PE 6 - 3000 - 020/19 (12.2.2019) © 2019 Deutscher Bundestag Die Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten des Fachbereichs Europa geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegen, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab der Fachbereichsleitung anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Diese Ausarbeitung dient lediglich der bundestagsinternen Unterrichtung, von einer Weiterleitung an externe Stellen ist abzusehen. 1. Vorbemerkung Der Fachbereich ist beauftragt worden, anhand des Regierungsentwurfes des Umsetzungsgesetzes 1 zur Richtlinie 2016/9432 (RL 2016/943) zu untersuchen, inwieweit die Begründungserwägungen in der RL 2016/943 bei der Umsetzung der Richtlinie herangezogen werden können. Konkret soll geprüft werden, ob aus europarechtlicher Sicht die Begriffsbestimmung eines Geschäftsgeheimnisses im Umsetzungsgesetz um das im Erwägungsgrund 14 der RL 2016/943 genannte Merkmal des „legitimen Interesses“ an der Geheimhaltung von Informationen ergänzt werden kann. Gemäß Art. 288 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, jedoch ist den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel überlassen . Richtlinien bedürfen daher grundsätzlich der Umsetzung in nationales Recht.3 Richtlinienumsetzung bedeutet dabei vollständige Erreichung des Richtlinienziels, nicht nur formelle wörtliche Übernahme, sondern gleichermaßen Verwirklichung des gesamten Richtlinienprogramms auch in der Verwaltungspraxis.4 1 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung vom 18.7.2018 (zuletzt abgerufen am 12.02.2019). 2 Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 8. Juni 2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung (zuletzt abgerufen am 12.02.2019). 3 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EL August 2018, Art. 288 AEUV, Rn. 119 ff. 4 EuGH, Urt. 11.7.2002, Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 - (Marks & Spencer), Rn. 26 ff. Unterabteilung Europa Fachbereich Europa Kurzinformation Bedeutung der Erwägungsgründe bei der Umsetzung von Richtlinien (am Beispiel der Richtlinie 2016/943) Kurzinformation Bedeutung der Erwägungsgründe bei der Umsetzung von Richtlinien (am Beispiel der Richtlinie 2016/943) Fachbereich Europa (PE 6) Seite 2 2. Rechtliche Qualität von Erwägungsgründen von Gemeinschaftsrechtsakten Zur rechtlichen Qualität von Erwägungsgründen von Gemeinschaftsrechtsakten hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) insbesondere in der Entscheidung vom 19.6.2014 (Rs. C-345/13) geäußert.5 Danach kommt den Erwägungsgründen keine rechtliche Bindungswirkung zu. Wörtlich führte der EuGH in der genannten Entscheidung zur rechtlichen Bedeutung der Erwägungsgründe aus: „[…], so ist darauf hinzuweisen, dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht […]“6 Aus der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH lässt sich schließen, dass bei der richtlinienkonformen Umsetzung die Erwägungsgründe jedenfalls nicht dazu herangezogen werden dürfen, um von den Bestimmungen des Richtlinientextes abzuweichen. Maßgeblich für die Umsetzung einer Richtlinie ist daher zuvörderst der normative Teil des Rechtsaktes. 3. Anforderungen an die richtlinienkonforme Umsetzung der Begriffsdefinition des Geschäftsgeheimnisses in der RL 2016/943 Ziel der RL 2016/943 ist gemäß Art. 1 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb, rechtswidriger Nutzung und rechtswidriger Offenlegung. Der Ausdruck „Geschäftsgeheimnis“ ist in Art. 2 Nr. 1 RL 2016/943 legaldefiniert und bezeichnet Informationen, die alle nachstehenden Kriterien erfüllen: a) Sie sind in dem Sinne geheim, dass sie weder in ihrer Gesamtheit noch in der genauen Anordnung und Zusammensetzung ihrer Bestandteile den Personen in den Kreisen, die üblicherweise mit dieser Art von Informationen umgehen , allgemein bekannt oder ohne weiteres zugänglich sind; b) sie sind von kommerziellem Wert, weil sie geheim sind; c) sie sind Gegenstand von den Umständen entsprechenden angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen durch die Person, die die rechtmäßige Kontrolle über die Informationen besitzt. Die entsprechende Formulierung im Umsetzungsgesetzes sieht gemäß § 2 Nr. 1 vor, dass ein Geschäftsgeheimnis eine Information ist, die a) weder insgesamt noch in der genauen Anordnung und Zusammensetzung ihrer Bestandteile den Personen in den Kreisen, die üblicherweise mit dieser Art von Informationen umgehen, allgemein bekannt oder ohne weiteres zugänglich ist und daher von wirtschaftlichem Wert ist und b) Gegenstand von den Umständen nach angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen durch ihren rechtmäßigen Inhaber ist. 5 EuGH, Urt. vom 19.6.2014, Rs. C‑345/13, ECLI:EU:C:2014:2013 – Karen Millen Fashions, Rn. 31; zuletzt: EuGH, Urt. vom 13.9.2018, Rs. C-287/17, ECLI:EU:2018:707 (Ceska pojistovna a.s./WCZ, spol. S r. o., Rn. 33; s. auch: EuGH, Urt. vom 24.11.2005, Rs. C-136/04, ECLI:EU:C:2005:716 – Deutsches Milchkontor, Rn. 32. 6 EuGH, Urt. vom 19.6.2014, Rs. C‑345/13, ECLI:EU:C:2014:2013 – Karen Millen Fashions, Rn. 31. Kurzinformation Bedeutung der Erwägungsgründe bei der Umsetzung von Richtlinien (am Beispiel der Richtlinie 2016/943) Fachbereich Europa (PE 6) Seite 3 Würde man diese Definition ausdrücklich um das Merkmal des „legitimen Interesses“ ergänzen, läge eine Abweichung vom Wortlaut der Legaldefinition in Art. 2 RL 2016/943 vor, die mit Blick auf das Verhältnis von Erwägungsgründen und normativem Teil einer Richtlinie nach der eben zitierten Rechtsprechung des EuGH nicht zulässig ist. Daneben sprechen vorliegend noch zwei weitere Erwägungen gegen die Unionsrechtmäßigkeit einer solchen Ergänzung: Gemäß Art. 1 Abs. 1 Unterabsatz 2 RL 2016/943 können die Mitgliedstaaten unter Beachtung des AEUV zwar einen weitergehenden als den durch die Richtlinie vorgeschriebenen Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb, rechtswidriger Nutzung und rechtswidriger Offenlegung vorsehen.7 Hieraus folgt aber zugleich, dass Abweichungen von der Richtlinie, die zu einem geringeren Schutzniveau gegenüber den Vorgaben der RL 2016/943 führen, bei der Umsetzung nach Art. 1 Abs. 1 Unterabsatz 2 RL 2016/943 nicht zulässig sind. Letzteres könnte jedoch bei einer entsprechen Ergänzung der Fall sein. Denn durch diese bestünde die Gefahr, dass bestimmte Geheimnisse, die von der Legaldefinition in der Richtlinie umfasst sind, von der nationalen Definition mangels eines „legitimen Interessen“ ausgeschlossen bleiben. Das nationale Umsetzungsrecht hätte dann eine in sachlicher Hinsicht geringere Reichweite als es die Richtlinienvorgaben vorsehen. Zweitens handelt es sich bei dem Kriterium „legitimer Interessen“ um ein solches, das eine materielle Wertung des Rechtsanwenders erfordert. Dies steht im Gegensatz zu den eher formal gehaltenen Kriterien der Legaldefinition in Art. 2 RL 2016/943. Somit steht die Einfügung dieses zusätzlichen Tatbestandsmerkmal in die Begriffsbestimmung des Geschäftsgeheimnisses gemäß § 2 des Umsetzungsgesetzes aus mehreren Gründen den Anforderungen an eine richtlinienkonformen Umsetzung der Legaldefinition dieses Begriffs nach der RL 2016/943 entgegen. - Fachbereich Europa - 7 Dies gilt allerdings nur, soweit gewährleistet ist, dass weitere in der Richtlinie vorgesehenen Bestimmungen eingehalten werden: Art. 3, Art. 5, Art. 6, Art. 7 Abs. 1, Art. 8, Art. 9 Absatz 1 Unterabsatz 2, Art. 9 Abs. 3 und 4, Art. 10 Abs. 2, Art. 11, Art. 13 und Art. 15 Abs. 3 RL 2016/943.