© 2016 Deutscher Bundestag PE 6-3000-22/16 188 Zur Auslegung des Begriffes „natürliches Aroma“ i.S.d. Art. 16 Abs. 4 VO (EG) Nr. 1334/2008 Sachstand Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Ausarbeitungen und andere Informationsangebote des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung P, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 – 22/16 Seite 2 Zur Auslegung des Begriffes „natürliches Aroma“ i.S.d. Art. 16 Abs. 4 VO (EG) Nr. 1334/2008 Aktenzeichen: PE 6 – 3000 – 22/16 Abschluss der Arbeit: 24. Februar 2016 Fachbereich: Fachbereich PE 6: Europa Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 – 22/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Zum Begriff „natürliches Aroma“ i.S.d. Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 4 3. Ausstehen einer verbindlichen Auslegung des Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 6 Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 – 22/16 Seite 4 1. Fragestellung Der Fachbereich Europa wird um Auslegung des Begriffes „natürliches Aroma“ i.S.d. Art. 16 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1334/2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften zur Verwendung in und auf Lebensmitteln1 (nachfolgend: VO 1334/2008) ersucht und gefragt, ob es rechtlich zulässig ist, dass die VO 1334/2008 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) unterschiedlich ausgelegt wird. 2. Zum Begriff „natürliches Aroma“ i.S.d. Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 Die VO 1334/2008 normiert Bestimmungen über Aromen und Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften in und auf Lebensmitteln.2 Art. 16 VO 1334/2008 normiert die Anforderungen an die Verwendung des Begriffs „natürlich“. Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 regelt die Voraussetzungen dafür, wann eine Kennzeichnung mit einem bestimmten Aroma, z.B. mit Erdbeeraroma, als „natürliches Aroma“ zulässig ist. „Der Begriff „natürlich“ darf in Verbindung mit einer Bezugnahme auf ein Lebensmittel, eine Lebensmittelkategorie oder einen pflanzlichen oder tierischen Aromaträger nur verwendet werden, wenn der Aromabestandteil ausschließlich oder mindestens zu 95 Gew.-% aus dem in Bezug genommenen Ausgangsstoff gewonnen wurde. Die Bezeichnung lautet „natürliches ‚Lebensmittel bzw. Lebensmittelkategorie bzw. Ausgangsstoff (e)‘-Aroma“.“ Der Erwägungsgrund 26 der VO 1334/2008 umschreibt die ratio legis dieser Regelung wie folgt: „Spezielle Informationspflichten sollten sicherstellen, dass die Verbraucher nicht über die bei der Herstellung natürlicher Aromen verwendeten Ausgangsstoffe getäuscht werden. Insbesondere wenn der Begriff „natürlich“ zur Bezeichnung eines Aromas verwendet wird, sollten die aromatisierenden Bestandteile des Aromas vollständig natürlichen Ursprungs sein. Zudem sollten die Ausgangsstoffe der Aromen angegeben werden, es sei denn, die genannten Ausgangsstoffe sind im Aroma oder Geschmack des Lebensmittels nicht erkennbar . Wird ein Ausgangsstoff angegeben, so sollten mindestens 95 % des Aromabestandteils aus dem genannten Stoff gewonnen sein. Da die Verwendung von Aromen den Verbraucher nicht irreführen darf, dürfen Stoffe des verbleibenden Anteils, der höchstens 5 % betragen darf, nur für die Standardisierung verwendet werden oder zur Verleihung zum Beispiel einer frischeren, schärferen, reiferen oder grüneren Aromanote. Wurden weniger als 95 % des aus dem genannten Ausgangsstoff gewonnenen Aromabestandteils 1 Verordnung (EG) Nr. 1334/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften zur Verwendung in und auf Lebensmitteln sowie zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1601/91 des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 2232/96 und (EG) Nr. 110/2008 und der Richtlinie 2000/13/EG (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. 354/34, abrufbar unter : http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1456220330421&uri=CELEX:32008R1334. 2 Art. 1 VO 1134/2008. Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 – 22/16 Seite 5 verwendet und ist das Aroma des Ausgangsstoffs immer noch erkennbar, so sollte der Ausgangsstoff mit dem Hinweis auf den Zusatz von anderen natürlichen Aromastoffen kenntlich gemacht werden, zum Beispiel Kakaoextrakt, dem zur Verleihung einer Bananennote andere natürliche Aromen zugesetzt wurden.“ Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 eröffnet die Möglichkeit, Aromen als z.B. „natürliches Erdbeeraroma “ zu kennzeichnen, sofern dieser Aromabestandteil zu mindestens 95 Gewichtsanteilsprozent aus Erdbeere gewonnen wurde. Unterschiedliche Auffassungen bestehen dazu, ob bei der mengenmäßigen Bestimmung des Aromabestandteils nach vorstehender Regelung der Aromaextrakt in seiner Gesamtheit – einschließlich des darin enthaltenen Wassers – in Ansatz zu bringen ist. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts Düsseldorf3 soll es bei der in Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 normierten Regelung allein auf das Verhältnis der aromatisierten Bestandteile ankommen und keine Trägerstoffe – insb. Wasser – Berücksichtigung finden. Andernfalls stünde es „zur Disposition des Herstellers, den Gehalt an reinen Aroma zu beeinflussen und damit auch die Menge der Zugabe fremder Aromastoffe. Durch geringere Verdichtung beim Extraktionsprozess erhöht sich der Wasseranteil und es könnten bei der von der Verfügungsklägerin vorzunehmenden Auslegung von Art. 16 Abs. 4 der Verordnung (EG) 1334/2008 mehr Fremdaromastoffe hinzugefügt werden, mit der Folge, dass der 5%-Anteil frei manipulierbar wäre, eine Verletzung der 5%-Regel also ungeachtet einer Veränderung der Verhältnisse der beteiligten „reinen“ Aromen steuerbar vermeidbar wäre.“4 Demgegenüber vertritt das Generalsekretariat Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der EU- Kommission in seiner Auslegungsentscheidung zu Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 vom 22. Januar 2013 die Ansicht, dass bei der 95/5 % Regel des Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 hinsichtlich des gekennzeichneten Aromas auf die Gesamtmenge des Aromastoffes, neben den aromatisierenden Bestandteilen auch auf sonstige im Aromaextrakt enthaltenen Komponenten abzustellen ist.5 Für diese Auslegung spricht Art. 16 Abs. 2 VO 1334/2008, wonach eine Kennzeichnung eines Aromas als „natürlich“ zulässig ist, „wenn der Aromabestandteil ausschließlich Aromaextrakte und/oder natürliche Aromastoffe enthält.“ Nach den Grundsätzen der systematischen Auslegung dürfte dies nahelegen, dass der in Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 verwandte, in dieser Verordnung nicht definierte Begriff „Aromabestandteil“ neben Aromaextrakten auch natürliche Aromastoffe umfasst. Gegen die Annahme, dass nur (molekulare) Aromastoffe als natürliches Aroma nach Art. 16 Abs. 2 VO 1334/2008 gelten, spricht auch, dass der in Art. 3 Buchst. d) VO 1334/2008 definierte Begriff „Aromaextrakt“ nicht auf (molekulare) Aromastoffe abstellt („“Aromaextrakt“: Erzeugnis, das kein Aromastoff ist…“), so dass der Begriff Aromabestandteil, wenn dieser nach Art. 16 Abs. 2 VO 1334/2008 auch Aromaextrakte umfasst, sich daher nicht nur auf (molekulare) 3 OLG Düsseldorf, 21.03.2012, I-15 U 173/11. 4 OLG Düsseldorf, 21.03.2012, I-15 U 173/11, Rn. 67. 5 European Commission. Health and Consumers Directorate-General. Interpretation of Article 16(4) of Regulation (EC) No 1334/2008 on flavourings – assessment of the "95/5-ratio" vom 22. Januar 2013, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/food/safety/reg_com/archive/sc_toxic_sum_31012013_flavourings_en.pdf. In der Sitzung des Ständigen Ausschusses wurde diese Auslegung mehrheitlich von den Mitgliedstaaten unterstützt, nicht aber von Deutschland, vgl. Muermann, Aromen, 4. Aufl. 2015, S. 10. Fachbereich Europa Sachstand PE 6 - 3000 – 22/16 Seite 6 Aromastoffe bezieht. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Begriff Aromabestandteil in Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 gegenüber dem gleichlautenden Begriff in Abs. 2 dieser Vorschrift einen anderen Bedeutungsgehalt hat. 3. Ausstehen einer verbindlichen Auslegung des Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008? Die sog. Interpretationsnote des Generalsekretariats Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der EU-Kommission vom 22. Januar 20136 zur Berechnung des 95% Prozent-Verhältnisses gemäß Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 ist rechtlich unverbindlich. Eine verbindliche Auslegung dieser Vorschrift kann nur der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vornehmen. Eine Entscheidung des EuGH dazu steht noch aus. Diese Entscheidung ließe sich im Wesentlichen auf zwei Wegen herbeiführen: Mitgliedstaaten können den EuGH nach Art. 259 AEUV anrufen, wenn sie der Auffassung sind, dass ein anderer Mitgliedstaat (bzw. andere Mitgliedstaaten) gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat (haben). Hierfür ist ein Primärrechtsverstoß nicht erforderlich. Für dieses Verfahren ist die Verletzung von Sekundärrecht hinreichend.7 Mit diesem Verfahren könnte daher ein Mitgliedstaat geltend machen, dass ein anderer Mitgliedstaat nicht für eine rechtmäßige Anwendung des Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 Sorge trägt, dadurch Handelshemmnisse herbeiführt und/oder es dadurch dort ansässigen Unternehmen ermöglicht, Wettbewerbsvorteile aus einer unzutreffenden Anwendung dieser Norm zu ziehen. Nach Vorlage eines Gerichts eines Mitgliedstaates entscheidet der EuGH nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b) AEUV über Fragen zur Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union. Davon umfasst sind alle Rechtsakte nach Art. 288 AEUV, mithin auch Verordnungen der EU.8 Ein deutsches Gericht hätte auf dieser Rechtsgrundlage mithin die Möglichkeit, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Art. 16 Abs. 4 VO 1334/2008 vorzulegen , wenn das Gericht diese Auslegungsfragen zum Erlass seiner gerichtlichen Entscheidung für erforderlich hält.9 - Fachbereich Europa - 6 Vgl. Fußn. 5. 7 Thiele, Europäisches Prozessrecht, 2. Aufl. 2014, S. 85. 8 Thiele, Europäisches Prozessrecht (Fußn. 6), S. 184 m.w.N. 9 Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV müssen die dem EuGH vorgelegten Fragen für den vom vorlegenden Gericht zu entscheidenden Fall entscheidungserheblich sein; dazu näher Thiele, Europäisches Prozessrecht (Fußn. 6), S. 191 f.