PE 6-3000-023/19 (20. Februar 2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Kurzinformation dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. Der Fachbereich ist um Auskunft gebeten worden, ob es mit der Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere1 (nachfolgend: Tierversuchsrichtlinie ) vereinbar wäre, wenn die Mitgliedstaaten Versuche, die nach dieser Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere mit dem Schweregrade „schwer“ definiert sind, ausnahmslos verbieten würden. 1. Zur Umsetzungsverpflichtung der Tierversuchsrichtlinie Die an die Mitgliedstaaten gerichteten Richtlinien sind für diese hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel (Art. 288 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]). Soweit in Unionsrechtsakten verbindliches Recht eingeführt worden ist, erzeugen diese Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht. Für die Ausgangsfrage ist daher zu untersuchen, inwieweit die Tierversuchsrichtlinie Spielräume für strengere nationale Tierschutzvorschriften eröffnet (2.). Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob auf der Ebene des Primärrechts Art. 114 AEUV, auf den die Tierversuchsrichtlinie gestützt worden ist, in den Absätzen 4 bis 10 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, unter den dort geregelten Voraussetzungen einen vor Erlass eines Unionsrechtsaktes bestehenden abweichenden Schutzstandard beizubehalten oder später einzuführen (3).2 1 Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, ABl. L 276/33, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?qid=1550224306508&uri=CELEX:32010L0063 . 2 Dazu Callies, NUR 2012, 819 (820). Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Europarechtliche Gestaltungsspielräume zur Festlegung des Schutzniveaus der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere in nationalen Tierschutzvorschriften Kurzinformation Europarechtliche Gestaltungsspielräume zur Festlegung des Schutzniveaus der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere in nationalen Tierschutzvorschriften Fachbereich Europa (PE 6) Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Seite 2 2. Beibehaltung strengerer nationaler Tierschutzvorschriften nach Art. 2 Abs. 1 UA 1 Tierversuchsrichtlinie Nach Art. 2 Abs. 1 UA 1 Tierversuchsrichtlinie können die Mitgliedstaaten „unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des AEUV am 9. November 2010 geltende Vorschriften aufrechterhalten , die die Gewährleistung eines umfassenderen Schutzes der unter diese Richtlinie fallenden Tiere zum Ziel haben, als die in dieser Richtlinie festgelegten Bestimmungen“. Mit der Formulierung „unter Einhaltung der allgemeinen Bestimmungen des AEUV“ wird auf Art. 114 Abs. 4 AEUV hingewiesen. Hiernach ist die Beibehaltung solcher einzelstaatlicher Bestimmungen zulässig, „die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 oder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind“. Von den wichtigen Erfordernissen des Art. 36 S. 1 AEUV ist der Tierschutz, sowohl in der Ausprägung des Individualtierschutzes wie des Artenschutzes, umfasst.3 Auf diesen Schutzgrund lassen sich alle Maßnahmen stützen, die dem Wohlbefinden von Tieren dienen. Demgemäß können Verbote solcher Tätigkeiten national vorbehalten werden, die für Tiere mit Leiden verbunden sind.4 Bereits bestehende strengere Tierschutzvorschriften mit dieser Zielsetzung dürfen mithin fortbestehen , verbunden mit der Verpflichtung, diese bei der Kommission bis zum 1. Januar 2013 zu notifizieren (Art. 2 Abs. 1 UA 1 Tierversuchsrichtlinie). Die Tierversuchsrichtlinie enthält zudem Sonderregelungen zum Schutz von Tieren im Rahmen von Tierversuchen. Nach Art. 15 Abs. 2 Tierversuchsrichtlinie sind Tierversuche mit schweren Belastungen von dem Regelverfahren ausgenommen und dürfen nur noch vorläufig genehmigt werden. Die Schutzklausel in Art. 55 Tierversuchsrichtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Verwendung nichtmenschlicher Primaten als Versuchstiere auszuschließen, soweit der Versuch zu langanhaltenden schweren Leiden u.ä. führt. Vorbehaltlich der vorgenannten Regelungen begründet die Tierversuchsrichtlinie als Vollharmonisierung des Tierversuchsrechts die uneingeschränkte Verpflichtung, diese in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen.5 3 Kingreen, in: Callies/Ruffert, 5. Aufl. 2016, Art. 36 AEUV Rn. 205. 4 EuGH, Rs. 141–143/81, Rn. 13 f. (Holdijk): Festlegung von Käfiggrößen für die Massentierhaltung. EuGH, Rs. C-1/96, Rn. 45 ff. (Compassion in World Farming). 5 Löwer, Tierversuchsrichtlinie und nationales Recht, 2012, S. 26. Kurzinformation Europarechtliche Gestaltungsspielräume zur Festlegung des Schutzniveaus der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere in nationalen Tierschutzvorschriften Fachbereich Europa (PE 6) Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Seite 3 3. Beibehaltung und Einführung strengerer nationaler Tierschutzvorschriften nach Art. 114 Abs. 4, 5 AEUV Die sekundärrechtlich in Art. 2 Abs. 1 Tierversuchsrichtlinie bereits vorgesehene Beibehaltung nationaler Tierschutzvorschriften ist auch durch Art. 114 Abs. 4 AEUV eröffnet. Die Einführung eines von der Tierversuchsrichtlinie abweichenden Tierschutzrechts ist unter den Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 5 AEUV zulässig. Hiernach kann ein „Mitgliedstaat, der es nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme durch das Europäische Parlament und den Rat beziehungsweise durch den Rat oder die Kommission für erforderlich hält, auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse gestützte einzelstaatliche Bestimmungen zum Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt aufgrund eines spezifischen Problems für diesen Mitgliedstaat, das sich nach dem Erlass der Harmonisierungsmaßnahme ergibt,“ einführen, verbunden mit der Verpflichtung, „die in Aussicht genommenen Bestimmungen sowie die Gründe für ihre Einführung der Kommission“ mitzuteilen. Diese Befugnis besteht allerdings nur für Bestimmungen zum Schutz der Rechtsgüter Umwelt und Arbeitsumwelt. Umstritten ist, ob und in welchem Maße der Tierschutz dem in den Verträgen nicht definierten Begriff der Umwelt unterfällt. Zum Teil wird mit Blick auf die Neuschaffung der Tierschutzregelung in Art. 13 AEUV bezweifelt, ob der Tierschutz von den Regelungen zum Politikfeld Umwelt in Art. 11, 191 AEUV, an die Art. 114 AEUV anknüpft, erfasst wird.6 Da der Tierschutz nicht in Gänze in Art. 13 AEUV geregelt ist, sondern nur unter „den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen“, spricht in systematischer Hinsicht viel dafür, dass Tiere im Übrigen als Teil der Umwelt geschützt sind, soweit nicht das Wohlergehen der Tiere als fühlendes Wesen betroffen ist.7 Da die in Frage stehenden Regelungen der Tierschutzrichtlinie mithin nicht dem primärrechtlichen Begriff „Umwelt“ unterfallen, sind die Voraussetzungen des Art 114 Abs. 5 AEUV nicht erfüllt . Eine Verschärfung der Voraussetzungen für Tierversuche im Recht der Mitgliedstaaten nach Inkrafttreten der Tierversuchsrichtlinie ist europarechtlich nicht zulässig.8 - Fachbereich Europa - 6 Breier, in: Lenz/Borchardtt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 191 AEUV Rn. 7. 7 Callies, in: Caliies/Rüffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 191 AEUV Rn. 9; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (4. EL Mai 2011), Art. 191 AEUV Rn. 51. 8 Löwer, Tierversuchsrichtlinie und nationales Recht, 2012, S. 134.