Verfassungsblog, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/die-herrschaft-des-rechts-ander -eu-aussengrenze/. 33 EuGH, Rs. C‑278/12 PPU, Adil, Rn. 66, bestätigt in EuGH, Rs. C‑9/16, A, Rn. 50; in einem anderen Kontext bislang nur in EuGH, Rs. C‑643/15 und C‑647/15, Slowakei/Rat, Rn. 306. 34 Vgl. nur die verschiedenen Diskussionspunkte bei Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 72 AEUV, Rn. 1 ff.; Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 72 AEUV, Rn. 1 ff.; Müller-Graff, in: Pechstein /Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 72 AEUV, Rn. 1 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 17 es den Mitgliedstaaten ermöglicht, von geltenden Bestimmungen des Sekundärrechts abzuweichen .35 Darin betont der EuGH zunächst allgemein in Bezug auf Art. 72 AEUV, dass ein solcher Vorbehalt überhaupt nur unter den Voraussetzungen der in der Vertragsbestimmung genannten besonderen Tatbestandsmerkmale anerkannt werden könne, weil dies andernfalls die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen könnte.36 Diese Ausnahme sei „eng auszulegen“.37 Ferner obliege es dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, „nachzuweisen , dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen“.38 Da das Sekundärrecht im Bereich der RFSR regelmäßig spezielle Vorschriften enthält, die der in Art. 72 AEUV anerkannten Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit in einzelnen Bereichen Rechnung tragen, stellt sich die Frage, ob ungeachtet dieser konkretisierenden Bestimmungen des Sekundärrechts ein Rückgriff auf Art. 72 AEUV möglich ist. Diese Frage wurde in der einschlägigen deutschsprachigen Kommentarliteratur, die jedoch das erwähnte EuGH-Urteil noch nicht berücksichtigt, bislang ganz überwiegend unter Verweis auf den kompetenzbegrenzenden Charakter des Art. 72 AEUV pauschal bejaht.39 Diese Auffassungen dürften im Lichte des erwähnten EuGH-Urteil nur mit Einschränkungen aufrechtzuhalten sein. Zunächst ist festzustellen, dass der EuGH in seinem Urteil einen direkten Rückgriff auf Art. 72 AEUV nicht generell ausschließt. Vielmehr stellt er im Hinblick auf die besonderen Bestimmungen des in dem Verfahren in Rede stehenden Sekundärrechts fest, dass der Unionsgesetzgeber bei ihrem Erlass „die Wahrnehmung der den Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV zukommenden Zuständigkeiten gebührend berücksichtigt hat, indem er diese Wahrnehmung, […] unter die in Art. 5 Abs. 4 und 7 dieser Beschlüsse aufgestellten spezifischen Bedingungen stellte“.40 Hierzu 35 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 142 ff. 36 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 143. 37 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 144. 38 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 147, 152. 39 So etwa Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 72 AEUV, Rn. 4; Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak /Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 72 AEUV, Rn. 2; Rossi, in: Calliess /Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 72 AEUV, Rn. 4 f.; differenzierend aber bereits damals Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 24. Edition, Stand: 01.02.2019, Art. 72 AEUV, Rn. 1 f. 40 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 153. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 18 führt er im Einzelnen aus, wie diese Bedingungen auszulegen sind41 und weist insbesondere darauf hin, dass den mitgliedstaatlichen Behörden hierbei ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt werde, macht aber zugleich deutlich, in welcher Hinsicht diesem Ermessen Grenzen gesetzt sind.42 Im Anschluss an seine allgemeinen Ausführungen geht der EuGH auf die in dem Verfahren konkret vorgetragenen Einwände ein, welche eine gebührende Berücksichtigung des durch Art. 72 AEUV geschützten Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten möglicherweise hätten in Frage stellen können.43 Auf dieser Grundlage gelangt er zu dem Schluss, dass sich die betreffenden Mitgliedstaaten in dem konkreten Fall „nicht auf Art. 72 AEUV berufen können, um ihre Weigerung zu rechtfertigen, sämtliche ihnen durch [das betreffende Sekundärrecht auferlegte Verpflichtungen] zu erfüllen“.44 Diese Ausführungen zeigen somit zum einen, dass ein Rückgriff auf Art. 72 AEUV nicht generell, sondern nur unter der Voraussetzung ausgeschlossen ist, dass der Unionsgesetzgeber mit den in dem betreffenden Sekundärrechtsakt aufgestellten spezifischen Bedingungen die Wahrnehmung der den Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV zukommenden Zuständigkeiten „gebührend berücksichtigt “ hat. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass diese „spezifischen Bedingungen“ des Sekundärrechts grundsätzlich auch strengere Anforderungen aufstellen können, als allein nach Maßgabe des Art. 72 AEUV zu beachten wären. Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu prüfen, ob die Asylverfahrensrichtlinie den von Griechenland konkret geltend gemachten Gründen für die Notwendigkeit einer Abweichung „gebührend berücksichtigt“ (2.2.3.1.). Nur sofern dies nicht der Fall ist und somit ein Rückgriff auf Art. 72 AEUV in Betracht kommt, ist zu prüfen, ob die von Griechenland vorgenommene Abweichung von der Asylverfahrensrichtlinie mit Art. 72 AEUV vereinbar ist (2.2.3.2.). 2.2.3.1. Möglichkeit eines Rückgriffs auf Art. 72 AEUV Eine Bewertung, ob die spezifischen Bedingungen der Asylverfahrensrichtlinie die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gemäß Art. 72 AEUV hinreichend berücksichtigten, hat mit Bezug auf die konkret geltend gemachten Gründe zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit zu erfolgen. 41 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 154-168. 42 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 160. 43 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 162 ff. 44 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 169. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 19 2.2.3.1.1. Zu den von Griechenland geltend gemachten Gründen In einer Erklärung vom 1.3.202045 informierte die griechische Regierung über ihren Beschluss, u.a. die Maßnahmen zur Grenzsicherung zu verstärken und das Recht zur Beantragung von Asyl für Personen, die illegal die Grenze überschritten haben, zeitweise auszusetzen und sie ohne vorherige Registrierung zurückzuführen. Zudem sollte der Rat hierüber in Kenntnis gesetzt werden, damit dieser nach dem Verfahren des Art. 78 Abs. 3 AEUV vorläufige Maßnahmen aufgrund dieses ungewöhnlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen („unusual influx“) beschließen möge. Zur Begründung wurde insbesondere darauf verwiesen, dass der plötzliche und massenhafte Zustrom von der Türkei gesteuert und koordiniert würde („directed and encouraged“, „coordinated […] nature“). Hieraus ergebe sich eine ernste, ungewöhnliche und asymmetrische Bedrohung der nationalen Sicherheit („serious, unusual and asymmetric threat to the country’s national security“). In einer Erklärung vom 3.3.202046 ergänzt der griechische Ministerpräsident u.a., die Türkei nutze die verzweifelte Lage der Menschen aus, um ihre geopolitischen Ziele zu verfolgen und Europa zu erpressen („This is a blatant attempt by Turkey to use desperate people to promote its geopolitical agenda […]. Europe will not be blackmailed by Turkey over the refugee issue “). Die Menschen kämen auch nicht etwa direkt aus Syrien, sondern würden bereits seit langer Zeit sicher in der Türkei leben („[…] They have been living safely in Turkey for a long period of time“). Hiervon ausgehend wird deutlich, dass Griechenland die getroffenen Maßnahmen maßgeblich mit dem besonderen Umstand begründet, dass der Zustrom von Menschen von der Türkei aus geopolitischen Erwägungen gesteuert und koordiniert würde. Nicht geltend gemacht wird in diesem Zusammenhang indes eine Überforderung des Asylsystems etwa angesichts der großen Zahl von Menschen. Dies ergibt sich auch nicht implizit aus der Berufung auf Art. 78 Abs. 3 AEUV, weil diese Vorschrift nicht etwa auf Fälle des Massenzustroms beschränkt ist, sondern, wie der Wortlaut verdeutlicht, allgemein den „plötzlichen Zustrom“ von Drittstaatsangehörigen erfasst.47 2.2.3.1.2. Die „spezifischen Bedingungen“ der Asylverfahrensrichtlinie Zunächst stellt die Asylverfahrensrichtlinie in ihrer 51 Begründungerwägung allgemein fest: „(51) Nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) berührt diese Richtlinie nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten 45 Hellas Journal vom 1.3.2020, Statement of the Government Spokesman, abrufbar unter: https://hellasjournal .com/2020/03/statement-of-the-government-spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government -council-of-national-security/. 46 Statements by Prime Minister Kyriakos Mitsotakis in Kastanies, Evros, following his visit with the heads of the EU institutions at the Greek-Turkish border“ vom 3.3.2020, abrufbar unter: https://primeminister .gr/en/2020/03/03/23458. 47 Vgl. nur Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 24. Edition, Stand: 01.02.2019, Art. 72 AEUV, Rn. 34. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 20 für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit .“ Nur vereinzelt enthält die Richtlinie Bestimmungen, in denen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet wird, aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bestimmte Beschränkungen vorzusehen. So können die zuständigen Behörden nach Art. 8 Abs. 2 AsylVerfRL Organisationen und Personen, die Beratungsleistungen für Antragsteller erbringen, den Zugang zu Grenzübergangsstellen beschränken, wenn dies „für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Verwaltung der betreffenden Grenzübergangsstellen objektiv erforderlich“ ist. Ferner kann nach Art. 31 Abs. 8 AsylVerfRL ein beschleunigtes Verfahren an der Grenze nur unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführt werden, u.a. wenn „es schwerwiegende Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des Mitgliedstaats darstellt oder er aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung nach nationalem Recht zwangsausgewiesen wurde“ (Buchst. j), was nach Art. 25 Abs. 6 Buchst. a AsylVerfRL insbesondere bei unbegleiteten Minderjährigen zu beachten ist. Mit Blick auf Schwierigkeiten, die daraus resultieren, dass „eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt“ oder dass die „Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen“ zu verzeichnen ist, sieht die Richtlinie für die betreffenden Verfahren dagegen lediglich eine Fristverlängerung, nicht indes eine Aussetzung vor (vgl. Art. 6 Abs. 5, Art. 31 Abs. 3 Uabs. 3 Buchst. b, Art. 43 Abs. 3 AsylVerfRL). Eine zeitweise Aussetzung der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie für Personen, die illegal die Grenze eines Mitgliedstaats überschritten haben, als Reaktion auf einen von dem betreffenden Nachbarstaat betriebenen Politik eines staatlich gesteuerten Zustrom von Menschen – wie von Griechenland geltend gemacht – ist in keiner Vorschrift der Asylverfahrensrichtlinie spezifisch geregelt. Es stellt sich somit die Frage, ob das Fehlen von spezifischen Vorschriften über die Aussetzung der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie in besonderen außenpolitischen Situationen als unzureichende Berücksichtigung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit gemäß Art. 72 AEUV im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu werten ist. Dagegen ließe sich einwenden, dass die Anerkennung von außenpolitischen Erwägungen bei der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten möglicherweise einen zu weitgehenden Spielraum geben würde und dadurch die praktische Wirksamkeit und einheitliche Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie grundlegend in Frage gestellt werden könnte. Die dargestellten spezifischen Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie ließen sich möglicherweise insoweit als implizite Bestätigung begreifen, dass aus anderen als den dort genannten Gründen keine Abweichung von der Richtlinie möglich sein soll. Gerade die Anerkennung einer so weitgehenden Abweichungsbefugnis aufgrund von „außenpolitischen Gründen“ würde die grundlegende Bedeutung des Rechts auf Zugang zu einem Asylverfahrens, wie es in der Richtlinie Anerkennung gefunden hat, letztlich beeinträchtigen. Dafür ließe sich wiederum anführen, dass der Gefahr einer Aushebelung des Rechts auf Zugang zum Asylverfahren nach Maßgabe der Asylverfahrensrichtlinie letztlich durch die aufgezeigten Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 21 Anforderungen der Rechtsprechung des EuGH zu den eng auszulegenden Tatbestandsvoraussetzungen und dem anzuwendenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung getragen werden kann. Der pauschale Ausschluss von außenpolitischen Erwägungen ergibt sich daraus jedenfalls nicht zwangsläufig. Dies bestätigt auch eine Erklärung zu der wortgleichen Vorgängerbestimmung nach dem Vertrag von Amsterdam (ex-Art. 73 l EG-Vertrag),48 wonach „die Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten nach Artikel 73 l Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft außenpolitische Überlegungen berücksichtigen können“.49 Vor diesem Hintergrund wird allein an den dargestellten spezifischen Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie nicht hinreichend deutlich, inwieweit sich der Unionsgesetzgeber überhaupt mit der möglichen Bedeutung außenpolitischer Erwägungen im Rahmen des Art. 72 AEUV befasst hat. Dies wäre wohl als Voraussetzung dafür anzusehen, um die vorhandenen spezifischen Vorschriften als impliziten Ausdruck einer bewussten Entscheidung werten zu können, dass die Anerkennung weiterer auf Art. 72 AEUV gestützter Ausnahmen unter allen Umständen ausgeschlossen werden sollte. Stattdessen klingt in der zitierten 51. Begründungserwägung an, dass der Unionsgesetzgeber nicht davon ausgegangen zu sein scheint, mit der Asylverfahrensrichtlinie selbst eine abschließende Einschätzung in Bezug auf sämtliche in Bezug auf Art. 72 AEUV denkbaren Herausforderungen vorgenommen zu haben. Diese gibt nämlich nicht etwa lediglich den Wortlaut des Art. 72 AEUV wieder, sondern stellt unter Bezugnahme auf diese Vertragsbestimmung klarstellend fest, dass „diese Richtlinie nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit [berührt]“. Aufgrund der unklaren Umstände50 der Einfügung dieser Begründungserwägung wäre diesbezüglich aber auch ein anderes Verständnis denkbar, so dass ihr Aussagegehalt an dieser Stelle auch nicht überbewertet werden sollte. Gleichwohl spricht im Ergebnis einiges dafür, dass die spezifischen Bedingungen der Asylverfahrensrichtlinie die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gemäß Art. 72 AEUV im Hinblick auf außenpolitische Erwägungen nicht gebührend berücksichtigt hat und ein Rückgriff auf Art. 72 AEUV insoweit möglich bleibt. 48 Hierzu Kellerbauer, in: Kellerbauer/Klamert/Tomkin, The EU Treaties and the Charter of Fundamental Rights, 1. Auflage 2019, Art. 72 AEUV, Rn. 3; Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 72 AEUV, Rn. 4. 49 Allgemein sind gemeinsame Erklärungen zwar nicht Bestandteil der Verträge (vgl. Art. 51 EUV), können aber bei der Auslegung in gewissen Grenzen berücksichtigt werden, siehe nur Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 51 EUV, Rn. 5. 50 In dem der Vorgängerrichtlinie 2005/85 EG zugrundeliegenden Vorschlag der Kommission war die entsprechende (dort 28.) Begründungserwägung noch nicht enthalten, vgl. ursprünglich KOM(2000) 578 endg., geändert KOM(2002) 326 endg. In den verfügbaren Dokumenten des Rechtssetzungsprozesses wird nicht deutlich, an welchem Punkt und mit welcher Intention sie eingefügt wurde. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 22 2.2.3.2. Vereinbarkeit einer Abweichung von der Asylverfahrensrichtlinie mit den tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV Aus dem erwähnten Urteil ergibt sich mit Blick auf Art. 72 AEUV zunächst, dass auch diese vertragliche Abweichungsbefugnis nur ganz bestimmte „außergewöhnliche Fälle“ betrifft, die zur Wahrung der „einheitliche(n) Anwendung des Unionsrechts“ nur in den Grenzen ihrer „besonderen Tatbestandsmerkmale“ anerkannt werden kann. Die Tatbestandsmerkmale dieser Vertragsbestimmung sind somit „eng auszulegen“.51 Eine Auslegung der Begriffe „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ sowie der „Schutz der inneren Sicherheit“ in Art. 72 AEUV nimmt der EuGH in dem betreffenden Urteil nicht vor. Grundsätzlich wäre zu erwägen, ob im Ausgangspunkt auf die einschlägigen Urteile zu den grundfreiheitlichen ordre-public-Vorbehalten zurückzugreifen wäre,52 wonach hierbei zu fordern ist, dass „eine tatsächliche und hinreichend schwere(n) Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“.53 Die Ausführungen des EuGH zu den entsprechenden Begriffen in dem betreffenden Sekundärrecht lassen sich aber möglichweise auch dahingehend verstehen, dass diese Begriffe im Kontext des Art. 72 AEUV grundsätzlich weiter zu verstehen sind und den Mitgliedstaaten somit einen größeren Spielraum für Abweichungen gewähren als in Bezug auf Personen, die das Recht auf Freizügigkeit genießen, und daher möglicherweise auch „potenzielle Bedrohungen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung umfassen“.54 Ob dies mit der vom EuGH zugleich betonten engen Auslegung des Art. 72 AEUV vereinbar wäre, ist nicht eindeutig zu beantworten. Ferner obliegt es dem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, „nachzuweisen, dass eine Inanspruchnahme der in diesem Artikel geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen“.55 Angesichts der aufgezeigten verbleibenden Unklarheiten ist jedenfalls für die weitere Prüfung davon auszugehen, dass die von Griechenland geltend gemachte Steuerung des massenhaften Zustroms von Menschen zur griechischen Grenze aus geopolitischen Erwägungen durch die Türkei 51 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 144. 52 So Herrnfeld, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 72 AEUV, Rn. 8; ähnlich Weiß, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 72 AEUV, Rn. 6 (grundfreiheitliche Auslegungsgrundsätze nur als „erste Leitlinie“); ablehnend hingegen Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 72 AEUV, Rn. 7. 53 EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Rs. 30/77 (Bouchereau), Rn.33/35; EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Rs. 41/74 (Van Duyn), Rn. 18/19. 54 Wie der EuGH in Bezug auf die betreffenden Sekundärrechtsbestimmungen festhält, Rn. 157. 55 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 147, 152. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 23 unter den Begriff der „Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ gemäß in Art. 72 AEUV fällt. Entscheidende Bedeutung käme somit der Frage der Erforderlichkeit als Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung 56 zu, an der es insbesondere dann fehlt, wenn gleich wirksame, aber weniger eingreifende Maßnahmen möglich sind. Verschiedene Gesichtspunkte können in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein: Zunächst ist festzustellen, dass das Recht auf Zugang zum Asylverfahren grundsätzlich auch Personen zusteht, die illegal die Grenze überschritten haben (siehe unter 2.2.1.). Insoweit dient die Asylverfahrensrichtlinie auch der Verwirklichung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nach Maßgabe des Art. 78 Abs. 1 AEUV. Eine wenn auch nur zeitweise Aussetzung dieses Rechts in der Weise, dass die betreffenden Personen ohne Registrieren in die Türkei zurückgeführt werden , dürfte in vielen Fällen dazu führen, dass ihnen das Recht auf Zugang zum Asylverfahren nach Maßgabe der Richtlinie dauerhaft verwehrt bleibt. Es handelt sich somit, etwa im Unterschied zu lediglich punktuellen Abweichungen von einzelnen Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie , um eine besonders einschneidende Maßnahme. Vor diesem Hintergrund dürfte an den von Griechenland zu erbringenden Nachweis der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahmen grundsätzlich besonders strenge Anforderungen zu stellen sein. Dies betrifft wohl zunächst die Einschätzung Griechenlands, es handele sich um einen massenhaften Zustrom von bereits seit längerer Zeit in der Türkei lebenden Menschen, der durch die türkische Regierung gesteuert und koordiniert würde, aber auch welche konkreten Gefahren sich nach Ansicht Griechenlands daraus für die öffentlichen Ordnung und die inneren Sicherheit ergaben und welche Handlungsoptionen insoweit bestanden. Zugleich ist wohl zu berücksichtigen , dass die von Griechenland geltend gemachte Steuerung des Zustroms von Menschen durch die Türkei eine höchst ungewöhnliche Situation darstellt, deren möglicher weiterer Verlauf somit von für Griechenland von erheblicher Ungewissheit und Unbeherrschbarkeit geprägt gewesen sein dürfte. Dies betrifft zum einen die wohl nicht auszuschließende Möglichkeit, dass im Falle einer nicht erfolgenden Aussetzung des Asylrechts sich weitere Menschen in sehr großer Zahl aus der Türkei zur griechischen Grenze begeben hätten. Zum anderen betrifft dies den Umstand , dass Griechenland die von der Türkei an die Union gerichteten Forderungen – insoweit wäre wohl insbesondere an die EU-Türkei-Erklärung vom 18.3.201657 zu denken – selbst nicht erfüllen konnte und auf das weitere Geschehen nur begrenzt Einfluss hatte. Wenngleich hierzu, soweit ersichtlich, keine Rechtsprechung vorliegt, erschiene es grundsätzlich sachgerecht, derartigen von einer komplexen außenpolitischen Lage geprägten Unsicherheiten und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zu kurzfristigen Entscheidungen durch einen ent- 56 Vgl. EuGH, Rs. 72/83, Campus Oil, Rn. 36 f. So auch ausdrücklich in Bezug auf die Anwendung des Art. 72 AEUV Breitenmoser/Weyeneth, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 72 AEUV, Rn. 20. 57 Hierzu Pressmitteilung des Europäischen Rates vom 18.3.2016, abrufbar unter: https://www.consilium.europa .eu/de/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 24 sprechenden Beurteilungsspielraum aufseiten des sich auf Art. 72 AEUV berufenden Mitgliedstaats Rechnung zu tragen. Dies würde dann wohl auch die Einschätzung Griechenlands einschließen , inwieweit alternative, ebenso wirksame Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, die für die betroffenen Personen weniger einschneidend gewesen wären. Allerdings ergibt sich an diesem Punkt ein schwer aufzulösendes Spannungsverhältnis. Denn die Anerkennung eines mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraums dürfte zugleich nicht dazu führen, dass der Mitgliedstaat letztlich doch durch „bloße Berufung“ auf seine Zuständigkeit nach Art. 72 AEUV von seinen sekundärrechtlichen Verpflichtungen abweichen könnte, was der EuGH explizit ausgeschlossen hat.58 Hierbei dürften grundsätzlich auch Unionsgrundrechte zu berücksichtigen sein,59 soweit man die Rechtsprechung des EuGH im Zusammenhang mit den ordre-public-Vorbehalten zugrunde legt. Denn auch dort handelt der Mitgliedstaat nicht völlig losgelöst vom Unionsrecht, sondern im Rahmen und in den Grenzen des Art. 72 AEUV, so dass ein Fall der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC angenommen werden könnte.60 Vorliegend käme insbesondere ein Verstoß gegen Art. 18 und 19 GRC in Betracht. Allerdings wirft insbesondere die jüngste Entscheidung des EGMR in der Rechtssache N.D. und N.T. gegen Spanien61, in welcher dieser die Praxis sog. „heißer Abschiebungen“ unter Berücksichtigung der konkreten Lage und des individuellen Verhaltens („own conduct“62) der betreffenden Personen 58 EuGH, verb. Rs. C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, Kommission/ Polen (Mécanisme temporaire de relocalisation de demandeurs de protection internationale), Rn. 145. 59 Wenngleich dies von einigen Stimmen in der deutschsprachigen Kommentarliteratur abgelehnt wird, Müller- Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, Art. 72 AEUV, Rn. 1; Röben, in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 72 AEUV, Rn. 20 60 Zur ERT-Rechtsprechung im Kontext der Grundfreiheiten, siehe etwa Pache, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, Art. 51 GRC, Rn. 28 ff. 61 EGMR, BeschwerdeNrn. 8675/15 and 8697/15, N.D. und N.T. gegen Spanien. 62 EGMR, BeschwerdeNrn. 8675/15 and 8697/15, N.D. und N.T. gegen Spanien, Rn. 200, 231. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 25 in bestimmten Situationen gebilligt hatte, zahlreiche Fragen auf, die auch in den ersten Stellungnahmen im Schrifttum bislang nicht hinreichend geklärt werden konnten.63 Eine darüber hinaus gehende Klärung dieser sich insbesondere aus dem Völkerrecht ergebende Fragen hinsichtlich der Reichweite des Zurückweisungsverbots ist somit im Rahmen der vorliegenden auf das Unionsrecht fokussierenden Ausarbeitung nicht möglich. Angesichts der aufgezeigten grundlegenden Unsicherheiten insbesondere im Zusammenhang mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Unionsgrundrechte auf diese besondere Situation ist eine abschließende Klärung der Möglichkeit zur ausnahmsweisen Aussetzung der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie auf Schutzsuchende auf der griechischen Seite der Grenze nicht möglich. 2.2.4. Zusammenfassung und Ergebnis Die Möglichkeit einer Abweichung von den Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie kommt allenfalls auf der Grundlage von Art. 72 AEUV in Betracht. Ein Rückgriff auf diese Vertragsbestimmung ist jedoch nur möglich, sofern die Asylverfahrensrichtlinie den von Griechenland konkret geltend gemachten Gründen für die Notwendigkeit einer Abweichungsmöglichkeit nicht gebührend Rechnung getragen hat. Die griechische Regierung begründet die im Zusammenhang mit der Grenzschließung getroffenen Maßnahmen damit, es handele sich um einen massenhaften Zustrom von bereits seit längerer Zeit in der Türkei lebenden Menschen, der durch die türkische Regierung gesteuert und koordiniert würde; die Türkei instrumentalisiere verzweifelte Menschen zur Verfolgung geopolitischer Ziele. Die spezifischen Vorschriften der Asylverfahrensrichtlinie machen nicht hinreichend deutlich, inwieweit sich der Unionsgesetzgeber überhaupt mit der möglichen Bedeutung derartiger außenpolitischer Erwägungen im Rahmen des Art. 72 AEUV befasst hat. Im Ergebnis spricht somit einiges für die Annahme, dass die Asylverfahrensrichtlinie die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gemäß Art. 72 AEUV nicht gebührend berücksichtigt und ein Rückgriff auf Art. 72 AEUV insoweit möglich bleibt. 63 Vgl. nur Thym, ZAR 2020, 85: „Argumentativ wirft das EGMR-Urteil mehr Fragen auf, als es löst, vor allem was legale Zugangswege und das Verhältnis zum Refoulementverbot betrifft. […] Das EGMR-Urteil zeigt vorbehaltlich aller dogmatischen Unwägbarkeiten, dass es kein pauschales Menschenrecht auf Asyl gibt – und auch Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta löst das Problem nicht, weil dessen Wortlaut bewusst offen formuliert ist, sodass unklar bleibt, inwiefern jenseits des Refoulementverbots ein genereller Verfahrenszugang gewährleistet wird, der über das ausdrücklich genannte Sekundärrecht hinausgeht.“; Lübbe, Der Elefant im Raum, 18.2.2020 auf Verfassungsblog: „Und was bleibt vom refoulement-Verbot selbst (und vom Flüchtlingsschutz), wenn Menschen , die mangels für sie realistisch erreichbarer, legaler Möglichkeiten, ein Schutzbegehren anzubringen, irregulär Zugang suchen und finden, künftig ungeprüft abgeschoben werden dürfen? Der EGMR betont mehrfach, dass Staaten Grenzschutz betreiben, sich dabei aber ihrer Verantwortung für die effektive Einhaltung des refoulement -Verbots nicht entziehen dürfen (Rn. 167 ff, 181 ff, 232). Personen, die anders als die Beschwerdeführer des vorliegenden Falles schutzbedürftig sind, dürfen also weiterhin nicht abgeschoben werden, das wäre ein refoulement-Verstoß. Nur: Wie sollen die Staaten das jetzt sicherstellen? Wie kann man heiße Abschiebungen vornehmen und Art. 3 EMRK effektiv garantieren? Das ist der Elefant im Raum, zu dem das Urteil, ungeachtet der Relevanz der Frage für die Auslegung des Art. 4 4. ZP, schweigt – und das macht es zu einem Fehlurteil“, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/der-elefant-im-raum/. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 26 Bei der Prüfung der besonderen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entscheidende Bedeutung zu. Zunächst ist hierbei zu berücksichtigen, dass die zeitweise Aussetzung des Rechts auf Zugang zum Asylverfahren in der Weise, dass die betreffenden Personen ohne Registrierung in die Türkei zurückgeführt werden, eine besonders einschneidende Maßnahme darstellt. Für den von Griechenland zu erbringenden Nachweis insbesondere der Erforderlichkeit der Maßnahmen ergibt sich vorliegend ein schwer aufzulösendes Spannungsverhältnis. Es stellt sich die Frage, inwieweit den von einer komplexen außenpolitischen Lage geprägten Unsicherheiten und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zu kurzfristigen Entscheidungen mit einen entsprechenden Beurteilungsspielraum des Mitgliedstaats Rechnung getragen werden kann, ohne die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden. Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass hierbei auch die Unionsgrundrechte zu beachten sind. Vor dem Hintergrund der zahlreiche Fragen aufwerfenden Entscheidung des EGMR in der Rechtssache N.D. und N.T. gegen Spanien64 bleibt aber letztlich unklar, was daraus vorliegend für die Anwendung von Art. 18 und 19 GRC folgt. Abschließend ist festzustellen, dass angesichts der grundlegenden Unsicherheiten insbesondere im Zusammenhang mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Unionsgrundrechte auf diese besondere Situation eine abschließende Klärung der Möglichkeit zur ausnahmsweisen Aussetzung der Anwendung der Asylverfahrensrichtlinie auf Schutzsuchende auf der griechischen Seite der Grenze nicht möglich ist. 3. Unionsrechtliche Berichtspflichten im Zusammenhang mit Frontex-Einsätzen Nach Art. 80 Abs. 1 der Frontex-Verordnung65 gewährleistet die Europäische Grenz- und Küstenwache „ […] bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Rahmen dieser Verordnung den Schutz der Grundrechte unter Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, insbesondere der Charta, und der einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts, einschließlich des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und des entsprechenden Protokolls von 1967, des Übereinkommens über die Rechte des Kindes sowie der Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung.“ Für die Teammitglieder in Frontex-Einsätzen ergibt sich eine entsprechende Bindung aus Art. 82 Abs. 3 Frontex-Verordnung: 64 EGMR, BeschwerdeNrn. 8675/15 and 8697/15, N.D. und N.T. gegen Spanien, Rn. 232. 65 Verordnung (EU) 2019/1896 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 27 „(3) Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und Befugnisse stellen die Teammitglieder die Achtung der Grundrechte uneingeschränkt sicher und halten das Unionsrecht und das Völkerrecht und das nationale Recht des Einsatzmitgliedstaats ein.“ Die Verantwortlichkeit der Teammitglieder, eine Verletzung insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu melden, ist in Art. 7 und 5 des Verhaltenskodex66 aus dem Jahr 2017 geregelt , der über eine Bezugnahme in den Einsatzplänen verbindlich67 wird: “Article 5 International protection Participants must: a) promote, respect, fulfil and protect the right of persons seeking international protection to be identified, receive adequate assistance and be informed in an appropriate way, preferably using a number of the most common languages that third-country nationals understand or are reasonably believed to understand, about their rights and relevant procedures; b) ensure that persons in (a) above must be referred without delay to the national authorities responsible for considering their requests, in compliance with the principle of nonrefoulement , the prohibition against arbitrary and collective expulsions and the right to seek asylum; […] Article 7 Responsibility Participants are primarily responsible for all the actions in the context of their participation in a Frontex operational activity. Any breach of the participants’ legal obligations or this code of conduct, or any failure by those participants to refer or report any suspected breaches of this code of conduct, should be reported using the appropriate channels.” (Unterstreichung hinzugefügt) Allerding wird aus der Formulierung in Art. 7 Verhaltenskodex nicht deutlich, ob sich daraus eine Rechtspflicht zur Meldung von entsprechenden Verstößen ergibt. Art. 7 des Verhaltenskodex spricht lediglich davon, dass eine Meldung unter Verwendung geeigneter Kommunikationskanäle erfolgen „sollte“ („should“ anstelle des üblicherweise eine Rechtspflicht zum Ausdruck 66 Frontex, Code of Conduct applicable to all persons participating in Frontex operational activities, 2017, abrufbar unter: https://frontex.europa.eu/assets/Key_Documents/Code_of_Conduct/Code_of_Conduct_applicable _to_all_persons_participating_in_Frontex_operational_activities.pdf 67 Vgl. Groß, ZAR 2020, 51 (52), dort unter Verweis auf Fink, Frontex and Human Rights, 2018, 62. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitung PE 6 - 3000 – 023/20 Seite 28 bringenden „shall“68). Diese Bestimmung deutet somit eher darauf hin, dass gerade keine Rechtspflicht zur Meldung von Verstößen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung in dem Verhaltenskodex verankert werden sollte. Besonders deutlich wird dies auch unter Berücksichtigung des Wortlauts der Vorgängervorschrift in Art. 22 des Verhaltenskodex von 201169, welcher insoweit eine klare Rechtspflicht statuierte und dies bereits, wenn ein Grund zu der Annahme besteht, dass ein Verstoß eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht: „Article 22 Reporting Participants in Frontex activities who have reason to believe that a violation of the present Code has occurred or is about to occur, are obliged to report the matter to Frontex via the appropriate channels.” Ungeachtet der aufgezeigten Zweifel am Bestehen einer unionsrechtlichen Pflicht zur Meldung von Verstößen gegen den Zurückweisungsgrundsatz im Rahmen von Frontex-Einsätzen, wird von einzelnen Stimmen im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass eine solche Pflicht im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen anzunehmen sei.70 – Fachbereich Europa – 68 Vgl. English Style Guide, A handbook for authors and translators in the European Commission, Stand April 2020, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/styleguide_english_dgt_en.pdf, S. 54: “To impose an obligation or a requirement, EU legislation uses shall”. 69 Frontex, Code of Conduct for all persons participating in Frontex activities, 2011, abrufbar unter: https://frontex .europa.eu/assets/Publications/General/Frontex_Code_of_Conduct.pdf 70 Vgl. Groß, ZAR 2020, 51 (52), dort unter Verweis auf Fink, Frontex and Human Rights, 2018, 73, die eine solche Verpflichtung offenbar aus den internen Verfahrensvorschriften zum Umgang mit sog. „serious incidents“ ableitet .